XXIX. Jahrgang, Heft 153
Jan - Apr 2010/1
 
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Letzte Änderung:
3.4.2010

 
 

 

 
 

 

 

WEITLÄUFIGE WELTBILDER

Eine neue Weltordnung?
Von Heleno Saña

   
 
 


»Unsere Aufgabe besteht darin, den vielen Unterdrückten Hoffnung zu geben und die wenigen Unterdrücker das Fürchten zu lehren.«
William Morris, »How we live and how we might live«


Ein unerfüllter Traum

Die Idee einer in Frieden, Gerechtigkeit und Eintracht lebenden Völkergemeinschaft ist ein uralter Traum, schon klar erkennbar in den Kosmogonien, Mythologien und Staatstheorien der altorientalischen Hochkulturen. Auch das griechische Denken ist von der Vorstellung eines harmonischen Kosmos durchdrungen, wobei hier diese Utopie schon viel rationaler formuliert wird. Die Suche nach einer idealen Polis setzt bereits bei den Vorsokratikern ein, findet seinen klassischen Niederschlag bei Plato und erreicht seinen Höhepunkt im Hellenismus. Auch das Imperium Romanum begreift sich als Träger eines weltumfassenden neuen "ordo", bis dieses Sendungsbewußtsein durch die jüdisch-christliche Vorstellung einer universalen, alle Menschen des Globus einschließenden monotheistischen Religion ersetzt wird.

Auf der Grundlage des neuen Glaubens entwickeln die Kanonistik und die Scholastik die Vision einer gewaltlosen, friedfertigen Weltordnung, die streng hierarchisch konzipiert wird wie die Gliederung der Kirche selbst. Die irdische Macht (potestas terrena) wird aus der "potestas divina" abgeleitet und durch sie legitimiert. Als Regierungsform wird die Monarchie bevorzugt, die Dante, an die Idee des römischen Reichs anknüpfend, zu einer Weltmonarchie unter Führung eines einzigen Kaisers ausdehnen will. "... so muß es zum Wohle der Menschheit auf der Welt einen Monarchen geben und darum auch zum Heile der Welt eine Monarchie."(1) Als Grundsäulen der neuen Weltverfassung gelten der Kaiser und der Papst. Dieser Machtdualismus wird bald zu einer Quelle der permanenten Zwietracht. Die These von der Vorrangigkeit der geistlichen vor der weltlichen "potestas" stammt vor allem von Augustinus ab, sie wird jedoch nach und nach von der Lehre des Primats der kaiserlichen Macht verdrängt, schon ganz klar von Marsilius von Padua (1290-1342) vertreten. Die theozentrische Position Augustinus' ist eine Folge seiner emotionsbeladenen Verwerfung der anthropozentrischen Grundausrichtung der griechisch-römischen Welt. Für ihn besitzt das Leben hienieden keinen Wert an sich, das einzige, worauf es ankommt, ist die "civitas divina". Damit wird die Verwirklichung des einzelnen in das Jenseits verlagert und in ein auf Erden unerreichbares Eschaton verwandelt. Diese Einstellung, die von einem finsteren Haß auf die Natur bestimmt ist und das Leben des Menschen auf Glauben und Gehorsam reduzieren will, verliert wegen ihrer irrationalen Weltfremdheit immer mehr an Gewicht und wird nach und nach von anderen, ausgeglicheneren Konzeptionen ersetzt, ein Prozeß, der nicht zuletzt durch die Wiederentdeckung der griechischen Philosophie ermöglicht wird. Die zentrale Gestalt dieser Wende ist Thomas von Aquin.

Aber das Ideal einer "concordantia catholica" (Nikolaus von Cues) erfüllt sich nie und bleibt reine Theorie. Die Kirche, die den Anspruch erhebt, eine zwischen den Fürsten vermittelnde und friedenstiftende Instanz zu sein, entwickelt sich bald selbst zu einer despotischen Macht und wird damit zu einem zusätzlichen Faktor der Unterdrückung und des Unfriedens. Der ersehnte Gottesstaat verwandelt sich in ein Pandämonium übelsten Obskurantismus und Herrschaftssucht, wer nicht pariert, dem wird der Prozeß gemacht, der wird exkommuniziert, zum Häretiker erklärt und in den Kerker geworfen oder verbrannt. Diese Entartung findet ihr vorläufiges Ende mit der konfessionellen Spaltung zwischen Rom und den protestantischen Ländern und den aus ihr hervorgegangenen Religionskriegen im Spätmittelalter und zu Beginn der Neuzeit. Der abendländische "Corpus Christianum" stirbt nicht, er kann sich sogar nach der Umschiffung der Weltmeere und der Entdeckung Amerikas ausweiten, aber mit der christlichen Ordnung als solcher ist es vorbei. Jetzt sind andere Mächte, andere Ideen und andere Interessen an der Reihe.

