MEDIEN-KULTUR-SCHAU

»Kahrolsun sebep olanlar« oder: Sucht immer nach den Ursachen und den Schuldigen!

Dido Sotiriou: Leben und Werk

Anfang der 80er Jahre, als junge Studentin in Köln, kurz vor meiner Zwischenprüfung, musste ich mir eine/n griechische/n Autor/in und ihr/ sein Werk als Thema meiner schriftlichen Klausur suchen. Da stand ich also in der reich bestückten Institutsbibliothek und las die Umschläge der Bücher, um herauszufinden, ob sie mich interessieren, und eventuell als Prüfungsthema in Frage kämen.

Das war meine erste Bekanntschaft mit allen bis dahin erschienenen Büchern von Dido Sotiriou, der Grande Dame der griechischen Literatur - wie sie genannt wurde -, die 95jährig und nach langjähriger Krankheit am 23. September 2004 aus dem Leben schied.

Vor allem ihr Roman „Blutige Erde“ (dt. „Grüß mir die Erde, die uns beide geboren hat“, Köln, Romiosini 20023) hatte sofort mein Herz gerührt und gewonnen, stamme ich doch auch aus einer Familie, die beiderseits aus Kleinasien vertrieben worden ist. Doch das was ich las, unterschied sich in vielen Punkten von den Erzählungen der Großeltern: Vorwiegend das friedliche Zusammenleben zwischen Türken und Griechen, das im ersten Teil des Buchs beschrieben wird, war mir fast völlig unbekannt - war bei den Großeltern vielleicht nur der negative Beigeschmack der Kriegsereignisse der letzten Jahre in ihrer Heimat Kleinasien vor dem Bevölkerungsaustausch geblieben, was eigentlich eine regelrechte Vertreibung auf Vertragsbasis war? Ich wollte es genau wissen und verschlang auch ihren ersten Roman „Die Toten warten“ (1959), der als Vorreiter von „Grüß mir die Erde …“ gilt, sowie ihre Studie „Die Kleinasiatische Katastrophe und die Strategie des Imperialismus im Östlichen Mittelmeer“ (1975); in beiden setzt sich die Autorin ausführlich mit diesem Thema auseinander, indem sie einerseits Autobiographisches, andererseits genaueste journalistische Recherche verarbeitet. Nun, dachte ich, muss ich sie unbedingt persönlich kennen lernen, also schrieb ich ihr über mein Vorhaben, ihre Werke als mein Prüfungsthema zu nehmen. Sie schrieb mir zurück. Nicht nur das. Es folgten einige Sendungen mit Material: Photos, Kopien von Briefen der Leser ihrer Bücher, sowie von Stellungnahmen einiger ihrer Schriftstellerkollegen zu ihren Büchern, und auch von ausführlichen Interviews u.v.m. Als sie dann 1986, aus Anlass des Erscheinens ihres Romans „Grüß mir die Erde…“ in deutscher Sprache nach Deutschland und speziell nach Köln kam, trafen wir uns bei einer Veranstaltung in der Griechischen Gemeinde Köln. Der Saal war voll, meine Aufregung sehr groß - ich durfte immerhin die deutschen Texte ihrer Bücher lesen -, aber sie hat sich auf ihrer ruhigen, gelassenen Art den manchmal politisch scharfen Fragen ihres Publikums gestellt, und ein fruchtbares Gespräch mit ihnen geführt. Dies bezeugte Erfahrung, Lebenserfahrung. Und die hatte sie, die Dido Sotiriou.

