KULTUR-ATELIER

Türkü –
Ein Gespräch mit Hasan Yükselir

Von Metin Buz

Viele Länder werden mit einer kulturellen Aktivität in Verbindung gebracht, die als Folge ihrer Evolution und ihres Lebenskampfes in die Kultur und Kunst eingedrungen und Bestandteil hiervon geworden ist. Zum Beispiel bei Argentinien denkt man an Tango, bei Spanien an Flamenco, bei Griechenland an Rebetiko-Sirtaki, bei Portugal an Fado etc. Bei der Türkei denkt keiner an Türkü (das Volkslied), obwohl es einige große Künstler gibt, die das Volklied aus ihrem eingeengten Raum herausgeholt und in den Westen gebracht haben. Im Falle der Türkei spielen sicherlich andere Faktoren eine große Rolle mit.

Hasan Yükselir singt meistens Lieder, türkische traditionelle Volkslieder. Er ist einer der wenigen Künstler, der mit seiner eigenartigen Interpretation und hervorragenden Stimme Türkü über die Grenzen der Türkei trägt. Warum singt er gerade Türkü trotz der Ressentiments den Türken gegenüber und der ihnen immer wieder unterstellten fremdartigen Kultur? Die Zukunft der Musik liegt, so Hasan Yükselir, in der Volksmusik, die feste und tiefe Wurzeln beinhaltet. Türkü-Singen, das so gut wie jeden Bereich des anatolischen Lebens beschreibt, heißt Bewußtwerdung, Aneignung, Verteidigung und Fortleben des Kultur-Reichtums Anatoliens. Gleichzeitig heißt das, Türkü aus seiner eingeschränkten Tradition zu befreien und gegen jene den Kampf anzusagen, die Türkü auf Jammern und Oberflächlichkeit einschränken.

Hasan Yükselir brachte bis heute 6 MC’s und CD’s heraus: Ayrilik (Herkes gibisin), Günler, Konserlerim 1, Su Türküleri, Göç Türküleri und Sevda Atesten Gömlek. Eine der wichtigsten Eigenschaften seiner Arbeiten ist, dass er seine Lieder manchmal in Begleitung des anatolischen Instruments Baglama, manchmal aber auch mit westlichen Rythmen singt. Jedes seiner Alben ist einem bestimmten Thema gewidmet. Göç Türküleri zum Beispiel beinhaltet Lieder über die Auswanderung in verschiedenen Zeitepochen. Alle Lieder in seinem letzten Album Sevda Atesten Gömlek sind ausschließlich aus den Gedichten des großen Dichters Nazim Hikmet anläßlich seines 100. Geburtstages komponiert. Er verleiht den türkischen Volksliedern mit seiner hervorragenden Bass-Bariton-Stimme und der Interpretation aus einer Mischung aus opern-traditionellem Gesang neue Kraft, neuen Klang und neue Bedeutung. Er nimmt sie aus ihrer Lokalität, schafft durch Nutzung westlicher Instrumente eine neue Synthese und schlägt somit eine Brücke zwischen den Kulturen. Bei der Erwähnung dieser Synthese dürfen andere Künstler, die in dieser Richtung erfolgreiche Arbeit geleistet haben, nicht vergessen werden; insbesondere Ruhi Su sowie Zülfü Livaneli. Su gab den türkischen Volksliedern eine neue revolutionäre Kraft. Livaneli brachte es zu einer guten Zusammenarbeit mit griechischen Künstlern und trug somit enorm zu einer besseren Völkerverständigung bei.

Jeder dieser Künstler hat einen anderen Platz in der Geschichte, und jeder von ihnen ist ein wertvoller Stein eines Mosaiks; sie können mit einander nicht verglichen werden.

