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»We will not forget, but our hearts are set / on tomorrow and peace once again« - Kritische Gedanken zum Nordirlandkonflikt und Rezension von Bobby Sands' Aufzeichnungen A Day In My Life (Ein Tag in meinem Leben), Unrast-Verlag, Münster 1998 - von Ni Gudix

   
Die Netz-Brücke
 

Plusminus Null?

Fünf Jahre ist es jetzt her seit dem Karfreitagsabkommen in Belfast Tony Blair, der britische Premier, und Bertie Aherne, der irische Taoiseach,(1) schüttelten sich damals die Hände und strahlten sich an, was bedeuten sollte, daß sich Nordirland, diese schmerzhafte Schnittstelle von Irland und Großbritannien, endlich in Richtung Frieden bewegte. Dann bekamen David Trimble, der Vorsitzende der pro-britischen gemäßigten UUP, und John Hume, der Kopf der republikanischen SDLP, den Friedensnobelpreis. Und dann?
Im März 2000 war ich zum ersten Mal in Belfast und war verzaubert von dem freundlichen, offenen und selbstbewußten Klima in der Stadt. Plusminus Null, dachte ich, das war's, das war Belfast: Weder britisch noch irisch, sondern nordirisch. Ein ganz eigener und eigenständiger Charme. Weder britisch i.S.v. spießigem Ex-Empire-Getue, noch irisch i.S.v. der mitunter nervtötenden Grüne-Insel-Romantik, die einem in Dublin oder, schlimmer noch, in Kerry von jeder Ecke erschlug. Das war's für mich, das war die Formel, von der aus Belfast sozusagen an einer Tabula Rasa wieder von vom beginnen konnte: +/-0. Ein progressiver Neuanfang. Nie und nirgends schien mir das so greifbar nahe wie hier. Die Konfessionen, die sich seit hunderten von Jahren unversöhnlich gegenüberstanden, weil es dabei ja nicht nur um katholisch oder protestantisch, sondern um pro- . irisch oder pro-britisch, um solidarisch-für-die-Unterdrückten oder solidarisch-für-die-Unterdrücker ging, bewegten sich aufeinander und auf eine ökumenische Zukunft zu. Plusminus Null heißt natürlich nicht: Vergeßt das Gewesene, sondern: Überwindet es! Jeder weiß (dies ist auch im subjektiv-psychologischen Bereich so), daß man die Vergangenheit nicht ruhen lassen kann, solange sie nicht auf- und abgearbeitet ist, solange sie noch Gegenwart ist und sich ergo jederzeit in der Zukunft wiederholen kann. Großbritannien hatte Irland jahrhundertelang mißbraucht und mißhandelt, das ist ein Fakt, den man nicht vergessen und nicht einfach abtun kann, zumal wenn diese Mißhandlung nicht etwa Hunderte von Jahren zurückliegt, sondern, wie im Fall Nordirland-Troubles, in den letzten dreißig Jahren immer wieder spürbar wurde. Aber dem irisch-nationalistischen Schlachtruf
"tiocfaidh àr là!"(2) ist genausowenig zuzustimmen wie Ian Paisleys "Ulster will fight for Ulster will be right!" Beides ist nichts weiter als reaktionäre Demagogie, und das können wir hier am allerwenigsten gebrauchen. Nicht Rache, sondern Einsicht ist gefordert, ein Aufeinanderzugehen mit der Bereitschaft des Zusammenlebens. Es hat keinen Sinn, die jeweils andere Konfession zu hassen und ausrotten zu wollen, sondern jede Seite muß ihre Fehler einsehen und sich entschuldigen, die Briten für ihre Repressionspolitik und die IRA für ihr mitunter nicht viel humanere "an eye for an eye"-Terroraktionen. Genau das glaubte ich zu spüren, als ich Trimble und Hume im Fernsehen sah und als ich im März 2000 die Falls Road entlang bummelte und über die Donegall Road wieder zum City Centre zurückschlenderte. Fuck the English!, stand an einer Mauer, und direkt