XXIX. Jahrgang, Heft 153
Jan - Apr 2010/1
 
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Letzte Änderung:
3.4.2010

 
 

 

 
 

 

 

MEDIEN–KULTUR–SCHAU


   
 
 


Hans Peter Duerr
Tränen der Göttinnen
Die Reisen der Minoer ans Ende der Welt. Verlag Das Wunderhorn, Heidelberg 2008. 94 Seiten, 17,80 Euro

Professor Hans Peter Dürr ist als anerkannter Ethnologe und Kulturhistoriker hauptsächlich durch philosophische und religionswissenschaftliche Werke hervorgetreten, bevor er sich mit seinem erschienenen Werk „Rungholt. Die Suche nach einer versunkenen Stadt“ auf das Gebiet der Archäologie begab. Duerr dokumentierte in dem im Jahre 2005 im Insel-Verlag erschienenem Buch die Ergebnisse der von ihm seit 1992 unternommenen Ausgrabungen im nordfriesischen Wattenmeer. Seine Funde interpretierte er als Reste der 1362 bei einer Sturmflut versunkenen Handelsstadt Rungholt. Sein Ausgrabungsort liegt allerdings an einer anderen Stelle, als von Fachkreisen bisher als Standort der untergegangenen Stadt angenommen.

Duerrs Veröffentlichung zog heftige Auseinandersetzungen nach sich. Zum einen, weil er als Grabungsbefunde u. a. Tonscherben präsentierte, die der 3.300 Jahre alten minoischen Kultur auf der Mittelmeerinsel Kreta zuzuordnen sind. Duerrs von diesen Funden abgeleitete These einer Expedition minoischer Seefahrer nach Nordfriesland wird bis heute von der Fachwelt abgelehnt. Und zum anderen, weil Duerr seine archäologischen Streifzüge ins Wattenmeer ohne vorherige behördliche Genehmigung unternommen hatte - seine Grabungen waren illegal.

Wer in dem jetzt erschienen Buch „Tränen der Göttinnen“ eine Fortsetzung dieses archäologischen Krimis erwartet, wird allerdings leicht enttäuscht sein: Duerr hat lediglich am Anfang des Sammelbandes mehrere von ihm verfaßte Artikel, Streitschriften und Leserbriefe zur Kontroverse um sein vorangegangenes Buch zusammengestellt. Der Autor bekräftigt darin die von ihm vertretene These von einer minoischen Handelsexpedition in die Nordsee, setzt sich mit Vorwürfen seiner Gegner auseinander und wirft den lokalen Behörden des Landes Schleswig-Holstein „Verhinderung von Forschung“ vor.

Das Buch enthält außerdem mehrere Essays und Interviews, in denen sich Duerr zu grundlegenden Problemen der gegenwärtigen Moderne äußert: Zerfall gesellschaftlicher Bindungen und Solidarbeziehungen als Folge eines schrankenlosen Individualismus sowie drohender Ökokollaps. Diese Ausführungen sind interessant, zumal sie zu einer grundsätzlichen Abrechnung mit seiner Generation der 68er geraten, der Duerr vorwirft, anstelle der angekündigten revolutionären Umwälzung der bürgerlichen Gesellschaft einen Modernisierungsschub eben dieser Gesellschaft hervorgebracht zu haben. Mit den im Titel genannten „Reisen der Minoer“ hat dieser Teil des Buches allerdings nichts zu tun.

Gerd Bedszent


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Jannis Ritsos
Zwölf Gedichte zu Kavafis
Griechisch/Deutsch. Übertragen von Niki Eideneier. Romiosini Verlag, Köln 2009. 40 Seiten, 9,80 Euro


