XXVII. Jahrgang, Heft 149
Sep - Dez 2008/3
 
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Letzte Änderung:
10.10.2008

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER




   
 
 


Wie die chinesischen Wecker eine internationale Krise auslösten

Von Reinhild Paarmann

Er schlug auf den Wecker, der gerade zu klingeln anfing und schnauzte: „Halt’ s Maul!“

Der Wecker sprang vor Schreck vom Nachttisch und schaute seinen Herren vorwurfsvoll mit seinen Zahlenaugen an. Dann wollte er in das Haus für misshandelte Wecker laufen, aber seine Beine versagten ihm den Dienst. Sein Herzschlag setzte aus. Im Dienst für seinen Herrn gestorben. Welchen schöneren Tod gab es denn!

Beowulf tastete nach seinem Wecker und schaute ihn mit mühsam geöffneten Augen an. „Hey, warum tickst du nicht!“ Er rüttelte und schüttelte, aber der Wecker gab kein Lebenszeichen von sich. „Na, dann eben nicht.“ Beowulf hatte auch so festgestellt, dass er aufstehen musste.

„Hast du so etwas schon gehört, der macht nichts mehr,“ rief er seiner blondgefärbte, mollige, kleine türkische Freundin zu.

„Lass’ mich in Ruhe mit deinem Wecker, ich habe erst später Dienst. Ich will noch schlafen.“

Ihr Wecker tickte gewissenhaft vor sich hin. Beowulf hörte die Wecker der Kinder klingeln. Oh, jetzt musste er sich beeilen, damit er rechtzeitig ins Bad kam. Schnell flitzte er los.

Als er wieder ins Schlafzimmer kam, hob er den Wecker auf. Ein Kienzle Wecker, Quarz, hatte mal 60,-DM gekostet. Na, ja, die Firma Kienzle gab es nicht mehr. Hatte wegen der Konkurrenz aus China Bankrott gemacht. Beowulf öffnete den Wecker und schaute sich die Eingeweide an. Zwei schwarze Zahnräder für die Klingel, eine Batterie, ein grünes Brett mit gelöteten silbernen Teilen, eine Kupferspule. Er war so still. „Das Land ist still. Noch“ wer hatte das denn noch einmal gesungen? Das war doch Biermann! Es ging um den Einmarsch der Russen in die Tschechoslowakei. Aber daran konnte er jetzt nicht denken. Dazu hatte er keine Zeit. Ja, der Wecker. Na , da war nichts zu machen. Er würde heute Abend seinen Reisewecker stellen.

Jetzt sollte er sich beeilen. Schnell aß er mit den Kindern Frühstück. Çian musste in einen Kindergarten nach Wilmersdorf gebracht werden. Da hatte die Familie früher gewohnt. Jetzt lebte sie in Neukölln. Einen Wechsel wollten die Eltern nicht. Sie hatten sich die Kindergärten in Neukölln angesehen. Nein, danke. Es war Zeit für seine Stieftöchter Nur und Gülcan zur Schule zu gehen. Er wusste, dass Nur die Schule schwänzte. Aber darum sollte er sich nicht kümmern, hatte seine Freundin gesagt. Es war schließlich ihre Tochter, nicht seine. Auch Nur hatte sich seine Einmischung verbeten. Gülcan war ganz in Ordnung. sie kümmerte sich um den Kleinen. Will mal Erzieherin werden.

Beowulf schaffte es mit fünf Minuten Verspätung, seinen Kollegen im 144er Bus abzulösen. Dieser zog die Augenbrauen hoch. Die Fahrgäste maulten.

Abends zog Beowulf seinen schwarzen Reisewecker für den Frühdienst auf, klappte den Ständer nach hinten und stellte ihn auf. Seine Freundin, die Flugzeuge im Flughafen Tegel im Schichtdienst säuberte, würde erst in ein paar Stunden kommen. Die Kinder waren schon im Bett.

Beowulf arbeitete auch im Schichtdienst, so dass er seine Freundin selten sah. Sie wechselten sich damit ab, Çian zum Kindergarten zu bringen. Manchmal brachten auch seine Halbschwestern ihn hin. Er ist so charmant, wirft die Augen, ein süßes Kerlchen, dachte Beowulf stolz. Da weiß man doch, wofür man arbeitet!

Seine Freundin Melek ist eigentlich auch ganz nett. Sie ist nur ein Morgenmuffel. Darum hatte sie so reagiert, als er sie morgens ansprach.