daneben: Fuck the Irish! Das ist Belfast-Punk: Scheiß auf alles, denn WIR SIND WIR! Und an dieser Mauer am Westlink und zu diesem Zeitpunkt war das nicht destruktiv, sondern konstruktiv-selbstkritisch, selbstironisch und selbstbewußt. Natürlich: Politiker, die fürs Fernsehen grinsen und Verträge unterzeichnen, sind das eine, und die Wirklichkeit, die mit diesen Verträgen geregelt werden soll, ist das andere - aber Hume! dachte ich. Hume! Der ist doch kein weltfremder Schlipsträger, der hatte doch 1968 mit den katholischen Underdogs für Menschenrechte demonstriert, der mußte sich doch auskennen!
Und dann? Dann kam der Rückschlag. Im Sommer 2001 trat Trimble zurück, weil sich die IRA angeblich nicht an den Vertrag hielt. Dann veranstalteten die Oranier bei ihren Märschen schlimmere Krawalle als je zuvor, und im September wurden in Ardoyne im Nordwesten von Belfast katholische Schulmädchen von protestantischen Anwohnern bespuckt, beschimpft und mit Gegenständen beworfen. Das, schrieb Bettina Gaus in der taz in ihrem Jahresrückblick, war fur sie das schmerzhafteste Ereignis 2001, nicht etwa der Anschlag aufs WTC in New York. Auch mir hatte es die Sprache verschlagen. Sicher, es handelt sich hier nicht um "die Protestanten", sondern um Häufchen fanatischer Irrer; aber abtun kann man es auch nicht. Jemand, der in den Siebzigerjahren bei den Troubles dabei war und es also wissen muß, sagte klipp und klar, für ihn sei mit Ardoyne der Friedensprozeß gescheitert, und das hier könne man, was Menschenverachtung und blinder Rassismus betraf, durchaus als Revival der Troubles ansehen. Als Versuch eines Revivals. Rückfall. Clinton verglich die verfeindeten Konfessionen in Nordirland mal mit Hardcore-Alkoholikern:
Sie schaffen es einfach nicht loszukommen von dem, was sie selbst zerstört. Bei den Alkoholikern ist das der Fusel, bei den Prods und den Taigs(3) in Belfast das verzerrte Bild, das sie von der jeweils anderen Konfession haben, und die daraus abzuleitende Psychosen. Im Juli 2002 war ich wieder in Belfast. In Ardoyne waren die Bürgersteigkanten frisch in den Farben des Union Jack gestrichen, die Garagentore glänzten weiß, und in dreißig Zentimeter hohen Lettern stand darauf: Kill all Taigs! Fuck off Gerry! Dies bezog sich auf Gerry Adams, den. Chef von Sinn Fein. Ich kam mir vor wie auf dem Gaza-Streifen. "Verträge nützen nichts", meint der Belfaster Autor Robert McLiam Wilson. "Politics is basically antibiotic, i.e. an agent capable of killing or injuring living organisms." Denn Verträge, von oben heruntergefuchtelte Politik, das war es, was die Troubles überhaupt entstehen ließ, und solang sich die Nordiren unter Verträgen geknebelt vorkommen, egal was da drinsteht, solange wurde es weiterhin trotzige liebe setzen. Die Argumente, sowohl von den Loyalisten in Ardoyne als auch vom Orangeisten-Orden, der bekanntlich alle Jahre wieder am 12. Juli jegliche Friedensversuche in den Dreck stampft, lauten: Die Katholiken breiten sich aufs Unverschämteste aus, das könne man nicht zulassen, die respektieren unser Territorium nicht, die fläzen sich dick und breit in den Friedensvertrag rein und benehmen sich, als ob sie hier zuhause wären! Die okkupieren unser Terrain! Man schüttelt den Kopf. Wie bitte? Katholische Schüler, die auf dem Schulweg durch eine protestantische Straße laufen? Es scheint absurd. Und überhaupt: WER okkupierte eigentlich WESSEN Terrain? Was heißt denn hier Respekt und Rücksicht?!

