XXV. Jahrgang, Heft 140
Apr - Mai - Jun 2006/2

 
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Letzte Änderung:
12.04.2006

 
 

 

 
 

 

 

TERRA BARBARICA

Neoliberalismus – Pervertierter Kapitalismus und Gefahr
für die Demokratie
Von Heleno Saña

   
 
 

(Vortrag, gehalten im Welthaus in Aachen am 10. Januar 2006)

Ausgerechnet Adam Smith, der Begründer des Wirtschaftsliberalismus, war der erste, der vor den Auswirkungen einer ausschließlich auf Wettbewerb und Profitvermehrung beruhenden Gesellschaftsordnung warnte. Das tat er schon in seinem Hauptwerk "The Wealth of Nations" mit unmissverständlichen Worten: "Keine Gesellschaft kann gedeihen und glücklich sein, in der der größte Teil der Mitglieder arm ist und in Elend lebt". Vor allem in seinem Werk "Theory of Moral Sentiments" machte er klar, dass materieller Reichtum allein die Menschen nicht glücklich machen kann. Das war auch der Grund, warum er sich für soziales Engagement einsetzte: "Und derjenige ist sicher kein guter Bürger, der nicht wünscht, die Wohlfahrt der ganzen Gesellschaft seiner Mitbürger mit allen in seiner Macht stehenden Mitteln zu fördern". Hellsichtig sah er voraus: "Ungerechtigkeit führt notwendig dazu, die Gesellschaft zu zerstören". Er pries entsprechend den Gemeinsinn (public spirit) als Gegenpol und Korrektur der ökonomischen Eigeninteressen oder "commercial spirit". Leider hat der überwiegende Teil von Adam Smith vermeintlichen Schülern die ethische Dimension seines Werkes nicht zur Kenntnis genommen und nur seine Wirtschaftslehre befolgt, was auch und insbesondere für die heutigen Anhänger der neoliberalen "New Economy" gilt. Das aus der Chicago School of Economcis um Milton Friedmann hervorgegangene und vom "corporate America" in Gang gesetzten neoliberalen Paradigma ist mittlerweile eine weltumspannende Praxis geworden. Es stellt eine regressive Phase in der Wirtschafts- und Sozialgeschichte dar und es bedeutet eine Rückkehr zum Manchester-Kapitalismus und zum Sozialdarwinismus. Diese Fehlentwicklung ist unter anderem aus folgenden Gründen möglich gewesen: 1) aus den im System selbst innewohnenden Widersprüchen; 2) aus der Schwächung der Gewerkschaften und antikapitalistischen Kräfte überhaupt; 3) aus der zunehmenden Machtakkumulation des Grosskapitals und der Business-Welt insgesamt und 4) aus der Totalisierung der Weltmärkte. Vor dem Ersten Weltkrieg gab es in der Welt 3.000 transnational operierende Unternehmen, 1970 war die Zahl auf 6.000 gestiegen, im Jahr 2.000 auf 60.000. Diese ungeheure Vermehrung der multinationalen Konzerne und ihres massiven Einflusses auf die Politik, den Nationalstaat , die Medien und die internationalen Gremien und Organisationen erklärt, warum die Menschheit bedroht ist, zum blossen Objekt der Interessen und Machenschaften eines Killer-und Raubtier-Kapitalismus zu werden, der kein anderes Gesetz und keine andere Motivation kennt als Geld zu raffen, seine Macht ins Unendliche auszudehnen und den ganzen Globus unter seine Herrschaft zu bringen. Schon jetzt sind sie "die neuen Herren der Welt", wie Jean Zielger sie genannt hat. Ihre immer wiederholte Behauptung, die Liberalisierung der Wirtschaft kommt auch den Armen und Unterprivilegierten zu Gute, deckt sich nicht mit der Wirklichkeit. Die immer hemmungsloser werdende Freiheit der Kapitaleigner hat sich für die Mehrheit der Wirtschaftssubjekte als Unfreiheit erwiesen. Noch immer leben 1,1 Milliarden Menschen von weniger als einem Euro pro Tag, 840 Millionen sind unterernährt. Während die Kindersterblichkeit in den westlichen Ländern sehr gering ist (in Deutschland 5 von je 1000 unter fünf Jahren), beträgt sie in Afrika im Durchschnitt 150 bis 200 Kinder, in einigen Ländern sogar 300 und darüber. Mehr als eine Milliarde Menschen auf der Erde haben keinen Zugang zu sauberem Wasser. Laut Weltwasserbericht der Vereinten Nationen sterben deshalb jährlich 1,8 Miillionen Menschen an Magen-Darm-Erkrankungen. Insgesamt müssen 2,6 Milliarden Menschen ohne sanitäre Einrichtungen wie Latrinen und Abwasserversorgung auskommen. 2004 wurden weltweit lediglich 68 Milliarden US-Dollar für Entwicklungshilfe ausgegeben, während die Ausgaben für Rüstung 940 Milliarden betrugen. Das System wird nicht müde, die Chancengleicheit zu preisen, die es angeblich jedem Menschen bietet. Aber dieses schöne Versprechen wird schon im Schlüsselbereich der Bildung nicht eingehalten. Tatsache ist, laut UNESCO, dass es weltweit 860 Millionen Menschen gibt, die weder schreiben noch lesen können, vor allem Frauen aus der Dritten Welt. 121 Millionen Kinder gehen nicht zur Schule, weil ihre Eltern häufig die Schulgebühren nicht bezahlen können. Aber auch die Lage in den westlichen Industrieländern ist alles andere als zufriedenstellend. Nach einer Erhebung der OECD, sind in diesen Ländern im Durchschnitt mehr als 15 Prozent der Bevölkerung sogenannte funktionale Analphabeten, Menschen also, die trotz Schulbesuchs erhebliche Schreib- und Leseschwierigkeiten haben, in Deutschland etwa 4 Millionen. Die Aufklärung hielt viel von Erziehung, Charles Fourier nannte sie eine "zweite Natur". Entsprechend war die Einführung der allgemeinen Ausbildung eines ihrer vorrangigen Ziele. Aber auch in dieser Hinsicht ist vieles schief gelaufen. Wo Bildung nicht Vermarktung verspricht, wird sie bewusst vernachlässigt und eher als Last betrachtet. Betroffen sind insbesondere die ärmeren Schichten der Bevölkerung. Auch hier wird das Prinzip der Diskriminierung und der Selektion angewandt. Arme brauchen keine Bildung, für sie genügt die Unterhaltungsindustrie. Je ungebildeter sie bleiben, desto leichter sind sie zu beherrschen. Und jemand muss ja schliesslich die Drecksarbeit verrichten, nicht wahr? Mangel an lebensnotwendigen Gütern und Dienstleistungen wie Nahrung, Kleidung, Wohnraum, Wasser, Medikamente, ärztliche Betreuung, Bildung und Kultur stellen weiterhin die tägliche Erfahrung der Mehrzahl der Erdbewohner dar. Diese Erscheinungen sind nicht nur eine wirtschaftliche Anomalie, sondern gehören zur bestehenden Unfreiheit, eine Unfreiheit, die nicht nur zum permanenten Leiden, auch zum Tod führt. Was soll man von einer Weltordnung halten, die nach Angaben der WHO 2004 beinahe eine Million Menschen zum Selbstmord trieb ? Dies war also die Freiheit, die diesen Unglücklichen übrig blieb: Suizid. Hier zeigt sich das wahre Gesicht der von den Apologeten des Systems angehimmelten freien Marktwirtschaft. Wie aktuell ist doch der Spruch Proudhons! : "Tod denjenigen, die nichts besitzen!" Die sogenannte "open society" steht im Begriff, ein exklusiver Club für Besserverdienende zu werden, in der immer mehr Menschen vor der Tür bleiben, darunter viele, die hungern und frieren.

