XXIX. Jahrgang, Heft 153
Jan - Apr 2010/1
 
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Letzte Änderung:
3.4.2010

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR - ATELIER


   
 
 


Europäische Annäherung

Von Michael Kiesen

Ich war nackt, als ich ihn wieder traf.

Die Freibadsaison war vorbei. So ging ich eben ins Mineralbad. Dort betrat ich an einem Mittwoch im September den Saunabereich. Ich stellte die Sporttasche ab, zog die Badehose aus, stellte mich auf die Waage, war mit meinem Gewicht einigermaßen zufrieden, ging zu der Empore hinauf, die an drei Seiten des hohen und weiten quadratischen Raumes angebracht war, blieb an einer Stelle des Geländers stehen, auf die von einer gegenüberliegenden Glasfront her Sonnenstrahlen fielen und genoss die wohlige Wärme. Ich sah auf das ungewöhnlich große Tauchbecken hinunter, das mit widerlich kaltem Mineralwasser gefüllt war; ein älterer Mann schwamm darin herum. Rechts von mir arbeiteten in einer Nische zwei Handwerker. Offenbar verlegten sie neue Fliesen. Wozu? In dieser Ecke schien doch alles in Ordnung gewesen zu sein. Einer von den beiden richtete sich auf, sah zu mir her. Er war schlank, mittelgroß, hatte deutliche Backenknochen, straffe Wangen … Er ähnelte auf verblüffende Weise meinem einstigen Discokumpan Giovanni. War er es etwa? Nein, unmöglich. Er musste noch im Gefängnis sein. Ich hatte ihn dort vor knapp drei Jahren bei einer Weihnachtsfeier, zu der mich mein albanischer Freund Enver einladen durfte, zufällig getroffen. Giovanni hatte damals noch 4 oder 5 Jahre Haft vor sich und konnte auf keine Aussetzung der Reststrafe zur Bewährung hoffen, da er zum dritten Mal verurteilt war, dabei das zweite Mal wegen Dealens.

Aber der Typ in der blauen Arbeitshose sah mich unverwandt an. Ich ging langsam auf ihn zu.

„Giovanni?“, fragte ich leise.

Er lächelte und streckte mir die Hand hin. Ich schlug ein.

„Ich wollt’s gar nicht glauben. Du müsstest doch noch im Knast sein.“

„Ich bin vorzeitig rausgekommen“, erklärte er.

Eine Aufwallung von Freude durchströmte mich. Er hatte mir während der Weihnachtsfeier so Leid getan, auch seine Freundin, die in unverbrüchlicher Treue Jahre auf ihn wartete.

„Und wieder in deinem alten Beruf tätig“, stellte ich fest.

Sein Kollege murmelte, er gehe was trinken. Ich sorgte offenbar für eine Pause. Mir war leicht unbehaglich zumute, da ich nackt war und Giovanni angezogen. Doch so was berührte ihn nicht. Als wir uns vor vielen Jahren fast jeden Freitag und Samstag in einer Disco an der unteren Königstraße getroffen hatten, war er Ringer gewesen. Und da trat die Mannschaft vor jedem Wettkampf nackt zum Wiegen an; und die Kameraden gingen sehr oft zusammen in die Sauna, um „abzukochen“ …

Mein Hochgefühl trübte sich. „Aber Enver ist wieder im Knast. Er wurde ja abgeschoben, ist illegal zurückgekommen und hat wieder zu dealen begonnen.“

„Das war mir klar, dass der weitermacht. Er hat mich nach Adressen in Amsterdam gefragt. Ich hab ihm aber nichts gesagt. Ich will damit nichts mehr zu tun haben.“

„Gut so“, pflichtete ich ihm bei.

„Du besuchst ihn aber?!“

„Würde ich schon tun. Aber er meldet sich nicht bei mir, obwohl das Urteil seit Monaten rechtskräftig ist. Ich weiß nicht mal, ob er noch in Stammheim ist oder schon woanders. Auch sein Bruder hat keinen Kontakt zu ihm.“

„Er schämt sich.“

„Kann sein. Zumal er mich getäuscht hat.“

„Du, ich geb dir meine Telefonnummer. Dann kannst du uns mal besuchen. An einem Sonntag oder so.“

Wir gingen einige Schritte zur Bar, die in einer Ecke angebracht war. Giovanni bat die junge Frau, die bediente, um ein Stück Papier und einen Kuli.

„Bist du noch mit deiner Partnerin zusammen, die ich bei der Weihnachtsfeier kennen gelernt habe?“, erkundigte ich mich.