Institutionelle Träger der neuen Ordnung sind die aus den Trümmern des Feudalismus und aus der Auflösung der konfessionellen Einheit des Mittelalters entstandenen Nationalstaaten, eine Entwicklung, die sich parallel zum Aufstieg des Dritten Standes (Bourgeoisie) und dem Abstieg des Adels als führende Klasse vollzieht. Die neuen Staaten gründen sich auf dem vor allem von Bodin ausgearbeiteten Begriff der absoluten Souveränität (maiestas) und sind am Anfang von den pessimistischen und autoritären Theorien Machiavellis und Hobbes geprägt, die die Staatsräson über die Gesellschaft stellen. Die Weiterentwicklung des bürgerlichen Staates führt jedoch nach und nach zu einem Abbau der absolutistischen Macht und zu einer Demokratisierung der "res publica", die nicht mehr allein vom Hof bestimmt wird, sondern vom Parlament. Aus Untertanen werden Bürger, Citizens, Citoyens, Ciudadanos. Mit seiner Lehre von der Gewaltenteilung legen Locke, Montesquieu und die Väter der amerikanischen Verfassung (John Adams, Madison, Hamilton) die Fundamente der modernen bürgerlichen Demokratie. Dieser innenpolitische Liberalisierungsprozeß findet außenpolitisch seine Ergänzung in dem von Francisco de Vitoria, Grotius und Pufendorf entwickelten neuen Völkerrecht, das, ausgehend von der unantastbaren Souveränität der Einzelstaaten, die Praxis des Krieges durch das Prinzip der friedlichen Koexistenz und der gegenseitigen zwischenstaatlichen Achtung ersetzen will.

Aber das bürgerliche Zeitalter bringt nicht die ersehnte Eintracht, leitet vielmehr eine neue Ära der Gewalt ein. Die religiösen Kriege machen den Handelskriegen Platz, an die Stelle des religiösen Fanatismus tritt der nicht minder fanatische Nationalismus. Dem neuen Völkerrecht zum Trotz werden die internationalen Beziehungen weiterhin durch das Faustrecht bestimmt, und während die europäischen Großmächte und Handelsnationen von Freiheit, Fortschritt, Humanität und abendländischer Zivilisation reden, überfallen, unterdrücken und beuten sie die wehrlosen Überseeländer aus. Angesichts dieser Fehlentwicklung mehren sich die Stimmen, die vollkommenere, gerechtere, wirksamere Formen des internationalen Zusammenlebens verlangen. Kant schlägt die Gründung einer Staatenföderation als Garantie für den ewigen Frieden vor, Compte träumt von einer "association universelle", William Morris ruft "all civilized nations" zur Schaffung einer "one great community" auf, die Anarchisten predigen die Abschaffung aller Staaten und die Bildung einer Weltrepublik der freien Volker, Marx will das klassenlose Reich der Freiheit auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus herbeiführen.

Diese und andere Vorstellungen über eine ideale Weltordnung enden abrupt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs. Weder der amerikanische Präsident Wilson noch der Völkerbund bringen es fertig, einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten, zwanzig Jahre danach bricht der Zweite Weltkrieg aus. Die nach dem Zusammenbruch des Dritten Reiches von den Siegermächten ins Leben gerufenen Vereinten Nationen als institutioneller Mittelpunkt einer neuen Weltordnung werden bald durch das Entstehen des Kalten Krieges gelähmt und können nur äußerst notdürftig ihre friedenstiftende Funktion erfüllen. Die alte Idee einer Weltregierung als Heilmittel gegen die Gefahr eines dritten Weltkrieges taucht wieder auf. Einstein, der prominenteste Verfechter dieser Idee, schreibt 1947: "Die Vereinten Nationen müssen... mit äußerster Beschleunigung die Fundamente einer wahren Weltregierung errichten und dadurch die für die internationale Sicherheit notwendigen Bedingungen schaffen."(2)