Zum 100. Geburtstag von Konstantinos Kavafis (29.4.1863 - 29.4.1933) hatte Jannis Ritsos (1.5.1909 - 11.11. 1990) die „12 Gedichte zu Kavafis“ in seinem Athener Hausverlag Kedros veröffentlicht. Sie sind nun, da Ritsos’ 100. Geburtstag begangen wird, erstmals bei Romiosini in Köln auf Deutsch erschienen. Den sanftmütigen Ritsos muß seinerzeit das späte Getöse um den seelenverwandten Kavafis ziemlich genervt haben. Es habe Jahre gedauert, in denen man sich um ihn stritt und von ihm abrückte, bis er als der Ewig Junge erkannt worden sei. Zum Glück habe er, der Einzigartige, ein wunderbares Maß hinterlassen, damit man sich an ihm messe. In dem Punkt nun gibt es für Ritsos kein Zaudern: „Allein wir, die würdig dieses Maß benutzen, /… des Erzengels Schwert, / wir schliffen es bereits und sind nun in der Lage, / sie der Reihe nach zu köpfen, alle.“ Die Zahl derer, die sich an Kavafis maßen, ist stattlich (und stetig im Wachsen begriffen). 1946, im Britischen Institut Athen hatte Giorgos Seferis ihn mit einer Rede gewissermaßen für sich vereinnahmt, indem er sich über dessen „Typ der Sensibilität“ erging und befand, „dass Kavafis jenseits seiner Gedichte kaum von Interesse ist“. Sind es Äußerungen dieser Art gewesen, die Ritsos so rigoros, für ihn völlig ungewohnt reagieren lassen? Ihm bedeutet Dichtung, zu sagen „der Himmel ist siebenmal blau. Diese Klarheit wiederum ist die erste Wahrheit“, - so zu lesen auf der Marmorplatte, die sein Grab in Monemvasia bedeckt. In dieser Wahrhaftigkeit des Dichtens war er eins mit Kavafis, den er dafür preist, „ein bewundernswertes Maß beibehalten zu haben, mit sauber ausgewogenen Analogien, so daß seine Dichtung tiefgründiger wurde und das Niedrige niemals niedrig, sondern aufrecht erscheint.“ Das Licht, das ihm behagte, sei das der Öllampe gewesen, die er anderer Beleuchtung vorgezogen habe. Sie lasse sich regeln je nach dem Bedarf des Augenblicks, nach der ewigen, uneingestandenen Begierde. Die Öllampe, sie symbolisiert von altersher den Phallus und ist recht oft auch als ein solcher antikisch geformt in Augenschein zu nehmen. In diesem Zusammenhang heißt es bei Marguerite Yourcenar: „Seine [Kavafis’] Redlichkeit hindert ihn daran, wie Proust ein groteskes und gefälschtes Bild seiner eigenen Neigungen zu liefern, eine Art schamhaftes Alibi in der Karikatur oder ein romantisches Alibi in einer transvestitischen Vermummung.“ Auch in dieser unbedingten Redlichkeit weiß Ritsos sich eins mit Kavafis. Allerdings bescherte ihm sein Aufrechtsein andere, äußerst brutale Zumutungen. Was Kavafis in seinen von ihm so genannten historischen Gedichten im Rückgriff aufs geschichtliche Beispiel vermeldet, nicht Siege, sondern Niederlagen, das hatte Ritsos am eigenen Leib und mit eigener Seele zu durchleiden. Sich dem Unglück stellen, wie das Kavafis etwa den Troern angesichts des drohenden Untergangs ihrer Stadt nachempfindet („Unsere Anstrengungen sind wie die der Trojaner. / Wir fassen etwas Vertrauen und fangen an, / Mutig und voller Hoffnung zu sein“), hierin sind sich die beiden wiederum gleich. Voller Hoffnung zu sein trotz aller Vergeblichkeit - das ist das Resultat der Kavafis-Lektüre auch Bertolt Brechts: „In den Tagen, als ihr Fall gewiß war - / Auf den Mauern begann schon die Totenklage / Richteten die Troer Stückchen gerade, Stückchen / In den dreifachen Holztoren, Stückchen. / Und begannen Mut zu haben und gute Hoffnung. /Auch die Troer also.“ - Diese „12 Gedichte zu Kavafis“, die nur ein schmales Bändchen abgeben, - was für ein unvergleichliches Beziehungsgeflecht tut sich mit ihnen auf!

Horst Möller


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Langston Hughes
Simpel spricht sich aus
Roman. Aus dem Amerikanischen von Evelyn Steinthaler. Milena-Verlag. 265 Seiten, 19,90 Euro


Jesse B. Semple, von allen nur Simpel genannt, ist ein schwarzer Arbeiter in Harlem kurz nach dem zweiten Weltkrieg. Sein Leben ist nicht gerade einfach zu nennen: Von seiner Frau ist er getrennt, aber noch nicht geschieden, und mit seinen beiden Freundinnen hat er viel Ärger. Aber vor allem bedrückt ihn der Rassismus, der die US-amerikanische Gesellschaft mit seinem Gift durchtränkt. Nach der Arbeit hängt Simpel am liebsten in einer Bar herum und wenn er, was öfter mal vorkommt, kein Geld für einen Drink hat, dann läßt er sich einen ausgeben. Meist macht das der Erzähler des Buches, ein Journalist, den Simpel zum Dank dafür mit Material für sein Feuilleton versorgt. Manchmal versucht der Journalist ihn auf intellektuelles Glatteis zu führen, aber Simpel ist kein Gimpel. Er weiß schlagfertig zu antworten und sein bitterer, durchdringender Witz ist immer des Erzählers Bildungswissen überlegen. Man nehme nur die Episode, in der Simpel berichtet, wie er seinen Boß, der ihn beschuldigte, ein Roter zu sein, einfach zum Schweigen bringt mit der Bemerkung, seit wann Schwarze denn rot werden können.