Sie wurde in Aydin an der Kleinasiatischen Küste geboren, dort verbrachte sie auch die ersten Jahre ihrer Kindheit. Ihr Vater war Sohn eines Dichters und Lehrers an der Großen Griechischen Schule der Nation in Istanbul und seine Familie stammte aus Volos. Er beherrschte viele Sprachen und war von Beruf Industrieller. Ihre Mutter war Tochter eines Priesters aus dem Dodekannes, und ihre Brüder waren Händler und sehr gebildet. Dido Sotirious Mutter hatte eine große Phantasie und viele Begabungen, die jedoch ungenützt blieben. Der Krieg, der nach der griechischen Besatzung 1919 in Kleinasien folgte, setzte Aydin in Flammen, und da die Bevölkerung schweren Massakern ausgesetzt wurde, ist die Familie nach Smyrna geflüchtet. Dort blieben sie drei Jahre, dann wurde auch Smyrna niedergebrannt, und so nahm Dido Sotirious Familie - wie auch andere griechische Familien damals - den endgültigen Fluchtweg nach Griechenland. Dort, in Piräus angekommen, nimmt sich eine reiche, kinderlose Schwester ihres Vaters der kleinen Dido an und so hat sie die Gelegenheit, das bürgerliche Leben hautnah mitzuerleben, was Vor- aber auch Nachteile mit sich bringt. Denn Dido darf z.B. nicht alles lesen und schreiben, was sie möchte. Andererseits hat sie nun die Möglichkeit nach Paris, Wien, Budapest, Venedig, Florenz und auch in mehrere andere Städte zu reisen, was ihren geistigen Horizont erweitert. Schon als Schülerin las sie Bücher von M. Nordau, F. Nietzsche, A. Schopenhauer und L. Tolstoi. Sie hatte das Glück, den griechischen Prosaschriftsteller Kostas Paroritis als Lehrer zu haben. Er ermutigt sie dazu zu schreiben und versorgt sie mit Literatur. Dido Sotiriou setzte sich bereits während ihrer Schulzeit in vielen Vorträgen mit der griechischen Sprache und Literatur auseinander. Da sie dazu neigte, die Volkssprache zu verehren, nahmen ihre Erziehungsberechtigten sie von der Schule, und sie erhielt zu Hause Privatunterricht von der Lehrerin und späteren Schriftstellerin Sophia Mavroidi-Papadaki. Durch diese Bekanntschaft, die sich zu einer engen, freundschaftlichen Beziehung entwickelte, kam Dido Sotiriou in einen Schriftstellerkreis, in dem sie viele griechische Schriftsteller, darunter Galatia Kazantzaki und ihren berühmten Bruder Nikos, Dimitris Glinos und den Dichter Kostas Varnalis persönlich kennen lernte. Nach dem Tod ihrer Tante fühlte sie sich unabhängig genug, um sich mit großer Leidenschaft an den Kämpfen des griechischen Volkes für Demokratie zu beteiligen. Sehr früh schon hat sie sich mit dem Journalismus beschäftigt. Sie war Redaktionsmitglied der Zeitschrift „Protopori“ (Pioniere) und übersetzte gleichzeitig in der Presse Artikel über Sozialismus. 1936 begann sie mit ihrer Arbeit in der Zeitung „Neos Kosmos“ (Neue Welt). Sie gehörte auch der Chefredaktion der KP-Zeitung „Rizospastis“ (1944) und der Zeitschrift „Jinäka“ (Frau) - war sie doch eine der ersten Frauen in Griechenland, die sich für die Gleichstellung der Frau in der Gesellschaft einsetzten, und das nicht nur theoretisch. Nach der deutschen Besatzung (1945) spezialisierte sie sich auf Themen der Außenpolitik und veröffentlichte entsprechende Kommentare in der Tagespresse, nach dem Krieg in der Zeitung „Avji“ (Tagesanbruch). 1946 schrieb sie ihr erstes Buch mit dem Titel „Die deutsche Frage und die Zukunft Europas“, das aber nicht veröffentlicht wurde, wegen des schon begonnenen Bürgerkriegs in Griechenland. Das Manuskript wurde im Dachboden einer Wohnung in Athen versteckt und verschwand später in den Trümmern des niedergerissenen Gebäudes.