»They are hanging men and women for the wearing of the green!«

Dies ist eine Zeile aus dem irischen Revolutionslied "The Wearing of the Green". Grün ist die Farbe der Iren, und das Lied entstand nun nicht etwa kürzlich in Belfast, sondern 1798 vor dem Hintergrund des ersten großen irischen Aufstandes unter Wolfe Tone, was zeigt, wie alt dieses Problem bereits ist. Irland war Englands Kornkammer und mehr nicht; und was dort vor sich ging, interessierte das Parlament in London erschreckend wenig. 146 brach in Irland eine gravierende Hungersnot aus, als die Kartoffeln durch eine Seuche in der Erde verfaulten und die Iren somit nichts mehr zu essen hatten, da sie alles, was sonst noch auf ihren Äckern wuchs, plus die Schafe, Rinder und anderen Viecher nach England zu verschiffen hatten. Danach begann sich das Land zu wehren und zäher als je zuvor für seine Rechte zu kämpfen. Ulster, dieser nördliche Zipfel, hatte jedoch immer schon einen Sonderstatus innegehabt. Cromwell hatte dort seinerzeit au strategischen Gründen schottische Bauem hinpflanzen lassen (die Aktion nennt sich tatsächlich "plantations"!), und somit war die Gegend zwar theoretisch irisch, weil auf irischem Terrain, aber praktisch eben nicht, weil praktisch dort viel mehr Schotten und Engländer rumkrauchten als auf dem Rest der Insel. Damit konnte Großbritannien mit Ulster erfolgreich gegenstinken, als der Rest der Insel 1921 unabhängig wurde. Irland wurde geteilt: Unten war der Freistaat, oben war Nordirland, das zu Großbritannien gehörte. Damit ist die Teilung von 1921 und die unnatürliche Grenze der Six Counties(4) von Ulster der Stein des Anstoßes und die Wurzel der Nordirland-Troubles, die wir heute kennen.
Nach der Teilung sah es in Nordirland anders aus: Da das Inselfetzchen nun offiziell britisch war, waren nicht mehr die Nachfahren der Plantations die Unerwünschten hier, sondern die katholischen Iren. Für die war doch der Freistaat da! Das hier war britische und also protestantische Zone. Die Katholiken in den Six Counties wurden also systematisch diskriminiert, um so der protestantischen Minderheit zu ihren Grundherrenrechten zu verhelfen. Da der britische Machtbereich auf der grünen Insel geschmolzen war, ließen die Briten die Iren brutal spüren, daß sie in der de Valera und den irischen Unabhängigkeitskämpfern abgetrotzten Kompromißzone lebten. Das hieß: Die Katholiken bekamen keine Jobs, keine Wohnungen, kein Mitspracherecht. Sie wurden behandelt wie Menschen dritter Klasse. Sie wohnten zusammengepfercht in Katholikenghettos wie Turf Lodge in Belfast oder Bogside in Derry, manchmal mehrere Generationen unter einem winzigen Dach. Sie mußten mehr arbeiten als Protestanten und bekamen dafür geringeren Lohn. Wer es sich leisten konnte, wanderte in den Süden aus. "The Wearing of the Green" war aktueller denn je, und wer "A Nation Once Again" sang, kriegte sofort eins auf die Mütze, wenn nicht mehr.
Gegen diese offensichtlichen Ungerechtigkeiten begannen junge Katholiken wie John Hume, Bernadette Devlin McAliskey oder eben Bobby Sands Ende der Sechzigerjahre im Zug der weltweiten Menschenrechtsbewegungen (Martin Luther King, Rudi Dutschke, Prager Frühling, Pariser Mai, Anti-Vietnamkrieg-Bewegung) zu protestieren - mit dem Ergebnis, daß bewaffnete britische Polizei sofort anrückte, um dem aufmüpfigen Fußvolk Manieren beizubringen. Doch die Iren schlugen zurück, und die IRA wurde als Verteidigungstrupp revitalisiert, um dem Terror der UWF und der RUC Paroli bieten zu können; und als Reaktion darauf verfuhr England mit den Iren genau gleich, wie sie es 1916 mit den rebellischen Osteraufständlern getan hatten: Sie wurden verhaftet, deportiert, interniert, schikaniert, ermordet. Robert McLiam Wilson, den ich bereits erwähnte, wurde 1964 in den Belfaster Katholikenslums von Turf Lodge geboren. Als kleiner Junge erlebte er die Troubles mit, wie die RUC willkürlich Haustüren eintrat, Häuser anzündete, Männer inhaftierte und Frauen vergewaltigte. In den Straßen hockten die Scharfschützen, und jederzeit konnte irgendwo eine Bombe hochgehen. McLiam Wilson weiß also, wovon er spricht, wenn er Politik als Antibiotikum bezeichnet, mit dem man eben nichts anderes erreicht als Verletzung oder Tod lebender Organismen. Politik ist für die Iren in den Six Counties das, was von Großbritannien kommt, und das geht auf jeden Fall immer an ihnen als Menschen vorbei. Und für Ian Paisley und seine Spießgesellen ist Politik das, was die rechtmäßigen Besitzer vor den asozialen Tieren, den Iren, schützt und was, wenn man nicht aufpaßt, im Zuge der 'Gleichberechtigung' immer mehr an Einfluß verliert; deshalb konnte es zu solchen Aussetzern wie Ardoyne kommen.