„Ja. Wir haben inzwischen geheiratet.“

Sie hatte trotz allem zu ihm gehalten. „Envers Frau lässt sich von ihm scheiden. Sie hat genug von einem Mann, der immer wieder im Gefängnis landet. Ich verstehe auch nicht, dass er wieder damit angefangen hat, nachdem er schon mal reingefallen ist.“

Giovanni reichte mir den Zettel, auf den er die Telefonnummer geschrieben hatte. „Wenn ich nicht verheiratet wär, würd ich auch wieder dealen.“

Einige Wochen danach besuchte ich Giovanni.

Seine Frau und er lebten in einem Stadtteil am Rande von Stuttgart, den ich noch nie betreten hatte. Auch hier war es landschaftlich hübsch, wie überall in dieser Stadt. Die beiden bewohnten eine behaglich eingerichtete Zweizimmerwohnung.

Giovanni ist ein Sinnbild für europäische Annäherung. Seine Mutter ist Deutsche, sein Vater Italiener, seine Frau stammt aus Warschau.

Sie ist wie viele Frauen ihres Landes eine attraktive Erscheinung und hat einen stark osteuropäischen Akzent, wenn sie deutsch spricht. Als Giovanni festgenommen wurde, geriet sie mit in den Strudel. Ein Mann sagte aus, sie habe ihm mal im Auftrag von Giovanni ein Päckchen gebracht. Sie war 6 Monate in Untersuchungshaft und wurde zu einer Freiheitsstrafe von 1,5 Jahren verurteilt, die zur Bewährung ausgesetzt wurde.

Giovannis Frau betonte, er habe nichts an Jugendliche verkauft. Wohl aber bis in die Chefetagen bekannter Firmen, fügte Giovanni hinzu.

Er hatte im Haus einer Bekannten ein Depot gehabt. In seiner Wohnung fand man nach seiner Festnahme nur wenig. Doch sie entdeckten einen Zettel, auf dem die Chiffre eines Schweizer Nummernkontos stand. Daraufhin musste er die dort einbezahlten 500 000 ¤ auf das Konto bei seiner hiesigen Bank überweisen; das Geld wurde dann beschlagnahmt. Dennoch wurde er zu einer Freiheitsstrafe von 9 Jahren verurteilt. Auch einigen Freunden lieh er größere Beträge. Alle weigerten sich, etwas zurückzuzahlen, als er wieder frei war.

Giovanni wirkte trotz dieser Enttäuschungen gelassen. So viel Geld brauche man eigentlich gar nicht; man könne, wenn man viel habe, auch bloß essen und trinken. Letztlich habe man als Dealer keine Chance. „Der Krug geht so lange zum Brunnen, bis er bricht“, zitierte er.

Er hatte die Jahre im Knast genutzt. Er hatte eine Schreinerlehre gemacht und abgeschlossen, hatte einen Computerkurs besucht, einen Englischkurs, einen Spanischkurs. Er zeigte mir sein Spanischlehrbuch. Dann setzte er sich an seinen Computer und tippte meine E-Mail-Adresse ein.

Giovanni war vor ungefähr einem halben Jahr auf Bewährung freigekommen, entgegen ursprünglicher Befürchtungen. Er konnte unschwer ins bürgerliche Leben zurückkehren; seine Frau war berufstätig und er selbst hatte zwei Lehren durchlaufen und mit Prüfungen beendet. Enver hatte nichts dergleichen.

Als mich Giovanni am Spätnachmittag bis in die Nähe der U-Bahnhaltestelle begleitete, wies er auf den Eingang zu einer Tiefgarage. Dort waren mehrere maskierte Polizisten mit vorgehaltenen Waffen auf ihn zugestürmt, als er im Wagen die Garage verlassen wollte. Tage zuvor hatte er schon bemerkt, dass er immer wieder von einem Pkw verfolgt wurde. Er habe zu seiner Freundin gesagt, er müsse sich eine Weile nach Spanien oder Italien absetzen; sie seien hinter ihm her. Sie habe ihn entsetzt angesehen; da sei er eben hiergeblieben.

„Nein!“, schrie ich auf.

