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Deutsche am Rande des Nervenzusammenbruchs
Der »Untergang«-Film als zweckfreies Kunstwerk betrachtet
Von Thomas Nöske

   
Die Netz-Brücke
 

Kunst statt Pädagogik. Die Diskussionen in den Zeitungen scheinen mir vor allem um eine zentrale Frage zu kreisen, nämlich: „Wozu, verdammt noch mal, brauchen wir diesen Film eigentlich?", oder: „Warum sollen wir uns das antun?" Dahinter steckt, meines Erachtens nach die Überlegung, dass sich niemand grundlos mit der Hitler-Zeit beschäftigt, sondern immer mit einer klaren Intention. Mehr oder weniger bewusst befolgen wir alle Adornos Wort, unsere Bildung so zu gestalten, dass sich Auschwitz nicht wiederhole. Und das ist natürlich auch gut so.
Die Diskussionen in der Presse zeigen, häufig schwankend zwischen schroffer Ablehnung und duseliger Lobhudelei, wie aktuell die Prämisse noch heute ist: zum Beispiel in der Berliner Stadtillustrierten „Zitty", die eine Pro- und eine Contra-Position gegenüber stellt: Denn was sehen wir da? Einen alten, kranken Hitler, ein paar Nazis mit einem Rest von Ehre, das zerstörte Berlin. Und dazu hören wir Geigen, Cellos, alles in Moll - und am Ende scheint die Sonne. ... Dieser Film macht schlichtweg keinen Sinn und deshalb sollte man sich diesem Film verweigern, heißt es von Matthias Kalle. Hingegen schreibt Michael Meyns: es zeigt sich, dass die Verbrechen des Dritten Reichs nicht von Monstern begangen wurden, sondern von Menschen, die sich letztlich nicht entscheidend von dem Volk unterschieden haben, das ihnen so fanatisch gefolgt ist. Allein dies verdeutlicht zu haben, ist dem Film nicht hoch genug anzurechnen.(1) - Gewiss haben beide Autoren ihre Standpunkte mit Absicht so pointiert formuliert, um die Struktur der jeweiligen Argumente sichtbar zu machen. Indes scheinen beide in dem Film einen antifaschistischen Sinn zumindest zu suchen, weil ein Film über die Nazis, ohne den Hauptzweck, dass Auschwitz nicht sich wiederhole, keine Berechtigung hätte, ja sogar unvorstellbar wäre. Michael Meyns schätzt den Film und meint, diesen Sinn gefunden zu haben, Matthias Kalle konnte ihn nicht entdecken und verhält sich infolgedessen gegen den Film.
Offensichtlich verlaufen die Grenzen zwischen dem berechtigten Interesse an Aufklärung und Sensationslust fließend, nicht nur in Bezug auf den „Untergang", sondern bei vielen Inhalten der Massenmedien. Die einen gucken einen (Anti-)Kriegsfilm, um ihren Pazifismus zu festigen, die anderen um fetzige Explosionen zu erleben. Darüber hinaus möchte ich fragen, ob man über den Ablauf der Ereignisse im Bunker wirklich dermaßen minutiös Bescheid wissen muss? Warum soll man so genau wissen, dass Speer sich noch persönlich verabschiedet hat, Göring indes nur einen anmaßenden Brief gefaxt hat?
Ich denke, wir bekommen etwas mehr Licht in die Sache, wenn wir den klassischen Begriff der Aufklärung betrachten: sie meint einen Zuwachs an Mündigkeit für das Individuum. Kant definierte sie bekanntlich als die Fähigkeit des Individuums, sich seines eigenen Verstandes zu bedienen, ohne Hilfe eines anderen, und sich dadurch aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit zu befreien.(2) Und dazu gehört es natürlich auch, keinen Demagogen auf den Leim zu gehen oder sich blind jedem äußeren Druck anzupassen. Der Wert jeglicher Bildung und des Wissens wird gleichsam daran gemessen, ob und wie weit sie dem Einzelnen dabei hilft, kluge und selbständige Entscheidungen zu treffen. Bei jeder Information die Frage: „Und, wozu hilft mir dieses Wissen?" Hannah Arendt entgegnete auf Adolf Eichmanns Verteidigungen ausdrücklich: „Auch wenn achtzig Millionen Deutsche getan hätten, was Sie getan haben, wäre dies keine Entschädigung für sie!“(3)
In dieser Tradition stand auch die Aufklärung über die Nazi-Zeit, wie sie von den Philosophen der Frankfurter Schule betrieben wurde: Man muß die Mechanismen erkennen, die die Menschen so machen, daß sie solcher Taten fähig werden, muß ihnen selbst diese Mechanismen aufzeigen und zu verhindern trachten, daß sie abermals so werden, indem man ein allgemeines Bewußtsein jener Mechanismen erweckt,(4) erklärte zum Beispiel Adorno im hessischen Rundfunk um 1966. Mithin lautet ihre zentrale Frage: Warum sind die Deutschen damals Hitler so begeistert gefolgt? - Jede anspruchsvolle Auseinandersetzung mit dem Thema sollte zumindest irgendetwas Erhellendes zu dieser Frage beitragen. Ihre Antworten setzen teilweise beim deformierten Subjekt an, teilweise an den gesellschaftlichen Strukturen und kulturellen Verhältnissen, sowie an der Analyse der Propaganda- und Eventtechniken auf der einen Seite, dem Überwachungs- und Unterdrückungs-Apparat auf der anderen Seite. Dem hat der „Untergang"-Fihn keine wesentlich neuen Erkenntnisse hinzuzufügen, und wenn wir streng wissenschaftlich argumentieren, dass jede neue Antwort entweder eine bekannte Antwort übertreffen muss oder überflüssig ist, dann wäre der Film überflüssig. Das Wissen das uns gegenüber irrationalen und totalitären Regimes aufmerksam macht, gewinnen wir aus anderen Quellen, nicht aus diesem Film. Punkt. Aus. Erledigt.