Auch der 1976 erschienene Roman „I Endoli“ (dt.: Das Gebot, Köln, Romiosini 1992) basiert auf einer Geschichte mit Personen aus dem engen Familien- und Freundeskreis der Autorin: Am Samstag, den 30. März 1952, um 4:10 Uhr morgens wurde Nikos Belojannis (jener Mann mit der Nelke, den P. Picasso mit seiner Zeichnung auf der ganzen Welt berühmt machte) zusammen mit drei weiteren seiner Genossen - alle zu den Kadern der KPG gehörend - hingerichtet. Belojannis’ Lebensgefährtin war Elli Papa - Sotirious Schwester. Beide Frauen verband immer eine innige Beziehung, die über die Verwandtschaft hinausging. Das Leben ihrer Schwester und ihre Beziehung zu Nikos Belojannis, die Situation in der KPG, sowie die Zustände, die in jenen Jahren des Kalten Kriegs nach dem Bürgerkrieg im Land herrschten (Intrigen der einheimischen und ausländischen Geheimdienste, antikommunistische Hysterie, politische Prozesse gegen Andersdenkende, vom Staat getriebener oder geduldeter Terror gegenüber den demokratischen Kräften und zuletzt Exekutionen), waren der allgemeine Rahmen für „Das Gebot“. Sogar die dort benutzten Namen und Pseudonyme sind die wahren ihrer Helden. Dem Roman sind am Ende Dokumente aus der Korrespondenz von Nikos Belojannis mit Elli und mit seiner Mutter sowie aus dem Briefverkehr von Elli an ihren Sohn Nikos - der während der jahrelangen Inhaftierung seiner Mutter von seiner kinderlosen Tante Dido großgezogen wurde - beigefügt. Wie die meisten ihrer Romane in der Ich-Form geschrieben, enthält auch dieser Roman ein Hauptmerkmal der Schreibweise von Dido Sotiriou: nämlich die Vermischung wahrer, historischer Ereignisse mit fiktiven, und zwar auf eine solche Art und Weise, dass sich der Leser immer wieder vergegenwärtigen muss, auf welcher Ebene er sich jeweils befindet.

Dido Sotiriou fesselt ihre Leser nicht nur mit ihren Themen, sondern auch durch eine ausdrucksvolle Sprache, durch spannende Dialoge und detaillierte Beschreibungen des Alltags. In „Grüß mir die Erde…“ bedient sie sich des Idioms der Griechen aus Kleinasien, was die Erzählung lebendiger macht, und lässt zahlreiche Sitten und Gebräuche in die Geschichte einfließen, was dem Roman ein farbenfrohes Flair verleiht. Ihre „Sprache erhält Flügel und zieht uns in ihren Sog“, bemerkte ihre ehemalige Lehrerin Sophia Mavroidi-Papadaki nach Erscheinen dieses Romans.

Diese meisterhafte Mischung von Thema und Sprachstil hat der Autorin schon sehr früh die Anerkennung des Lesepublikums, nicht nur in Griechenland, beschert; ihre Romane sind in viele Sprachen übersetzt worden, Auszüge aus „Grüß mir die Erde…“ sind sogar in Schulbüchern in der Türkei enthalten. Die offizielle Ehrung ließ zwar auf sich warten - Dido Sotiriou sagte einmal in einem Interview, sie erwarte keine Preise, denn sie habe die Gewissheit, dass man nicht vergessen wird, wenn man jemand Wichtiger war - kam aber doch noch: 1983 der Ipekçi-Preis (für ihren Beitrag zur Freundschaft zwischen den Völkern in der Türkei und Griechenland), 1989 der griechische Spezial-Staatspreis, 1990 der Große Preis der Athener Akademie und die Medaille des Phoenixordens sowie die französische Medaille des Ehrenordens. 1997 wurde sie zusammen mit anderen Persönlichkeiten aus dem weiten Bereich der Kunst, Literatur und Wissenschaft zum Ehrenmitglied des Verbands Griechischer Presseredakteure ausgerufen.