Beowulf wachte auf, als die Sonne schon längst aufgegangen war. Der Wecker hatte nicht geklingelt. Na, ja, war ja auch ein Reisewecker, der nur auf Reisen klingelte. Komisch, dass er auch die Kinder nicht gehört hatte. Die waren schon weg. Offenbar hatten sie den Vater schlafen lassen. Eine seine Töchter hatte wohl Çian in die Kita gebracht. Na, da sparte er Zeit. Trotzdem war er eine halbe Stunde zu spät dran. Seine Freundin lag selig unter der Bettdecke und seufze beglückt. Sicher träumte sie gerade etwas Schönes. Vielleicht flog sie in ihr Heimatland.

Na, ja, sei’s wie’s sei, er musste sich beeilen. Ohne Frühstück rannte er los. Die Leute standen an der Bushaltestelle und ein Wartender meckerte: „Die sparen immer mehr ein. Ich warte hier schon eine halbe Stunde. Aber die Fahrpreise erhöhen, das haben wir gern!“

Der Kollege von Beowulf trommelte nervös auf seinem schwarzen Plastiklenker. Aus seinem eingebauten Telefon rauschte aufgeregtes Geraune.

„Tut mir leid, mein Wecker hat nicht geklingelt,“ entschuldigte sich Beowulf.

„Eine dämlichere Ausrede hast du dir wohl nicht ausdenken können,“ antwortete verärgert der Kollege. Er packte seine schwarze Aktentasche und verschwand.

Beowulf setzte sich an das Steuer, drückte auf einen Knopf, damit die Fahrgäste einsteigen konnten. Dabei gab es ein Geräusch, als ob jemand Luft entlassen würde.

„Na, endlich,“ tönte es aus der Menge.

Beowulf telefonierte in einer Pause mit seiner Freundin. „Kannst du mir bitte einen Wecker kaufen? Das geht so nicht weiter. Sicher war der Wecker aus China.“

„Na, klar, mach’ ich.“

Melek ging zu „Woolworth“ und kaufte einen runden silberfarbenen Wecker zum Aufziehen für 7,99¤. Abends zog Beowulf ihn auf und legte sich beruhigt schlafen.

Der Wecker klingelte artig. Aber als er die Uhrzeit mit der seiner Armbanduhr verglich, stellte er fest, dass der Wecker eine Stunde nachging.

Beowulf sprang aus dem Bett. Vor Schreck fiel er über seine Hausschuhe. Ist heute Freitag der 13.? Nein. Ihm fiel das Lied von Reinhard Mey ein. Diesmal nahm Beowulf ein Taxi. Er kam eine Stunde zu spät, keuchte in seinem weißen kurzärmeligen Hemd über die Straße und schwitzte. Es war Sommer.

„Der Wecker,“ erklärte er seinem Kollegen. „Diese Chinesen!“ Damit konnte sein Kollege nichts anfangen. Er tippte an seine Stirn und sagte zu Beowulf: „Nicht mehr ganz richtig im Kopf, oder was?“

Der Kollege machte Meldung an die Buszentrale.

Später telefonierte Beowulf mit Melek. „Kannst du bitte den Wecker umtauschen?“

„Na klar.“

Als Beowulf von seinem Dienst kam, stand da ein rechteckiger Wecker, der batteriebetrieben wurde made in China. Beowulf probierte, ob die Klingel funktionierte. Ja. Erleichtert schlief er ein.

Morgens wachte er auf, als der Wecker klingelte. Aber der Wecker hatte 1 Stunden später geklingelt, als er ihn gestellt hatte. Es war doch zum Verzweifeln! Was sollte er nur machen? Krankmelden? Aber seine Busfahrerehre erlaubte es nicht, einen Kollegen im Stich zu lassen. Beowulf konnte nicht jeden Tag Taxi fahren, das war zu teuer, so viel verdiente er nicht.

Sein Kollege empfing ihn grinsend: „Der Wecker?“

Beowulf nickte gequält. Wie sollte er dem Kollegen denn seine Weckergeschichten verständlich machen? Resigniert packte der Kollegen seine Sachen und verschwand. Die Leute waren fast zum Mob geworden. Sie schimpften entsetzlich.

Beowulf rief Melek an: „Bitte gebe den Wecker zurück und kaufe eine in einem Uhrenladen. Ich will endliche einen Wecker, der funktioniert.“ Beruhigt fuhr Beowulf seine Tour.