Ich möchte dagegen vorschlagen, den Film als Kunstwerk zu betrachten. Der Film selber hat eine solche Betrachtung durchaus verdient, denn das Drehbuch ist spannend, die Dramaturgie fesselnd, die Schauspieler spielen empathisch... Die Frage lautet, welche Konsequenzen dies hat und was bei dieser Perspektive für uns rausspringt? - dabei muss klar sein, dass die Kriterien an ein Kunstwerk sich fundamental von den Kriterien an ein wissenschaftliches oder pädagogisches Werk unterscheiden. Pointiert gesprochen, steht Aufklärung gegen Schönheit, Genuss gegen Information, Wissen gegen Fiktion, Ästhetik gegen Klarheit, Emotionen gegen Rationalität... und so weiter und so fort...
Die beiden zentralen Prinzipien der Kunst heißen: Ästhetisierung und Isolierung. - „Ästhetisierung" meint nicht, dass das Hässliche etwa schön gemacht würde, auch in der Kunst bleibt das Grausame grausam, das Böse böse. Allerdings verlieren die Phänomene ihre weltliche Dringlichkeit und Bedrohung; man kann sie in einer Stimmung von interessenlosem Wohlgefallen schauen, wie es bei Kant heißt, sie werden kontemplativ. Entsprechend meint „Isolierung" auch nicht, dass Kunst über allen Dinge schwebe, weltfremd sei; wohl aber, dass sie ihre Objekte aus ihren konkreten historischen Bezügen löst und sie gleichsam in eine ideelle Sphäre projiziert, wo sie an sich existieren.(5) Arthur Schopenhauer beschrieb es in seiner Kunstphilosophie 1818 so: die Erkenntniß (reißt) sich vom Dienste des Willens los, eben dadurch hört das Subjekt auf, ein bloß individuelles Subjekt zu seyn und ist jetzt reines, willenloses Subjekt der Erkenntniß, welches nicht mehr dem Satz vom Grunde gemäß, den Relationen nachgeht; sondern in fester Kontemplation des dargebotenen Objekts, außer seinem Zusammenhang mit irgend ändern ruht, und darin aufgeht.(6)
Die Erkenntnis durch Kunst ist frei von jedem Verwertungsinteresse, mit dem wir sonst die Gebrauchsgüter betrachten. Sie muss ihre Existenz mit keinem übergeordneten Nutzen rechtfertigen. Sie ist damit auch prinzipiell frei von allen pädagogischen Interessen, sowie, wenn man es radikal sieht, von der Verantwortung für die eigene Wirkung überhaupt. Im Extrem kümmert sich Kunst nur um sich selbst.
Hermann Pfütze erklärt: Es gibt höfische, religiöse oder sozialistische Kunst, jedoch nicht „demokratische" Kunst als Magd oder Protagonistin der Politik; und Demokratie ist auch nicht Hort der Künste als Gesamtkunstwerk, wie der total durchkunstete Hofstaat des Barock es war. Diese Definitions- und Bemächtigungsversuche fallen unter die Rubrik „Kunst und Politik", aber nicht unter Kunst und Demokratie.(7)
Wie weit diese Freiheit (gegenüber dem gesellschaftlich Nützlichen) heute schon selbstverständlich geht, zeigt Christian Schröders Artikel über Tarantinos „Kill Bill": der Film ist eine Orgie in Gewalt und Schönheit ... Köpfe und Gliedmaßen werden gleich im Dutzend abgeschlagen, das Blut sprudelt in hohen Fontänen, die Kämpfer tanzen, springen, schlagen Salti wie in einem Fred-Astaire-Musical.(8) - Witzigerweise heißt er: „Triumph des Killens", was ja an Leni Riefenstahls „Triumph des Willens" erinnert. Auch Filme wie Mel Gibsons „Die Passion Christi", in dem man zwei Stunden lang nichts anderes sieht als Folterszenen bei der Kreuzigung, oder Christoph Schlingensiefs „Ausländer raus", in dem abschiebebereite Asylsuchende in Stahlcontainern auf dem Wiener Burgplatz ausgestellt wurden, demonstrieren eindrucksvoll, dass die Kunst sich laufend heiklen Themen annimmt und diese auf höchst eigenwillige, subjektive Art und Weise aufgreift, ästhetisiert und repräsentiert. Möglicherweise halten wir das nur aus, gerade weil sie ihre Themen ohne vordergründige Zwecksetzung präsentiert; also eben nicht erwartet, dass an ihr die Welt genesen soll. (Mel Gibbson mochte das womöglich anders sehen, aber sein Film lief ja zum Glück auch bloß eine Woche lang in den deutschen Kinos) Und vielleicht können wir uns vielen Dingen überhaupt nur in dieser Weise aussetzen und uns mit ihnen konfrontieren, indem wir sie ästhetisiert zu uns nehmen, oder, da das Wörtchen „Ästhetik", so sehr an „Eleganz", „Manierismus" erinnert, sagen wir besser: verkunstet, das klingt weniger geschraubt und etwas profaner.
Eichingers in der Presse vielzitierter „Tabubruch" besteht weniger darin, Hitler als Menschen zu zeigen (denn das wäre mit dem pädagogischen Imperativ noch vereinbar und ist seit Hannah Arendts „Eichmann in Jerusalem" eigentlich auch längst bekannt), sondern vielmehr darin, den Stoff überhaupt als Kunst aufzuarbeiten.
Die künstlerische Verarbeitung eines Themas setzt eine gewisse Souveränität und Unabhängigkeit voraus. Wer an einem Thema noch zu kauen hat, ist für eine Umsetzung nach den Regeln der Kunst zu befangen. Er muss sich erst noch klar darüber werden, wie genau er zu dem Problem steht und eine eigene Binnenlogik entwickeln, Max Weber würde sagen: eine eigene Rationalität, aus der heraus er kreativ schöpfen kann. Erst wenn er die Sache wirklich durchdacht hat und sie geistig gut durchgeknetet ist, kann er mit ihr frei spielen. Solange er sich jedoch über seine Beziehung zum Objekt noch selbst klar werden muss, ist er für die feste Kontemplation, wie Schopenhauer sie nennt, nicht reif. Er kann sich der künstlerischen Gestaltung seines Stoffes nicht rückhaltlos überlassen. Ein Teil seines Verstandes hält ihn ständig zurück, weil er sich und seiner Sache nicht traut und sich seines eigenen Verhältnisses zu ihr nicht sicher genug ist.
