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»Unsere Aufgabe besteht darin, den vielen Unterdrückten
Hoffnung zu geben und die wenigen Unterdrücker das Fürchten
zu lehren.«
William Morris, »How we live and how we
might live«
Ein unerfüllter Traum
Die Idee einer in Frieden, Gerechtigkeit und Eintracht
lebenden Völkergemeinschaft ist ein uralter Traum, schon klar
erkennbar in den Kosmogonien, Mythologien und Staatstheorien der
altorientalischen Hochkulturen. Auch das griechische Denken ist
von der Vorstellung eines harmonischen Kosmos durchdrungen, wobei
hier diese Utopie schon viel rationaler formuliert wird. Die Suche
nach einer idealen Polis setzt bereits bei den Vorsokratikern ein,
findet seinen klassischen Niederschlag bei Plato und erreicht seinen
Höhepunkt im Hellenismus. Auch das Imperium Romanum begreift
sich als Träger eines weltumfassenden neuen "ordo",
bis dieses Sendungsbewußtsein durch die jüdisch-christliche
Vorstellung einer universalen, alle Menschen des Globus einschließenden
monotheistischen Religion ersetzt wird.
Auf der Grundlage des neuen Glaubens entwickeln die
Kanonistik und die Scholastik die Vision einer gewaltlosen, friedfertigen
Weltordnung, die streng hierarchisch konzipiert wird wie die Gliederung
der Kirche selbst. Die irdische Macht (potestas terrena) wird aus
der "potestas divina" abgeleitet und durch sie legitimiert.
Als Regierungsform wird die Monarchie bevorzugt, die Dante, an die
Idee des römischen Reichs anknüpfend, zu einer Weltmonarchie
unter Führung eines einzigen Kaisers ausdehnen will. "...
so muß es zum Wohle der Menschheit auf der Welt einen Monarchen
geben und darum auch zum Heile der Welt eine Monarchie."(1)
Als Grundsäulen der neuen Weltverfassung gelten der Kaiser
und der Papst. Dieser Machtdualismus wird bald zu einer Quelle der
permanenten Zwietracht. Die These von der Vorrangigkeit der geistlichen
vor der weltlichen "potestas" stammt vor allem von Augustinus
ab, sie wird jedoch nach und nach von der Lehre des Primats der
kaiserlichen Macht verdrängt, schon ganz klar von Marsilius
von Padua (1290-1342) vertreten. Die theozentrische Position Augustinus'
ist eine Folge seiner emotionsbeladenen Verwerfung der anthropozentrischen
Grundausrichtung der griechisch-römischen Welt. Für ihn
besitzt das Leben hienieden keinen Wert an sich, das einzige, worauf
es ankommt, ist die "civitas divina". Damit wird die Verwirklichung
des einzelnen in das Jenseits verlagert und in ein auf Erden unerreichbares
Eschaton verwandelt. Diese Einstellung, die von einem finsteren
Haß auf die Natur bestimmt ist und das Leben des Menschen
auf Glauben und Gehorsam reduzieren will, verliert wegen ihrer irrationalen
Weltfremdheit immer mehr an Gewicht und wird nach und nach von anderen,
ausgeglicheneren Konzeptionen ersetzt, ein Prozeß, der nicht
zuletzt durch die Wiederentdeckung der griechischen Philosophie
ermöglicht wird. Die zentrale Gestalt dieser Wende ist Thomas
von Aquin.
Aber das Ideal einer "concordantia catholica"
(Nikolaus von Cues) erfüllt sich nie und bleibt reine Theorie.
Die Kirche, die den Anspruch erhebt, eine zwischen den Fürsten
vermittelnde und friedenstiftende Instanz zu sein, entwickelt sich
bald selbst zu einer despotischen Macht und wird damit zu einem
zusätzlichen Faktor der Unterdrückung und des Unfriedens.
Der ersehnte Gottesstaat verwandelt sich in ein Pandämonium
übelsten Obskurantismus und Herrschaftssucht, wer nicht pariert,
dem wird der Prozeß gemacht, der wird exkommuniziert, zum
Häretiker erklärt und in den Kerker geworfen oder verbrannt.
Diese Entartung findet ihr vorläufiges Ende mit der konfessionellen
Spaltung zwischen Rom und den protestantischen Ländern und
den aus ihr hervorgegangenen Religionskriegen im Spätmittelalter
und zu Beginn der Neuzeit. Der abendländische "Corpus
Christianum" stirbt nicht, er kann sich sogar nach der Umschiffung
der Weltmeere und der Entdeckung Amerikas ausweiten, aber mit der
christlichen Ordnung als solcher ist es vorbei. Jetzt sind andere
Mächte, andere Ideen und andere Interessen an der Reihe.