Alle Versuche, eine gerechte, sinnvolle und für alle Völker der Welt annehmbare internationale Ordnung zu schaffen, sind bisher gescheitert oder konnten sich bestenfalls nur teilweise und in sehr verzerrter Form durchsetzen. Deshalb ist der Weltzustand als Ganzes, trotz punktueller Fortschritte, nicht weniger desolat als in anderen Epochen. Alle Neuordnungen mußten scheitern, weil sie den wahren Interessen der Menschen und der Völker nicht entsprachen, sondern den Machtgelüsten und der Herrschaftssucht der jeweiligen führenden Klassen, Institutionen, Ideologien und Staaten dienten. Nach der Niederschlagung der faschistischen Bestie bot sich der Völkergemeinschaft die einmalige Gelegenheit, endlich und unter den günstigsten Voraussetzungen eine wirklich rationale und tragfähige Weltordnung herbeizuführen. Aber das einzige, was aus dieser geschichtlichen Sternstunde entstand, waren ein über vierzig Jahre währender Kalter Krieg, die spätkapitalistische Konsumgesellschaft und ein östlicher Staatskapitalismus, der selbstgefällig und selbstbetrügerisch als Sozialismus gelten wollte, also bloße Reproduktion von Vergangenheit war. Machtpolitik blieb das Hauptanliegen der Großmächte und ihrer Vasallenstaaten. Es wäre müßig, feststellen zu wollen, wer falsch gehandelt hat und wer die Hauptverantwortung für diese Fehlentwicklung trägt. Alle zusammen haben versagt und zusammen die Menschheit in eine der schlimmsten Krisen ihrer bisherigen Geschichte gestürzt. Daher auch das Gerede von der Notwendigkeit einer neuen Weltordnung. Wir wollen sie uns näher betrachten, diese angebliche neue Weltordnung, die Herr Bush und sonstige Weltherren im Begriff sind uns zu schenken.


Die Institutionalisierung der Weltherrschaft

Die neue Weltordnung, die in Washington und in den anderen westlichen Kanzleien fieberhaft vorbereitet wird, hat kein anderes Ziel und keinen anderen Zweck, als die de facto schon ausgeübte Weltherrschaft der mächtigsten Nationen de jure zu institutionalisieren. Dies soll teilweise auf dem klassischen Weg des Neokolonialismus vor sich gehen, aber vor allem durch die Instrumentalisierung der Vereinten Nationen und anderer supranationaler Organisationen. Jetzt gilt es, Lenkungs- und Manipulationsmechanismen zu schaffen, die den Herrschaftsprozeß mit dem moralisch-juristischen Segen übernationaler Institutionen legitimieren. Die Devise heißt also, Großräume bereitzustellen, die es den starken Staaten ermöglichen sollen, die schwachen endgültig und für immer an die Kette zu legen. Die EG kann als Vorläuferin und Muster dieser neuen Logik des Weltimperialismus gelten. Deshalb sind die USA dabei, einen gemeinsamen Markt mit Mexiko auf die Beine zu stellen, als erste Stufe zu einer Anwendung der Monroe-Doktrin auf wirtschaftlichem Gebiet.

Der Nationalismus blüht wie eh und je, aber keiner der führenden Staaten ist bis heute mächtig genug, um die Welt allein zu beherrschen. Wie Dieter Ruloff sagt: "Kein Staat erreicht heute noch irgend etwas auf eigene Faust in irgendeinem grenzüberschreitenden Problembereich."(3) Deshalb haben die Weltherren beschlossen, sich als Weltkartell zu konstituieren, nicht freilich, um auf ihre eigene Macht zu verzichten, sondern um sie gemeinsam auszudehnen und effektiver zu gestalten. Wie oft bei solchen supranationalen Zweckbündnissen handelt es sich nicht um einen Abbau der Herrschaft, sondern um deren Perfektionierung. Georg Schwarzenberger hat es so formuliert: "Die Methoden der Hegemonie, d.h. der Leitung von formal Gleichberechtigten durch eine führende Macht... sind innerhalb von Staatenbünden wie dem Völkerbund und den Vereinten Nationen verfeinert. Sie sind aber kaum weniger real als in Systemen offener Machtpolitik. Einflußsphären der Weltmächte ersetzen direkte koloniale Kontrolle." (4) Auch innerhalb der jetzigen Phase des Globalismus und der internationalen Interdependenz bleibt die von den führenden Nationen betriebene Politik in erster Linie "struggle for power", um die klassisch gewordene Formel von Hans Morgenthau zu benutzen.(5)