Bernd Eichinger sagt: Ich mache seit 30 Jahren Filme, und so lange befasse ich mich mit totalitären Regimen und deren Gehorsamsmethodik. Mit diesem Background kann man es sehr wohl -wagen, dem Bösen ein Gesicht zu geben.(9)
Die „New York Times" schreibt: Dass Hitler Stoff für ein Stück Massenkultur geworden ist, zeigt, -wie weit es den Deutschen gelungen ist, ihre Geister zu bannen.(10)
Und auf Hendryk M. Broder wirkt unsere ständige, eifrige Aufarbeitung der Vergangenheit schon lange leicht neurotisch: Die Erkenntnis können sie sich schenken, weil die Erkenntnis lautet: So was macht man nicht.(11)
Ich fasse zusammen: die Produktion von Kunstwerken über die Nazigeschichte gehört selber nicht zur Aufarbeitung der Geschichte, sondern setzt diese als bereits abgeschlossen und gelungen voraus. So herum betrachtet, wäre es ein Zeichen von Reife der Kultur, wenn der Film geglückt wäre - wir werden gleich sehen, ob er das ist.
Zweitens: wenn es gelingt, den „Untergang"-Film komplett zu rekonstruieren und dabei alle historisch relevanten Tatsachen und Personen zu eliminieren, quasi als ob die Geschichte auch mit völlig fiktiven Personen auf dem Mars spielen könnte, dann wäre damit bewiesen, dass die Figur Hitler ihre bedrückende Präsenz verloren hat und zusammen mit Nero, Maria Smart und Napoleon endlich in den Fundus der zeitlosen Themen eingegangen ist. Die Amerikaner setzen in ihren Actionfilmen die Nazi-Figuren schon lange sorgloser ein: als schaurigfaszinierende Mythengestalten, angesiedelt zwischen seelenlosen Roboterarmeen mit beachtlicher technischer Ausstattung, in denen der Einzelne nichts ist, und mysteriösen Gralssuchern, die nach überirdischen Mächten fahnden - stets freilich mit einem destruktiven Hass auf alles Lebendige. So in etwa das Strickmuster. Als H.G. Wells 1936 mit seinem berühmten Hörspiel „Krieg der Welten" eine Hysterie auslöste, weil die Zuhörer dachten, die Marsianer kämen jetzt wirklich, hielten nicht wenige sie für getarnte Nazis.(12) In phantastische Comicmetaphern Hollywoods übersetzt, sieht das dann so aus, dass die Nazis ein reales Tor zur Hölle öffnen, um den leibhaftigen Teufel als Verbündeten zu holen („Hellboy") oder nach der Bundeslade mit Moses Steintafeln graben, um ihre magische Wirkung als Geheimwaffe einzusetzen („Jäger des verlorenen Schatzes"). Vermutlich wird hier vor der historischen Situation kurz vorm Ende des zweiten Weltkriegs abstrahiert, als die Amerikaner fürchteten, Hitler könne bereits die Atombombe haben. Dies an dieser Stelle nur als Hinweis, wie weit die Nazis als Metapher schon längst in die Comic- und Hollywood-Welt eingesickert sind und dort spielerisch behandelt werden.
Die Binnenlogik der dramaturgischen Konstruktion. - Wenn ich so ansetze, kann ich die Elemente des Films nicht mehr als historische Tatsachen begreifen, über die informiert werden soll, sondern muss sie logischerweise als Elemente der dramaturgischen Konstruktion betrachten, die vornehmlich dem Selbstzweck des Kunstwerks dienen, der lautet: ein Kunstwerk zu sein!
Nach Lajos Egris „Lehrbuch des dramatischen Schreibens" sind für ein spannendes Drama drei Zutaten nötig: die Charaktere, der Konflikt und die Prämisse.(13) Egris ist der Ansicht, dass sich ein Stück fast von alleine schriebe, wenn man die richtigen Zutaten beieinander hat. Die Charaktere müssen entschlossen sein und brauchen starke Motive, warum sie ihre Handlungsziele verfolgen; die Konflikte entstehen fast automatisch aus diesem Gegeneinander der unterschiedlichen Ziele und Handlungen. Damit die Spannung steigt, müssen sie sich freilich immer mehr zuspitzen, bis zum Finale, das entweder heitere Auflösung (Komödie) oder Katastrophe (Tragödie) bedeutet. Die Prämisse schließlich ist sozusagen die leitende Idee, die das Stück durch seinen ganzen Verlauf zum Ausdruck bringt. Egri nennt als Beispiele: Liebe ist stärker als der Tod, für „Romeo und Julia", oder: Wer anderen eine Grube gräbt, fällt selbst hinein, für Molieres „Tartuffe". Das nur soweit, damit wir ein Bild bekommen, was Egri mit dem Begriff der „Prämisse" meint.
Ein völlig unwissender, historisch ungebildeter Zuschauer (den es in unserer Gesellschaft so freilich nicht gibt) sähe den Film wie irgendein Shakespeare-Stück. Nach Egris allgemeinen Schema könnte man ihn so beschreiben: Zuerst hatte Hitler eine Vision, dann rührte er Krieg gegen die Welt, dann wurde er in die Ecke gedrängt, dann brachte er sich um. Er ist fest entschlossen, das ganze Land mit sich in den Abgrund zu reissen.
Traudl Junge bringt die innere Logik seiner Situation auf einen Punkt: Hitler wußte, daß die Russen ihn töten -werden, also ließ er die Menschen kämpfen bis zum Letzten; nur sie hatten was zu verlieren, er nicht mehr.(14) - Wenn man soweit über die Logik der Situation informiert ist, erscheinen alle weitere Handlungen Hitlers entweder vollständig von diesem Programm determiniert oder eben wahnsinnig. Eine autonome Figur im Sinne eines Theaterstücks ist er nicht mehr, sein Handeln wirkt auf den Betrachter zu hundert Prozent berechenbar.