Entgegen der neoliberalen Propaganda leben wir nicht nur inmitten einer neuen Unfreiheit, sondern auch in einer Klassengesellschaft neuen Typs. Es gibt freilich viele Leute, die, aus welchen Gründen auch immer, das Gegenteil behaupten, darunter Ulrich Beck: "Wir leben trotz bestehender und neu entstandener Ungleichheiten heute in der Bundesrepublick bereits in Verhältnissen jenseits der Klassengesellschaft". Der zum Mode-Autor avancierte Soziologe hat im Grunde nichts Neues gesagt. Schon Theodor Geiger, Helmut Schelsky und andere Soziologen und Politologen vertraten kurz nach Ende des 2. Weltkriegs die Auffassung, die Klassenkonzeption sei veraltet. Diese Behauptung diente dem Zweck, das System zu verklären und seinen Opfern Sand in die Augen zu streuen. Nichts anderes bei dem Verfasser der "Risikogesellschaft" und vielen seiner Kollegen. Als Hauptargument für ihre Relativierung und Verharmlosung der Klassenverhältnisse führen sie an, dass das Industrieproletariat in der Minderheit sei und dass man deshalb nicht mehr von einer extremen Polarisierung zwischen Kapital und Lohnarbeit sprechen kann. Die weiterhin waltende Klassenherrschaft wird mit dem Hinweis auf die "Mehrdimensionalität" der sozialen Ungleichheit entkräftet. Zu antworten wäre: trotz der Stratifikation der gesellschaftlichen Zusammensetzung bleibt die ökonomische Ausbeutung in ihren verschiedenen Formen der primäre Faktor der bestehenden Ordnung. Die Individualisierung und Atomisierung in den spätkapitalistischen Gesellschaften des Westens stellen keinen Widerspruch zur Klassenherrschaft dar, wie die revisionistische, systementlastende Theorie behauptet. Der Kapitalismus durchlebt eine ständige, immer schnellere Transformation seiner Produktions- und Organisationsstrukturen, ohne dass aber dabei die Klassenherrschaft verschwindet oder sich substantiell ändert. Unter dem Kommando des Neoliberalismus hat der Klassencharakter der Gesellschaft sogar stark zugenommen. Es stimmt, dass das Industrieproletariat stark zurückgegangen ist, aber zugleich sind neue Formen von Proletarisierung und Verelendung entstanden. Betroffen sind unter anderem alte Leute mit geringer Rente, Kinder armer Familien, alleinerziehende Frauen oder chronisch Erwerbslose ohne Chancen, eine neue Beschäftigung zu finden. In der Industriegesellschaft waren die Herrschaftsverhältnisse anders als in der heutigen Dienstleistungs- und Wissensgesellschaft, aber das heißt nicht, dass die veränderten Produktionsstrukturen und Arbeitsmethoden das Ende der Klassengesellschaft gebracht haben. Gewiss, in der postindustriellen Gesellschaft gibt es mehr Kopf- als Handarbeiter, aber die Intellektualiserung der Arbeit und die Zunahme der immateriellen Produktion bedeutet keineswegs, dass damit die Klassengesellschaft verschwunden ist, wie der etablierte Diskurs behauptet. Wir sind vielmehr Zeuge einer zunehmenden Re-Proletarisierung der arbeitenden Klassen. Was Adorno 1965 fesststellte, gilt noch mehr für heute: "Während die Konsumgebräuche einander sich annähern, ist die Differenz von gesellschaftlicher Macht und Ohnmacht größer wohl als je zuvor".

