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Bestandsaufnahme

von Heleno Saña

   
Die Netz-Brücke
 

Wintertag.
Der Zeitungsträger ist irgendwann
mitten in der Nacht aufgestanden,
um mir pünktlich die Zeitung
in den Briefkasten zu stecken.
Ich erfahre bei Kaffee und Marmeladenbrot,
was in der Welt vor sich geht.

Ich verlasse die Wohnung,
durchquere eilig den Park
in Richtung Stadtmitte.
Ein paar alte Damen führen
trotz der eisigen Kälte
ihre Hunde spazieren.

Die freundliche Verkäuferin,
die mich im Gemüseladen bedient,
fragt mich jedes Mal
wie es mir geht,
und ich antworte jedes Mal dasselbe,
um nicht lange Erklärungen
abgeben zu müssen.

Einige Dinge stimmen noch:
das temperierte Wasser im Badezimmer,
die geheizte Wohnung,
die regelmäßigen Mahlzeiten
– alles wie früher.

Was bleibt von alledem?
Nächte, wie diese,
ein Buch, das man plötzlich
nicht mehr lesen will,
das man zuklappt
ohne einen bestimmten Grund,
nur vielleicht, weil man
nachdenklich wird.

Plötzlich nur dies:
das Lampenlicht,
das zugeklappte Buch auf dem Knie liegend,
das alte Sofa, wo ich sitze,
meine Augen
im Halbdunkel des Zimmers verloren,
die Stille um mich herum,
das Gefühl, daß es seit langem
zu spät geworden ist.

Ich habe einen hohen Preis bezahlt
für den Versuch,
unabhängig zu bleiben,
frei durch das Leben zu ziehen,
mit erhobenem Kopf,
ohne unehrenhafte Bindungen,
trotzig Jeder Versuchung widerstehend
gegen die übliche Bezahlung
mich doch kleinkriegen zu lassen.

Ich schenke euch
euer gesichertes Schicksal,
euer gutes Gewissen,
euer festes Einkommen,
die bequeme Verdauung
am Abend nach dem Essen,
das kühle Bier,
den üblichen Koitus mit der Gattin
und den sonstigen Segen
des bürgerlichen Daseins.

Ich übernehme bewußt
das Risiko zu scheitern,
den Tribut der Einsamkeit
und des Abseitsstehen.
Ich weiß schon Jetzt,
daß ich verlieren werde,
aber mein Leben ist kein Handel,
kein fauler Kompromiß,
kein fein kalkuliertes Geschäft.

Wie alle Menschen auch
wurde ich völlig schutzlos geboren,
auf diese Welt geworfen
ohne zu ahnen,
was auf mich wartete,
ganz unvorbereitet,
um die harte Auseinandersetzung
mit dem Leben heil zu bestehen.

Seit Jenem Tag ist meine Biographie
nichts anderes gewesen
als ein trotziges Bemühen
nicht ganz unterzugehen.

Von der Kindheit und den Jahren danach
ist wenig zu berichten:
die unschuldigen Spiele
in dem alten Stadtviertel,
das knappe Brot am Abend,
die zärtlichen Blicke meiner Mutter,
die Abwesenheit
meines verhafteten Vaters.

Draußen in der Welt:
ich war gezwungen
mich dem strengen Ritual
der Erwachsenen zu beugen.
Ich lernte zu gehorchen,
meine Pflichten zu erledigen,
meine Angst zu unterdrücken.

Nach und nach jedoch lernte ich
Fragen zu stellen,
die niemand beantwortete.

Es war schwierig,
sich eine eigene Welt
im Innern zu bauen.

Ich schaffte es nie
wie die anderen zu sein,
hartherzig, berechnend, angepaßt,
schon im voraus verbraucht,
frühzeitig klug und immer wissend,
was Vorteil bringen kann.

Seit damals,
seit Jenen fernen Tagen
habe ich nur eines getan:
treu zu mir zu bleiben,
das zu verteidigen,
was ich beschloß, zu werden.