An dieser Stelle ein kleiner Exkurs zu der Frage: „War Hitler ein Mensch oder war er ein Monster?" - Hierbei handelt es sich um eine typische Hollywoodunterscheidung, die etwa aus Disneys „Glöckner von Notre Dame" oder Steven Spielbergs Kitsch-Fiction „A.I." stammen könnte.(15) Nüchtern und ohne falschen Pathos betrachtet, schließen beide Merkmale einander keineswegs aus: das Spektrum des Menschen als einem, wie Friedrich Nietzsche ihn nannte, nicht-festgestelltem Tier, umfasst einsame Genies und Volltrottel; Heilige und Volkshelden, Verbrecher und gefährliche Wahnsinnige. Wir müssen uns die Gattung „Mensch" in jeder Hinsicht vielgestaltig vorstellen, dann kommen wir nicht zu dieser irreführende Alternative. Die Bezeichnung „Mensch" allein ist ja noch kein Lob; ein Delphin würde protestieren. Denn natürlich kann niemand ernsthaft bestreiten, dass Hitler biologisch ein menschliches Wesen war. Doch lässt sich daraus noch lange nicht folgern, dass er auch „menschlich" in einem humanistisch wertvollen Sinn war; nur wenn wir der Gattung „Mensch" prinzipiell auch das Potential zum Monster zutrauen, können wir Hitler als einen Menschen betrachten, ohne ihn damit automatisch zu verklären.
Der Schauspieler Bruno Ganz wurde für seine einfühlsame und höchst authentische Darstellung mehrfach gelobt,16 und möglicherweise hat er Hitler wirklich gut getroffen; allerdings sehen wir den Führer vor allem Primärbedürfnisse befriedigen, essen und kacken, mit seinem schmierigen Charme mit seinen Sekretärinnen flirten, Eva Braun küssen und seinen Schäferhund streicheln, außerdem Wutausbrüche kriegen und über die sicherste Methode zur Selbsttötung nachdenken.
Mithin ist Hitler nicht nur ein Mensch, sondern sogar ein besonders gewöhnlicher Mensch. Man hat ein bisschen ein Gefühl wie bei Peter Handkes Publikumsbeschimpfung, als ob es gezielt darum ginge, sensationelle Erwartungen zu erschüttern: „Wie bitte? Sie wollen Hitler sehen, sie wollen ein Monster sehen? Nein, sie werden gar nichts sehen, nur einen gewöhnlichen Menschen beim Essen und beim Kacken werden sie sehen..."
Der Film erweckt den Eindruck, als habe allein seine Aura und sein Charisma Hitler mächtig gemacht Dass es darüber hinaus noch einen sozialpsychologisch raffiniert durchorganisierten Apparat aus Befehlsketten, Propaganda und Einschüchterungsmechanismen gab, kommt in dem Film nicht vor.
Das liegt freilich in der Natur der Sache und ist im Ansatz zum Werk bereits impliziert: zum ersten durch den gewählten Ausschnitt, insofern Hitler in den letzten Tagen im Bunker tatsächlich der Machtapparat wegbrach. Zum zweiten durch die Grenzen und Möglichkeiten des gewählten Genres, da sich die sozialtechnischen Analysen von Befehlsketten und Macht nur in einer breiter angelegten Dokumentation, aber nicht in einem Kammerspiel zeigen lassen. Das Kammerspiel ist eher für die unmittelbaren Interaktionen zwischen Menschen reserviert, die mikrosozialen Prozesse der Gruppendynamik, wie es sozialwissenschaftlich heißt.
Die übrigen Personen in seinem finsteren Hofstaat sehen einer Kapitulation unterschiedlich entgegen, je nachdem wie sehr sie in das System verstrickt sind oder seine Vision teilen, eher hoffnungsfroh oder ähnlich apokalyptisch wie der Führer selbst. Das erklärt die unterschiedlichen Strategien der Leute, die sich entweder abseilen oder in der Nähe des Führers bleiben, ihm stupide die Treue halten oder, wie Traudl Junge und das andere Zivilpersonal im Bunker, einfach nur dem Lauf der Dinge harren.
Eine Handvoll Personen bemüht sich um Schadensbegrenzung: zwei Ärzte kümmern sich draußen um die Verwundeten, sie sind die einzigen positiven Helden und Sympathieträger in dem Film. Zwar sprechen sich auch innerhalb des Bunkers hochrangige Offiziere vereinzelt für eine schnelle Kapitulation aus, damit nicht noch mehr Menschen sterben; doch gegen Hitlers destruktive Energien haben sie keine Chance. Die Ereignisse schnurren nur noch ab wie bei einem Uhrwerk.
Für ein Theaterstück wäre es eindeutig zu dünn, wenn die Aktionen der Akteure für den Verlauf der Ereignisse fast egal sind. In anderen Kammerspielen, zum Beispiel: „Die zwölf Geschworenen" oder: „Thirteen days", wird viel mehr gehandelt. Indem verschiedene Personen durch ihr Gegeneinander Konflikte produzieren, treiben sie den Gang und die Entwicklung der Ereignisse vorwärts, ihr Handeln ist gleichsam der Stoff, aus dem die Geschichte gewoben wird. Das ist im „Untergang"-Film nicht der Fall: die Konflikte haben eigentlich nur eine ornamentale, schmückende Funktion. Weil der Zuschauer den Schluss kennt, kann er wie beim Untergang der „Titanic" mit dem Countdown rückwärts zahlen: die Russen sind in Marzahn, die Russen sind in Lichtenberg, sie sind an der Friedrichsstraße... bekommt er in regelmäßigen Abständen durchgesagt wie eine verbleibende Flugzeit bis zum Ziel. Er kann seine gesammelte Aufmerksamkeit auf die psychischen Reaktionen der Leute legen: werden sie die Nerven verlieren oder bleiben sie eisenhart bis zum Schluss? Für einen reinen Katastrophenfilm wie „Erdbeben" oder „Flammendes Inferno" fallen allerdings viel zu wenige Kronleuchter von der Decke.
Man muss fragen, woher der Film eigentlich seinen Reiz bezieht? - zu einem gewissen Teil sicher aus dem Vergnügen, die obersten Naziverbrecher wie die Ratten bei einem Laborversuch der Stressforschung in einem engen Käfig zappeln zu sehen.(17) Mit einem ähnlichen Vergnügen wandern englische und amerikanische Touristen regelmäßig die Berliner Wilhelmstraße ab, um zu sehen, auf welche winzige Fläche ihre Väter und Großväter das einst so riesige Reich kleingekämpft hatten.(18) - warum sollten wir Deutsche es uns nicht gönnen, wer hat sich nicht schon gewünscht, den Scheißnazis beim Verrecken zusehen zu dürfen? Die Filmstudios werden ja nicht umsonst als „Traumfabriken" bezeichnet: sie produzieren Träume in einem perfekt freudianischen Sinne, Angstträume, Lustträume, Wunschträume...