Eine andere, mittlerweile auch verstorbene griechische Schriftstellerin, Lili Sografou schrieb an Dido Sotiriou: „Selten ist aus einer solch’ zärtlichen Nostalgie ohne jegliche Spur von Eigeninteresse eine solch’ donnernde Anklage herausgesprungen.“

Denn ganz offensichtlich hat sie den Schwerpunkt der Botschaft ihrer Bücher (insgesamt 6 Romane, ein Band mit Theatermonologen und ein Erzählband, der beim Druck war, als sie gestorben ist) in der Verurteilung von Kriegen allgemein gelegt, die - so die Autorin - „im Menschen das Tier in seiner Seele wecken und alles andere vergessen lassen“. Verdammt werden aber auch diejenigen, die Kriege verursachen. Kahrolsun sebep olanlar!

Sophia Georgallidis

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Michael Loeckle

Die blockierte Republik

Deutschland zwischen Wahn und Wirklichkeit. Battert Verlag, Baden-Baden 2004, 397 Seiten

Michael Loeckle, dessen Name der Leserschaft der „Brücke“ seit langem vertraut ist, hat sich jetzt an die breite Öffentlichkeit mit einem mutigen, wichtigen und packenden Buch gewandt. Ein Buch gegen den Strom, gegen die „Political Correctness“ und gegen die selbstherrlichen und selbstgefälligen Vorstellungen, die der Durchschnittsdeutsche weiterhin über sich selbst hat - trotz der unheilvollen Vergangenheit und der verlogenen Gegenwart dieses Landes. Es handelt sich um eine schonungslose Abrechnung mit all dem, was dieses unselige Volk im Laufe seiner geschichtlichen Entwicklung falsch gemacht und auf dem Gewissen hat. Applaus für seine kritische Auseinandersetzung mit seinen Landsleuten wird der Verfasser freilich kaum ernten, eher Gehässigkeit und Unverständnis.

Eine so gründliche Aufklärungsarbeit über die Deutschen war längst fällig. Dass die etablierten Autoren dieser Aufgabe aus dem Weg gegangen sind, ist kein Zufall, sondern zeigt vielmehr, dass das einzige, was die Kulturindustrie der BRD im Moment produzieren kann, Apologetik, Konformismus und unbedingte Anpassung an die bestehenden Machtverhältnisse ist. Dieses feige Schweigen über die deprimierende Realität dieses Landes hat Michael Loeckle mit bewundernswerter Civil Courage gebrochen, um seinen Landsleuten die Wahrheiten ins Gesicht zu schleudern, die der größte Teil von ihnen aus Mangel an Mut und Aufrichtigkeit entweder verdrängt oder verleugnet.

Michael Loeckle hat nicht nur ein brisantes und streitbares, sondern auch ein streng wissenschaftliches Werk zustande gebracht, wie das umfassende Arbeitsmaterial beweist, das er herangezogen hat, um seine Thesen zu untermauern bzw. zu ergänzen, darunter rund 50 Seiten Fußnoten und mehr als 15 Seiten bibliographische Quellen. Auch in dieser Beziehung eine beeindruckende Leistung. Michael Loeckle hat alle oder fast alle deutschen und ausländischen Autoren zu Wort kommen lassen, die etwas Substantielles über Deutschland zu sagen hatten, so dass sein Buch in gewisser Weise zu einem kulturgeschichtlichen Traktat geworden ist. Hier einige der zitierten Autoren: Goethe, Schiller, Lessing, Schopenhauer, Heinrich Heine, Nietzsche, Tucholsky, Adorno/Horkheimer, Thomas, Heinrich und Klaus Mann, Karl Jaspers, Hannah Arendt, Erich Fried, Alexander und Margarete Mitscherlich, Helmuth Plessner, Erich Fromm, Carl Amery, Ortega y Gasset, Peter Sloterdijk, Hermann Glaser, Ralph Giordano und der Verfasser dieser Rezension.