Die Musik von Yükselir kann nicht einfach als Fortsetzung des Ruhi Su’schen Stils, als Bereicherung der Volksmusik mit der Opern-Technik oder als Erweiterung mit dem westlichen, mehrstimmigen Rythmus bezeichnet werden, dieses wäre sehr ungerecht. Die Volkslieder, die traditionell in Begleitung mit Saz (Baglama) gesungen werden, erhalten hierdurch einen neuen Klang, eine neue Bedeutung, eine neue Kraft. Die Stimme, die Klänge und Melodie ergreifen den Zuhörer physisch und geistig und bringen ihn in eine andere Imagination, Gegenden und Situationen. Hiermit ist nicht das Sich-Wiederfinden in den von Schwermut und Pessimismus beladenen Arabeska-Liedern gemeint, die nur mit Emotionen besetzt sind, keine Auflehnung gegen das „pechschwarze Schicksal“ und keine Nostalgie! Die Wiederentdeckung der in den Volksliedern verborgenen Lebenskraft ist eine der bedeutendsten Eigenschaften der Musik Yükselirs.

Musik besitzt vielfältige Funktionen: Sie bringt den Hörer zum Nachdenken, entspannt und erfreut ihn. Jede Art von Musik richtet sich an eine bestimmte Zielgruppe und löst dort unterschiedliche, individuelle Emotionen aus. Einige sprechen nur unsere Körper an, sie erreichen unsere Seele nicht, einige sind nur an die Gefühle gerichtet und vergegenwärtigen unsere Schmerzen. Sie erzählen nur von der dunklen Seite des Lebens, manipulieren uns und machen uns somit pessimistisch oder gar depressiv.

Die Musik von Hasan Yükselir gibt unserer Seele und unserem Herzen Ruhe und einen neuen Blick und führt uns in neue, unbekannte Welten. Der wesentliche Unterschied liegt in der Ästhetik und Qualität, die durch Musikkultur und -wissen erschaffen wird. Wie bei jedem Erzeugnis ist die Qualität in der Literatur und Musik von großer Bedeutung, sie macht den Unterschied aus. Die Qualität in der Musik resultiert aus der Übereinstimmung des Inhalts mit dem Rythmus, der Interpretation, der Fähigkeit des Interpreten, dem Wissen, der Ausbildung und Verwendung der Stimme.

Für Hasan Yükselir hat Bildung, Musikerziehung eine hohe Bedeutung. Weil Bildung die Musik weiterentwickelt und das Geschmacksniveau der Künstler und Zuhörer erhöht. Die Philosophen legten größen Wert auf die Musik-Ausbildung: Nach Platon bildet die Musik-Erziehung die Stütze einer Gesellschaftsordnung, in der die Anwesenheit der Richter überflüssig sein würde. Der chinesische Philosoph Konfuzius ging noch einen Schritt weiter: Um festzustellen, ob ein Volk glücklich und ethisch regiert würde, müsste die Musik dieses Landes angehört werden. „Musik kann einen Staat aufbauen und ihn zum Absturz bringen!“ (Nesrin Biber Öz: Insanin kültürel gelisiminde müzik egitiminin önemi, Uludag Üniversitesi Egitim Fakültesi dergisi, Cilt XIV, Sayi: 1, 2001, sayfa 103).

Ergänzend muss hier auf eine der wichtigsten Eigenschaften der Musik hingewiesen werden: Sie ist die Kunstart, die auf die Seele am meisten wirkt. Nach Charles Munch ist Musik eine Erzählkunst, die mit Worten nicht erzählbar ist. „Sie drängt viel weiter als die Dinge, die mit den Worten erzählbar oder mit dem Menschenverstand begreifbar sind. Der Bereich der Musik ist der unbestimmte, mit den blossen Händen nicht fassbare Bereich, der Bereich der Einbildung.“ (Nesrin Biber Öz). „Musik ist die Nahrung der Seele“ sagt man im Türkischen. Platon schreibt in seinem Werk, Der Staat, nichts dränge so tief in das Herz wie der Rythmus und die Harmonie. Hieraus schöpft die Musik ihre Kraft. Sie beeinflußt die Massen und bringt sie in Bewegung. Deswegen verbieten die faschistischen Regime und Diktatoren in ihren Ländern die Musik, die regimekritisch ist, und verbannen die Künstler oder bringen sie zum Schweigen.