Bobby Sands: Ein Tag in meinem Leben

Daß das mit dem Frieden also durchaus nicht so einfach geht, wie man annehmen könnte, und daß da noch viel mehr Leichen im Keller liegen, als man manchmal zugeben möchte, wird klar, wenn wir Bobby Sands' Aufzeichnungen Ein Tag in meinem Leben lesen. Der Unrast-Verlag Münster hat in seiner hervorragenden Irland-Reihe dieses Tagebuch wieder aufgelegt, im Jahr 1998, also dem Jahr des Karfreitags-Abkommens, was wie ein zarter Hinweis scheint, daß wir uns nicht nur mit den oberflächlichen Politikerscharaden zufriedengeben, sondern uns tiefer mit dem Thema Nordirland beschäftigen sollten. Sean McBride schrieb im Vonwort des Buchs zu Englands Benehmen als arroganter Oberpatriarch, der sich aufführt, als müsse er kleine unreife Rotznasen beaufsichtigen:
"Die Mehrzahl der normalen, anständigen Engländer hat kein besonderes Interesse an den Ereignissen in Irland. Ihre Kenntnisse der anglo-irischen Beziehungen sind minimal. Sie wurden dazu erzogen, die Iren für unmöglich und irrational, wenn auch amüsant und begabt zu halten. Was in Irland geschieht, ist ihnen völlig gleichgültig. Die Tatsache, daß die Teilung Irlands vom britischen Establishment geschaffen, dem Land aufgezwungen und von diesem Establishment aufrechterhalten worden ist, haben sie vergessen. Ihnen ist eingeredet worden, daß die Anwesenheit der Briten in Nordirland unumgänglich sei, weil 'diese unmöglichen Iren sich sonst gegenseitig totschlagen würden'. Sie begreifen ihre Rolle als die eines ehrlichen Mittlers, der den Frieden auf dieser turbulenten Insel erhält. Sie vergessen und ignorieren das Leid, das den Iren im Laufe der britischen Eroberung und Besetzung Irlands zugefügt worden ist. Wenn es erwähnt wird, beschweren sie sich über unser langes Gedächtnis und fordern, daß wir die Vergangenheit vergessen sollen." (Bobby Sands, S. 7)
"Auschwitz kann man nicht vergessen!" tönen die jüdischen Gemeinden in Deutschland nach wie vor. Und Auschwitz liegt jetzt immerhin schon mehr als sechzig Jahre zurück.
Das nordirische Auschwitz, die H-Blocks von Long Kesh, in denen Bobby Sands interniert war und wo er am 5. Mai 1981 als erster von zehn Häftlingen am 66. Tag seines Hungerstreiks starb, liegt jedoch kaum zwanzig Jahre zurück. Das ist nicht Vergangenheit, das ist Gegenwart! Man kann vergessen, was England den Iren im 19. Jahrhundert antat, die Repression und Ausbeutung vor und während der Hungersnot, die Armenhäuser, die Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen, die nie eintreffende Hilfe - dafür hat sich Großbritannien entschuldigt. Man kann auch die Black & Tans der Vergangenheit zurechnen, jene britischen paramilitärischen Terrortrupps, die 1920 durch Irland wüteten, Pogrome veranstalteten und ganze Dörfer ausradierten, um die irischen Unabhängigkeitskämpfer zu demoralisieren. Aber Long Kesh: Das kann man nicht vergessen. Noch viel weniger nach der Lektüre von Bobby Sands' Tagebuch. Wer bis jetzt Nachrichten schaute und sich sagte: "naja, zum Frieden in Nordirland gehört halt ein bißchen guter Wille, ist doch alles lange her, was die da anführen", dem schlägt dieses Buch so heftig ins Gesicht, daß er sich nur noch aufschreiend die Backe halten kann.
Bobby Sands wäre dieses Jahr, 2003, fünfzig Jahre alt geworden. Gestorben ist er mit 27. Dem Hungerstreik vorangegangen war ein sogenannter Deckenstreik, in dem die "Blanketmen" aus Protest dagegen, daß ihnen das Tragen richtiger Kleidung verwehrt wurde, nichts auBer Decken trugen. Während dieses Deckenstreiks schrieb Bobby Sands mit einer Kugelschreibermine, die er in seinem Körper versteckte, eine Art Tagebuch vom Ablauf eines einzigen Tages in den H-Blocks von Long Kesh auf Klopapier, das er dann hinausschmuggeln ließ. Die Klopapierblättchen wurden zusammengesetzt zu