Loeckle befasst sich sowohl mit der Vergangenheit wie mit der Gegenwart Deutschlands, spricht in diesem Zusammenhang von der „Eroberungslust der Urgermanen“ und setzt sich mit der langen Reihe von Tyrannen auseinander, die dieses Volk längst vor Hitler hervorgebracht hat, wobei er immer wieder auf den Kontinuitätsprozess verweist, der zwischen der Nazi-Zeit und der Bundesrepublik besteht. Das gilt nicht nur für die Politik, sondern auch für den Alltag, die Kunst, die Unterhaltungsindustrie, die Literatur, das Avantgarde-Theater oder die Neue Musik, die vernichtend kritisiert werden. Der Autor wirft unter anderem den Deutschen vor, an „kollektiver Herzinsuffizienz“ und an „pathologischem Narzissmus“ zu leiden. Er stellt dabei fest: „Alle Versuche der letzten Jahre, den Bundesbürgern durch Benimmseminare das zivilisatorische Minimum beizubringen, sind mehr oder weniger gescheitert“. Weiter heißt es: „Dass Germaniens Gartenzwerge so stupide, plump und stumpf wie Sauropoden über dies Territorium tappen, markiert in erschreckender Weise den ästhetischen Entwicklungsstand eines Volkes, das sich nicht dem Streben nach Wahrheit und Schönheit, sondern einer Diktatur der Hässlichkeit unterworfen hat, die zugleich manifester Ausdruck endogener Disharmonien ist“. Fazit: einerlei ob der Deutsche als brutaler Welteroberer, als Tourist oder als Michel und Pantoffelheld Zuhause auftritt: was sich nicht ändert sind seine schlechten Manieren, seine seelische Rohheit, seine infantile, unkritische Neigung zur Selbstüberschätzung, sein tiefsitzender Untertangeist und seine unheilvolle, hybride Mischung aus protziger Arroganz und uneingestandem Inferioritätsgefühl. Zumindest in dieser Beziehung ist das „Täusche-Volk“ (Nietzsche) treu zu sich selbst geblieben.

Das Buch Loeckles besticht nicht nur durch seinen Inhalt und seinen wissenschaftlichen Apparat, sondern auch durch seine aussagereiche Sprache, seine phantasievollen Wortschöpfungen und seinen strategisch geschickten Einsatz von Ausdrücken aus fremden Sprachen. Hervorzuheben wäre ebenso der bissige, spöttische Grundton seines Diskurses, auch sein Sinn für Humor und Ironie, so dass der Leser oft von unüberwindbaren Lachkrämpfen erfasst wird. Nicht zuletzt kraft dieses hintergründigen aber immer gegenwärtigen Sarkasmus erreicht die Auseinandersetzung mit dem gestrigen und heutigen Deutschtums den Charakter einer regelrechten Exekutionsmaschine.

Auch wenn man nicht unbedingt mit allen Thesen und Aussagen des Autors einverstanden sein muss: er hat in vielerlei Hinsicht ein denkwürdiges Buch geschrieben, das uneingeschränkte Achtung und Bewunderung verdient.

Heleno Saña


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Mark Terkessidis

Die Banalität des Rassismus

Migranten zweiter Generation entwickeln eine neue Perspektive. transcript Verlag, Bielefeld 2004, 2004, 224 Seiten, 23,80 Euro

Diese Studie des autonom agierenden Autors Mark Terkessidis läßt sich nicht als eine Reaktion auf den anhaltenden Kopftuch-Streit beschränken. Seine sozialen Assoziationen über die Gesellschaftsformation ethnisierter Differenzen sind seit Jahren zumindest im Spektrum der aktiven Migrationsszene prominent - erschienen in etlichen Tages- und Wochenblättern sowie einigen Buchpublikationen wie „Psychologie des Rassismus“ (Opladen/Wiesbaden 1998), „Migranten“ (Hamburg 2000), „Mainstream der Minderheiten. Pop in der Kontrollgesellschaft“ (herausgegeben mit Tom Holert, Berlin 1996) und „Entsichert. Krieg als Massenkultur im 21. Jahrhundert“ (Autorenteam, Köln 2002).