Der unwissende, nicht vorgebildete Zuschauer fragt: „Wie sind die Nazis in diese aussichtslose Lage gekommen, warum stehen sie so in die Ecke gedrängt?" - Antwort: Weil sie erbitterten Krieg gegen die gesamte Welt führten, sie haben von ihren Gegnern nicht das geringste Gramm Mitleid zu erwarten. Sie sind die gefallenen Tyrannen, deren Gewalt sich am Ende gegen sie selber richtet und vernichtet.
Doch der unwissende, nicht vorgebildete Zuschauer gibt sich mit dieser Antwort noch nicht zufrieden: „Ja, aber warum haben sie denn Krieg gegen die ganze Welt geführt?" fragt er weiter. - die Antwort lautet: weil sie die Weltherrschaft wollten. Ziemlich zu Beginn des Films sieht man Hitler zusammen mit Albert Speer vor einem Modell der Stadt Berlin, wie sie nach dem Endsieg in neuer Triumph-Architektur aufgebaut werden soll. Hitler spricht andächtig von „Unserer herrlichen Vision"; sie wird inhaltlich nicht weiter gefüllt. Die Vision wird mehrmals zitiert, aber nie konkretisiert. Mithin scheint sie eine rein dramaturgische Funktion zu haben, nämlich den Fanatismus der handelnden Charaktere in diesem Kammerspiel zu erklären. Der Grund der Akteure für ihren Krieg gegen die Welt ist im Film: „die Vision", die immer wieder bloß erwähnt, aber nie ausgeführt wird. Sie ist ein McGuffin. Ähnlich wie in den Alfred Hitchcock-Filmen: ein beliebiger Aufhänger, damit die Spione und Verbrecher einen Anlass für ihre Verfolgungsjagd haben.
Alfred Hitchcock erklärt selber, was er unter einem „McGuffin" versteht: In der Geschichte („Der unsichtbare Dritte") geht es um die Frage: Was suchen die Spione? In der Szene auf dem Flugfeld von Chicago erklärt der CIA-Mann Cary Grant alles. Der fragt dann im Hinblick auf James Mason: „ Und was macht der? " Darauf antwortet der andere: „Sagen wir Import-Export." „Ja, aber was verkauft er denn? " „Na, eben Regierungsgeheimnisse." Sehen Sie, da haben wir den McGuffin, reduziert auf seinen reinsten Ausdruck: (19) - die Geheimformel, die überbracht werden muss, der Unschuldige, der seine Unschuld beweisen muss, der Krieg, der auf jeden Fall gewonnen werden muss.
Für die Funktion eines Hitchcock-Füms wie für die Funktion des „Untergangs" ist die genaue Definition und inhaltliche Gestaltung des McGuffins egal, solange nur die Motivation, Entschlossenheit und Panik der Akteure aus ihm glaubhaft folgen. Diese spezifische Ignoranz gegenüber der Ideologie entspricht durchaus der pädagogischen Haltung, die sich ja ebenfalls auf Diskussionen über Rasselehren im Detail nicht einlässt, sondern die Angelegenheit eher sozialpsychologisch behandeln will. Auf der anderen Seite käme für Hitlers „Vision" fast alles in Frage; die Eroberung der Weltherrschaft ebenso gut wie die Besiedelung des Mondes, die Errichtung einer Unterwasserstadt oder die atomare Verstrahlung des Geldvorrats in Fort Knox - auf dieser Ebene vergleichbar mit den durchgeknallten Zielen der „007"-Gegner in ihrem futuristisch-apocalyptischen Soziotop.
Die Prämisse des Films lautet mithin: Wer Krieg gegen die ganze Welt führt, wird am Ende selber getötet. - Das ist natürlich wahr und eine gute Prämisse. Sie hat die Eigenschaft, wie alle Prämissen, von ihren konkreten Umständen isoliert und auch auf andere Situationen übertragbar zu sein. Man muss sie nicht zwangsläufig am Beispiel Hitlers präsentieren, man könnte sie genauso gut in einem Stück über Kaiser Nero, Andreas Baader oder einen autoritären Familienvater entfalten. In Thomas Vinterbergs „Das Fest" ist das zum Beispiel der Fall, oder in Molieres „Tartuffe".
Der Ökologe und Sozialwissenschaftler Gregory Bateson prägte den Satz: Ein Lebewesen, das seine Umwelt zerstört, zerstört sich selbst.(20) Die Hitler-Geschichte wird zur Allegorie auf diktatorisches Verhalten überhaupt: eine Autorität im Alleingang gegen alle anderen muss fallen, egal wie mächtig sie zuerst auch noch scheinen mag. Sie untergräbt ihre eigene Macht durch ihre selbsterzeugte Isolation. Hannah Arendt spricht vom selbstzerstörerischen Element, das dem Sieg der Gewalt über die Macht innewohnt.(21) - Im Unterschied zur Gewalt lässt sich Macht im Alleingang nicht durchsetzen, da sie prinzipiell auf Interaktion mit der Umgebung basiert.
Die Autorität wird nicht in den Ruhestand, sondern in die Wüste geschickte. (22) - Wenn sie anfängt, ihre Untergebenen zu missbrauchen, ruiniert sie ihre eigene Basis. So ist auch ein Diktator auf seine Umwelt und die anderen Personen angewiesen. Sein Ende liegt somit in seinem Wesen besiegelt, alles nur eine Frage der Zeit. Die einsame, autoritäre Macht, die schließlich in Gewalt umschlägt, trägt den Keim ihres Scheiterns bereits in sich; der Produzent muss ihn lediglich heraus präparieren, um seinem Publikum die Notwendigkeit des Prinzip vorzuführen. Und am Ende prasselt es Tote wie in einem Shakespeare-Stück.