Hasan Yükselir ist im Landkreis Pazarcik der Provinz Maras geboren. Bis zum Abitur lebte er in Gaziantep, danach studierte er Musik an der Gazi Universität in Ankara. Nach diesem Studium absolvierte er den Fachbereich Theaterwissenschaft an der Universität Ankara mit Magisterabschluß. Anschließend kam er nach Deutschland und spielte bei amateur-professionellen Theatergruppen mit und schrieb die Musik für viele Theater-Aufführungen. Er komponierte auch die Filmmusik für die Filme wie „Strasse der Hoffnung“ (Umut Sokagi) von Serif Gören und „Ein langer, dünner Weg“ (Uzun Ince bir Yol) von Tunç Basaran.

Er lebte lange Zeit in Köln. Mit den Kölner und Berlin-Schöneberger Sinfonieorchestern führte er Türkü-Konserleri, anatolische Lieder, auf. Die Weltpremiere von Baglama-Konçertosu hat er zusammen mit dem Kölner Sinfonieorchester interpretiert. Er komponierte aus Gedichten von Yunus Emre eine Kammeroper unter dem Titel „Yer altinda gül deren eller gördüm“. Diese Oper, die er in vielen Städten Deutschlands aufführte, spielte er mit der dänischen Sopranin Lise Tjalve, dem Österreicher Tenor Andreas Winkler, der Tänzerin Gabi Dudel, dem Pianisten Bayram Bayramogullari zusammen. Die Premiere des Konzerts mit dem Titel „Sevda Atesten Gömlek, Nazim Sarkilari“, die er aus den Gedichten Nazim Hikmets zu seinem 100. Geburtstag komponierte, führte er in der Passions-Kirche in Berlin auf. Dieses Konzert wurde mit europäischen und asiatischen solistisch wertvollen Instrumenten in 8 europäischen Städten gespielt.

Das sind nur einige seiner erfolgreichen Arbeiten.

Yükselir lebt und arbeitet, so wie er sagt, heute in Berlin sowie in der Türkei. Im Rahmen einer Gedenkveranstaltung für die vor 10 Jahren verstorbene, ebenfalls oppositionelle Volkssängerin Sümeyra Çakir, die nach dem Militärputsch 1980 ins Exil gehen mußte, hatte ich die Möglichkeit mit Hasan Yükselir zu sprechen.

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Metin Buz: Erst möchte ich mit Ihnen über Ihre Musik sprechen. Ihr Stil ähnelt dem von Ruhi Su sehr. Manche Interpretationen können kaum von einander unterschieden werden (so z.B. Wasser- und Wanderungslieder). Zwischen einigen sind sehr große Unterschiede festzustellen. Lassen Sie uns zunächst von den Ähnlichkeiten sprechen. Worauf berufen sich diese? Besteht dieser Einfluss oder der Wunsch, diesen Stil fortzusetzen?

Hasan Yükselir: Jeder Mensch, der im Schulalter den Wunsch hat, sich musikalisch zu betätigen, hat Vorbilder, denen er sich aus sozialen, politischen oder psychologischen Gründen nahe fühlt. Und dieses Vorbild beeinflusst sein Leben. Bei dem Entwicklungsprozess ahmt er es zunächst nach, dann beginnt die Sorge, anders zu sein. Dieser Prozess dauert so lange, bis der Betroffene sicher wird, seinen eigenen Stil gefunden zu haben und sich selber sagt; „das bin ich!“ Beim Sänger zeigt sich seine Andersartigkeit, sein Stil in den Interpretationen. Beim Komponisten äußert sich dieses in den „anderen“ Formen, die er komponiert. Das Idol meiner Jugend war Ruhi Su. Seine Stimme war Bass-Bariton. Meine auch. Wir hatten eine gleiche oder ähnliche Ausbildung. Sie wissen, Ruhi Su hatte den Gesangsbereich des Konservatoriums absolviert. Das hatte ich auch. Das soll heißen, dass wir beide einen Bereich absolviert haben, in dem ein sehr intensiver Gesangsunterricht erteilt wird. Nach dem Abschluss hat Ruhi Su als Solist in der Oper gearbeitet. Ich habe direkt angefangen, Volkslieder zu singen. Das heißt unser Entwicklungsprozess war ähnlich. Die politische Situation seiner und meiner Zeit unterscheiden sich kaum voneinander.