Institutionelle Träger der neuen Ordnung sind
die aus den Trümmern des Feudalismus und aus der Auflösung
der konfessionellen Einheit des Mittelalters entstandenen Nationalstaaten,
eine Entwicklung, die sich parallel zum Aufstieg des Dritten Standes
(Bourgeoisie) und dem Abstieg des Adels als führende Klasse
vollzieht. Die neuen Staaten gründen sich auf dem vor allem
von Bodin ausgearbeiteten Begriff der absoluten Souveränität
(maiestas) und sind am Anfang von den pessimistischen und autoritären
Theorien Machiavellis und Hobbes geprägt, die die Staatsräson
über die Gesellschaft stellen. Die Weiterentwicklung des bürgerlichen
Staates führt jedoch nach und nach zu einem Abbau der absolutistischen
Macht und zu einer Demokratisierung der "res publica",
die nicht mehr allein vom Hof bestimmt wird, sondern vom Parlament.
Aus Untertanen werden Bürger, Citizens, Citoyens, Ciudadanos.
Mit seiner Lehre von der Gewaltenteilung legen Locke, Montesquieu
und die Väter der amerikanischen Verfassung (John Adams, Madison,
Hamilton) die Fundamente der modernen bürgerlichen Demokratie.
Dieser innenpolitische Liberalisierungsprozeß findet außenpolitisch
seine Ergänzung in dem von Francisco de Vitoria, Grotius und
Pufendorf entwickelten neuen Völkerrecht, das, ausgehend von
der unantastbaren Souveränität der Einzelstaaten, die
Praxis des Krieges durch das Prinzip der friedlichen Koexistenz
und der gegenseitigen zwischenstaatlichen Achtung ersetzen will.
Aber das bürgerliche Zeitalter bringt nicht die
ersehnte Eintracht, leitet vielmehr eine neue Ära der Gewalt
ein. Die religiösen Kriege machen den Handelskriegen Platz,
an die Stelle des religiösen Fanatismus tritt der nicht minder
fanatische Nationalismus. Dem neuen Völkerrecht zum Trotz werden
die internationalen Beziehungen weiterhin durch das Faustrecht bestimmt,
und während die europäischen Großmächte und
Handelsnationen von Freiheit, Fortschritt, Humanität und abendländischer
Zivilisation reden, überfallen, unterdrücken und beuten
sie die wehrlosen Überseeländer aus. Angesichts dieser
Fehlentwicklung mehren sich die Stimmen, die vollkommenere, gerechtere,
wirksamere Formen des internationalen Zusammenlebens verlangen.
Kant schlägt die Gründung einer Staatenföderation
als Garantie für den ewigen Frieden vor, Compte träumt
von einer "association universelle", William Morris ruft
"all civilized nations" zur Schaffung einer "one
great community" auf, die Anarchisten predigen die Abschaffung
aller Staaten und die Bildung einer Weltrepublik der freien Volker,
Marx will das klassenlose Reich der Freiheit auf der Grundlage des
proletarischen Internationalismus herbeiführen.
Diese und andere Vorstellungen über eine ideale
Weltordnung enden abrupt mit dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs.
Weder der amerikanische Präsident Wilson noch der Völkerbund
bringen es fertig, einen dauerhaften Frieden zu gewährleisten,
zwanzig Jahre danach bricht der Zweite Weltkrieg aus. Die nach dem
Zusammenbruch des Dritten Reiches von den Siegermächten ins
Leben gerufenen Vereinten Nationen als institutioneller Mittelpunkt
einer neuen Weltordnung werden bald durch das Entstehen des Kalten
Krieges gelähmt und können nur äußerst notdürftig
ihre friedenstiftende Funktion erfüllen. Die alte Idee einer
Weltregierung als Heilmittel gegen die Gefahr eines dritten Weltkrieges
taucht wieder auf. Einstein, der prominenteste Verfechter dieser
Idee, schreibt 1947: "Die Vereinten Nationen müssen...