Dieselbe Unfreiheit, die im Bereich der Distribution oder des Verteilungssektors herrscht, findet schon auf der primären Ebene der Produktion statt. Die Arbeitswelt ist das Gravitationszentrum des Individuums als gesellschaftliches Wesen. Aber gerade in diesem zentralen Raum seines Daseins beginnt schon seine Verknechtung. Nicht Autonomie, sondern Heteronomie ist hier sein Los. Als Lohn- bzw. Gehaltsempfänger bleibt er auf Gedeih und Verderb von Betriebsstrukturen, Prozessen und Entscheidungen abhängig, die er in der Regel als vollendete und unumkehrbare Tatsachen hinnehmen muss –trotz Kündigungsschutz, Betriebsräten und Gewerkschaften. Letztendlich sind es die Aktionäre und das Management, die das endgültige Wort haben. Das Hegelsche Herr-Knecht-Verhältnis bleibt auch heute der ausschlaggebende Faktor zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer, ein Zustand, der sich unter der Ägide des deregulierten Kapitalismus nur verschlimmert hat. Der Arbeitnehmer bleibt bloßes Mittel zum Zweck der Kapitalverwertung. Leistungs- und Zeitdruck führen zudem zu einer Steigerung der psychosomatischen Belastungen der Beschäftigten, nicht nur, aber vor allem in den Großbetrieben. Die Angst, den Arbeitsplatz zu verlieren, verleitet sie dazu, sich den zunehmenden Anforderungen der Unternehmer zu beugen. Das ist auch der Grund für die rückläufigen Krankmeldungen.