Sie haben mit Opern und Sinfonieorchestern zusammengearbeitet, Musik für Theater und Filme komponiert, also Sie waren/sind in vielen Bereichen der Musik erfolgreich tätig. Dennoch sind die meisten Lieder in Ihren Alben aus der türkischen Volksmusik. Warum bevorzugen Sie gerade die türkischen traditionellen Volkslieder?

Ich versuche mit Hilfe der höheren Künste die anatolische Kultur bekannt zu machen. Zum Beispiel das von mir komponierte „Baglama Konçertosu“ wurde vom Kölner Sinfonieorchester interpretiert. Baglama ist ein Instrument, das man fast in jedem Haus der Türken in Anatolien vorfindet. Wie Sie wissen, es gibt fast für jedes Instrument solche Kompositionen. Das ist auch eine von diesen. Somit wird das beabsichtigte Ziel deutlich; Ich wollte dieses Instrument mit hohen Standards bekannt und es zu einem Weltinstrument wie die Gitarre machen. Ich habe die von mir komponierten Orchester-Kompositionen mit den Kölner und Berlin-Schöneberger Sinfonieorchestern aufgeführt. Weiterhin habe ich eine Kammeroper komponiert und mit den europäischen Solisten interpretiert. Das Thema war aber wieder ein großer Dichter Anatoliens: Yunus Emre. Zum 100. Geburtstag von Nazim Hikmet wollte ich Lieder komponieren. Wie allgemein bekannt ist, ist Nazim Hikmet ein anatolischer, türkischer Dichter. Wir gehören zu einer anderen Gesellschaft, d.h. unser Fühlen und Empfinden ist anders. Vor allem lebe ich in Berlin und mache Musik in Europa. Meine Aufgabe ist die Interpretation von Liedern und das Singen der von mir komponierten Stücke. Es gibt nur Türkü, das Lied, das der Musik anderer Länder nicht ähnelt. Es ist eine der wichtigen Erzählformen, die unsere Gesellschaft und Kultur am besten beschreibt. Wenn man im Ausland lebt, wird die Bedeutung der Heimat bewusster. Es gibt Künstler, die die Musik ihrer Länder bestens interpretieren. Warum sollte ich deutsche Lieder oder das französische Chansons singen?

Sind seine traditionell unveränderte Interpretation und seine Schwäche gegenüber dem Sarki, d.h. Serail-Gesang, dem Gesang der Eliten, die wichtigsten Ursachen, dass sich Türkü nicht mal in der Türkei durchgesetzt hat und außerhalb der Türkei kaum bekannt ist?

Seit dem Osmanischen Reich gibt es eine besondere Neigung zum Sarki in der Türkei und es wird dort viel investiert. Trotz der Verbote nach der Gründung der Republik hat sich daran nichts geändert. Da wir in Deutschland leben, wissen wir das. Die Spanier schicken jedes Jahr ihre Flamenco-Gruppen und Orchester nach Deutschland. Sie spielen in großen Hallen und hinterlassen hier einen großen Eindruck. Die Griechen machen es genauso mit ihrem Sirtaki-Rebetiko. Ich kann diese Beispiele beliebig fortsetzen. Wir wissen, wie wichtig solche Veranstaltungen sind. Wenn wir unsere Musik bekannt machen wollen und sie gleiche oder ähnliche Bedeutung erlangen soll wie die Musik anderer Länder, dann müssen solche Anstrengungen unternommen werden. Hat Anatolien keine eigene Musik, keine eigenen Tänze? Türkü kann mit höheren Kunstmitteln und Methoden dargeboten werden. Der Staat muss in diesem Bereich investieren. Aber das geschieht nicht mit unqualifizierten Menschen oder Gruppen, die kaum zu verstehen sind oder die sich nicht vermitteln können. Dafür sind solche Menschen oder Gruppen notwendig, die lang und langatmig gearbeitet haben, sehr diszipliniert und sehr gut ausgebildet sind. Musik ist keine Freizeitbeschäftigung! Sowohl in der Türkei als auch hier fühlt sich jeder als Künstler, der ein Baglama in die Hand nimmt und etwas singen kann. Dieser sozial-psychologische Widerspruch gehört zu unseren Eigenschaften.