Langston Hughes, der Autor dieses Buches, lebte von 1902 bis 1967 und ist einer der bedeutensten afroamerikanischen Lyriker. Er brachte den Jazz in die Dichtung ein, diese unruhigen, kraftvollen, herausforderten Rhythmen, von denen viele glauben, daß sie in der Musik des vergangenen Jahrhunderts die schöpferische Intelligenz gegenüber dem anspruchslosen Schlager oder der epigonalen nachromantischen Sinfom’k verteten. So unterschiedliche künstlerische Persönlichkeiten und Strömungen wie Nicolas Guillen und der kubanische Son oder Boris Vian und die französische Jazzliteratur der fünfziger Jahre können sich auf Hughes berufen. Und selbst der Hiphop kann ihn als seinen Vorläufer ansehen.

Vor dem zweiten Weltkrieg stand Hughes an der Seite der Arbeiterbewegung und der kommunistischen Partei. Er besuchte mehrmals die Sowjetunion und schrieb darüber begeisterte Berichte. In der McCarthy-Ära hat man ihm das sehr verübelt.

Und genau in dieser Zeit setzte er sich an „Simpel spricht sich aus“, 1950 zuerst veröffentlicht als Artikelfolge in einer Wochenzeitung und daraufhin als Buch. Es ist eine in ihrer Genauigkeit und Schmucklosigkeit fast dokumentarische Erkundung des schwarzen Amerika, den Bedürfnissen der Zeitungsarbeit entsprechend unterteilt in an die 50 dialogische Szenen. Was den schwarzen Mann (noch nicht die Frau) bedrängt, kommt hier auf den Bartisch und es schwingt auch schon der Zorn mit, der wenig später in der Bürgerrechtsbewegung und in den Ghettoaufständen zutage treten wird.

Man spricht so oft und fast mit Sehnsucht von einem einfachen, arbeitenden, friedliebenden Amerika, einem Land, das anders ist, als es uns in seinen Führern und Medien entgegentritt. Es gehört zur Freiheit der Medien in unserer freiesten aller Welten, daß man so selten von ihm erfährt. Langston Hughes hat ihm eine Stimme gegeben.

Norbert Büttner


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Alexander Dorin
Srebrenica
Die Geschichte eines salonfähigen Rassismus. Kai Homilius Verlag, 256 Seiten, 19,90 Euro

Laut der offiziellen Version der Ereignisse von Srebrenica, gemeint ist die Version der damaligen Regierung unter dem bosnisch-moslemischen Präsidenten Alija Izetbegovic und seinen Unterstützern in Washington, wurden im Sommer 1995 in der Umgebung der bosnischen Kleinstadt Srebrenica bis zu 8000 moslemische Jungen und Männer von serbischen Truppen exekutiert. Das „schlimmste Massaker auf europäischem Boden seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs“ wird von den westlichen Massenmedien seitdem eisern und unaufhörlich repetiert. Als im März 1999 der von der UNO nicht mandatierte Angriffskrieg der NATO gegen Rest-Jugoslawien begann, wurde beschworen, es gelte ein „zweites Srebrenica“ im Kosovo zu verhindern.

Autoren, die seit Jahren auf stark übertriebene Opferzahlen hinweisen, werden von den Medien konsequent ignoriert. Und das, obwohl diese Autoren lediglich das Ausmaß der „nicht zu entschuldigenden serbischen Verbrechen“ in Frage stellen. Das neue Buch von Alexander Dorin legt den Schluß nahe, daß abgesehen von den unterschiedlichen Opferzahlen beide Versionen eines gemeinsam haben: Sie beruhen nicht auf fundierten und ausführlichen Recherchen. Der von den Medien fabrizierte Mythos vom Völkermord in Srebrenica läßt auch manchen sonst kritischen Geist plötzlich den Willen zum Konformismus zeigen, faule Kompromisse eingehen oder gleich ganz verstummen.

Davon unbeeindruckt hat sich Dorin nun der gewagten Aufgabe verschrieben, herauszufinden, was sich in den Tagen nach dem Fall Srebrenicas wirklich abspielte. Gewagt deshalb, weil das Hinterfragen der offiziellen Version vom Völkermord in Srebrenica heute von den meisten Medien mit der Leugnung des Holocaust gleichgesetzt wird und in einigen europäischen Ländern Gesetzentwürfe in den Schubladen liegen, es als solche zu bestrafen.

Und tatsächlich zeigt Dorins längst überfällige Untersuchung über die Vorfälle um Srebrenica, daß der „Völkermord“ nicht ohne Grund durch Abschreckungsmaßnahmen unantastbar gemacht werden sollte.

Nachdem Dorin die Vorgeschichte in der Region um Srebrenica zwischen 1992 und 1995 aufrollt und anhand von Zeugenaussagen von Pathologen und Überlebenden sowie zahlreicher Dokumenten aufzeigt, wie moslemische Streitkräfte in der Region Podrinje, in der auch Srebrenica liegt, bis Sommer 1995 mehrere tausend Serben, darunter zahlreiche Frauen, Kinder und alte Menschen, bestialisch ermordet haben - in Ostbosnien gehen etwa 190 zerstörte serbische Dörfer und fast 3300 ermordete Serben auf das Konto der Truppen des moslemischen Kriegsherren Naser Oric - widmet er sich den Geschehnissen im Juli 1995.