Der auf Eduard Bernstein zurückgehende Traum der Sozialdemokratie, der Staat würde mit der Zeit in der Lage sein, die Ungleichheiten der Ökonomie aufzuheben, hat sich nicht erfüllt. Vielmehr ist es der Ökonomie gelungen, den Staat immer mehr in die Enge zu treiben und seine normativen Eingriffsmöglichkeiten zugunsten der benachteilligten Schichten zunehmend einzuschränken. Mehr noch: unter der Herrschaft des neoliberalen Musters hat sie es geschafft, den Staat zum gefügigen Instrument ihrer Politik zu degradieren. Die sogenannte "freie Marktwirtschaft" ist immer freier und zugleich immer weniger sozial. Die unsoziale Gesetzgebung von Tony Blair in England oder von Gerhard Schröder in Deutschland sind paradigmatische Beispiele dieser Entwicklung. Der heutige Staat ist ein Klassenstaat, der im Dienste der herrschenden Schichten steht. Der einstige Wohlfahrtsstaat keynesianischen und sozialdemokratischen Zuschnitts ist eine schöne Erinnerung geblieben. Was wir jetzt haben ist ein Staat, der sich den vom Neoliberalismus eingeführten Deregulierungsprozess zu eigen gemacht hat und immer hemmungsloser Partei für das Kapital und gegen die Menschen ergreift, die auf seine Hilfe angewiesen sind. Für diese Richtung sprach sich auch Horst Köhler aus, als er anläßlich seiner Antrittsrede als neuer Bundespräsident sagte, dass sich der "Sozialstaat heutiger Prägung in Deutschland" übernommen hatte. Und jetzt sehen wir die altneue SPD bereit, als lächelnde, selbstzufriedene und gar stolze Helfershelfer der CDU/CSU der Nation zu dienen und angeführt von Matthias Platzeck und Franz Müntefering sich zu Füssen von Frau Merkel zu werfen. "Ein Staat ist nur als moralisch gut zu bewerten, wenn er die Menschenrechte in dem weiten Sinn sichert, dass er die menschliche Würde und d.h. auch die ökonomischen Rechte seiner Bürger garantiert". Wenn diese Worte von Ernst Tugendhat stimmen, dann steht fest, dass der heutige Staat weltweit und ohne jegliche Ausnahme das Prädikat moralisch nicht verdient. Nicht von ungefährt habe ich eines meiner letzten Bücher "Macht ohne Moral" betitelt. Während sich der Staat einerseits binnenpolitisch als Medium der sozialen Demontage und der sozialen Diszplinierung betätigt, wird er außenpolitisch immer schwächer und handlungsunfähiger, ist auf dem Weg, ein Koloss auf tönernen Füßen zu werden. Die klassische Staatsnation verliert immer schneller ihre einstige Selbststeuerungskapazität und muss in zunehmendem Ausmass ihre Souveränität an transnationale Instanzen abgeben. Beschlüsse von lebenswichtiger Bedeutung werden z.B. im Bereich der Verteidigung und der Wirtschaft in nicht- demokratischen Foren wie den Vereinten Nationen, der Europäischen Kommission, der Weltbank, der G 8 oder der NATO getroffen. Dieser Entstaatlichungsprozess hat die negativen Aspekte des herkömmlichen Staates nur noch akzentuiert und zu einer Aushöhlung der Selbstbestimmung der Bürger geführt. Auch in dieser Hinsicht zeigt sich, dass die politische Globalisierung und die Entgrenzung der Märkte, des Kapitals und der Dienstleistungen nicht zu mehr, sondern zu weniger Demokratie führt.