Bis heute wurden mehrere Gedichte von Nazim Hikmet komponiert und gesungen. Viele fortschrittliche Künstler haben in ihren Alben ein paar von Hikmet komponierten Liedern Platz eingeräumt. Sie dagegen haben eine ganze CD von Hikmets Gedichten komponiert. Sümeyra, der wir heute mit Ehren gedenken, sagte einmal, dass das Nachkomponieren eines fertigen Gedichts zu den schwierigsten Aufgaben gehöre. Weil ein Gedicht wie ein Lied sei. Es habe seiner Bedeutung und seinem Wesen nach eine eigene innere Melodie und einen eigenen Rhythmus. Eine Musik, die für das Wort geschrieben ist, darf mit der inneren Melodie, die für die Bedeutung des Wortes bestimmt ist, nicht in Widerspruch stehen. Im Gegenteil, harmonisiert sie mit der inneren Melodie muss sie die emotionale und geistige Mitteilung stärken. Das haben Sie in Ihrem letzten Album „Sevda Atesten Gömlek“ erfolgreich praktiziert. Die Künstler, die Sie hierbei begleiten - entsprechend dem Wunsch von Nazim Hikmet -, stammen aus unterschiedlichen Nationen. Hieraus ist ein ausgezeichnetes Werk entstanden. Wie kam diese Idee zustande? Wie haben Sie so viele Künstler aus verschiedenen Nationalitäten zusammengebracht?

Für Ihre positiven Gedanken über die Lieder Nazims danke ich Ihnen. Ihren Erläuterungen gibt es nichts hinzuzufügen. Dennoch möchte ich eine kurze Erklärung abgeben. Als ich in Köln lebte, hatte ich mit einigen Kunstliebhabern zusammen eine Kunsteinrichtung unter dem Namen „su art“ gegründet. In unserer Gründungsmiteilung hatten wir festgelegt, dass wir etwas Neues von Nazim Hikmet unter dem Titel „Sevda Atesten Gömlek“ herausgeben. Das war 1997. Nach 5-jähriger Forschung und Arbeit habe ich im Jahre 2002 die Premiere gefeiert. Ich war neugierig auf das Fühlen und Empfinden der Künstler aus den anderen Ländern. Darauf hin habe ich mit den hier lebenden namhaften Instrumentalisten Kontakt aufgenommen, ihnen meine Idee erzählt. Das besagte Werk entstand aus dieser Zusammenarbeit. Die Aufnahme der Lieder Nazims auf die CD erfolgte live auf einem Konzert, nicht in irgendeinem Studio.

Wie Sie wissen, beeinflusst Bildung den Menschen. Sich-Ändern/Ändern-Lassen bedeutet die Entdeckung und Entfaltung des im Menschen verborgenen Potentials. Beim Vollzug dieses Prozesses wird die Umgebung, in der sich der Betroffene befindet, eng, der Horizont breiter. Zusammengefasst heißt das, dass sich der Blick dieses Menschen auf die Vorkommnisse, Entwicklungen, Bräuche, auf die Gesellschaft und seine Beurteilung dieser ändert. Nur der, der diese Entwicklung vollzieht, gilt als Gebildeter und nicht derjenige, der irgendeine Schule absolviert hat. Gilt das auch für die Musikausbildung? Was ist das Ziel der Musikausbildung?

Jeder Mensch hat in sich eine Neigung zu den verschiedenen Kunstbereichen. Manche üben das als Hobby aus. Andere wählen es als Beruf, bilden sich aus und werden schließlich zu Spezialisten ihres Faches. Die Bildung macht den Unterschied. Zu einer fortgeschrittenen Kultur, ich meine die Kultur, die unsere Gesellschaft braucht, kann nur der gelangen, der eine Musikbildung absolviert hat und diese fortgeschrittene Kultur verstehen kann. Sagte Ruhi Su. Ist hier noch etwas hinzuzufügen?