Ein Tag in meinem Leben. Sean McBride schreibt:
"Die folgenden Seiten sind ein menschlicher Bericht über Leiden, Entschlossenheit, Qual, Mut und Glauben. Sie schildern darüherhinaus entsetzliche Beispiele der Grausamkeit, mit der Menschen andere Menschen behandeln. Sie sind eine ehrliche. aber harte Lektüre. ... Ich wollte, es wäre möglich, die Verantwortlichen der britischen Politik in Irland zum Lesen dieses Buches zu verpflichten!" (Bobby Sands, S. 5, 14)
Ich habe Einen Tag in meinem Leben an einem einzigen Tag in meinem Leben gelesen, am 22. Juli 2003. Es war heiß an diesem Tag, aber als ich das Buch las, fror ich, und in der Nacht darauf hatte ich Muskelschmerzen im Oberschenkel. War ich noch im Schlaf paralysiert vom Gelesenen?
"Meinesgleichen wurde zuletzt in Stalag 18 oder Dachau gesehen. Und, um die Wahrheit zu sagen, so kam ich mir vor - wie dort. ... Welcher der sogenannten Humanisten, die zu den H-Blocks geschwiegen haben, wer von ihnen wüßte einen Namen für diese Art der Erniedrigung und der Folter, durch die Menschen gezwungen werden, in Schmutzstreik zu treten, um zu zeigen, mit welcher Unmenschlichkeit sie behandelt werden? Sollen sie doch für diese Art der Folter einen Namen finden, dachte ich, stand auf und trat ans Fenster, um frische Luft zu schnappen; die Schläge, das Ausspülen der Zellen, der Hunger und die Entbehrungen, sollen sie doch verdammtnochmal einen Namen für diesen Alptraum der Alpträume finden!" (S. 33, S. 41)
Bobby Sands übertreibt nicht. Seine Zelle ist eine morsche eiskalte Höhle mit nichts als einer kaputten Matratze und drei dünnen Decken drin, die ihm, dem "Blanketmen", als Kleidung dienen. Durch das Fenster schneit es herein. In der Ecke fault das ungenießbare Essen vor sich hin, das die Gefangenen bekommen: verschimmeltes Brot, steinalter Porridge. Der Pißeimer wird auf den Boden ausgeschüttet und durch die Zelltür hinausgewischt. Nachts wird desinfiziert, das heißt, von draußen wird literweise Desinfektionsmittel in die Zellen gegossen, so daß der ganze Zellboden unter Wasser steht. Schläge gibt es ständig, und zu den Strafblocks kommt man, ohne zu wissen, warum - und daß man dort ist, merkt man erst, nachdem man aus der Bewußtlosigkeit, in die man geprügelt wurde, wieder erwacht.
Das Buch ist nicht sehr dick, aber es zieht einem die Schuhe aus. Über die ärgerlichen, manchmal hanebüchenen Druckfehler im Vorwort (manchmal schreibt sich Sean McBride Mc, manchmal Mac; und aus der Übersetzerin Gabriele Haefs wird im Innencover plötzlich Gisela) sieht man hinweg - Druckfehler, wie auch alles andere in unserem Alltag, sind Lappalien. Und so wie sich Bobby Sands, als er über den schneebedeckten Hof zu seinem "Grab " getrieben wird, an einen KZ-Film erinnert, den er als Kind sah und bei dem er sich sicher war, daß so etwas nie wieder geduldet werden könne - genauso müßten wir uns bei der Lektüre des Buches von der Idee verabschieden, daß heutzutage nur noch im Irak oder in Israel "richtiger" Terror herrscht. Gerade hier bewahrheitet sich wieder das Sprichwort, daß der, der groß von Frieden und Menschenrechten in Europa die Schnauze aufreißt, erstmal vor seiner eigenen Haustür kehren sollte. (Ja, ich spreche hier auch von "Bambi" Blair. Sein Irakkrieg-Kurs zeigt, daß hinter seinem telegenen Grinsen ein Kern steckt, der dem von Maggie der Eisernen ganz schön ähnlich sieht. Immerhin war es ihrem eisernen Willen zu verdanken, daß alle zehn Hungerstreikler in Long Kesh verrecken mußten.)