Nicht nur der einstige Sozialstaat verliert zunehmend seine ursprüngliche Substanz. Auch in politischer Hinsicht ist der demokratische Staat heute weniger demokratisch und liberal als er einmal war. Der auf dem Papier geltenden Rechtsgleichheit liegt die formale Logik zugrunde, die immer mehr zur Logik der herrschenden Klasse wird. Nicht die objektiven, allgemeinen Interessen der Gesellschaft vertritt der angebliche Rechtsstaat unserer Tage, wie seine Verwalter vorgeben, sondern die Macht des priviliegierten Teils der gesellschaftlichen Totalität. Oder wie Ernst Bloch lapidar sagt: "Das Auge des Gesetzes sitzt im Gesicht der herrschenden Klasse". Hegels und Max Webers Auffassung von einer neutralen Beamtenschaft, die nur nach ihrem Pfllichtgefühl und ohne Ansehen der Person handelt, hat sich immer wieder als frommer Wunsch erwiesen. Noch besteht die Gewaltenteilung zwischen Legislative, Exekutive und Judikative, und noch ist der Bürger in der Lage, Übergriffe der Staatsgewalt anzufechten oder sich gegen die Schikanen oder die Inkompetenz der staatlichen Bürokratie zur Wehr zu setzen, wobei freilich besitzlose Bürger schon auf dieser elementaren Ebene der Grundrechte, kaum Chancen haben, sich gegen die Macht der Polizei, der Geheimdienste, der Justiz oder der Staatsverwaltung durchzusetzen. Die terroristischen Anschläge in New York, Madrid, London und anderen Städten und die Furcht vor neuen, haben zu einer zunehmenden Überwachung und Kontrolle des Einzelnen oder bestimmter gesellschaftlicher, religiöser oder ethnischer Gruppen geführt, ein Vorgang, der durch die ständige Vervollkommnung der Technik erleichtert wird. Die Einschränkung oder Aufhebung der Grundrechte trifft nicht nur, aber insbesondere auf die Bevölkerungsschichten zu, die aus islamischen Ländern stammen und im Westen leben. So werden Moscheen und Gotteshäuser intensiv observiert, gestürmt und durchsucht, oder Muslime beim geringsten Verdach verhaftet, wie etwa in den USA, wo in den 30 Monaten nach dem Attentat vom 11. September 5.000 Terrorverdächtigte auf Veranlassung der Geheimdienste festgenommen wurden. Oder erschiesst man kaltblutig einen mutmasslichen Terroristen, wie es die englische Polizei mit einem jungen brasilianischen Elektriker tat. Der amerikanische Professor Alfred M. McCoy hat in seinem Buch "Foltern und foltern lassen" belegt, dass seit über fünfzig Jahren die CIA systematisch foltert. Ähnlich verfährt das Militär. Guantanamo und die von den US-Truppen kontrollierten Gefängnisse im Irak sind die letzten Beispiele einer solchen Praxis. Aber auch in Europa gelten Freiheit und Menschenrechte nicht für jedermann. Auch hier herrscht das Selektions- und Diskriminierungsprinzip. So werden asylsuchende Menschen in den europäischen Ländern in Flüchtlings- und Abschiebelagern interniert. Die Unterbringung in den Sammellagern wird von den Behörden als Druckmittel eingesetzt, um die Flüchtlinge zu demoralisieren und auf diese Weise außer Landes zu treiben. Nicht als in Not geratene Menschen werden sie empfangen und behandelt, sondern als nicht willkommene Eindringlinge. Oberste Priorität hat nicht ihre menschliche Würde, sondern das Obrigkeits- und Polizei-Denken mit seinen unerschöpflichen Reserven an bürokratischen Schikanen und Rücksichtslosigkeiten. Ein anderes bezeichnendes Kapitel westlicher Demokratie ist die Einschränkung der Bewegungsfreiheit auf transnationaler Ebene. So wurden in den letzten Jahren im Zusammenhang mit den Gipfeln in Davos, Prag, Göteborg, Nizza und anderen Städten Hunderte von Globalisierungsgegner an den Grenzen mit der Begründung zurückgewiesen, sie gefährdeten die Sicherheit der Veranstaltungen, meistens auf der Basis nur vager Verdachtsmomente. Auch die Anwendung polizeilicher Gewalt gegen Demonstraten steht auf der Tagesordnung, nicht selten gegen friedliche Demonstraten oder gar Unbeteiligte. Dazu kommt die Willkür bei Verhaftungen sowie bei der Isolierung von Demonstraten, die in zunehmender Weise ihr Versammlungs-und Demonstrationsrecht durch die massive Militarisierung der öffentlichen Ordnung nicht mehr ausüben können. "Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus", steht im Artikel 20(2) des deutschen Grundgesetzes. In Wirklichkeit wird das Volk immer ohnmächtiger. Was Hans A. Pestalozzi, stellvertretender Direktor des Migros-Gesellschafts-Bundes, Ende der 70er Jahre sagte, gilt noch mehr für heute: "Wir sollten uns endlich einmal bewusst werden, wie groß die Gefahr eines neuen Totalitarismus ist, eines Totalitarismus, der sich nicht in der Form eines neuen Hitler oder Stalin manifestieren läßt, sondern das Resultat einer wirtschaftlichen und technologischen Entwicklung sein wird. Einer Entwicklung, die sich aus dem Anspruch der Wirtschaft ergibt, die gültigen Normen zu setzen und die Menschen nach diesen Werten managen zu können und zu müssen".