Die Weltherrschaftsträger beabsichtigen keineswegs, eine neue Weltordnung zu errichten, sondern vielmehr, die alte stürmtest zu machen. Was sie verändern wollen, sind die brüchig gewordenen Herrschaftsinstrumente, nicht das waltende kapitalistische System. Um jeden potentiellen Krisenherd im voraus neutralisieren zu können, wollen sie die Aktionsfähigkeit der instabilen Regionen des Globus auf ein Minimum reduzieren und zugleich ihre eigene Interventionsmöglichkeit maximal ausbauen. Herausforderungen und Pannen wie bei Ayatollah Khomeini oder Saddam Hussein sollen sich nicht wiederholen. Deshalb werden trotz Abbau des Kalten Krieges neue Waffensysteme entwickelt, deshalb ist nur der Warschauer Pakt, aber nicht die NATO aufgelöst, deshalb bereiten Frankreich und Deutschland die Bildung einer multilateralen Streitmacht vor, deshalb betätigt die EG sich zunehmend als imperialistischer Block in Europa, bestraft die Länder, die sich querstellen - wie die Serben -, und belohnt jene, die auf die Knie gehen. Dieselbe anmaßende Einmischungspolitik wird von den westlichen Mächten gegenüber der Sowjetunion betrieben: Hilfe bekommen die Russen, wenn sie parieren und sich dem Diktat des Weltkapitalismus beugen, ansonsten können sie zum Teufel gehen.

Zwar haben die führenden Länder des Westens (wie auch die Sowjetunion) ihre militärischen Budgets geringfügig gesenkt, keineswegs aber ihre Waffenproduktion, die weiterhin auf hohen Touren läuft und zunehmend für den Export arbeitet. So lieferten die Vereinigten Staaten 1990 Militärgüter im Wert von 18,5 Milliarden Dollar an die Dritte Welt und vergrößerten damit ihre Rüstungsausfuhr gegenüber 1989 um mehr als das Doppelte. Durch diesen gewaltigen Zuwachs sind die USA zum Waffenexporteur Nummer eins geworden, gefolgt von der Sowjetunion und Deutschland, Frankreich, England und Italien.

Um eine neue Weltordnung zu errichten, genügt es auf jeden Fall nicht, das Bestehende formal neu zu strukturieren, etwa durch eine Ausweitung der Funktionen und Machtbefugnisse der UNO und anderer internationaler Körperschaften. Durch institutionelle Reformen dieser Art kann man bestenfalls punktuelle Probleme besser in den Griff bekommen, keineswegs aber die Krise der Welt als solche überwinden. Deshalb müssen die Studien und Vorschläge zur Erweiterung der UNO-Kompetenzen, die tagtäglich in den Medien erscheinen, als Augenwischerei und als ein Versuch gewertet werden, die Weltöffentlichkeit von der viel tiefer liegenden Problematik abzulenken. Nicht durch Umstrukturierung sind die Weltprobleme zu bewältigen, sondern einzig und allein durch eine tiefgreifende, radikale Umwälzung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse. Aber dies ist es gerade, was die dominierenden Nationen nicht wollen, schon deshalb nicht, weil die Beseitigung der Weltprobleme - Armut, Verschuldung, Vergeudung von Ressourcen, parasitäre Produktion, Umweltzerstörung etc. - die freiwillige oder unfreiwillige Demontage ihres Machtmonopols voraussetzt. Sie werden deshalb nie etwas Ernsthaftes unternehmen, um die ganze Irrationalität des heutigen Weltzustandes zu überwinden; sie werden vielmehr alles daransetzen, um ihre Weltherrschaft beizubehalten und damit das Elend der unterentwickelten Völker zu verewigen.