Darüber hinaus greift der Film einen noch allgemeineren Archetypus auf, nämlich das Bild des „Einstürzenden Turms". Seine älteste Variante ist vielleicht der Turmbau zu Babel, die Tarotkünstlerin Rächet Pollack verknüpft das Symbol mit Politik, Technik, Ökologie, Psychologie: Der Turm kann auch eine heftige Freisetzung unterdrückter Energien bedeuten. Wenn eine unerträgliche Lage lange Zeit anhält, wird sich der Druck zu einer gefährlichen Sprengkraft aufstauen. Übertragen auf die Psyche eines Menschen, kann die Folge ein Wutausbruch sein; eine politische Situation langer Unterdrückung hat möglicherweise eine Revolution zur Folge; öderes treten ökologische Katastrophen ein, die durch jahrelange Vergwaltigung der Natur verursacht sind.(23)
Die vergiftete Faszination. Ich habe versucht, den „Untergang"-Film auf einer verallgemeinerten Ebene zu rekonstruieren. Seine wesentlichen Elemente (Charaktere, Konflikte und die Prämisse) lassen sich soweit abstrakt und gelöst vom realen Kontext fassen, dass man ihn sich rein theoretisch auch ohne Hitler und Goebbels, als eine rein fiktive Geschichte mit fiktiven Figuren vorstellen könnte. Dies entspricht den beiden zentralen Prinzipien eines Kunstwerks, wie ich sie oben kurz skizziert habe: Isolation und Ästhetisierung.
Gleichwohl, und das muss nicht weiter erklärt werden, können wir den „Untergang" nicht mit jener unbefangenen Angstlust betrachten, mit der wir den „Untergang Trojas" oder den „Untergang der Titanic" verfolgen. Das muss auch Bernd Eichinger klar gewesen sein, der die Ereignisse im Bunker in brutale Kriegsbilder außerhalb des Bunkers einrahmt. Diese Szenen sind eindeutig und scharf im Stil der klassischen Antikriegsfilme gedreht, sie schreien allesamt: „Schluss mit dem Volkssturm! Schluss mit dem Krieg!" Eichinger erklärt, dass die Ereignisse im Bunker natürlich mit den andauernden Kriegshandlungen draußen in Beziehung stehen müssen, weil sonst ein Eindruck von Kasperltheater(24) entstehen würde. Man würde womöglich Hitlers Wutausbrüche und sein visionäres Getue für eine irre Performance oder Slapstick halten. Bei einem Essen mit Gästen erklärt er feierlich seine Philosophie.' „ Was für den Affen gilt, muss doch in erhöhtem Maße für den Menschen gelten!" - Traudl Junge und das übrige Zivilpersonal gucken eigenartig berührt vom Teller auf, „Uppps!" scheinen ihre Blicke zu sagen. - Das wäre komisch, ein guter Gag, hätte Hitler nicht mit solchen Gedanken halb Europa in Schutt und Asche gelegt...
Die beiden Erzählebenen (im Bunker: grotesker Untergang; draußen: blutiger Krieg) durchdringen einander nicht wirklich, ihre Beziehung ist eher atmosphärisch. Etwa in der videoclipartigen Passage, da man Eva Brauns Stimme aus dem Off beim Verfassen ihres betulichen, kleinkarierten Testaments sprechen hört, dazu musizieren traurige Geigen, man sieht eine Collage grausamster Kriegsszenen: unter anderem ein halbwüchsiges Mädchen im Volkssturm, das sich euphorisch beim Hitlergruß abknallen lässt. Dieses kontrastiert sonderbar mit dem teils weltfremden, teils absurden oder hilflosen Verhalten der Personen im Bunker. Auch wenn es den historischen Tatsachen entspricht, ergibt sich doch für die emotionale Botschaft des Films ein Gemisch, das sich mit Begriffen wie zynisch, sarkastisch, ironisch, grotesk oder fatalistisch nur unzureichend fassen lässt.
Bernd Eichinger spricht in Interviews mehrfach von der „Faszination", die vom Ende des Regimes auf ihn ausgegangen sei; und tatsächlich scheint der Film über weite Strecken diese Faszination wiederzugeben - und zugleich davor zu warnen, sich ihr hinzugeben. Er will einerseits faszinieren und andrerseits präsent halten, dass es sich hierbei um keinen bloßen Spaß oder um Unterhaltung gar handelt. In der Regel wird den Darstellungen eine bittere Substanz beigemischt, die einen unreflektierten Konsum verhindern soll. Die Faszination, die der Film vermittelt, ist bis in die Fasern hinein vergiftet, damit kein Nazifan sich unkritisch von ihr anregen lässt. (Praktisch klappt das freilich nicht immer, denn dass sich Menschen auch mit offensichtlich selbstzerstörerischen Idolen identifizieren, ist ja bekannt.)
Die emotionale Botschaft erscheint mithin paradox. Es ist ja schon ungewöhnlich, wenn das Publikum eines Films darauf hinfiebert, die Protagonisten mögen sich bitte bald eine Kugel durchs Hirn blasen. Andererseits gehört das Paradoxe auch zum Wesen der Kunst: die Kunst besteht hier darin, das Paradox in den Details nachvollziehbar zu entfalten. Der Teufel steckt nicht im Detail: Während die Konzeption im Großen und Ganzen unpassend und missglückt scheinen mag, ist sie in einzelnen Bildern mitunter ausgezeichnet gelungen.
Die Stärke des Films liegt sicher nicht im Erzählen einer Geschichte. Indes verfügte er über einige hervorragend gelungene, sehr intensive Bilder, die an die preisgekrönten Arbeiten von Bildjoumalisten aus Krisengebieten erinnern: sie haben einerseits eine eindeutig dokumentarische Funktion, insofern sie reale Ereignisse nachstellen, sind jedoch andererseits in Komposition, Perspektive, Kulissen, Belichtung... ästhetisch wohlgestaltet, und sie drücken den spezifischen Charakter, die Atmosphäre der Situation in besonderer Intensität aus. Insofern sind sie wie künstlerische Gemälde. Hier ein paar Beispiele:
- Hitler tritt in einen Saal vor seine Offiziere, die einen Halbkreis um ihn bilden und ihn zackig mit dem Hitlergruß empfangen. Die Kamera filmt ihn von hinten, guckt über seine Schultern, er hebt ebenfalls die Hand zum Gruß. Schnitt! Aus den Fenstern eines mehrstöckigen Gebäudes regnet es weiße Papiere wie bei der berühmten New Yorker Konfettiparade nur handelt es sich hier um Aktenblätter, die vor Ankunft der Alliierten noch schnell verbrand werden sollen.