Das ist schlimm genug, aber nicht weniger besorgniserregend ist, dass der Duchschnittsbürger auf diesen Abbau der Demokratie mit Passivität und Gleichgültigkeit reagiert. Viele, wenn nicht die Mehrheit der Menschen sind sowohl mit ihrem Los wie mit den Verwaltern der Macht unzufrieden. Aber in der Regel bringen sie es nicht fertig, ihre Enttäuschung und ihre angestaute Wut gegen das System zu richten. Schlimmer noch: anstatt vereint gegen den Unterdrückungsapparat zu kämpfen, beteiligen sich eifrig an dem vom System verordneten Kampf gegeneinander. Gewiss: es gibt Dissens und Widerstand, aber nur vereinzelt und am Rande. Dem System ist durch den von ihm auf allen Ebenen betriebenen Ideologisierungsprozess gelungen, die Politik als Waffe des Volkes weitgehend zu eliminieren und sie zum Instrument seiner eigenen Interessen zu machen. Der Bürger ist heute nicht mehr zoon politikon im aristotelischen, ursprünglichen Sinn, hat auch wenig übrig für die "vertu politique", die Montesquieu als unabdingbare Voraussetzunng einer gut funktionierenden Demokratie hielt. Und genauso vorbei ist es mit dem aufbegehrenden, revolutionären Geist der früheren Arbeiterklasse. Den einstigen homo politicus gibt es nur in residualer Form. Der Mensch ist heute fast ausschließlich homo laborans und homo consumens. Er ist weitgehend unpolitisch geworden, auch wenn er in regelmäßigen Abständen brav zur Urne geht. Die neoliberale Nomenklatur weiss dies; deshalb hat sie keine Angst mehr vor dem "homme révolté", den Albert Camus in seinem berühmten Werk beschrieben hat. Der Tod der Politik ist nur ein anderer Name für den Tod des freien Subjets. Der von Kant erhoffte "Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit" hat sich nicht erfüllt. Die klassische Vorstellung von einem selbstbewussten, mündigen und aufgeklärten Bürger, stimmt mit der heutigen Realität nicht mehr überein, eine Entwicklung, die der herrschende Konformismus erklärt. Niemand wird bestreiten, dass in den letzten Jahrzehnten eine große Zahl von lokalen, regionalen, nationalen und weltweit operierenden Organisationen entstanden ist, die nach Möglichkeit versuchen, den verheerenden Auswirkungen des Weltkapitals und den hegemonialen Nationalstaaten entgegen zu wirken. Genauso unbestreitbar ist, dass sie wertvolle Dienste leisten, auch, dass sie ab und zu gewisse Erfolge erzielen. Aber genauso fest steht, dass ihr nobles Engagement bei weitem nicht ausreicht, um die immer erdrückender und umfassender werdende Herrschaft des Systems ernsthaft zu erschüttern.