Der Kapitalismus bedeutet das Reich des Eigennutzes, nicht das Reich der Großzügigkeit, der Solidarität und der gegenseitigen Hilfe. Das ist sein Gravitations- und genetisches Gesetz, und gerade deshalb ist es naiv, anzunehmen, daß aus seiner Herrschaft eine gerechte, humane und friedliche Weltordnung hervorgehen kann. Er wird immer nach außen das gleiche Unheil stiften, das er im nationalen Bereich erzeugt. Denn wie Bernard Shaw sagt, macht der Kapitalismus "alle Menschen zu allen Zeiten ohne Unterschied von Rasse, Hautfarbe und Glaubensbekenntnis zu Feinden".(6)


Imperialismus, Rassismus, Universalismus

Der westliche Imperialismus beruht nicht nur auf seiner wirtschaftlichen und technologischen Macht; er wurzelt auch in der Überzeugung, daß die abendländische Zivilisation allen anderen überlegen und deshalb berechtigt ist, sich als Weltzivilisation zu entfalten und durchzusetzen. Es ist klar, daß, solange diese sowohl provinzielle wie rassistische Einstellung wirksam bleibt, der Dialog und die Zusammenarbeit mit den anderen Kulturen und Religionen der Welt nicht gedeihen kann. Nicht nur unsere materielle Protzerei nehmen uns die unterentwickelten Länder übel, sondern auch unsere immer wieder zur Schau gestellte Arroganz.

Universalismus heißt nicht die Herbeiführung eines einzigen Modells des Denkens, des Fühlens, des Glaubens und des Handelns, sondern ist ein Zustand, der die gegenseitige Durchdringung und Befruchtung aller in der Welt vorhandenen Kulturen, Weltanschauungen und Religionen möglich macht. Die Geschichte ist, wie die Natur, pluralistisch gestaltet, und der Westen wird gut beraten sein, dieser Mannigfaltigkeit endlich Rechnung zu tragen.

In der westlichen Welt ist häufig die Rede von Multikulturalität und Supranationalismus, aber solche Bekenntnisse sind zumeist nur plakativ. Abgrenzung und Abschottung gegenüber andersgearteten Völkern und ethnischen Minderheiten ist eine uralte Erscheinung, die weit zurück in die Geschichte reicht. Aber wie so viele andere irrationale Phänomene auch ist dieses Übel ein Produkt der historischen Entwicklung, kein ewiger Fluch, deshalb durchaus aufhebbar. Rassismus - gleich welcher Art - ist immer ein Zeichen von Unwissenheit und Selbstentfremdung, kein naturgegebener Trieb. Der Weg, um sich von diesem atavistischen Ballast zu lösen, heißt: die anderen achten, ihre Nähe suchen, von ihnen lernen. Es wird Zeit, daß wir die Kategorie des Fremden als eine Bereicherung und nicht als eine Drohung begreifen. Nur unter dieser Voraussetzung werden wir in der Lage sein, eine Welt ohne Haß und ohne Grenzen aufzubauen. Im klassischen Griechenland waren die staatsbürgerlichen Rechte ein Monopol der einheimischen Polites oder Stammbürger, während die Sklaven und Metäken (ortsansässige Handwerker) als Barbaren und Menschen zweiter Klasse eingestuft und diskriminiert wurden, eine Haltung, die sogar Aristoteles guthieß. Aber schon damals entstanden kulturgeschichtliche Strömungen, die solche Praxis ablehnten und sich für die Abschaffung jedweder ethnischen Benachteiligung einsetzten. Dies gilt namentlich für die Kyniker und die Stoiker, die sich als Kosmopoliten (Weltbürger) begriffen und für die Einführung einer multiethnischen bzw. multikulturellen Ordnung plädierten. Diese Einstellung wurde, durch die Vermittlung des Hellenismus, zu einer Grundlage des frühen Christentums, das nicht nur auf religiöser Ebene die grundsätzliche Gleichheit des Menschen bejahte und gegen jegliche Rassendiskriminierung war.

In Spanien lebten mehrere Jahrhunderte lang Juden, Araber und Christen nicht immer in Eintracht, aber trotz ihrer kriegerischen und konfessionellen Auseinandersetzungen lernten sie ständig voneinander und schufen gemeinsam eine fruchtbare Kultur. Erst der religiöse Fundamentalismus der katholischen Könige Isabella und Ferdinand und ihrer Nachfolger unterbrach diese multikulturelle Tradition und leitete eine lange Periode des Rassismus und der Intoleranz ein.