- Erregendes Hauptquartier-Gewusel: schwarze Benz-Limousinen rauschen herein und heraus, glitzernde Uniformen aus Lack und Leder, die dynamische Choreographie von Personen, deren Handlungen allesamt glatt ineinander zu greifen scheinen, ähnlich wie im Lager des Oberschurken, in den „007"-Filmen. Es ist das einzige Mal, dass diese spezifische Ästhetik benutzt wird. Beim zweiten Hinsehen erkennt der Zuschauer, dass sich die obersten Offiziere auf einer feigen Flucht befinden; Himmler überlegt, wie er sich bei Eisenhower anbiedern kann, dann nimmt er die Beine in die Hand. Zum Finale: eine Fanfare aus Selbstmorden. Das Prinzip der vergifteten Faszination zeigt sich nochmal im Höhepunkt des Films, der aus einer Serie von Selbsttötungen besteht.
- als erstes scheiden Hitler und Eva Braun aus dem Leben, zuvor verabschieden sie sich von ihren Vertrauten durch Händedruck. Es macht einen schäbigen Eindruck, wie er sich aus der Verantwortung stiehlt. Er hat sich in sein Zimmer zurückgezogen, ein Soldat hält Wache, da will Magda Goebbels unbedingt nochmal zu ihm, sie fleht den Soldaten an. Der klopft, Hitler verärgert, barsch: „Was gibt's denn noch?", der Soldat: „Entschuldigen Sie, Frau Goebbels möchte sie unbedingt noch einmal sprechen." Er öffnet wieder die Tür, sie fällt Hitler buchstäblich um den Hals. Er guckt komisch in seiner Intimsphäre berührt, als hätte sie ihn auf dem Klo sitzend überrascht.
- Die Offiziere schaffen ihre Leichen raus wie nervöse Verbrecher, die rasch ihre Spuren verwischen müssen. Sie salutieren vor ihren brennenden Leichen, man sieht das Flackern des gelben und roten Lichts auf ihren hageren Gesichtern, bis sie nach wenigen Sekunden von einem Bombenangriff wieder nach drinnen gejagt werden.
- Danach tötet Frau Goebbels ihre sechs Kinder wie bei einem Ritual: sie schiebt ihren schlafenden Kindern der Reihe nach eine Zyankalikapsel zwischen die Zähne, legt die eine Hand auf ihre Stirn und gibt mit der anderen Hand einen Stoß gegen das Kinn, so dass die Kapsel zerbissen wird, dann zieht sie ihnen die Bettdecke über das Gesicht. Das alles erledigt sie pflichtbewusst und routiniert wie eine Mutter, die ihren Kindern der Reihe nach Schal und Mütze anzieht. Man sieht, wie sie dafür Impulse des Mitleids unterdrücken muss, während sie subjektiv meint, nur das Beste zu wollen. Sechsmal in Nahaufnahme ein schlafenden Kindergesicht, das sich nur durch kurzes Aufhusten und eine geringe Veränderung in Ausdruck und Haltung in ein totes Gesicht verwandelt.
- Danach gehen Magda und Joseph Goebbels vor die Tür, wo er zunächst sie, dann sich selber erschießt, stramm und konsequent, als ziehe er nur die logische Schlussfolgerung aus einer nüchtern analysierten Situation. Kurz bevor er abdrückt, steht Goebbels da, die Schultern zurückgezogen, die steife Uniformjacke um die Taille eng geschnitten, als eine Karikatur auf jene drahtige Haltung, die einst auf seine Anhänger so irrsnnig smart und ultracool wirkte.
- Danach sind die obersten Anführer tot. Wie ein Echo folgen weitere Selbsttötungen von weniger wichtigen Nazis, die pflichteifrig und rasch ihren Führern folgen wollen oder sich einfach nur kein Leben nach dem Krieg vorstellen können, und sich ruckzuck noch schnell eine Kugel durch den Kopf pusten. Wie bei einem „Running Gag" hört man im Hintergrund immer wieder Schüsse und sieht am Bildrand Gehirne gegen die Wand klatschen.
Offensichtlich haben sämtliche Selbstmordszenen innerhalb des Bunkers einen deutlichen Touch von schwarzer Komik, man spürt sogar Schadenfreude, schließlich haben sie ihren Tod verdient, während die Kriegstoten außerhalb des Bunkers ja einen anklagenden und klaren pazifistischen Appell transportieren. Allein der Mord an den sechs Goebbels Kindern ist sozusagen ästhetisch rein. Diese Szene wurde in mehreren Zeitungen als „Höhepunkt" des Films gelobt.(25) Alle übrigen Elemente des Films scheinen auf diese Szene hinzustreben, so als ob sich in ihr die eigentliche Idee des Werks entfaltete. Tatsächlich funktioniert sie vor allem als Scharnier, das die beiden parallel laufenden Erzählebenen zusammenhält. Man schneide die Szene raus, und der Film würde wieder in zwei Filme zerfallen: klassische Antikriegsagitation und Kasperltheater.
Die Kinder zählen formal zwar zur Täterseite, sind praktisch aber völlig unschuldig. Mithin erscheint ihr Tod weder mit dem bizarrer Sarkasmus der übrigen Bunkerszenen noch im anklagenden und empörenden Stil der Kriegsszenen draußen. Vielmehr vermittelt diese Szene in einer hochkonzentrierten Form und sehr abstrakt nocheinmal die wesentlichen Merkmale der Diktatur: wahnsinnigen Fanatismus, Disziplin und das Fehlen von Mitleid, eine Totalität, die alle Personen erfässt, sowie die mechanisch lautlose Technik der Vollstreckung und eine kalte, anti-humane Eleganz. Sie erinnert von der Machart ein bißchen an die Szene in Stanley Kubricks „2001", da der Bordcomputer HAL 9000 die drei schlafenden Astronauten ermordet. Allerdings verfügt „2001" über viele solcher Szenen, angefangen von der Verwandlung des Knochens in ein Raumschiff bis zum psychedelischen Trip am Schluss, wo sich eiskalte Ästhetik, Zynismus, Rätsel und Schaudern mischen, während der „Untergang" eben nur eine einzige Szene von dieser Sorte kennt.