Abends sah er auf seinem Nachttisch einen großen ovalen Wecker. Er nahm ihn in die Hand und wollte ihn zum Aufwecken stellen. Aber der Klingelzeiger baumelte hin- und her. Er ließ sich nicht feststellen. „Das darf doch nicht wahr sein!“ „19,89 ¤ hat er gekostet,“ erklärte Melek, als sie spät abends kam. Er hatte auf sie gewartet. „Diesmal musst du selbst gehen und den Wecker umtauschen.“

Unterdessen hatten die Verkäuferinnen von „Woolworth“ alle chinesischen Wecker aus den Regalen genommen und zurück geschickt.

Beowulf meldete sich krank. Er ging zum Uhrenladen und tauschte den Wecker in einen kleinen runden mit grauem Gehäuse um. „Ist Ihnen das nicht peinlich, einen solchen Wecker zu verkaufen?“ Der Uhrenhändler sagte: „Die sind alle aus China.“

Der Uhrmacher schickte alle seine chinesischen Wecker zurück. „Kein Wunder, bei diesen Billiglöhnen,“ brummte er. Überall in Deutschland und auf der Welt wurden die chinesischen Weckern zurückgeschickt. Die Aktien der Firmen in China, die Wecker herstellten, brachen ein. „Panik an Börsen gestern weltweit“ stand am 16.8.2007 im Internet. Die Krise an den Finanzmärkten soll durch eine Immobilienblase in Amerika entstanden sein? Glauben Sie dies nicht. In Wirklichkeit haben die chinesischen Wecker zu der Krise geführt. „Für die Chinesen ist der Handel mit Immobilien inzwischen Volkssport“ stand im „Tagesspiegel.“

China will die Olympischen Spiele? Bei den Turbulenzen? Das können sie doch gar nicht schaffen! Den Sportlern wurde geraten, ihre eigenen, nicht chinesischen Wecker mitzubringen.

Beowulf stellte seine neuen Wecker, der in der Dunkelheit hellgrün auf der ganzen Vorderseite aufleuchtete. „Oh, Gott, das habe ich ja gar nicht gesehen. Dabei kann ich unmöglich schlafen. Melek, möchtest nicht du meinen Wecker haben, sieh’ mal, der ist wo rund und weiblich.“

„Nein, danke, dann verschlafe ich auch noch. Das scheint ja ansteckend zu sein. Vielleicht gibt es irgendwelche Viren bei dir auf dem Nachttisch. Meiner mit dem Goldrand ist viel schöner.“

Wer wohl den neuen Wecker hergestellt hatte? Sicher irgend ein Außerirdischer von einem anderen Planeten, denn der Wecker ging tatsächlich.

Am nächsten Tag hatten Beowulf und Melek zufällig frei. Auch die Kinder mussten nicht zur Schule. Also konnte man später aufstehen. Beowulf stellte den Wecker auf 7.30 Uhr.

Um 5.30 Uhr weckte ihn ein leises Klingeln. Was war das? Ungläubig schaute er seinen Wecker an. Er war es nicht. Beowulf stand auf und sah im Wohnzimmer nach. Das Klingeln schien aus dem Papierkorb zu kommen. Ob er ? Ach, ja, da hatte er den Kienzle Wecker reingeworfen. Beowulf kramte die Teile des auseinandergenommenen Wecker raus. Tatsächlich! Er klingelte! Beowulf nahm die Batterie raus. „Das Land ist es still. Noch.“


***


Zwanzig Karten

Von Manfred Dechert

Zwanzig Karten, meine Freunde, und ich, ausgerechnet ich habe die Kaiserkarte gezogen. Ihr wißt, das heißt, ich habe das letzte Wort bei Eurem neuen Leben, in das ihr ab morgen eintretet. Glaubt mir, ich hätte lieber nicht diese Bürde, ich habe auch kein leichteres Los als ihr, Leuchtturmwärter, wie romantisch, in das Meer hinausschauen, Spaziergänge am Strand, ausruhen, lesen - wenn da nicht die furchtbare Einsamkeit wäre. Ich bin Leuchtturmwärter an einem abgelegenen Strandabschnitt, zwei von Euch, ja drei, darf ich meine Nähe holen, Maria , der Fels, Peter als Möwe, und der dritte - einen Esel darf ich mir halten, wer will der Esel in der Hütte, neben dem Turm sein? Ich könnte auch drüber lachen, wenn es nicht so ernst wäre - wer möchte ein Esel sein - statt eines Fließbandarbeiters, drei Kindern, und den immer gleichen Handgriffen? Respekt, Dieter, Du wirst es gut bei mir haben. Aber, wer will anstelle Dieters nun den Fließbandarbeiter ausfüllen? Tanja, Du hast auch einen Applaus verdient, besuch uns am Meer, ich weiß, Du bist dreihundert Kilometer weg, aber komm, wenn Du kannst.