Giovanni blieb stehen und sah mich an. „Heut würd ich sagen: Entweder du kommst mit oder ich fahr allein.“

***


Die Flucht in den Westen

Von Mevlüt Asar

Je näher er dem Kontrollpunkt zum Übergang nach West-Berlin kam, umso mehr nahm Erhans Aufregung zu. Durch die Lichthupen, die der Fahrer hinter ihm machten, merkte er, dass er unbewusst das Tempo gedrosselt hatte. Er drückte seinen Fuß noch etwas mehr aufs Gaspedal. Kurz später tauchten vor ihm Grenzpunkte auf, Barrieren im Zickzack-Kurs. Wieder wurde er von schlimmen Gefühlen gepeinigt. Janets Stimme war nicht zu vernehmen. Sie hockte in einem Versteck zwischen dem Rücksitz und dem Kofferraum, das er mit seinem Freund Aykut, einem Kfz-Mechaniker, gebaut hatte. „Geht es dir gut?“ fragte er. Mit kaum hörbarer Stimme antwortete Janet: „Ja.“ Erhan ermahnte sie: „Wir kommen jetzt zum Grenzübergang. Bleib ganz ruhig!“

Dabei war er doch selbst aufgeregt. Eine innere Stimme sagte ihm, er werde es nicht schaffen, Janet in den Westen zu bringen und er müsse umkehren. Wenn sie nun zurückkehren würden und Janet wieder in ihrer Wohnung absetzten. Wie schön wäre es doch, einander dort zu lieben, wo sie geblieben wären. Die Steifheit ihrer Brustwarzen und ihre Hitze spürte er immer noch in den Handflächen. Nein, jetzt konnte er nicht mehr zurück. Das konnte er der schönen Frau, die er sehr liebte, nicht antun. Sie würden im Westen zusammen wohnen, jeden Tag zusammen sein, zusammen spazieren gehen, einander nach Lust und Laune lieben. Diese Bilder, die ihm lebhaft vor Augen standen, stärkten ihm den Mut.

Er kam zum Kontrollpunkt. Auf das Signal des blonden Polizisten mit den grünen Augen in der grauen Uniform hin hielt er an. Er stellte den Motor ab. Kaltblütig und mit fester Stimme sagte er: „Guten Morgen, Genosse!“ Als er merkte, dass seine Stimme nicht so natürlich klang wie immer, lief ihm ein Schauer über den Rücken. So grüßte er die Grenzpolizisten immer, als „Genosse“. Nicht, um sich über sie lustig zu machen, sondern er sagte dies, weil er sich selbst für einen Sozialisten hielt. Das kalte, trockene „Guten Morgen“ des Grenzpolizisten ließ ihn innerlich nur umso mehr zittern.

Der junge Polizist sagte: „Steigen Sie aus und kommen Sie mit!“ Er stieg aus und ging hinter dem Polizisten in die Baracke, in der Passkontrolle und Durchsuchungen stattfanden. Er holte tief Atem und versuchte, sich zu beruhigen. Außerdem sprach er sich Mut zu. Was würde denn passieren, wenn man sie erwischte! Schließlich wäre es doch nicht der Tod. Es liefe höchstens auf ein paar Jahre Gefängnis hinaus. Allein schon wegen ihrer grünen Augen und des blonden Seidenhaars war es Janet wert. Für sie würde er sogar ins Gefängnis gehen. Auf einmal fiel ihm der frühere Revolutionär Saffet ein, der ständig hin und herfuhr; er hatte ihn in dem Arbeiterverband kennen gelernt, in dem er seine sozialistischen Ideen erworben hatte. War nicht auch Saffet, sein großes Vorbild, in der Türkei jahrelang inhaftiert gewesen? Als eine innere Stimme einwandte: „Aber er war nicht im Knast, weil er eine Frau aus einem sozialistischen Land geschmuggelt hatte, sondern wegen seiner revolutionären Haltung!“ wurde Erhan der Ernst der Lage bewusst. Würde man ihn wirklich erwischen und einsperren, wie könnte er dann den Freunden im Verband ins Gesicht sehen? Wie stünde er vor ihnen da? War das, was er tat, nicht so etwas wie ein „gegenrevolutionärer Akt“?

Die harte Stimme des Polizisten, der seinen Pass verlangte, brachte ihn wieder zu sich. Er zog den Pass hastig aus der Hosentasche und sagte: „Bitte schön, Genosse.“ Der Polizist war ziemlich jung. Das bedrückte Erhan umso mehr, denn vor allem die jungen Polizisten nahmen ihre Arbeit sehr ernst. Um ihn zu beschwichtigen, meinte er: „Die Arbeit von euch Genossen muss sehr schwer sein! Ihr schützt die DDR!“ Der junge Polizist, der Erhans Pass höchst aufmerksam kontrollierte, fuhr ihn an: „Warum nennen Sie mich dauernd Genosse?“ Lachend antwortete Erhan: „Weil ich auch Sozialist bin.“ Es hatte nicht den Anschein, als ob der junge Polizist von dieser Erklärung sonderlich beeindruckt war. Als er fragte:

„Warum fährst du so oft nach Ost-Berlin?“, fuhr Erhan erschrocken zurück. Mit einem Lachen versuchte er zu antworten: „Ich sagte ja schon, dass ich Sozialist bin. Ich liebe Ost-Berlin, gehe in die Museen und kaufe Bücher und Kassetten.“ Der Polizist unterbrach ihn: „Leeren Sie alles aus, was Sie in den Hosentaschen haben und ziehen Sie Ihr Jackett aus!“

Obwohl er früher schon solche Durchsuchungen durchgemacht hatte, begann Erhan das Herz bis zum Hals zu schlagen. Er schwitzte. Die Schweißtropfen, die sich ihm auf der Stirn sammelten, wischte er sofort mit der Hand ab. Da er fürchtete, der Polizist könnte seine verzwickte Lage bemerken, steigerte sich seine Aufregung umso mehr. Der junge Polizist sagte durch die Fensterscheibe irgendetwas zu seinem Kollegen draußen, wandte sich wieder Erhan zu und sagte ihm, er solle seine persönlichen Dinge so liegen lassen und zum Wagen gehen.

Erhans Knie wurden ganz weich. Er zitterte am ganzen Körper, und seine Füße trugen ihn nur mit Mühe. Als er fragte: „Warum denn nur. Genosse? Gibt es ein Problem?“, konnte er ein deutliches Zittern in der Stimme nicht vermeiden. „Ja“, antwortete der Polizist, „wir durchsuchen den Wagen. Lenken Sie das Auto dorthin!“ Als Erhan zum Wagen ging, blieb er plötzlich stehen. Dann nahm er seine ganze Kraft und seinen ganzen Mut zusammen und begann zum Ausgangstor zu rennen. Kaum hatte er ein paar Schritte getan, hatte er den Lauf der Kalaschnikow eines großen, starken Grenzwärters zwischen den Rippen. Hilflos blieb er stehen, erschöpft und mit tränenüberströmtem Gesicht, und hob die Hände. Als er in Handschellen in den Militärjeep steigen musste, überlegte er, wie er nach all dem, was passiert war, nach den Ereignissen um Janet, vor den vielen Freunden im Verband und vor Saffet dastehen würde.

Aus: »Söz Uçar, Yazi Kalir/Das Gesprochene verfliegt, das Geschriebene bleibt«. Herausgegeben von Literaturcafé Fakir Baykurt Duisburg. Dialog Edition, Duisburg 2009.

Das Literaturcafé Fakir Baykurt wurde 1992 von Fakir Baykurt als Arbeitskreis im Internationalen Zentrum der VHS-Duisburg gegründet. Mit der Zeit wurde daraus eine Literaturwerkstatt, deren Ergebnisse in drei Gedichtbänden veröffentlicht wurden. Dieser zweisprachiger Erzählband erschien anlässlich seines 10. Todestages.


***


Lyrik trifft Leute

Von Jutta Dornheim


Mathilde hält ihr erstes Gedichtbändchen in der Hand, es heißt: „Krr-krr-krrr und noch mehr krach“. Dünn, aber oho. Soeben treffen die ersten Reaktionen ein.

„O, Mathilde!“ brüllt Bruder Kurt ins Telefon, „jetzt, wode de Fuffzich überschritten hast und wir alle nur noch ‚Oma Thilde’ sagen, kommste mit Jedichten! Mussteste denn noch übern Rubikon, in deinem Alter?“ „Übern --- ?“ Mathilde fühlt sich total uncool. „Na ja,“ sagt Kurt, „ich halte es da mit Vater: ‚Wer Jedichte schreibt, ist nicht ganz dicht im Kopf’. Und dann hat er ‚Das große Lalula’ zerrissen. ‚Daran sieht man doch, dass der Morgenstern krank war’, hat er gesagt.“ „Aber ich doch nicht!“, schreit Mathilde.

Gleich darauf Lieblingsenkel Florian. „Oma Thilde“, ruft er, „Gedichte sind so was Intimes! Hast du dir das überlegt? In deinem Alter dich zu outen?“ „Wieso outen? Wieso Alter?“. Mathilde lässt den Hörer fallen. Genug. Die eigne Familie kapiert eh nix. Da, wieder das Telefon. Freundin Clara: „Brauch ich gar nicht erst zu lesen! Gedichte versteh’ ich sowieso nich und Lyrik gleich gar nich. Aber dass duuu jetzt noch sooo was machst!“

Doch dann ein Silberstreif: Enkelin Anna hat der Jungredakteurin vom Sonntagskurier einen Tipp gegeben.

