Necati Mert´s Kolumne

Frühsommerbrief

   
Die Netz-Brücke
 


Von Istanbul bekommst du ihn
morgen wohl oder irgendwann
auch wenn ich nicht dort sein kann
– oder immer dort gewesen
nicht als überirdisches Wesen –
östlich vom Marmarameerarm
auf einer greisenhaften einsamen Bank
   weise und immer noch arm
      noch dazu herzenskrank

Du warst noch nicht geboren
als ich in dieser Stadt von dir träumte
   in frühen April-Foren
      mit den Korsaken aufräumte
Als ich dich danach fand
in einem liederlos kummervollen Land
Deine Haare glichen Weiden-Büschel
   mit dem Sonnenrot sommergrell
      auf deiner Stirn

Unter schweren Schlägen gelitten
habe ich schräge Augen vermieden
   und stinkige Sitten
      schwierige Hominiden

Verse konnte ich nicht setzen
wenn du nicht das Wort warst 
      in nelkenroten Netzen
wenn der Regen nicht zu grünen kam
die Traumblüten Stamm um Stamm
Und du pflücktest die Tage
in ihrem siebenfarbenen Dabeisein
wann immer ich aufstand
   nach jedem Rebellenbrand
erschien das Tagesgestirn
Das warst immer du
   Singular in meinem Hirn

Du bist ex oriente lux
und wo du auf mich nicht mehr wartest
das Morgenlicht anders startest
einzig in den Höhlen des Gedächtnisses
hast Trommelfeuer orchestriert
im Abschiedsstadion der Olympioniken
während mein Lebenslicht voll Sorgen
längst den Nachteinbruch erreicht
warte ich dennoch auf den Morgen
der kommen wird wohl sicher
      nicht vielleicht

Wenn Juli ist und Abend so dämmert
als ob überm Bosporus vogelfrei
die "unsichtbare Hand" hämmert
fliegen Möwen-Schwärme vorbei
von Kummer mehrfach vervielfältigt
   von der Sehnsucht überwältigt

Weder die Anatomie der Melancholie
noch die Dialektik der leibhaftigen Liebe
bewegten generatives Getriebe
nur die Autonomie im Schaitanen-Schein
   treibt die Menge
      zum Kampf ums Dasein

In ihren Straßen rast der Motoren-Horror
in allen Alleen der monetäre Imperator
Diese Stadt will in ihren schmierigen Nischen
mich mit ihrer schwierigen Erde mischen
Und ich muß die Sehnsucht erleiden
nach dir und guten Mutes sein
das Risiko des Kollaps vermeiden
Jedes Lehrgebäude beherbergt seinen Fakir
zugleich die Abrahamiten der Flöhengier
Haramiten und Privatiers Tigerrevier
Plätze gibt es in der Tretmühle der Havarien
Zugänge geschlossen für Loser und Pleitier
für die Werktätigen mit knapper Ration
Tesettür-Hurien und Furien im Turban
bevölkern die Agora der agilen Agitation
Herostratus greift Ulanen an

Lange können die Tage des Alters sein
      und höllisch-heidnisch kalt
wenn immer Abenteurer des Lebens aussteigen
      macht das Erdenrund nicht halt
Noch zeigen alle Zeiten auf Null
Noch steht kein Gedicht Istanbul
   zu Ende geschrieben
außer daß es dir gelingen wird
wenn ich vielleicht
   auf dieser endlichen Erde
   nicht mehr sein werde

Istanbul heißt die Sehnsucht derer
die am Hungertuch nagen
und das Eldorado der Hyänen
   mit ewig leerem Magen
Ich träumte immer mit weichem Knie
davon wie
du triumphieren wirst
und mit dir alle Notleidenden
und alle Einsamen auf weiter Flur
   in allen Breiten und Enden
und lange Vergessenen bloß
und die Heimlichen unterwegs
   zum Eldorado unterm Hesperos
und die besitzlosen Parias
und die roten Rotten des Prekariats
die Spätlinge des Proletariats

Immer wenn der Tag begann zu dämmern
und der Abendwind Bukett um Bukett
   die Hausdächer zu kämmen
      dann in die Hügel zu hämmern
und die Möwen die Wohnviertel stürmen
   von Islamvoll-Türmen
bist du Istanbuls Makrokosmos
Ich verlor und fand dich wieder
an einer Topkapi-Mauer
mit einem Briefmarkenbild voll Flieder
fuhr auf der Burgaz-Insel
Fiaker mit dir beim Abendhell

Die Melancholie begleitet mich
wie Marasmus und das Juli-Heiß
im schweren Schweigen und im Schweiß
suche ich die echten Aquarelle dieser Metropolis
dir zu schenken und dann im Wachtraum
dieses Istanbul in einen Maulbeerbaum
zu verwandeln und dir schicken per Post

M. Kurtulus

   

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  Letzte Änderung: 10.10.2008