mit äußerster Beschleunigung die Fundamente einer wahren
Weltregierung errichten und dadurch die für die internationale
Sicherheit notwendigen Bedingungen schaffen."(2)
Alle Versuche, eine gerechte, sinnvolle und für
alle Völker der Welt annehmbare internationale Ordnung zu schaffen,
sind bisher gescheitert oder konnten sich bestenfalls nur teilweise
und in sehr verzerrter Form durchsetzen. Deshalb ist der Weltzustand
als Ganzes, trotz punktueller Fortschritte, nicht weniger desolat
als in anderen Epochen. Alle Neuordnungen mußten scheitern,
weil sie den wahren Interessen der Menschen und der Völker
nicht entsprachen, sondern den Machtgelüsten und der Herrschaftssucht
der jeweiligen führenden Klassen, Institutionen, Ideologien
und Staaten dienten. Nach der Niederschlagung der faschistischen
Bestie bot sich der Völkergemeinschaft die einmalige Gelegenheit,
endlich und unter den günstigsten Voraussetzungen eine wirklich
rationale und tragfähige Weltordnung herbeizuführen. Aber
das einzige, was aus dieser geschichtlichen Sternstunde entstand,
waren ein über vierzig Jahre währender Kalter Krieg, die
spätkapitalistische Konsumgesellschaft und ein östlicher
Staatskapitalismus, der selbstgefällig und selbstbetrügerisch
als Sozialismus gelten wollte, also bloße Reproduktion von
Vergangenheit war. Machtpolitik blieb das Hauptanliegen der Großmächte
und ihrer Vasallenstaaten. Es wäre müßig, feststellen
zu wollen, wer falsch gehandelt hat und wer die Hauptverantwortung
für diese Fehlentwicklung trägt. Alle zusammen haben versagt
und zusammen die Menschheit in eine der schlimmsten Krisen ihrer
bisherigen Geschichte gestürzt. Daher auch das Gerede von der
Notwendigkeit einer neuen Weltordnung. Wir wollen sie uns näher
betrachten, diese angebliche neue Weltordnung, die Herr Bush und
sonstige Weltherren im Begriff sind uns zu schenken.
Die Institutionalisierung der Weltherrschaft
Die neue Weltordnung, die in Washington und in den
anderen westlichen Kanzleien fieberhaft vorbereitet wird, hat kein
anderes Ziel und keinen anderen Zweck, als die de facto schon ausgeübte
Weltherrschaft der mächtigsten Nationen de jure zu institutionalisieren.
Dies soll teilweise auf dem klassischen Weg des Neokolonialismus
vor sich gehen, aber vor allem durch die Instrumentalisierung der
Vereinten Nationen und anderer supranationaler Organisationen. Jetzt
gilt es, Lenkungs- und Manipulationsmechanismen zu schaffen, die
den Herrschaftsprozeß mit dem moralisch-juristischen Segen
übernationaler Institutionen legitimieren. Die Devise heißt
also, Großräume bereitzustellen, die es den starken Staaten
ermöglichen sollen, die schwachen endgültig und für
immer an die Kette zu legen. Die EG kann als Vorläuferin und
Muster dieser neuen Logik des Weltimperialismus gelten. Deshalb
sind die USA dabei, einen gemeinsamen Markt mit Mexiko auf die Beine
zu stellen, als erste Stufe zu einer Anwendung der Monroe-Doktrin
auf wirtschaftlichem Gebiet.
Der Nationalismus blüht wie eh und je, aber keiner
der führenden Staaten ist bis heute mächtig genug, um
die Welt allein zu beherrschen. Wie Dieter Ruloff sagt: "Kein
Staat erreicht heute noch irgend etwas auf eigene Faust in irgendeinem
grenzüberschreitenden Problembereich."(3) Deshalb haben
die Weltherren beschlossen, sich als Weltkartell zu konstituieren,
nicht freilich, um auf ihre eigene Macht zu verzichten, sondern
um sie gemeinsam auszudehnen und effektiver zu gestalten. Wie oft
bei solchen supranationalen Zweckbündnissen handelt es sich
nicht um einen Abbau der Herrschaft, sondern um deren Perfektionierung.
Georg Schwarzenberger hat es so formuliert: "Die Methoden der
Hegemonie, d.h. der Leitung von formal Gleichberechtigten durch
eine führende Macht... sind innerhalb von Staatenbünden
wie dem Völkerbund und den Vereinten Nationen verfeinert. Sie
sind aber kaum weniger real als in Systemen offener Machtpolitik.