Im vorliegenden Band vertieft er seine Analysen über die Eigenart der rassistischen Routine weiter und nähert sich dabei den Wurzeln dieses zivilisatorischen Typus. Sein zentrales Augenmerk steuert nicht darauf hin, sich mit dem Rassismus als ausgefallenes Phänomen auseinanderzusetzen, sondern ein negatives Urteil über die metropolitan postierte Studiokratie zu fällen, was längst fällig ist. Sie habe „geradezu erschreckende Defizite“, pointiert Mark Terkessidis im Vorwort: „Sie ist theoretisch inkohärent und methodisch fragwürdig. Zudem weist sie keinerlei Kontinuität auf. Geforscht wird gewissermaßen stoßweise - nämlich immer dann, wenn sich in der Gesellschaft Gewalt oder Extremismus zeigt. ...

Der Begriff Rassismus ist in Deutschland ein rotes Tuch. Er ist strikt reserviert für Gewalttaten gegen Migranten, Juden oder andere Minderheiten, oder für Extremismus im Sinne der politischen Ideologie. Bei der Gewalt wird gewöhnlich davon ausgegangen, dass Jugendliche dafür verantwortlich sind - Jugendliche, die auf die eine oder andere Weise ‚gestört‘ sind. Beim Extremismus dagegen, so wird allgemein angenommen, handelt es sich um die Weltanschauung der ‚Ewiggestrigen‘, um ein Überbleibsel der Vergangenheit. Aber ob nun die Unreifen oder die Unverbesserlichen die Schuld für das Auftreten des Rassismus tragen, stets gilt Rassismus als eine Ausnahme im gesellschaftlichen Funktionieren, als Bruch in der ansonsten friedlichen ‚Normalität‘. Dieser angebliche Bruch löst eine Art moralische Krise aus. Denn jedes noch so kleine Anzeichen von Rassismus im oben genannten Sinne sorgt für ein Wiederauftauchen der Vergangenheit, für die Erinnerung an den Nationalsozialismus. Und obwohl eigentlich niemand mehr den Vorwurf erhebt, dass in Deutschland demnächst wieder der Nazi-Mob umgehen würde, setzt die unausweichliche Verbindung mit dem ‚Dritten Reich‘ nicht nur eine moralische Krise, sondern gleichzeitig auch Abwehrmechanismen in Gang. Denn die Mehrheit im Lande ist der Auffassung, dass alles getan wurde, um die Geschichte aufzuarbeiten, und dass Deutschland heute weltoffen und ‚ausländerfreundlich‘ ist. Daher gilt der Vorwurf des Rassismus - vor allem, wenn es nicht um Gewalt oder Extremismus geht, sondern um ‚kleine‘ Erlebnisse wie das eingangs beschriebene - als Beleidigung.“

In diesem „ganz banalen Rassismus“, über den in diesem Buch Migranten zweiter Generation Auskunft geben, spürt der Autor eben jenen Apparat auf, der Menschen systematisch zu „Fremden“ macht - fundiert auf der Fiktion jener kulturellen Identitäten, die bei der alltäglichen Allianz der Media-, Studio- und Politokratie auf den Plan treten, und zwar als geeigneter Ansatzpunkt für eine Gesellschaftsformation der ungleichwertigen Unterschiede. „Indem über das Dasein der Migranten spekuliert wird, entsteht ein negativer Spiegel, in dem die Einheimischen ihre positiven Eigenschaften betrachten können: Weil ‚sie‘, die nicht hierher gehören und eigentlich woanders leben, traditionell, sexistisch, fanatisch und kriminell sind, erscheinen ‚wir‘ als beheimatet, weltoffen, gleichberechtigt, tolerant und anständig. So werden beide Gruppen in einem Prozess erzeugt und positioniert.“