»We wiu not forget, but our hearts are set / on tomorrow and peace once again«

Es ist klar, daß Großbritannien in Irland der Kaputtstifter war. Immer. Und die IRA ist keine Aktions-, sondern eine Re-Aktions-Truppe, die revitalisiert wurde, um dem Terror der protestantischen Trupps standzuhalten. Der Bloody Friday in Belfast war die Antwort auf den Bloody Sunday in Derry, bei dem die britische Polizei 1972 13 Zivilisten abknallte. In Ardoyne wurden Katholiken angegriffen, bei den Oranier-Paraden genauso. Gewiß, zu Hoch-Zeiten der Troubles geriet es manchmal außer Kontrolle, wer angefangen hatte und wer ergo behauptete, er reagiere nur auf den Angriff- aber im großen und ganzen kam der UVF und der RUC mehr Schuld zu als der IRA. Insofern irritiert beim Karfreitags-Abkommen der Punkt: Warum soll die IRA laut Vertrag den ersten Schritt tun? - Sei's drum. Sie sind ihn dennoch gegangen, den ersten Schritt. Und der zweite Schritt ist auch passiert: Die Polizei in Nordirland heißt nicht mehr Royal Ulster Constabulary, ist also kein Briten-Kontingent mehr und nimmt auch Taigs auf.
Und nun? Wie gesagt: Verträge sind nicht alles. Abrüstung und Truppenabzug können einen Rahmen bilden, aber sie ersetzen nicht das Aufeinanderzugehen der Menschen selbst. Und hier sind wir wieder bei Plusminus Null, denn in diesem Rahmen des Karfreitags-Abkommens sitzend sollten sich die Menschen in Nordirland, wie dies McLiam Wilson fordert, vor allem eins vergegenwärtigen: Es geht jetzt nicht mehr um Iren kontra Engländer. Die Protestanten, die heute in den Six Counties wohnen, sind ja keine direkten Abkömmlinge von King Billy und den Plantation-Siedlern. Und es geht auch nicht mehr um mittellose, diskriminierte Katholiken gegen reiche, privilegierte Protestanten. Sondern: Es geht um NORDIREN GEGEN NORDIREN. Ist das nicht absurd? Ist es das wert? Es sind alles Nordiren, ob katholischer Manager, protestantischer Konzernchef, katholischer McDonald's-Verkäufer oder arbeitsloser protestantischer Alkoholiker. Und ist es dem Alkoholiker nicht wurscht, wer ihm sein Bierchen spendiert und ob das nun irisches Guinness oder englisches Lager ist? Kann man nicht gemütlich zusammen saufen, in einem Atemzug erst den Papst und dann Ian Paisley verarschen, und morgen melden wir uns beide zur Entzugskur an.
Zum Alkoholentzug braucht man eins: Freunde. Zum Feindbildentzug auch.
Und wenn man trocken ist, muß man trocken bleiben. Einen neuen Lebensinhalt finden, der einen nicht wieder in die alte Scheiße hineinreitet. Vielleicht war es auch das, was die Nordiren so fuchst, daß niemand sie so richtig wahr- und ernstzunehmen schien. Wahrgenommen werden sie nur, wenn es Randale gibt, und ernstgenommen werden sie gerade dann wieder nicht. Dieses dumpfe Gefühl "Außer Krawalle haben wir doch nichts!"
Das ist Unsinn. IHR HABT EUCH! Wollt ihr wirklich diese absurde Fehde "Nordiren gegen Nordiren", also "wir gegen uns" aufrechterhalten? Es geht doch um euch, Leute, es geht um Menschen! Ist ein verzerrtes Bild im Kopf mehr wert als ihr selbst?(5) Die Grenze kann bleiben, aber Großbritannien muß sich voll und ganz zurückziehen, denn die 'Rotznasen' sind erwachsen, und als Erwachsene sollte man die Bewohner Nordirlands behandeln. Daß sich Großbritannien allerdings in aller Form entschuldigen muß, versteht sich von selbst.
Die Grenze kann deshalb bleiben, weil Nordirland nun mal nicht irisch IST. Wer im Bus Eireann von Dublin über Dundalk und Newry nach Belfast fahrt, merkt, selbst wenn er von Politik keine Ahnung hat, daß er woanders sein muß. Der Dialekt ist anders, die Architektur ist anders. Nur die Landschaft in Nordirland ist genauso wunderbar wie die in der Republik Irland.
Nordirland ist weder englisch noch irisch. Es ist einfach nordirisch. Warum kann sich das, zum Kuckuck, nicht mal als positives Individualitätsmerkmal in den Köpfen festsetzen?
Konkret könnte das heißen: warum nicht aus Nordirland einen eigenen kleinen Staat machen? Einen demokratisch regierten nordirischen Kleinstaat? Ohne Briten, aber auch ohne Irishness? Daß der "große Bruder" England sich komplett zurückziehen und die Six Counties als Kolonie aufgeben muß, ist klar; das ist das Mindeste, was sie zur Entschuldigung tun können. Aber dies ist nicht gleichbedeutend mit einer Eingliederung von "Ulster" in die Poblacht na hÉireann. Natürlich ist Nordirland, wenn schon, mehr irisch als englisch, und so wird die Grenze offen sein und von Jahr zu Jahr offener werden (v.a. in Derry), aber ob sie ganz wegfallen kann, wage ich nicht zu sagen. Wenn Nordirland ernstgenommen werden will, dann muß es selbst etwas darstellen. Daß in Reiseführern immer nur die herrliche Landschaft u.ä. der Republik Irland gepriesen wird und über den Norden nichts drinsteht als "...und Nordirland ist die Krisenprovinz", das ist traurig und schade. Das muß sich ändern! "ENTDECKEN SIE DIE KLIPPEN VON ANTRIM! DIE FREUNDLICHKEIT VON ARMAGH! DIE NAATURVERBUNDENHEIT VON DERRY! LASSEN SIE SICH VERZAUBERN VON DER SCHÖNHEIT BELFASTS, DER STADT ZWISCHEN DEN HÜGELN! MACHEN SIE URLAUB IN FERMANAGHS PARADIESISCHEN FERIENHÄUSERN!"
Genießt Nordirland, Leute! Plusminus Null! Es könnte so schön sein.