Einflußsphären der Weltmächte ersetzen direkte koloniale
Kontrolle." (4) Auch innerhalb der jetzigen Phase des Globalismus
und der internationalen Interdependenz bleibt die von den führenden
Nationen betriebene Politik in erster Linie "struggle for power",
um die klassisch gewordene Formel von Hans Morgenthau zu benutzen.(5)
Die Weltherrschaftsträger beabsichtigen keineswegs,
eine neue Weltordnung zu errichten, sondern vielmehr, die alte stürmtest
zu machen. Was sie verändern wollen, sind die brüchig
gewordenen Herrschaftsinstrumente, nicht das waltende kapitalistische
System. Um jeden potentiellen Krisenherd im voraus neutralisieren
zu können, wollen sie die Aktionsfähigkeit der instabilen
Regionen des Globus auf ein Minimum reduzieren und zugleich ihre
eigene Interventionsmöglichkeit maximal ausbauen. Herausforderungen
und Pannen wie bei Ayatollah Khomeini oder Saddam Hussein sollen
sich nicht wiederholen. Deshalb werden trotz Abbau des Kalten Krieges
neue Waffensysteme entwickelt, deshalb ist nur der Warschauer Pakt,
aber nicht die NATO aufgelöst, deshalb bereiten Frankreich
und Deutschland die Bildung einer multilateralen Streitmacht vor,
deshalb betätigt die EG sich zunehmend als imperialistischer
Block in Europa, bestraft die Länder, die sich querstellen
- wie die Serben -, und belohnt jene, die auf die Knie gehen. Dieselbe
anmaßende Einmischungspolitik wird von den westlichen Mächten
gegenüber der Sowjetunion betrieben: Hilfe bekommen die Russen,
wenn sie parieren und sich dem Diktat des Weltkapitalismus beugen,
ansonsten können sie zum Teufel gehen.
Zwar haben die führenden Länder des Westens
(wie auch die Sowjetunion) ihre militärischen Budgets geringfügig
gesenkt, keineswegs aber ihre Waffenproduktion, die weiterhin auf
hohen Touren läuft und zunehmend für den Export arbeitet.
So lieferten die Vereinigten Staaten 1990 Militärgüter
im Wert von 18,5 Milliarden Dollar an die Dritte Welt und vergrößerten
damit ihre Rüstungsausfuhr gegenüber 1989 um mehr als
das Doppelte. Durch diesen gewaltigen Zuwachs sind die USA zum Waffenexporteur
Nummer eins geworden, gefolgt von der Sowjetunion und Deutschland,
Frankreich, England und Italien.
Um eine neue Weltordnung zu errichten, genügt
es auf jeden Fall nicht, das Bestehende formal neu zu strukturieren,
etwa durch eine Ausweitung der Funktionen und Machtbefugnisse der
UNO und anderer internationaler Körperschaften. Durch institutionelle
Reformen dieser Art kann man bestenfalls punktuelle Probleme besser
in den Griff bekommen, keineswegs aber die Krise der Welt als solche
überwinden. Deshalb müssen die Studien und Vorschläge
zur Erweiterung der UNO-Kompetenzen, die tagtäglich in den
Medien erscheinen, als Augenwischerei und als ein Versuch gewertet
werden, die Weltöffentlichkeit von der viel tiefer liegenden
Problematik abzulenken. Nicht durch Umstrukturierung sind die Weltprobleme
zu bewältigen, sondern einzig und allein durch eine tiefgreifende,
radikale Umwälzung der bestehenden Wirtschafts- und Gesellschaftsverhältnisse.
Aber dies ist es gerade, was die dominierenden Nationen nicht wollen,
schon deshalb nicht, weil die Beseitigung der Weltprobleme - Armut,
Verschuldung, Vergeudung von Ressourcen, parasitäre Produktion,
Umweltzerstörung etc. - die freiwillige oder unfreiwillige
Demontage ihres Machtmonopols voraussetzt. Sie werden deshalb nie
etwas Ernsthaftes unternehmen, um die ganze Irrationalität
des heutigen Weltzustandes zu überwinden; sie werden vielmehr
alles daransetzen, um ihre Weltherrschaft beizubehalten und damit
das Elend der unterentwickelten Völker zu verewigen.