Die Humanisten des Spätmittelalters und der Renaissance fühlten sich an erster Stelle nicht als Italiener, Deutsche, Franzosen oder Spanier, sondern als Universalmenschen, als Mitglieder einer großen übernationalen Geistesgemeinde. "Der helle Deutsche und der dunkle Äthiopier sind gleicherweise Menschen", sagte Nikolaus von Cues in einer seiner Predigten. Die Kultur war genauso grenzüberschreitend wie deren Sprache Latein. Erst das Entstehen der modernen Nationalstaaten und die Herausbildung der nationalen Sprachen setzten diesem Universalismus ein Ende.

Auch die Aufklärer waren kosmopolitisch und universalistisch eingestellt. "Ich halte den Himmel für das Vaterland und alle wohlgesinnten Menschen für dessen Mitbürger", schrieb Leibniz an den Zaren Peter den Großen. Von der Universalität der menschlichen Natur und der menschlichen Vernunft ausgehend, setzten sie sich für die Menschenrechte jedes Erdenbewohners und für die Emanzipation der als rückständig geltenden außereuropäischen Völker ein. Als kennzeichnend für diese Geisteshaltung sei nur der "Brief an die Neger" von Condillac erwähnt, der mit den Worten beginnt: "Obwohl ich nicht dieselbe Farbe habe wie ihr, habe ich euch stets als meine Brüder betrachtet. Die Natur hat euch so gebildet, daß ihr den gleichen Geist, die gleiche Vernunft und die gleichen Tugenden besitzt wie die Weißen..." Kant, Goethe, Schiller, Herder, Hölderlin und die meisten deutschen Aufklärer fühlten sich als Weltmenschen, nicht als teutonische Patrioten. Kant namentlich unterstrich, daß die einzige würdige Haltung eines Volkes gegenüber Fremden die "Hospitalität" sei.(7) Erst Fichte und Hegel setzten sich von dieser weltoffenen Einstellung ab und proklamierten die Überlegenheit des Germanentums über die anderen Kulturen und Völker.

Die im 19. Jahrhundert entstandene Arbeiterbewegung übernimmt die antirassistische Tradition des humanistischen Denkens und organisiert sich auf der Grundlage des proletarischen Internationalismus. Die 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation war eine multiethnische Organisation, ebenso wie die 2., die 3. Internationale und die jetzige Sozialistische Internationale. Aber diese und andere Ansätze zu einem solidarischen Miteinander von Völkern und ethnischen Minderheiten sind immer wieder durch Nationalismus, Rassismus und Imperialismus zunichte gemacht worden. Auch heute stellen diese Erscheinungen eine der größten Herausforderungen unserer Zeit dar.

Nicht nur in den Ländern Osteuropas oder in Nahost wütet der nationalistische und ethnische Haß, nicht nur dort schlachten sich die Menschen gegenseitig im Namen ihrer Nationalität, ihrer ethnischen Identität oder ihrer Religion ab. Auch in Westeuropa und in Nordamerika werden Minoritäten diskriminiert und verfolgt. Faschisten und Rechtsradikale haben wieder Hochkonjunktur, werden immer selbstbewußter und gefährlicher. Es gibt heute in der westlichen Welt keinen Staat, der nicht Rassendiskriminierung betreibt, und zwar einen doppelten Rassismus: nach außen in Form von wirtschaftlichem Imperialismus, nach innen durch die offene Benachteiligung von Einwanderern und Asylsuchenden. Die akute soziale Krise, die die Welt als Ganzes durchlebt, wird diese bedrohliche Entwicklung noch weiter verschärfen, und so, wie die Weltherren es nicht geschafft haben, das materielle Elend der Entwicklungsländer zu beseitigen, werden sie auch mit dem Problem des Rassismus nicht fertig. Sie werden es nicht bewältigen, weil sich ihr ganzes System auf einen bewußten oder unbewußten Rassismus stützt. Denn Rassismus bedeutet nicht nur, Nordafrikaner, Asiaten oder Türken zu überfallen oder Asylantenheime in Brand zu stecken, er bedeutet auch, ganze Völker kaltblütig in Hunger und Not verkümmern zu lassen.