Zusammenfassung und abschließendes Urteil. Was also ist insgesamt von diesem Werk zu halten? - es fällt schwer, die Frage einfach und endgültig zu beantworten. Vor allem zeigt sich in der Auseinandersetzung, dass der ausschließlich künstlerische Blick auf den Film nur mit großer Mühe durchzuhalten ist. Fast zwangsläufig rücken die Gedanken immer wieder davon ab, zumal der Film ja auch keinen reinen Genuss darstellt. Ich habe ihn jetzt zweimal gesehen und bin beidemale ziemlich erledigt aus dem Kino rausgekommen. Ein drittes mal werde ich ihn mir, glaube ich, nicht ansehen. Nun darf Kunst natürlich auch eine Zumutung sein, doch bei diesem Film ist es schwierig, den Grund dafür zu entdecken; die Verstörung zu erklären.
Insgesamt betrachtet mag der Film zahlreiche Intentionen verfolgen, womöglich sogar zuviele auf einmal: er will spannend und actiongeladen sein, er will historisch exakt und informativ sein, er will den Blick auf die Persönlichkeiten der obersten Nazi-Elite lenken, und gleichzeitig will er sie anklagen und ein Antikriegsfilm sein ... das alles auf einmal, das muss man erstmal unter einen Hut bekommen ... und dann will er außerdem noch ein Kunstwerk sein und inszeniert als seinen Höhepunkt den Mord an den sechs Goebbelskindern als einzige rein ästhetische Stelle.
Vielleicht urteilt Andreas Borcholt so hart: Zuviel an dem Film funktioniert nicht.(26) - Ich würde hingegen sagen: bei sovielen einander widersprechenden Ansprüchen und einem dermaßen verqueren Konzept ist es allerdings bereits eine Leistung, dass der Film nicht komplett daneben gegangen ist. Für Cineasten sind solche Filme immer interessant, bei denen man sich fragt: geht das oder geht das nicht? - In diesem Sinne ließe sich auch der „Untergang" als ein konzeptionelles Experiment betrachten, etwa mit der Ausgangsfrage: lässt sich ein faszinierender Thriller drehen, der den Anlass seiner eigenen Faszination negiert? - oder: lassen sich zwei parallel laufende Intentionen in einer künstlerischen Schlüsselszene kumulieren? - oder auch: wie empathisch lassen sich Figuren darstellen, mit denen in letzter Konsequenz sich niemand identifizieren möchte? - unter all diesen Aspekten lässt sich der Film betrachten und wie bei einer Stilstudie oder einem Lehrstück quasi künstlerisch, heuristischer Gewinn aus ihm ziehen.
So gesehen zählt der Film maximal zu einer fiktiven Null-Serie, denn wenn sich überhaupt etwas klares und eindeutiges aus all den Reflexionen extraieren lässt, dann dass Hitler und die Nazi-Zeit (zumindest in Deutschland) eben noch lange, lange, lange keinen Stoff für reines Kunst- oder Spannungskino abgegen.

1. Matthias Kalle, Michael Meyns: On the day the nazi died, in: Zitty 20/2004, Berlin, S. 42
2. Theodor W. Adorno: Philosophische Terminologie, Band I, Ffm, 1973.
3. Hannah Arendt; Eichmann in Jerusalem, München: Piper, 1986, S. 403
4. Theodor W. Adorno: Erziehung zur Mündigkeit, Ffm: Suhrkamp, 1971, S. 90
5. Michael Pothast: Die eigentlich metaphysische Tätigkeit, Ffm, 1982.
6. Arthur Schopenhauer Die Welt als Wille und Vorstellung, Band I, Köln: Könemann, 1997, S. 271
7. Hermann Pfütze: Form, Ursprung und Gegenwart der Kunst, Ffm: Suhrkamp, 1999, S. 320
8. Christian Scbröder: Triumph des Killens, in: Der Tagesspiegel vom 14.10.2003, Berlin, S. 25
9. Bernd Eichinger, zitiert im Stern 39/2004, Hamburg, S. 61
10. Die New York Times, zit. In: Lars-Olav Beyer, Ruth Reichstem: Dicker als Fondue, in: der Spiegel 40/2004, Hamburg. S. 158
11. Henryk M. Broder, zitiert im Stern 39/2004, Hamburg, S. 64
12. vergl. Helmut Lück: Einführung in die Psychologie Sozialer Prozesse, Hagen, 2000, S. 14
13. Lajos Egri: Dramatisches Schreibens. Theater-Film - Roman, Berlin, 1946, 1960,2003.
14. Traudl Junge, zit. In: Im Toten Winkel, BR. Oktober, 2004.
15. Vergl. Steven Shapiro: Doom Patrols. Streifzüge durch die Postmoderne, Mannheim., 1997, S. 26 f.
16. z.B. Bert Rebhandl: Das Experiment, in: Berliner Zeitung Nr. 217,16.09.2004, S. 3
17. vergl. John Calhoun, in: Jürgen Schulz-Gambard: Crowding. Dichte und Enge in der psychologischen Forschung, Hagen, 1985, S. 16 ff.
18. Henning Sussebach: Gras drüber, in: Die Zeit, vom 16.09.2004, Hamburg, S. 67
19. in: F. Truffaut, ders.: Mr. Hitchcock, wie haben sie das gemacht? München: Heyne, 1966,1973, S. 127
20. Gregory Bateson: Ökologie des Geistes, Pfm, 1982.
21. Hannah Arendt: Macht und Gewalt, München: Piper, 1969,1970, S. 56
22. Wolfgang Sofsky, Rainer Paris: Figurationen sozialer Macht, Ffm: Suhrkamp, 1994, S. 156
23. Kachel Pollack: Der Haindl-Tarot, München: Knaur, 1988, S. 195
24. Bernd Eichinger, in einem Interview auf XXP, im Oktober 2004.
25. Vergl. z.B. Peter Michalzik: Dr. Albee oder wie ich lerne, den Bunker zu lieben, in: Frankfurter Rundschau vom 20.11.2004, Ffm, S. 17 sowie drei weitere Zeitungen, die ich bei meiner unsystematischen Sammlung gefunden habe.
26. Andreas Borcholt: Die unerzählbare Geschichte, aus: Der Spiegel-Online, Oktober 2004.

   

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