Der Kapitalismus bedeutet das Reich des Eigennutzes,
nicht das Reich der Großzügigkeit, der Solidarität
und der gegenseitigen Hilfe. Das ist sein Gravitations- und genetisches
Gesetz, und gerade deshalb ist es naiv, anzunehmen, daß aus
seiner Herrschaft eine gerechte, humane und friedliche Weltordnung
hervorgehen kann. Er wird immer nach außen das gleiche Unheil
stiften, das er im nationalen Bereich erzeugt. Denn wie Bernard
Shaw sagt, macht der Kapitalismus "alle Menschen zu allen Zeiten
ohne Unterschied von Rasse, Hautfarbe und Glaubensbekenntnis zu
Feinden".(6)
Imperialismus, Rassismus, Universalismus
Der westliche Imperialismus beruht nicht nur auf seiner
wirtschaftlichen und technologischen Macht; er wurzelt auch in der
Überzeugung, daß die abendländische Zivilisation
allen anderen überlegen und deshalb berechtigt ist, sich als
Weltzivilisation zu entfalten und durchzusetzen. Es ist klar, daß,
solange diese sowohl provinzielle wie rassistische Einstellung wirksam
bleibt, der Dialog und die Zusammenarbeit mit den anderen Kulturen
und Religionen der Welt nicht gedeihen kann. Nicht nur unsere materielle
Protzerei nehmen uns die unterentwickelten Länder übel,
sondern auch unsere immer wieder zur Schau gestellte Arroganz.
Universalismus heißt nicht die Herbeiführung
eines einzigen Modells des Denkens, des Fühlens, des Glaubens
und des Handelns, sondern ist ein Zustand, der die gegenseitige
Durchdringung und Befruchtung aller in der Welt vorhandenen Kulturen,
Weltanschauungen und Religionen möglich macht. Die Geschichte
ist, wie die Natur, pluralistisch gestaltet, und der Westen wird
gut beraten sein, dieser Mannigfaltigkeit endlich Rechnung zu tragen.
In der westlichen Welt ist häufig die Rede von
Multikulturalität und Supranationalismus, aber solche Bekenntnisse
sind zumeist nur plakativ. Abgrenzung und Abschottung gegenüber
andersgearteten Völkern und ethnischen Minderheiten ist eine
uralte Erscheinung, die weit zurück in die Geschichte reicht.
Aber wie so viele andere irrationale Phänomene auch ist dieses
Übel ein Produkt der historischen Entwicklung, kein ewiger
Fluch, deshalb durchaus aufhebbar. Rassismus - gleich welcher Art
- ist immer ein Zeichen von Unwissenheit und Selbstentfremdung,
kein naturgegebener Trieb. Der Weg, um sich von diesem atavistischen
Ballast zu lösen, heißt: die anderen achten, ihre Nähe
suchen, von ihnen lernen. Es wird Zeit, daß wir die Kategorie
des Fremden als eine Bereicherung und nicht als eine Drohung begreifen.
Nur unter dieser Voraussetzung werden wir in der Lage sein, eine
Welt ohne Haß und ohne Grenzen aufzubauen. Im klassischen
Griechenland waren die staatsbürgerlichen Rechte ein Monopol
der einheimischen Polites oder Stammbürger, während die
Sklaven und Metäken (ortsansässige Handwerker) als Barbaren
und Menschen zweiter Klasse eingestuft und diskriminiert wurden,
eine Haltung, die sogar Aristoteles guthieß. Aber schon damals
entstanden kulturgeschichtliche Strömungen, die solche Praxis
ablehnten und sich für die Abschaffung jedweder ethnischen
Benachteiligung einsetzten. Dies gilt namentlich für die Kyniker
und die Stoiker, die sich als Kosmopoliten (Weltbürger) begriffen
und für die Einführung einer multiethnischen bzw. multikulturellen
Ordnung plädierten. Diese Einstellung wurde, durch die Vermittlung
des Hellenismus, zu einer Grundlage des frühen Christentums,
das nicht nur auf religiöser Ebene die grundsätzliche
Gleichheit des Menschen bejahte und gegen jegliche Rassendiskriminierung
war.
In Spanien lebten mehrere Jahrhunderte lang Juden,
Araber und Christen nicht immer in Eintracht, aber trotz ihrer kriegerischen
und konfessionellen Auseinandersetzungen lernten sie ständig
voneinander und schufen gemeinsam eine fruchtbare Kultur. Erst der
religiöse Fundamentalismus der katholischen Könige Isabella
und Ferdinand und ihrer Nachfolger unterbrach diese multikulturelle
Tradition und leitete eine lange Periode des Rassismus und der Intoleranz
ein.
Die Humanisten des Spätmittelalters und der Renaissance
fühlten sich an erster Stelle nicht als Italiener, Deutsche,
Franzosen oder Spanier, sondern als Universalmenschen, als Mitglieder
einer großen übernationalen Geistesgemeinde. "Der
helle Deutsche und der dunkle Äthiopier sind gleicherweise
Menschen", sagte Nikolaus von Cues in einer seiner Predigten.