Zahlreiche Reisen in das Gebiet um Srebrenica, Interviews mit Pathologen, Politikern, der Bevölkerung, Journalisten und internationalen Beobachtern dienen dem Autor als Basis seiner akribischen Recherche. Von damaligen UNO-Blauhelmen erfährt er, daß die Serben die moslemischen Zivilisten nach der Einnahme der Stadt gut behandelt haben. Ein moslemischer Kommandant berichtet, daß im Gefecht nach dem Fall der Stadt, als sich Naser Orics Truppen durch serbisch kontrolliertes Gebiet in Richtung der Stadt Tuzla durchschlugen, ca. 2000 moslemische Soldaten fielen. Das entspricht in etwa der Zahl der Toten, die die Ermittler des Jugoslawientribunals in Den Haag ursprünglich finden konnten. Dem Autor vorliegenden Dokumente der moslemischen Armee beweisen, daß diese Zahl nachträglich um mehrere hundert Tote aufgestockt wurde, die bereits während Gefechten im Jahr 1993 umgekommen sind. Ein moslemischer Politiker sagt aus, daß der damalige US-Präsident Bill Clinton bereits im Jahr 1993 Izetbegovic die Variante eines „Massakers von Srebrenica“ angeboten haben. Nur dann könne die NATO zu Gunsten der moslemischen Armee eingreifen.

Immer wieder wurde in den letzten Jahren spekuliert, daß 1996/97 auf bosnischen Wählerlisten Namen von angeblich in Srebrenica ermordeten Männern stünden. Wie die Dorin zugänglich gemachten Wählerlisten nun zeigen, waren 3000 dieser angeblich vermissten moslemischen Männer zur Wahl registriert. Dorin gelangte darüber hinaus in Besitz einer Liste mit den Namen von fast 1000 gefallenen moslemischen Kämpfern, die ebenfalls den Ereignissen von Juli1995 zugeschrieben werden, obwohl sie bereits lange vor dem Fall Srebrenicas umgekommen sind.

Ausführlich untersucht wird auch der Fall des Kroaten Drazen Erdemovic, der bis heute vom Haager Tribunal als Kronzeuge und Trumpfkarte in Sachen Srebrenica präsentiert wird. Erdemovic gibt vor, als Mitglied einer bosnisch-serbischen Einheit von insgesamt 1200 moslemischen Erschiessungsopfern 100 selbst getötet zu haben. Dorins Analyse des Falls Erdemovic bestätigt eindrücklich die Widersprüche und Absurditäten, die bereits von Germinal Civikov in seinem kürzlich erschienen Buch „Der Kronzeuge“ herausgestellt wurden.

Dorin zeigt, wie sich Zeugenaussagen einiger angeblicher Überlebender der Erschiessungen von Srebrenica nicht nur gegenseitig widersprechen, sondern wie sich die Aussagen der Einzelnen ändern. Bedrückend sind vor allem auch die Analysen der Gerichtsprozesse gegen eine Reihe von Serben, die wegen der Ereignisse von Srebrenica zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden. Es wird gezeigt, wie einige der Angeklagten durch die Anwendung des sogenannten „Plea Agreements“ quasi gezwungen wurden, Mitangeklagte durch Falschaussagen zu belasten, um selbst ein milderes Urteil erwarten zu können.

Ein wahrlich spektakuläres Buch, dessen Schlußfolgerung nahe legt, daß es nicht nur keinen Beweis für angeblich von der bosnisch-serbischen Führung angeordnete Erschiessungen gibt, sondern überhaupt keine Grund zur Annahme eines serbischen Massenverbrechens. Was bleibt, sind 2000 Gefechtstote. Vielleicht wachen durch dieses Buch endlich jene „Ja-Aber“-Kriegsgegner auf, denen es offenbar nicht genügte, daß Dubrovnik nie wie behauptet in „Ruinen“ lag, es keine serbischen Vernichtungslager gab, die größte ethnische Säuberung an kroatischen Serben verübt wurde, Milosevic 1989 im Kosovo keine „Brandrede“ gehalten hat, es das „Massaker von Racak“ an unschuldigen kosovo-albanischen Zivilisten nicht gab und den Serben in Rambouillet zum zweiten Mal im Zwanzigsten Jahrhundert ein unannehmbares Ultimatum gestellt wurde, die sich aber immer noch am Strohhalm Srebrenica festhielten, um den Serben als Opfer eines imperialistischen Krieges ihre Solidarität zu verweigern.

Anna Gutenberg


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André Schinkel
Löwenpanneau
Neue Gedichte. mitteldeutscher verlag, Halle 2009. 134 Seiten. 16,– Euro

Der Saum des Erreichbaren


„Weiße Pünktchen“ heißt das Nachwort, das A.S. schrieb. Ellipse also. Das, was nicht gesagt werden muss, was die Gedichte in schwarzen Buchstaben sagen. Es ist eine kleine Poetologie. Darin sagt er nicht nur, dass er die Gedichte diesmal nicht ordnete. Keine Zyklen, sondern magische Verse sind es. Ein Gedicht ordnet sich nicht unter, keinem Prinzip, auch nicht einem anderen Gedicht.