Die Entpolitisierung des Menschen und seine Bereitschaft, sich mit den Zumutungen des Systems abzufinden, bildet aber nur einen Teil seines Entfremdungszustands, der tiefer liegt und präpolitischer und metapolitischer Natur ist. Der Mensch fügt sich der bestehenden Ordnung, weil er Opfer seiner eigenen Entmenschlichung geworden ist, weil er sein Selbstwertgefühl und damit seine Selbstachtung weitgehend aufgegeben hat. In diesem Sinne kann man sagen, dass er Opfer seiner eigenen Selbstverlorenheit ist. Der Mensch der Gegenwart ist ein Mensch, der sich selbst vergisst, alles Wesentliche von ihm aus den Augen verloren hat und der sich im Zustand der Selbst-Unkenntnis befindet. Auch wenn er vordergründig den Eindruck erweckt, er kenne den richtigen Weg, ist er in Wirklichkeit ein Umherirrender, der sich in Richtung einer auswegslosen Aporia beweg, ein Wort, das in griechisch genauso das bedeutet: Sackgasse, Nicht-Weg. Er ist der leidenschafts- und willenlose Mensch, den jede untergehende Zivilisation hervorbringt. Wahre Revolte kann nur entstehen aus der Sehnsucht nach wahrer Selbstverwirklichung, ein Anliegen, das wiederum im wahrhaft Menschlichen seine Wurzeln hat. Der Mensch akzeptiert das Unmenschliche, weil er selbst immer weniger Mensch ist. Das ist auch der Grund, warum er sich mit den Ersatzwerten, Surrogaten und falschen Glücksmodellen begnügt, die ihm die Massenmedien und die Kulturindustrie als summum bonum rund um die Uhr vorgaukeln. Denn die Korruption, die Prinzipienlosigkeit und die üblen Machenschaften der politischen Kaste ist nicht das Einzige, das er schluckt. Mit ähnlicher Selbstverständlichkeit läßt er sich mit dem Schund narkotisieren, den die Manager der Spassgesellschaft und das Entertainment stets parat haben, um ihn von seinem meistens elenden Dasein abzulenken. Schliesslich leben wir in der "permissiven Gesellschaft" und schliesslich müssen die "sublimierten Sklaven" (Marcuse) Gelegenheit haben, sich ab und zu von ihrem Leistungsdrang, ihren Ängsten, ihren Frustrationen und ihrem grauen Alltatg erholen und das Leben schön finden, wie schon einmal in Rom des panem et circenses. Unsere Zeit befriedigt lediglich die niedrigen bzw. die oberflächlichen Triebe des Menschen, unterdrückt hingegen seine höheren Bedürfnisse. Das bleibt natürlich nicht ohne Folgen. Was der Mensch der Konsumgesellschaft erlebt, ist nicht wahre, bewusste Selbstverwircklichung, sondern Betäubung. Leben ist heute nicht Fülle, wie das System unentweg behauptet, sondern Privatio, Entbehrung alles Wichtigen. Man spricht vom Reichtum der westlichen Gesellschaft und verschweigt dabei, wie arm der Mensch der Ersten Welt in immaterieller Hinsicht ist. Unser Sein ist in Wahrheit und in tieferem Sinn weitgehend Nichtsein geworden, auch wenn wir es nicht zugeben und so tun als gäbe es nichts schöneres und sinnvolleres als das Fliessband-Dasein, das wir in Wirklichkeit führen.

Auf die vom System vollzogene Dekonstruktion des Menschen kann es keine andere Antwort geben als den Kampf um seine Rekonstruktion. Denn die Menschheit ist nicht zwangsläufig dazu verdammt, unter den vom Neoliberalismus diktierten Bedingungen weiter zu leben. Jede andere Auffassung ist Determinismus und Geschichtsschatologie. Die herrschende Ordnung ist anmassend genug, um sich als Inbegriff der geschichtlichen Gesetzmäßigkeit zu verherrlichen, also als Ausdruck der objektiven Wahrheit. In Wirklichkeit ist sie das Resultat bestimmter Machtverhältnisse. Die sozialen und politischen Revolutionen der letzten 150 oder 200 Jahren sind letztendlich gescheitert, aber es gab sie. Allein diese geschichtlliche Erfahrung beweist, dass Geschichtsverläufe korrigierbar sind. Eine ewige Ordnung hat es nie gegeben, Geschichte ist ist nicht nur Kontinuität und Wiederholung, sondern auch Mutation und Wechsel. Aber Determinismus und Geschichtsschatologie ist auch zu glauben, dass die immanenten Widersprüche des Systems von allein dafür sorgen werden, es zu Fall zu bringen und die Weichen für die Errichtung einer klassenlosen Gesellschaft zu stellen. Was heute triumphiert, ist nicht nur ein bestimmtes Produktions- und Distributionsmodell, sondern auch eine bestimmte Ideologie, und sie ist für das System unverzichtbar geworden. Je weniger das System in der Lage ist, die Bedürfnisse der Menschen zu befriedigen, desto mehr braucht es die Ideologie, um seine wachsende Irrationalität und Brutalität zu vertuschen. Ihre Grundfunktion besteht darin, sich der Subjektivität des Einzelnen zu bemächtigen und jede potentielle Insubordination im voraus zu ersticken. Das bedeutet, dass es ohne die subjektive Selbstbefreiung keine objektive Befreiung geben kann. Selbstbefreiung ist wiederum nichts anderes als Selbstaufklärung als Ausgangspunkt für die Entlarvung aller Lügen und Fiktionen, die die Apologeten des Systems rund um die Uhr fabrizieren. Die Revolution muss also im Innern eines jeden von uns einsetzen, oder wie Johann Baptist Metz vor Jahren in seinem Buch "Jenseits bürgerlicher Religion" schrieb, geht es darum, "einen revolutionären Kampf gegen uns selbst" zu führen. Ich brauche die Aktualität dieser Aufforderung nicht zu unterstreichen. Denn wir können schwer verleugnen, dass auch wir Produkte des bürgerlich-kapitalistischen Zeitalters sind und viele seiner Deformationen mitschleppen. Auch wir, die wir uns einem edlen Anliegen verpflichtet fühlen, erweisen uns unseren Idealen nicht immer würdig genug und müssen dabei feststellen, wieviel wir noch zu lernen haben, um uns von unseren Widersprüchen zu befreien. Erst wenn wir bereit sind, aus unseren Fehlern und Unzulänglichkeiten zu lernen, werden wir vielleicht die innere Kraft finden, die wir benötigen, um unsere Auseinandersetzung mit den bestehenden Verhältnisse unbeirrt fortzusetzen. Ohne diese persönliche Katharsis wird die Transformation der äußeren, gesellschaftlichen Verhältnisse kaum durchführbar sein. Damit ist an erster Stelle die Ethik gemeint, die fast überall durch Prinzipienlosigkeit, Korruption, Vetternwirtschaft und Geldgier ersetzt worden ist. Sonst wäre es unvorstellbar, dass Gerhard Schröder es natürlich findet, einen Aufsichtsrats-Job in demselben deutsch-russischen Gaspipeline-Konsortium zu übernehmen, das er als Kanzler massiv unterstützte. Solange die res publica durch die Berufspolitiker verwaltet wird, die heute das Sagen haben, wird sich in der Welt wenig ändern.