Die Kultur war genauso grenzüberschreitend wie deren Sprache
Latein. Erst das Entstehen der modernen Nationalstaaten und die
Herausbildung der nationalen Sprachen setzten diesem Universalismus
ein Ende.
Auch die Aufklärer waren kosmopolitisch und universalistisch
eingestellt. "Ich halte den Himmel für das Vaterland und
alle wohlgesinnten Menschen für dessen Mitbürger",
schrieb Leibniz an den Zaren Peter den Großen. Von der Universalität
der menschlichen Natur und der menschlichen Vernunft ausgehend,
setzten sie sich für die Menschenrechte jedes Erdenbewohners
und für die Emanzipation der als rückständig geltenden
außereuropäischen Völker ein. Als kennzeichnend
für diese Geisteshaltung sei nur der "Brief an die Neger"
von Condillac erwähnt, der mit den Worten beginnt: "Obwohl
ich nicht dieselbe Farbe habe wie ihr, habe ich euch stets als meine
Brüder betrachtet. Die Natur hat euch so gebildet, daß
ihr den gleichen Geist, die gleiche Vernunft und die gleichen Tugenden
besitzt wie die Weißen..." Kant, Goethe, Schiller, Herder,
Hölderlin und die meisten deutschen Aufklärer fühlten
sich als Weltmenschen, nicht als teutonische Patrioten. Kant namentlich
unterstrich, daß die einzige würdige Haltung eines Volkes
gegenüber Fremden die "Hospitalität" sei.(7)
Erst Fichte und Hegel setzten sich von dieser weltoffenen Einstellung
ab und proklamierten die Überlegenheit des Germanentums über
die anderen Kulturen und Völker.
Die im 19. Jahrhundert entstandene Arbeiterbewegung
übernimmt die antirassistische Tradition des humanistischen
Denkens und organisiert sich auf der Grundlage des proletarischen
Internationalismus. Die 1864 gegründete Internationale Arbeiterassoziation
war eine multiethnische Organisation, ebenso wie die 2., die 3.
Internationale und die jetzige Sozialistische Internationale. Aber
diese und andere Ansätze zu einem solidarischen Miteinander
von Völkern und ethnischen Minderheiten sind immer wieder durch
Nationalismus, Rassismus und Imperialismus zunichte gemacht worden.
Auch heute stellen diese Erscheinungen eine der größten
Herausforderungen unserer Zeit dar.
Nicht nur in den Ländern Osteuropas oder in Nahost
wütet der nationalistische und ethnische Haß, nicht nur
dort schlachten sich die Menschen gegenseitig im Namen ihrer Nationalität,
ihrer ethnischen Identität oder ihrer Religion ab. Auch in
Westeuropa und in Nordamerika werden Minoritäten diskriminiert
und verfolgt. Faschisten und Rechtsradikale haben wieder Hochkonjunktur,
werden immer selbstbewußter und gefährlicher. Es gibt
heute in der westlichen Welt keinen Staat, der nicht Rassendiskriminierung
betreibt, und zwar einen doppelten Rassismus: nach außen in
Form von wirtschaftlichem Imperialismus, nach innen durch die offene
Benachteiligung von Einwanderern und Asylsuchenden. Die akute soziale
Krise, die die Welt als Ganzes durchlebt, wird diese bedrohliche
Entwicklung noch weiter verschärfen, und so, wie die Weltherren
es nicht geschafft haben, das materielle Elend der Entwicklungsländer
zu beseitigen, werden sie auch mit dem Problem des Rassismus nicht
fertig. Sie werden es nicht bewältigen, weil sich ihr ganzes
System auf einen bewußten oder unbewußten Rassismus
stützt. Denn Rassismus bedeutet nicht nur, Nordafrikaner, Asiaten
oder Türken zu überfallen oder Asylantenheime in Brand
zu stecken, er bedeutet auch, ganze Völker kaltblütig
in Hunger und Not verkümmern zu lassen.