Ich wußte bald,
daß ich nie lernen würde,
den täglichen Witzen zu applaudieren,
auch den abgedroschenen Sätzen nicht,
die man in den Wohnstuben
und an den Stammtischen hört,
am Arbeitsplatz unter Kollegen
und überall dort,
wo sich Menschen überhaupt gesellen.

Irgendwann
spürte ich die eindringliche Sehnsucht,
die Transzendenz zu finden:
ich suchte das Unendliche,
alles, was ich nicht hatte,
den tiefen Sinn der Dinge,
das Geheimnis der Schöpfung,
die letzte Gewißheit,
die Erfüllung für immer.

Ich habe immer in die Ferne geschaut,
jenseits der Städte und ihrer Menschen,
ohne auf die banalen Gesten
und die zynischen Blicke
meiner Zeitgenossen zu achten.

Von all dem, was ich suchte,
habe ich wenig gefunden,
während ich auf Dinge stieß,
die ich nicht vorausgesehen hatte.

Aber bereuen tue ich nichts.
Immerhin bin ich nicht wie ein Wurm
durch den Boden gekrochen,
habe ich meine Freiheit
nicht für ein schäbiges Linsengericht veräußert.

Ich weigere mich
zu einer Ware zu werden,
mich auf den Marktplatz zu stellen
und für den bestmöglichen Preis
mich an jemanden zu verkaufen.

Ich will nicht
taxiert werden,
ich ziehe es vor,
den Tauschgeschäften oder Krämerseelen
fern zu bleiben.

Was ich suche,
was mir fehlt,
hat keinen Preis,
kann man nicht mit Geld erwerben.

Wir sind so oder so
von den unermüdlichen Verwaltern
der Massengesellschaft
ständig
registriert, kontrolliert und katalogisiert,
als Bürger und Konsumenten,
als Spaziergänger,
als potentielle Käufer,
als Bewohner einer Stadt,
als Bezieher einer Wohnung,
als Steuerzahler und Wähler,
als Fußgänger und Autofahrer,
als ledig, geschieden oder Schwuler,
als Arbeitsloser oder Rentner,
als Passant, Demonstrant, Querulant
und als das, was es sonst noch alles gibt,
um Listen anfertigen zu können.
Der große Bruder
hat schon alles im Griff,
nichts entgeht seinem geübten Blick.

Die fleißigen Ameisen
des Kontrollapparats
halten ihre Geräte
pausenlos in Bewegung.
Wir werden in Computer gespeichert,
wandern von Terminal zu Terminal,
erscheinen auf geheimgehaltenen Bildschirmen
Dossiers gibt es über uns,
die wir nicht kennen,
Karteikarten und Listen
mit unseren Namen
und die sonst erforderlichen Daten
zu unserer Identifikation.

Und all dies,
meine Freunde,
geschieht im Namen des Fortschritts
und zum Wohle des Ganzen.

Ach, welches Gefühl des Ekels
steigt in meiner Brust empor,
welch geballten Zorn
spüre ich in meinen Fäusten!

Was ist aus dem Leben geworden,
das wir damals träumten?
Die Konzerne haben
unsere Seele okkupiert,
unsere schöne Innerlichkeit
kaputt gemacht.

Ich frage euch:
was gedenkt ihr zu tun
angesichts dieser Lage?
Ich gestehe freimütig:
mein Körper tut mir weh,
auch das Herz und die Augen,
die Eingeweiden und alles, was ich bin.

Der Kampf hinterläßt Spuren,
verborgene Wunden,
die nie heilen werden,
Abgründe von Schmerz
in der Tiefe der Seele.

Ich kann nicht verstehen,
wie ein Mensch Zeuge
von alldem sein kann,
was in der Welt geschieht
ohne Innerlich zu sterben.