Im Gedicht spiegelt sich die Zerrissenheit des Künstlers: Im Gedicht ist er souverän, im Leben seinen menschlichen Bedürfnissen unterworfen. Im Gedicht ist er frei, im Leben unfrei. Mir fällt Holger Benkel ein, der die Freiheit des Künstlers auch für sein Leben durchsetzt; er lebt ein Existenzminimum, um ein dichterisches Maximum zu erreichen. André Schinkel ist nicht derart extrem konsequent in der Negation des bürgerlichen Lebens. Als Redakteur der Literaturzeitschrift Sachsen-Anhalts, Ort der Augen, ist er nicht ganz frei. Da gehört er auch anderen: Den Mitgliedern des Beirats, dem Mitspracherecht des Herausgebers, den Autoren. Aber das ist eine andere Zerrissenheit. Der Spagat, der im Literaturbetrieb die einzige Kompromiss-Art ist, droht den Künstler im Literatur-Macher zu zerreißen. Härter noch spaltet sich das Leben im Dichter, wenn er sich selbst gehören will. Hier steht er mit einem Bein in der Form, mit dem anderen im Inhalt - entweder du fällst oder du läufst. Eigentlich läuft dann das Gedicht, es läuft dir weg, will selber frei sein. Man sieht: Das lässt sich nicht ordnen, das geht seinen poetischen Gang. A.S. nennt das den „Anfang des vereinzelnden Parlierens“ und er sieht: Die Gedichte werden in ihrer Vereinzelung auch genauer.

Trotzdem bricht das bürgerliche Leben ein in die Sphäre des Dichtens, es geht auch gar nicht anders, denn nur selbst erlebte Welt kann Form und Ausdruck finden in allgemein gültigen Versen. A.S. erwähnt Liebe und Vaterschaft, spricht von temporärer Erfüllung: „... die Früchte der Liebe waren eine Zeitlang ihr Katalysator zugleich.“ Dann die Gegenbewegung, der Schreibende „gierte zugleich nach dem Überallhin, zeitweise erschien es mir, der ich es nicht ausleben konnte, wie der Spiegel der Welt.“ Klar, dass er Vollkommenheit im Schreiben sucht, die im Leben nicht zu finden ist, dass also die Wahrheit des Seins wenigstens im Vers klarer wird als im gelebten Leben. Genau das war das Motiv für André Schinkel, hineinzugehen ins Leben, auch wenn „der Moment der Erkenntnis ... selten und flüchtig ist.“ Selten habe ich einen Schriftsteller offener über sich selbst erlebt wie André Schinkel, der seine Feigheit vor dem Leben sieht und bekennt und als Künstler die einzige mögliche Konsequenz zieht: Mutig zu werden, um Dichter sein zu können. Leichter gesagt: Die Kunst braucht Material. Die Kunst braucht Stoff und Nahrung, wenn das Leben im Vers gerinnen soll. Schinkel musste heraus aus seinem „Autismus“ allzu zerebralen Schreibens: „Ich, der Lebensfeigling“, sagt er, „tat einen Blick aufs Leben, nun doch, litt daran und profitierte davon und erweiterte, noch im Moment der Angst, jede Fähigkeit zu verlieren, den Saum des Erreichbaren.“

Ich finde, das zeigen die Gedichte nun auch. Sie atmen stärker als die früheren Gedichte, weil mehr Leben in sie eingeflossen ist. Die früheren Gedichte waren nicht übel und sie waren nicht nur gedankliche Abstraktionen des Lebens; vor diesem Schicksal bewahrte sie die Metaphorik, die auf das Leben hindeutete. Nun aber sagen die Verse viel mehr als Anspielung auf Erlebtes, Erlittenes, Bedachtes, Gefühltes - jetzt ist es gelebtes und gewagtes Leben. Nicht dass nun die Ängste überwunden wären, das gelingt vielleicht nur dem Gedicht als Souverän der Gedanken und Gefühle, aber Schinkels vita activa rührt den Leser mehr an, zumal der nun viel mehr wagende Dichter seine Kampfzone ausgeweitet hat, er transzendiert in andere Dimensionen, er meißelt aus der Brut seiner Gedichte einen so feinen Humor, dass ich denke, so eine Heiterkeit ist das Maß der Ausgewogenheit zwischen Form und Inhalt, also Klassik.

Die Themen der in vier Kapitel eingeteilten Gedichte (also doch noch eine Ordnung?) umfassen das ganze Leben und die Kunst. Ich würde scheitern, versuchte ich, auch nur die besten Gedichte zu würdigen. Ich beschränke mich auf eins. „Löwenpanneau“ heißt das Gedicht, das dem Buch den Namen gibt.