Ni Gudix
27. Juli 2003

(1) ausgesprochen "teischock": Irisches Wort für Präsident
(2) ausgesprochen "tschockeh ar la": Schlachtruf der IRA gälisch für "Unser Tag wird kommen!"
(3) Slangausdrücke am Tatort: Prods = Protestanten, Taigs = Katholiken.
(4) Derry, Down, Antrim, Armagh, Fermanagh, Tyrone. Das sind zwei Drittel der Provinz Ulster. Das dritte Drittel sind die Counties Cavan, Donegal und Monaghan, die der Republik Irland angehören. Somit ist es falsch, Ulster als Synonym für Nordirland zu gebrauchen. wie das öfter der Fall ist!
(5) zum Vorurteilsabbau auch für Nicht-Nordiren eignen sich McLiam Wilsons Belfastromane
Ripley Bogle und Eureka Street wunderbar: Hier wird uns der Charme und der Esprit von klugen Belfaster Bürschchen vorgestellt und die Engstirnigkeit von Sinn Féin genauso wie die von Ian Paisley dechiffriert.

Gute Literatur zum Thema Nordirland: Robert McLiam Wilson, Eureka Street (Roman); ders., Ripley Bogle (Roman); Tim Pat Coogan, The Troubles (Sachbuch); Michael Miller, Belfast Blues (Krimi). Im Unrast-Verlag sind hierzu neben Bobby Sands' Bericht noch folgende Bücher erschienen: Danny Morrison, West Belfast (Roman); ders., Aus dem Labyrinth (Essays); ders., troubles (politische Einführung); Kevin Bean & Mark Hayes (Hrsg.), Republican Voices (Stimmen aus der IRA). Ebenfalls: Die Leitartikel Der Rückschlag und Der Kampf um Ulster in der Zeitschrift G wie Geschichte (Nr. 4/2003).

   

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