In Ihrer Rede zum Gedenktag von Sümeyra haben Sie auf die Bedeutung der Musikerziehung und der gebildeten Musikanten hingewiesen. Es ist tatsächlich so, dass seine Interpretation, die Art des Singens, die Besetzung der Wörter den Gebildeten von anderen unterscheidet und der Musik ihre wahre Schönheit verleiht. Können Sie auf die Bedeutung der Musikerziehung tiefer eingehen? Um einen solchen Künstler zu verstehen, der mit Musikerziehung ausgestattet ist, besser gesagt, um eine solche Musik genießen zu können, muss der Zuhörer nicht ein gewisses Maß an Musikerziehung besitzen? Ist das Ungebildetsein nicht die Ursache der sich wie eine gefährliche ansteckende Krankheit ausbreitenden Arabeska? Was können Sie zu der Musikausbildung in der Türkei sagen?

Der Geschmack des Zuschauers wird sich dann ändern. Sein Musikgehör wird sich folgerichtig ändern. Die Bevorzugung der guten und schlechten Musik wird sich auch ändern. Wie Sie in Ihrer Frage formuliert haben, werden Arabeska und arabeskaähnliche Werke tagtäglich in den Medien präsentiert. Es werden Zuschauer herangezogen, die sich von dieser Art der Musik angesprochen fühlen. Die Regierungen haben auch keine Politik entwickelt, um dies zu verbessern. Das passt ihnen gut. Deswegen haben die Musikproduzenten bevorzugt mit solchen Musikanten zu arbeiten. In der Türkei sind die Bildungsbereiche wie alle Instutionen der Gesellschaft verkommen...

In den letzten Jahren wurden solche ästhetischen Künste wie Musik und Literatur kommerzialisiert. Das führt zwar nicht dazu, die Kunst als solche aus der Welt zu schaffen, aber schwächt sie. Das Kapital entwickelt Ästhetik nach seinen Bedürfnissen und lässt die Masse dies akzeptieren. Auf diese Weise verhindert es, dass die echte Kunst die Masse erreicht. Ist das Überleben, das Weiterbestehen der ästhetischen, bildenden Kunst und der gebildeten Künstler in einer Umgebung, in der die Arabeska wie Pilze aus dem Boden schießen und wo der physischen Eigenschaft und Schönheit mehr als der Stimme und dem Talent Bedeutung gemessen wird, nicht besonders schwierig?

Und wie! Die Worte reichen nicht aus, um es zu beschreiben. Das System funktioniert so, wie ich in diesem Gespräch schon darauf hingewiesen habe. In der Türkei werden solche Produkte verkauft, wie Sie geschildert haben. Neue Arabesk-, Türkü- und Sarki-Sänger werden von vielen Medien oder Kommentatoren Seiten lang gepriesen. Es geht sogar soweit, dass diese Interpreten wie Philosophen beschrieben werden. Sie bringen ein Wimmern, ein Seufzen heraus, dass man wirklich nichts versteht, was sie sagen oder sie bringen nicht mal zwei zusammenhängende Worte heraus...

Wie ist Ihre Erfahrung über das Musikverständnis der Menschen beider Länder als einer, der in zwei Ländern lebt und produziert?

Wenn man als Angehöriger einer anderen Gesellschaft in Deutschland Musik produziert, wird man sicherlich von der Musik der Einheimischen beeinflusst. Die Einflüsse der Herkunft bleiben jedoch bestehen. Ich glaubte, alles berechnet zu haben, was ich alles machen wollte, als ich nach Deutschland kam. Europa und natürlich Deutschland hat in Religion, Musik und Wissenschaft die Renaissance erlebt und wie wir wissen, ist es das Zentrum der Musik und der Kunst des Westens. In unserer Musik aber auch in anderen Bereichen ist uns kein Durchbruch gelungen. Wir haben dennoch sehr bedeutende Künstler.