Aber dies ist eben die Kunst,
die die Spießer und Angepaßten
immer souverän beherrscht haben:
sich von nichts aus der Ruhe bringen lassen,
immer ein Grund zu haben,
zufrieden zu sein
und das Dasein ungestört zu genießen

Es ist schwer
in einem fremden Land zu leben,
unter Menschen,
die unzugänglich
für die Freundschaft bleiben,
die sich höchstens bemühen,
nicht unkorrekt zu sein,
die jedoch
nicht wirklich bereit sind,
ihre Wärme zu teilen,
ein Zeichen der Sympathie zu wagen.

Man bleibt immer der Fremde,
man fühlt sich abgestoßen,
man spürt die gleichgültige Kälte.

Worte sind dazu
nicht notwendig,
auch drohende Gesten nicht,
man braucht nur
die Gesichter zu sehen,
die feindseligen Blicke.

Ich habe mich bemüht,
dieser unsichtbaren Ablehnung
geduldig zu begegnen,
aber man lernt es
niemals ganz,
man bleibt immer verletzt,
man ist niemals verhärtet.

Ihr seid meine Brüder,
ihr Araber oder Türken,
Schwarze, Griechen, Asiaten,
Slawen oder Inder,
Ihr seid meine Brüder,
weil ich genauso wie ihr
ein Fremder bin.

Täglich erleben wir
die gewohnten Demütigungen,
die Jeder Fremde kennt,
aber trotzdem sage ich:
lieber das,
als die selbstzufriedene Arroganz
der Satten und Starken.

Unsere Erlebnisse sind tiefer,
und damit
wahrer, menschlicher.

Wir Fremden
tun keinem Menschen weh,
wir verachten niemand,
wir haben noch nicht
das Gesetz der Menschlichkeit
verlernt.

Alles ist fremd heutzutage,
nicht nur das Land, in dem ich lebe,
auch die Stube, in der ich so viele Jahre
verbracht habe,
die unheimliche Welt draußen,
dieser Schlager aus den dreißiger Jahren,
der aus dem Radiogerät in das Zimmer dringt,
die Sprache, die ich benutze,
die Worte, die ich hier schreibe.

Draußen sind plötzlich die Straßen
mit Schnee bedeckt.
Hinter dem Fenster schaue ich
wie der Wind die kleinen Schneeflocken
ziellos hin und her treibt,
wie einsame, flüchtige Passanten
die Straße entlangeilen.

Wie viele Male habe ich meinen Blick
durch die Schönheit dieser Winterlandschaft
wandern lassen?

Auch hier in der warmen Stube
ist alles nur Wiederholung
von vergangenen Stunden:
die Worte, die ich mit meiner Frau austausche,
die Fragen und Antworten,
die Katze in ihrer Ecke,
die Bücher in den Regalen.

Und trotzdem ist dies
eben das Leben.

Ich frage mich immer wieder:
warum denn weitermachen,
wozu noch Widerstand leisten,
weiter an die Erde gebunden bleiben?

Wäre es nicht leichter,
im richtigen Augenblick
Abschied von allem zu nehmen,
rechtzeitig in das Nichts hinuntersteigen?

Sehnsucht nach dem Nichtsein
– wer kennt sie nicht schon,
wer hat sie nicht irgendwann empfunden?

Trotzdem:
man kann einfach nicht weggehen
und plötzlich alles hinter sich lassen
wie man einen alten Gegenstand wegwirft,
der uns nicht mehr nützt.

Es gibt noch etwas Tieferes
als das Gefühl von Ekel,
es gibt eine heilige Verpflichtung,
das Glas bis zum bitteren Ende zu trinken.

Noch sind da
einige Menschen und Dinge,
die wir nicht im Stich lassen können.

Das bist zum Beispiel du,
langjährige Gefährtin,
du, die du mit deiner stillen Anwesenheit
und deinem geduldigen Mut
mir geholfen hast,
alles zu bestehen.

Im übrigen:
es wird immer
ein Blatt Papier geben,
um die menschliche Würde
zu bezeugen.

   

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