Das Ende der Gemütlichkeit

Nicht der schönen, neuen Weltordnung, die uns die Mächtigen in bunten Farben ausmalen, gehen wir entgegen; was uns vielmehr erwartet, ist ein riesiges, in solchem Ausmaß nie dagewesenes Weltchaos. Nicht der Morgenröte eines weltgeschichtlichen Neubeginns wohnen wir derzeit bei, sondern den letzten Atemzügen eines untergehenden Zeitalters, Und die Weltherren sind nicht Schutzengel, die die Menschheit retten sollen, sondern apokalyptische Reiter, Boten der Finsternis und des Verfalls, Bankrotteure eines sich im Konkurszustand befindenden Planeten. Mehr denn je könnten wir mit Nietzsche sagen: "... diese Welt, in der wir leben, ist ein Irrtum."(8)

Die westliche Zivilisation hat sich trotz ihrer imponierenden Produktions- und Konsumziffern als ein kolossales, nicht wieder gutzumachendes Fiasko erwiesen. Man kann eine Zeitlang Bilanzen frisieren und falsche Buchführung betreiben, aber langfristig wird der Betrug selbst dem naivsten Wirtschaftsprüfer auffallen. Nicht Freiheit, nicht Gerechtigkeit, nicht Menschlichkeit und sonstige von der Moderne verkündete Ideale haben sich durchgesetzt, sondern ihr genaues Gegenteil. Schöner und menschenwürdiger sollte die Welt werden, häßlicher und erbarmungsloser ist sie geworden- Die Kriege, die Gewalt, das Elend sollten für immer verschwinden, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten versichert. Längst wissen wir, daß sich dies alles nur vermehrt hat.

Untergehende Zivilisationen und Systeme pflegen sich von der weltgeschichtlichen Bühne mit Mord und Totschlag zu verabschieden. Die nationalen und regionalen Kriege, die im Herzen Europas und in anderen Erdteilen ausbrechen, die Massaker an wehrlosen Minderheiten und die Jagd auf arme Flüchtlinge sind nur die Vorboten eines sich anbahnenden Weltbrands. Die Supermoderne wird zusehends zur Superkatastrophe, der Weltgeist Hegels stirbt tagtäglich inmitten eines makabren Finales von Drogensucht, Kriminalität, Gewalt, Korruption, Zynismus, Verelendung, Entfremdung, Rassismus, Seuchen, ökologischem Kollaps und allgemeiner Zerstörung - Barbarei in Gestalt von Saturiertheit und Dekadenz.

Das System scheint nicht mehr in der Lage, sich zu regenerieren, es kann nur zugrunde gehen. Wir alle sind Schiffbrüchige einer Zivilisation, die im Begriff ist, das Schicksal der Titanic in kosmischem Ausmaß zu erleben, auch wenn die Steuermänner von der Kommandobrücke aus den Passagieren einreden wollen, sie hätten alles im Griff. Insgeheim herrscht schon die Moral des "Rette sich, wer kann". Deshalb das Unbehagen, das sich überall breitmacht, die Angst, die die Menschen zunehmend ergreift.

Die Menschheit befreite sich von der Tyrannei totalitärer Ideologien, um unter die Tyrannei einer mißbrauchten und falschen Freiheit zu geraten. Es waltet wieder das Gesetz der Willkür und der Unterdrückung, und was sich als Geist der Freiheit gebärdet, ist im Grunde der Vormarsch der Konterrevolution in Richtung auf einen neuen Faschismus. Und wie schon einmal in den zwanziger und dreißiger Jahren überall dieselbe Feigheit, dasselbe "appeasement", dieselbe Bereitschaft, sich der Macht zu beugen und ihr zu dienen.

Nie wurde soviel verdrängt, soviel geschwiegen, gelogen und betrogen. "Was ist Ungerechtigkeit?" fragte Carlyle. Seine lapidare Antwort: "Ein anderer Name für Unordnung."(9) Die Aussage gilt weiterhin, und deshalb ist jedes Wort der Mächtigen über eine neue Weltordnung eine Lüge. Wie können Politiker, die es nicht geschafft haben, ihre hauseigenen Probleme in Ordnung zu bringen, die Unverfrorenheit besitzen, sich als Weltlenker aufzuspielen?

Es gibt nur eine Logik, und die Logik der Ungerechtigkeit besteht darin, Zwietracht, Mißstände, Konflikte und Kriege zu erzeugen. Die "brave new world", die man uns vorgaukeln will, kann nur in einer Götterdämmerung enden, denn das, was aus dem Bösen geboren wurde, muß auch einen bösen Ausgang nehmen. Und auch die Kumpanen von heute, die sich zu einer Art Syndikat zusammengetan haben, um die Welt unter sich aufzuteilen und auszubeuten, werden eines Tages wieder zu Feinden werden und die Pistolen, die sie jetzt noch versteckt tragen, von neuem ziehen. Deshalb rüsten sie alle weiter, trotz Freundschaftsbeteuerungen.