Gewöhnlich wird der Migrant aus dem Orient als archaisches Objekt gemustert, muß daher den Lackmustest für Demokratie bestehen, um in den Genuß des politisch Korrekten als geläuterter Muselman zu gelangen. Natürlich nur zeitweilig. Denn der Kapitän der integrationalen Vitalienbrüder kann aus der Haut fahren, wenn sein Weltbild nicht mehr Bestand hat - obgleich im Blickfeld der Maulkorb-Paragraphen. In dieser Funktion lädt er die subalternen Gilde-Gesellen der Media- und Studiokratie zur Aktion ein, wenn z.B. das Kopftuch als Symbol der postmodernen Reaktion auf die Moderne trifft, als peripheres Nein zum metropolitanen Modell der Universalität. Diese Koalition tut alles, um wohlgeordnet weiter zu amtieren, indem sie werktäglich mindestens einen Kübel Mist austeilt, den die unterlegenen Fremden des Volksstaates auszulöffeln haben. Damit erscheint die Vitalität der majoritären Autorität humanitär abgesichert, nämlich im Zementieren der Unterschiede. „Doch der Unterschied lässt sich von der Ungleichheit nicht trennen. Bestimmte Gruppen werden in die Institutionen des Arbeitsmarktes, der Staatsbürgerschaft und der kulturellen Hegemonie einbezogen, um dadurch ausgeschlossen zu werden. Der Unterschied wird so als gesellschaftlich relevante Differenz (re)produziert. Und diese Differenz ist keineswegs deckungsgleich mit den verschiedenen, etwa kulturellen Praktiken in Teilen der Bevölkerung. ...

Wichtiger als die intentionalen Formen von Rassismus sind eben jene, die ins ‚normale‘ gesellschaftliche Funktionieren eingelassen sind. Diese Formen machen eine bestimmte Gruppe sichtbar, die überhaupt erst als ‚Problem‘ identifiziert und zum Ziel von Gewalt werden kann. Und wenn man erst einmal verstanden hat, welche Mechanismen es sind, die diese Gruppe sichtbar machen, dann kann man auch intervenieren.“

Mark Terkessidis über den explorativen Charakter seiner Studie: „Sie hat die für den Rassismus konstitutive Trennung zwischen ‚ihnen‘ und ‚uns‘ beschrieben - im hiesigen Fall die Trennung zwischen ‚Deutschen‘ und ‚Ausländern‘. Aber obwohl diese Trennung in Deutschland weiterhin recht strikt funktioniert, befindet sie sich längst in Auflösung. Das bedeutet, dass der Alltagsrassismus als ein Werkzeug, mit dem man einen Unterschied herstellt, sich immer kleinteiliger über die Gesellschaft verbreitet. ... In gewissem Maße lässt sich behaupten, dass insgesamt in der Gesellschaft immer weniger über den Zustand derselben geredet wird, sondern über die Menschen, die darin leben - über ´Wessis‘, ´Ossis‘, ‚Kanaken‘, Aussiedler, ‚Asylanten‘, Juden und noch viel kleinere Einheiten. So ist Rassismus vielleicht schon zu einer Art Modell für die Artikulation von Ungleichheitsverhältnissen in einer zersplitterten Gesellschaft geworden. Und dennoch ist das Wissen über Rassismus weiterhin gering.“

Was schließlich den aktuellen Antirassismus angeht, dieser Pop-Prozeß stellt kein progressives Projekt dar, weil sein Gegenwert von der Existenz des Rassismus abhängt. Er erheischt ein Objekt, auf das er reagieren kann, um sich rechtfertigen zu lassen. Kulturelle Differenzen wiegen aber als Konstrukte, die es gilt zu entethnisfizieren, wenn die sozialen Hierarchien heruntergeschraubt werden sollen.

Necati Mert