Das Ende der Gemütlichkeit
Nicht der schönen, neuen Weltordnung, die uns
die Mächtigen in bunten Farben ausmalen, gehen wir entgegen;
was uns vielmehr erwartet, ist ein riesiges, in solchem Ausmaß
nie dagewesenes Weltchaos. Nicht der Morgenröte eines weltgeschichtlichen
Neubeginns wohnen wir derzeit bei, sondern den letzten Atemzügen
eines untergehenden Zeitalters, Und die Weltherren sind nicht Schutzengel,
die die Menschheit retten sollen, sondern apokalyptische Reiter,
Boten der Finsternis und des Verfalls, Bankrotteure eines sich im
Konkurszustand befindenden Planeten. Mehr denn je könnten wir
mit Nietzsche sagen: "... diese Welt, in der wir leben, ist
ein Irrtum."(8)
Die westliche Zivilisation hat sich trotz ihrer imponierenden
Produktions- und Konsumziffern als ein kolossales, nicht wieder
gutzumachendes Fiasko erwiesen. Man kann eine Zeitlang Bilanzen
frisieren und falsche Buchführung betreiben, aber langfristig
wird der Betrug selbst dem naivsten Wirtschaftsprüfer auffallen.
Nicht Freiheit, nicht Gerechtigkeit, nicht Menschlichkeit und sonstige
von der Moderne verkündete Ideale haben sich durchgesetzt,
sondern ihr genaues Gegenteil. Schöner und menschenwürdiger
sollte die Welt werden, häßlicher und erbarmungsloser
ist sie geworden- Die Kriege, die Gewalt, das Elend sollten für
immer verschwinden, wurde nach dem Zweiten Weltkrieg von den Siegermächten
versichert. Längst wissen wir, daß sich dies alles nur
vermehrt hat.
Untergehende Zivilisationen und Systeme pflegen sich
von der weltgeschichtlichen Bühne mit Mord und Totschlag zu
verabschieden. Die nationalen und regionalen Kriege, die im Herzen
Europas und in anderen Erdteilen ausbrechen, die Massaker an wehrlosen
Minderheiten und die Jagd auf arme Flüchtlinge sind nur die
Vorboten eines sich anbahnenden Weltbrands. Die Supermoderne wird
zusehends zur Superkatastrophe, der Weltgeist Hegels stirbt tagtäglich
inmitten eines makabren Finales von Drogensucht, Kriminalität,
Gewalt, Korruption, Zynismus, Verelendung, Entfremdung, Rassismus,
Seuchen, ökologischem Kollaps und allgemeiner Zerstörung
- Barbarei in Gestalt von Saturiertheit und Dekadenz.
Das System scheint nicht mehr in der Lage, sich zu
regenerieren, es kann nur zugrunde gehen. Wir alle sind Schiffbrüchige
einer Zivilisation, die im Begriff ist, das Schicksal der Titanic
in kosmischem Ausmaß zu erleben, auch wenn die Steuermänner
von der Kommandobrücke aus den Passagieren einreden wollen,
sie hätten alles im Griff. Insgeheim herrscht schon die Moral
des "Rette sich, wer kann". Deshalb das Unbehagen, das
sich überall breitmacht, die Angst, die die Menschen zunehmend
ergreift.
Die Menschheit befreite sich von der Tyrannei totalitärer
Ideologien, um unter die Tyrannei einer mißbrauchten und falschen
Freiheit zu geraten. Es waltet wieder das Gesetz der Willkür
und der Unterdrückung, und was sich als Geist der Freiheit
gebärdet, ist im Grunde der Vormarsch der Konterrevolution
in Richtung auf einen neuen Faschismus. Und wie schon einmal in
den zwanziger und dreißiger Jahren überall dieselbe Feigheit,
dasselbe "appeasement", dieselbe Bereitschaft, sich der
Macht zu beugen und ihr zu dienen.
Nie wurde soviel verdrängt, soviel geschwiegen,
gelogen und betrogen. "Was ist Ungerechtigkeit?" fragte
Carlyle. Seine lapidare Antwort: "Ein anderer Name für
Unordnung."(9) Die Aussage gilt weiterhin, und deshalb ist
jedes Wort der Mächtigen über eine neue Weltordnung eine
Lüge. Wie können Politiker, die es nicht geschafft haben,
ihre hauseigenen Probleme in Ordnung zu bringen, die Unverfrorenheit
besitzen, sich als Weltlenker aufzuspielen?
Es gibt nur eine Logik, und die Logik der Ungerechtigkeit
besteht darin, Zwietracht, Mißstände, Konflikte und Kriege
zu erzeugen. Die "brave new world", die man uns vorgaukeln
will, kann nur in einer Götterdämmerung enden, denn das,
was aus dem Bösen geboren wurde, muß auch einen bösen
Ausgang nehmen. Und auch die Kumpanen von heute, die sich zu einer
Art Syndikat zusammengetan haben, um die Welt unter sich aufzuteilen
und auszubeuten, werden eines Tages wieder zu Feinden werden und
die Pistolen, die sie jetzt noch versteckt tragen, von neuem ziehen.