Lernen müssen wir auch, dass der Sinn eines Kampfes nicht von seinem Erfolg oder Misserfolg abhängt. Angesichts der Übermacht des Systems, muss man sogar damit rechnen, der Unterlegene zu bleiben. Den Wert unserer Handlungen nach dem Grad seiner äußeren Wirkung zu messen, entspricht einer typisch bürgerlichen Gesinnung. Wahre Charaktergrösse erweist man, wenn man sich auf die Seite der Erniedrigten und Entrechteten schlägt ohne sich vorher zu fragen, ob dieser Einsatz mit einem Sieg oder mit einer Niederlage enden wird. Der Wille zur Macht ist gerade das, was jeder Möchtegern-Held anstrebt. Es bleibt nur der freiwillige und illusionslose Einsatz für eine bessere, gerechtere, humanere Welt. Oder wie Albert Camus in "Le mythe de Sisiphe" sagt: "Die Größe liegt im Protest und Aufopferung ohne Zukunft". Man muss nicht unbedingt pessimistisch veranlagt sein, um zu ahnen, dass der innere Erneuerungsprozess, den ich hier anrege, nicht leicht sein kann. Andererseits wäre es m.E. falsch, den Einsatz für eine gerechte, repressionsfreie Weltordnung als Opfergang aufzufassen und der immer latent vorhandenen Neinung zur Selbstbemitleidung und Demoralisierung nachzugeben. Persönlich halte ich die Bekämpfung von Unrecht und Unmenschlichkeit als die höchste Form der Selbstfindung und der Selbstverwirklichung, im Grunde als ein Privileg. Leben in seinem vollendendsten Sinn bedeutet etwas ganz anderes als dem Konsumfetichismus zu verfallen, stundenlang in die Mattscheibe zu glotzen, durch die Autobahnen zu rasen, in den Fussballstadien zu schreien oder Geld zusammenzuraffen. Damit wählt man das erbärmliche und standardisierte Schicksal, das das System gerade als Erfüllung propagiert. Das Leben erreicht erst seine Vollendung, wenn man es in die Dienste eines Ziels stellt, das nicht nur das eigene, sondern das Wohl unserer Mitmenschen anstrebt. Alles andere halte ich für kleinbürgerlichen, bornierten Individualismus. Nur wer die Befreiung aller vor Augen hat, wird sich selbst befreien und seiner wahren Bestimmung als Mensch gerecht werden.

   

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