Sehen Sie hier: die Lefzen des schleichenden Harems,

Unwiederholbar, als hätte sie Picasso gemalt,

Sagt Gerhard Bosinski, der es wirklich gesehn hat.

Ja!, und So ist es!, denkt man, nur daß Picasso

Gelebt hat vor fünfunddreißig mal tausend Jahren

Und mit dem Pinsel das Licht führen mußte,

Um den Fels zu erkennen; mit einer Hand den auf-

Steigenden Steindom abstützend oder der Schatten

Der Geister und Bären sich zu erwehrn. Jener

Picasso, den wir in unseren Träumen betrachten,

Bei seiner mühseligen Arbeit, im flackernden Rauch

Einer kiefernen Kerze, den Schurz mit Farbe be-

Kleckert, den Mund voll ockerner Erde. Und dieses

Das heiligste Bild, in einer Galerie verlehmter

Ikonen: die Tafeln der Löwen und Mammuts, weit,

Hinter den Balustraden der Gehörnten, Geduckten, die

Schnuppernden Flotze erhoben, auf blutiger Jagd.

André Schinkel deutet Picassos Künstlertum, der mit dem Pinsel das Licht führte, und erkennt (in der Grotte Chauvet im Tal der Ardèche) „Das heiligste Bild, in einer Galerie verlehmter Ikonen: die Tafeln der Löwen und Mammuts... auf blutiger Jagd“. Tertium comparationis ist die unveränderliche Wahrheit, die schon in der Höhlenmalerei vor fünfunddreißigtausend Jahren galt: Dass das Künstlertum im Leben verankert ist, und umgekehrt, und dass es im Leben wie in der Kunst um Leben und Tod geht. Die Kunst gibt es nicht ohne das andere, die Nichtkunst, das bloße Leben, das sich in seinem Erleben seiner selbst noch nicht bewusst werden kann. Die Kunst kommt immer danach. Nach dem Erlebten. Aber sie fließt nicht nur in sich selbst. Gedichte sind keine bloße Mechanik, sondern bewirken neues Leben. So gesehen wird Kunst auch ein Davor. Sie modelliert den denkenden und fühlenden Lebenden allmählich. Die Utopie solcher Dialektik ist klar: Es ist die Hoffnung auf eine Synthese: Lebenskunst. Schinkel nennt das „Gesamtkunstwerk der Grotte Chauvet... ein Urbild für Erfüllung und Hoffnung auf Befreiung durch die Kunst.“

Das Erfühlte und Geträumte kommt zur Sprache - und so reduziert sich im Selbstgespräch des Dichters der Zweifel an einer hoffnungslos scheinenden Welt. „Was ich gewann“, sagt Schinkel, „ist die Liebe zur Klarheit: die Gedichte, glaube ich, kommen zu mir und sprechen nun mit mir.“ Und mit dem Leser.

Ich habe seit Jahren keinen derart großartigen Gedichtband eines lebenden deutschsprachigen Lyrikers gelesen. Was Durs Grünbein immer mehr verliert, gewinnt André Schinkel: Sinnlichkeit und Überraschung in der Metaphorik, Gedanklichkeit im plastischen Lebensextrakt, Klarheit, stilistische Vielfalt, eine Leichtigkeit der Form, die erreicht wird, weil die Inhalte mit ihr Schritt halten und nicht davonfliegen, in manchen Gedichten wohnt eine heitere Stimmung, Humor entfaltet sich neben dem Ernst dessen, der wirklich etwas zum Leben zu sagen hat, weil er im Leben steht, der eine Sprache hat, die im besten und mehrfachen Sinn des Wortes den Leser unterhält. Diese Gedichte erzählen, erfühlen eine Welt. Sie denken und tanzen. Sie schwingen melodisch im Takt einer natürlichen, wenn auch elaborierten, Sprache. Sie schweigen und sagen viel. Manche sind still, manche lauter, einige sind politisch und klagen leise, niemals aber larmoyant, immer steht ein Geist drüber, dem du vertraust. Alle Verse bewegen dich, wenn du genau hinhörst. Wenn du ganz tief in die Verse hinein liest, streust du den Sand ins Getriebe deines Autismus! Lies die Bilder, die genau sind, von dir!

Ulrich Bergmann


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Gabriele Dietze, Claudia Brunner, Edith Wenzel (Hrgs.)
Kritik des Okzidentalismus
Transdisziplinäre Beiträge zu (Neo-) Orientalismus und Geschlecht. transcript Verlag, Bielefeld 2009. 318 Seiten, 29,80 Euro


Unter „Okzidentalismus“ wird hier ein Diskurs abendländischer Hegemonieproduktion verstanden, der ein „orientalisiertes“ Anderes in der muslimischen Diaspora und im politischen Islamismus verkörpert sieht. „Okzidentalismuskritik“ begreift Neo-Orientalismen und antimuslimische Rassismen nicht als Folge von Migration und internationalen Konflikten, sondern als Kristallisation neuer nationaler und europäischer Identitätsbildungen, in der Gender und Sexualpolitik eine strategische Rolle spielen. Das transdisziplinäre Projekt führt Beiträge aus der Postcolonial, Queer und Critical Whiteness Theory auf historischen sowie sozial- und kulturwissenschaftlichen Feldern zusammen. Die Herausgeberinnen zum vorliegenden Band:

Herausgeberinnen und AutorInnen dieses Bandes reagieren mit dieser Publikation auf eine seit einigen Jahren zunehmende Schließung westlich-europäischer Gesellschaften, die in der synthetisierenden Konstruktion eines orientalischen Anderem ein neues, ‘okzidentales’ Selbst zu suchen und an unterschiedlichen Orten auch zu finden scheinen. Wir gehen davon aus, dass sich im Unterschied zur binarisierten Systemkonkurrenz ‘Freiheit versus Sozialismus’ des Kalten Krieges gegenwärtig eine Verschiebung und Neukonstituierung (west-)europäischer Identitäten herausbildet. Diese bedürfen nach dem Ende der bipolaren Weltordnung am Übergang vom 20. zum 21. Jahrhundert im Inneren wie im Äußeren eines neuen Gegenübers, um sich selbst in einem sich neu ordnenden Machtgefüge der internationalen Gemeinschaft wiederzuerkennen und bestehende Dominanzansprüche zu sichern oder auszubauen. Wenngleich es sich keinesfalls um ein völlig neues Phänomen handelt und sich zahlreiche historische Kontinuitäten in den hier thematisierten okzidentalistischen Praktiken zeigen lassen, spitzen sich diese Selbstvergewisserungsprozesse insbesondere seit ‘9/11’ in ihren Projektionen auf einen bedrohlichen ‘Orient’ zu. Zugleich wird gerade dieses Datum zunehmend zu einer Zäsur zwischen alter und neuer Weltordnung verfestigt, die bestehende Kontinuitäten wiederum überdeckt und in neue ideologische Horizonte einsortiert. Die multifunktional gewordene und immer wieder von neuem aufgeladene ‘Projektionsfläche Orient’ tritt in Wissenschaften, Politik, Kunst, Literatur, Film etc. wort- und bildreich als diffuses Konglomerat von unberechenbaren Schurkenstaaten, omnipräsenten TerroristInnen und anpassungsverweigernden muslimischen MigrantInnen in Erscheinung. In leidenschaftlich und nicht selten rassistisch und sexistisch geführten Debatten um die Grenzziehungen, die für die Renaissance eines neuen Verständnisses von ‘Abendländischkeit’ nötig sind, bilden sich spezifische Typologien „ganz anderer Andersheit“, die im Laufe der Zeit ein spezifisches ‘Profil’ annehmen. Ahistorisierend, essenzialisierend, kulturalisierend, bisweilen irrationalisierend und auch pathologisierend werden bestimmte Individuen, Personengruppen und Weltregionen immer wieder auf ein Bündel an ‘Eigenheiten’ im Sinne ganz anderer Andersheit festgelegt, das den ihnen zugrunde liegenden sozialen, politischen, ökonomischen und historischen Gegebenheiten nicht gerecht werden kann. Vielmehr erwächst aus diesen Prozessen des kollektivierenden ‘Othering’ eine „okzidentalistische Selbstvergewisserung“ dominanter Denk-, Sprech- und Handlungspositionen. Jene sind sich ihrer vermeintlichen Überlegenheiten, die unter anderem das Resultat eines Vermächtnisses kolonialer Expansionen sowie auch eines so definierten europäischen Einigungsprozesses samt dessen Exklusionsmechanismen sind, zunehmend unsicher geworden und investieren umso mehr in ihr Wiedererstarken. (...)

Kien Nghi Ha zur deutschen Integrationspolitik als koloniale Praxis:

Statt die Priorität auf den Abbau von strukturellen Diskriminierungsdynamiken und die nachhaltige Herstellung von gleichen Rechten zu legen, fördert die politische Rahmensetzung der rigiden Integration rassistische Praktiken. Das Stigma der Integrationsbedürftigkeit behandelt Migrierte wie Kinder oder Kranke, die auch als unmündig und unselbständig konzeptionalisiert werden. Da sie ihre wohlverstandenen Eigeninteressen nicht zu erkennen bzw. umzusetzen vermögen, sieht sich der deutsche Staat nicht nur berechtigt, sondern auch in der Pflicht, ihre gesellschaftlichen Aufgaben festzulegen. Wir befinden uns erneut in einer Situation, in der es die ‘Bürde des Weißen Mannes’ ist, den Anderen ihr ‘Glück’ in der Integration aufzuzwingen.