Deshalb rüsten sie alle weiter, trotz Freundschaftsbeteuerungen.
Man kann unter diesen Voraussetzungen Geschäfte
machen und die Menschen korrumpieren, aber nicht eine tragfähige
und sinnvolle Weltordnung herbeiführen. Die Welt ist mehr als
ein Warenlager, die Kunst des Staatswesens mehr als die Führung
eines Konzerns. Und gerade weil die heutigen Politiker nichts anderes
als Befehlsempfänger der großen Interessenverbände
und des Big Business sind, werden sie es nicht schaffen, die Probleme
der Menschheit zu bewältigen. Die Antike brachte große
Staatsmänner und Philosophen hervor, das Mittelalter fromme
Mystiker und Theologen, die Renaissance Universalmenschen, unser
Zeitalter vor allem Krämerseelen, wie schon Rousseau erkannte:
"Die antiken Politiker sprachen unentwegt von Sitten und von
Tugend, die unseren sprechen nur von Geld und Kommerz."(10)
Was sich jetzt vor unseren Augen abspielt, ist der
Bankrott der aus dem bürgerlichen Wertesystem hervorgegangenen
instrumentellen Vernunft. Der Versuch, das menschliche Dasein auf
Kommerz, Kalkül und Konsum zu reduzieren, ist weitgehend geglückt,
und die Menschheit ist hoffnungslos gescheitert, auch wenn die Höflinge
und Söldner des Systems weiterhin von gewonnenen Schlachten
berichten. Hobbes, der erste Theoretiker des bürgerlichen Staates,
hatte sich eingebildet, man könne ein Gemeinwesen auf der Grundlage
des Egoismus und des Genusses gründen und ewig aufrechterhalten.
Jetzt wissen wir, daß die friedliche und segensreiche
Ordnung, die er mit seinem Leviathan zu sichern trachtete, den Krieg
aller gegen alle entfesselt hat, den er überwinden wollte.
Nicht die Wilden haben sich als Feinde der Menschheit erwiesen,
wie Hobbes meinte, sondern die Zivilisierten, die Träger und
Gestalter des bürgerlichen Zeitalters. Der institutionalisierte
Herrschaftsprozeß, der das System organisiert hat, kann keine
Weltordnung zustande bringen, weil die Fundamente, auf die sich
diese Ordnung stützen soll, selbst der Inbegriff der Unordnung
sind. Die Sieger von heute, die hochmütig und schadenfroh den
Untergang des real existierenden Sozialismus und die Auflösung
der Sowjetunion bejubeln, ahnen kaum, daß auf sie ein ähnliches
Schicksal wartet. Auch sie werden sich eines Tages für ihre
Untaten verantworten müssen. Man kann nicht ewig die Menschen
schinden, belügen, demütigen und ihre Würde mit Füßen
treten. Irgendwann bestätigt sich immer, was Babeuf schrieb:
"Die Gerechtigkeit des Volkes vollzieht sich nur langsam und
oft zu spät, aber wenn sie sich in Bewegung setzt, ist sie
groß und überwältigend wie es selbst, handelt rasch
und erbarmungslos."(11)
Die Stunde der Wahrheit nähert sich, das Ende
des zweiten Millenniums wird auch das Ende der Gemütlichkeit
sein.
1 "Dantes Monarchie", übersetzt von Constantin Sauter,
Freiburg im Breisgau 1913, S. 116
2 Albert Einstein, "Frieden", Bern 1975,
S. 443
3 Dieter Ruloff, "Weltstaat oder Staatenwelt",
München 1988, S. 219
4 Georg Schwarzenberger, "Civitas maxima",
Tübingen 1973, S. 15
5 Vgl. Hans Morgenthau, "Politics among Nations",
New York 1948
6 Bernard Shaw, "Wegweiser für die intelligente
Frau zum Sozialismus und Kapitalismus", Frankfurt 1978, S.
131
7 Kant, "Werke", a.a.O., 11. Band, S. 213
8 Nietzsche, "Vorspiel einer Philosophie der
Zukunft", a.a.O., S. 127
9 Carlyle, a.a.O., S. 177
10 Rousseau, "Ecrits choisies", a.a.O.,
S. 14
11 Gracchus Babeuf, "Le tribun du peuple",
Paris 1969, S. 266
Aus »Das Ende der Gemütlichkeit: Eine Bilanz der Krise
unserer Zeit«. Rasch und Röhring, Hamburg 1992
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