Man kann unter diesen Voraussetzungen Geschäfte machen und die Menschen korrumpieren, aber nicht eine tragfähige und sinnvolle Weltordnung herbeiführen. Die Welt ist mehr als ein Warenlager, die Kunst des Staatswesens mehr als die Führung eines Konzerns. Und gerade weil die heutigen Politiker nichts anderes als Befehlsempfänger der großen Interessenverbände und des Big Business sind, werden sie es nicht schaffen, die Probleme der Menschheit zu bewältigen. Die Antike brachte große Staatsmänner und Philosophen hervor, das Mittelalter fromme Mystiker und Theologen, die Renaissance Universalmenschen, unser Zeitalter vor allem Krämerseelen, wie schon Rousseau erkannte: "Die antiken Politiker sprachen unentwegt von Sitten und von Tugend, die unseren sprechen nur von Geld und Kommerz."(10)

Was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, ist der Bankrott der aus dem bürgerlichen Wertesystem hervorgegangenen instrumentellen Vernunft. Der Versuch, das menschliche Dasein auf Kommerz, Kalkül und Konsum zu reduzieren, ist weitgehend geglückt, und die Menschheit ist hoffnungslos gescheitert, auch wenn die Höflinge und Söldner des Systems weiterhin von gewonnenen Schlachten berichten. Hobbes, der erste Theoretiker des bürgerlichen Staates, hatte sich eingebildet, man könne ein Gemeinwesen auf der Grundlage des Egoismus und des Genusses gründen und ewig aufrechterhalten.

Jetzt wissen wir, daß die friedliche und segensreiche Ordnung, die er mit seinem Leviathan zu sichern trachtete, den Krieg aller gegen alle entfesselt hat, den er überwinden wollte. Nicht die Wilden haben sich als Feinde der Menschheit erwiesen, wie Hobbes meinte, sondern die Zivilisierten, die Träger und Gestalter des bürgerlichen Zeitalters. Der institutionalisierte Herrschaftsprozeß, der das System organisiert hat, kann keine Weltordnung zustande bringen, weil die Fundamente, auf die sich diese Ordnung stützen soll, selbst der Inbegriff der Unordnung sind. Die Sieger von heute, die hochmütig und schadenfroh den Untergang des real existierenden Sozialismus und die Auflösung der Sowjetunion bejubeln, ahnen kaum, daß auf sie ein ähnliches Schicksal wartet. Auch sie werden sich eines Tages für ihre Untaten verantworten müssen. Man kann nicht ewig die Menschen schinden, belügen, demütigen und ihre Würde mit Füßen treten. Irgendwann bestätigt sich immer, was Babeuf schrieb: "Die Gerechtigkeit des Volkes vollzieht sich nur langsam und oft zu spät, aber wenn sie sich in Bewegung setzt, ist sie groß und überwältigend wie es selbst, handelt rasch und erbarmungslos."(11)

Die Stunde der Wahrheit nähert sich, das Ende des zweiten Millenniums wird auch das Ende der Gemütlichkeit sein.


1 "Dantes Monarchie", übersetzt von Constantin Sauter, Freiburg im Breisgau 1913, S. 116

2 Albert Einstein, "Frieden", Bern 1975, S. 443

3 Dieter Ruloff, "Weltstaat oder Staatenwelt", München 1988, S. 219

4 Georg Schwarzenberger, "Civitas maxima", Tübingen 1973, S. 15

5 Vgl. Hans Morgenthau, "Politics among Nations", New York 1948

6 Bernard Shaw, "Wegweiser für die intelligente Frau zum Sozialismus und Kapitalismus", Frankfurt 1978, S. 131

7 Kant, "Werke", a.a.O., 11. Band, S. 213

8 Nietzsche, "Vorspiel einer Philosophie der Zukunft", a.a.O., S. 127

9 Carlyle, a.a.O., S. 177

10 Rousseau, "Ecrits choisies", a.a.O., S. 14

11 Gracchus Babeuf, "Le tribun du peuple", Paris 1969, S. 266


Aus »Das Ende der Gemütlichkeit: Eine Bilanz der Krise unserer Zeit«. Rasch und Röhring, Hamburg 1992

   

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