Franz, hab keine Angst, Meike ist dabei, an einem Zauberspruch zu üben, damit der, der ein unglücklicher Esel, Fels oder eine traurige Möwe ist, oder auch nur ein deprimierter Schauspieler, damit er in ein anderes Leben eintreten kann. Wieder mit zwölf anderen Leuten, wieder wird einer ausgelost, der die Kaiserkarte zieht, ent- scheiden kann, wer letztendlich wohin geht…

Nico ist Schauspieler - aber Deine Karte ist nicht leicht, mein Freund, Du wirst ein gefeierter Schauspieler sein, aber viele Neider und Gegner haben. Willst Du es wagen, oder nicht doch lieber als Adler in den Alpen - diese Karte wäre auch noch frei. Respekt Nico, Respekt auch Klara, die morgen früh als Adler in den Bergen sein wird. Meine Freunde, mir wurde zugesagt, daß wir uns alle zweimal im Jahr wieder sehen werden, einmal bei Klara in den Alpen, einmal bei mir am Meer.

Maria, wein doch nicht, Du wirst ein Fels sein, ein Fels in der Brandung, da wird das Meer sich eher zurückziehen als Du. Ein stolzer Fels wirst Du sein, und ich ein stolzer Leuchtturmwärter - wenn ich nicht in einer stürmischen Nacht Deinen Namen ins Meer schreie, so groß wird meine Einsamkeit wohl manchmal sein. Aber, da ist ja noch Dieter mein Freund, als Esel,. und Pierre, der mir dreimal im Monat Proviant in den Leuchtturm bringt.

Einen Arzt würde ich nie brauchen, da draußen, sagte man mir, außerdem denke ich, Meike würde jedes Leid lindern können - aber , ich darf sie nur einmal im Monat rufen. Meike wird uns alle von unserer Last befreien, wenn wir es in unserem Körper, unserem Leib, unserer Baumgestalt nicht aushalten.

Ein Beifall meine Freunde für Dietmar, Mark und Margit, drei Bäume, einer in den Alpen, einer im Dorf, einer in einer großen Stadt.

Sind wir jetzt vierzehn, nicht zwölf - habe nicht gezählt, Freunde, ich denke, es kann auch noch einer mit, auch noch zwei - eine Schildkröte ist noch zu vergeben, eine Meeresschildkröte - Nico - Du willst lieber eine Schildkröte als ein Schauspieler sein?

Bist Du Dir sicher? Möchtest Du mit Meike in Trance gehen, um zu entscheiden, was das bessere ist, Schauspieler oder Meeresschildkröte? Du möchtest lieber in meiner Nähe als Kröte denn als Mensch unter Peinigern sein? Wie gut ich Dich verstehen kann.

Freunde, Freundinnen, lasst uns heute abend noch einmal essen, feiern, träumen, bevor wir morgen in neuer Gestalt ein neues Leben beginnen, wir werden uns wieder sehen, da bin ich sicher, sie, die mir den Auftrag gaben, sagten mir, man hätte in Jahrmillionen gelernt, es würde alles besser werden.

Margit, Dir werden die Äste nicht schwer werden, Meike hat mich heute nacht in Trance versetzt, ich war ein Baum, reichlich, aber nicht schwer beladen, ich war zuhause, tief verwurzelt,umringt von vielen Bäumen, ich wäre fast lieber ein Baum denn ein Leuchtturmwärter.

Aber, Du kannst noch zurück, Margit, willst Du lieber als Schauspielerin - siehst Du, Du weißt, daß der Baum das leichtere, aber auch schönere Los hat.

Zwanzig Karten, meine Freunde, habe ich nun Kaiser- oder Knechtkarte gezogen - es wäre ein faireres Spiel, haben sie mir gesagt, ein freundlicheres, schöneres, als die vielen Jahrtausende zuvor, haben sie mir Mut gemacht, sie, die Herren und Damen, die die Karten neu für uns gemischt haben.

   

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