Die springt hoch: „Ein Interview mit dieser super-geilen Oma Thilde - mach ich doch glatt in Flip-Flops.“ Zuerst will sie wissen, ob das neue oder junge Lyrik sei, was Oma Thilde da schreibe. Oder gar experimentelle? „Nee, nee, eher - Gruftie-Lyrik“, sagt Mathilde. Sie sieht sich selbst zwar im mittleren Alter, weiß aber nie, wie die Jüngeren ... „Wie: Gruftie-Lyrik?“, fragt die Jungredakteurin. „Für Grufties? Über Grufties? Gegen Grufties? Ach nein, das ist doch schon Gothic-Lyrik! Schwarze Poesie ist das!“ Mathilde blickt beschämt und verwirrt, fasst sich aber, sagt leise: „Also, ehrlich, nix mit Gruftie oder Gothic oder so.“ Und dann, mit fester Stimme: „Neue deutsche Lyrik schreib’ ich.“ „Aha, verstehe, neue deutsche, nicht: junge deutsche. Junge Lyrik, da müssten Sie ja ...“. „Genau“, Mathilde merkt jetzt, dass sie „jung“ und „neu“ gar nicht unterscheiden kann. Um abzulenken, sagt sie: „Also, ich schreibe moderne Lyrik.“ „Nee, nee“, ereifert sich die Redakteurin, „Sie schreiben auf alle Fälle post-modern. Wenn Sie nicht schon gar post-post-modern sind. Hören Sie doch mal selbst: „Brr brrr brrrr krr krrr krrrr tik tik tik“. „Deutsch ist es auf jeden Fall“, wirft Mathilde ein, „ich bin ja deutsch. Auf Amerikanisch dichten kann ich noch nicht.“ „Nein, wenn Sie post-modern oder post-post-modern dichten, Oma Thilde, sind Sie global.“ Es läutet an der Haustür. Lene steht draußen, Nachbarin, gleichaltrig fast. Höchst beeindruckt sei sie, „aber, mal ehrlich: Wirklich alles selber jemacht? In deinem Alter? Hat da nicht deine Enkelin ...?“ „Waaas?“ „Na ja, sagen wir mal so: Wie die Jungen heute so reden, also: Hat da die Anna nicht mitgeholfen?“ „Nee,“ schreit Mathilde so laut sie kann, „neue deutsche Lyrik! Un alles selber jemacht!“ Türe zu.

„Jetzt weiß ich, was Ihnen fehlt, Oma Thilde“, säuselt die Redakteurin, „Sie brauchen einfach Events. Da ließe sich was arrangieren ...“ „Mach ich selber“, keucht Mathilde.

Allein auf ihrer Couch, denkt sie über Events nach. Warum nicht mal schweben? Warum nicht in einem Heißluftballon? Am nächsten Morgen schon steht sie im Korb des Ballons „Pink Gothic zu Bremen“. Alle ihre Lyrikbändchen hat sie bei sich. Neben ihr ein junger, langer Lulatsch, Volontär beim Sonntagskurier. Zusammen streuen sie die Bändchen weit, weit über Stadt und Land. Hunderte. Dem Lulatsch macht das nichts aus, aber für Mathilde ist es eine elende Schufterei. Doch zur Belohnung schiebt sich nun die Sonne zwischen zwei dicken Wolken hindurch, strahlt Mathildes Gesicht an wie ein riesiger Theater-Scheinwerfer. Auch Kultur-Staatsrat Schlaffetasch reckt sich an diesem Nachmittag in den Strahlen der Frühlingssonne, und da fliegt ihm doch glatt ein zerfleddertes Bändchen beinahe in seinen Pharisäer. Er greift, guckt, liest, guckt. Macht: „Br brr“ und „Krr krrr“ und „Tik tik tik tik“. Tikt immer noch, als Mathilde längst wieder auf der Erde ist. „Na endlich, endlich Frühling!“ ruft er. Schneller als je gesehen, radelt er in sein Büro, krempelt die Ärmel hoch und legt so richtig los in Sachen Kultur.

Und dann, im Herbst, gewinnt Mathilde den Bremer Förderpreis „Junge Lyrik macht Beine“. Bei der Verleihung im großen Rathaussaal trägt Kultur-Staatsrat Schlaffetasch sein Lieblingsgedicht vor: „Bbr-brr-brrr, tik-tik-tik, tik-tik-tik, tik-tik-tik tiiik!“

   

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