Aus dieser manichäischen Differenzkonstruktion wird seit dem aufklärerischen Zeitalter der europäischen ‘Entdeckungen’ und Expansionen ein Anspruch auf politische und kulturelle Überlegenheit abgeleitet. Historisch standen die gewalttätige Missionierung, Zivilisierung und (Unter-)Entwicklung des Anderen im Zentrum kolonial-pädagogischer Praktiken. Heute werden in der nach wie vor westlich dominierten Weltpolitik neo-liberale und neo-imperiale Kräfte verdächtigt, vor allem Fragen der Werterziehung (kapitalistische Wirtschaftsweise, liberale Demokratie, Frauen- und Menschenrechte, religiöse Freiheiten etc.) in den internationalen Beziehungen zu instrumentalisieren, um tiefgreifende Interventionen zu legitimieren. Auch im hiesigen Integrationsdiskurs wird erst durch die dominante Perspektive das Paradigma der Defizitkompensation erschaffen, das die demokratische und kulturelle Werterziehung des postkolonialen Anderen als vordringliches Ziel der politischen Agenda vorschreibt. Im Integrationsdiskurs werden, in unterschiedlichen Ausformungen und Abstufungen, die rassistisch und kolonialistisch aufgeladenen Stigmata des ‘Kulturkonflikts’ mittels pauschaler Unterstellungen und dichotomischer Zuordnungen als zentrales Problem westlicher Einwanderungsgesellschaften Festgeschrieben.


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Jürgen Peters & Christoph Schulze (Hrsg.)
»Autonome Nationalisten«
Die Modernisierung neonazistischer Jugendkultur. UNRAST-Verlag, Münster 2009. 72 Seiten, 7,80 Euro

Ein „schwarzer Block“, Basecaps, dunkle Kleidung und Parolen wie „Fight the System!“ - die Verwirrung ist groß, seitdem vor einigen Jahren erstmals „Autonome Nationalisten“ (AN) auf Neonazi-Aufmärschen zu beobachten waren. Es handelt sich um eine Strömung in der militanten Neonaziszene, die sich diverser Symbole, Codes und Sprachformen bedient, die bisher in der Linken verortet waren.

Was hat es nun auf sich mit den AN? Haben wir es mit verkleideten Neonazis oder mit einer neuen Form extrem rechter Jugendkultur zu tun? Ist die Herausbildung der AN gewinnbringend für die extreme Rechte oder führt sie zu weiteren Konflikten? Funktioniert der Stilwandel tatsächlich reibungslos? Stellen die „Autonomen Nationalisten“ eine neue Gefahr dar?

Was lässt sich aus der Enteignung der Form politischer Inszenierung lernen?

Die Herausgeber dazu:

Das vorliegende Buch möchte in komprimierter und verständlicher Form dem Phänomen „Autonome Nationalisten“ auf den Grund gehen.

Im ersten Kapitel nimmt Christoph Schulze den Kontext, die Geschichte und den Charakter der „Autonomen Nationalisten“ unter die Lupe. Bei den AN steht Popkultur wesentlich höher im Kurs als NS-Nostalgie. Wie und warum sind die AN entstanden, welches politische Selbstverständnis haben sie? Was macht sie attraktiv für Jugendliche?

Daniel Schlüter nimmt sich im zweiten Kapitel die inhaltlichen Perspektiven des „Autonomen Nationalismus“ vor. Hierbei stößt er bei der Suche nach einem inhaltlich geleiteten Konzept der AN auf „eine gewisse Leere“ und auf eine „Suchbewegung“. Der Riot, den die „Autonomen Nationalisten“ inszenieren, erweist sich häufig vor allem auch als Riot in den Köpfen der Beteiligten.

Jan Raabe widmet sich im dritten Kapitel den „Autonomen Nationalisten“ als jugendkulturellem Phänomen. Handelt es sich bei der Entstehung der AN um einen politisch reflektierten und strategisch ausgerichteten Prozess oder um eine jugendkulturelle Dynamik, in der „cooles“ und „modisches“ Auftreten von zentraler Bedeutung ist? Und welche Rolle spielt Hardcore für die AN und ihre Entstehung?

Die politische Ästhetik der extremen Rechten nach 1945 kennt keine eigenständige Bilder- und Formensprache. Was also tun, wenn man als AN modern und jugendkulturell zeitgemäß erscheinen möchte? David Begrich beschäftigt sich im vierten Kapitel mit der politischen Ästhetik der „Autonomen Nationalisten“ und deren An- und Enteignung von Bildern und Formen aus anderen ästhetisch-politischen Strömungen.

Bei weitem nicht alle Strömungen des Neonazismus können sich trotz inhaltlicher Übereinstimmung mit dem Auftreten der „Autonomen Nationalisten“ anfreunden. Insbesondere die NPD bemüht sich um Abgrenzung, befürchtet sie doch, dass Wählerinnen und Wähler durch die „Straßenkampf“-Ästhetik der „Autonomen Nationalisten“ abgeschreckt werden. Jürgen Peters und Tomas Sager schauen im fünften Kapitel hinter die Kulissen des Streitpunktes „Autonome Nationalisten“.

Für die beispielhafte Darstellung einer lokalen Gruppe der „Autonomen Nationalisten“ wagt Johannes Lohmann im sechsten und letzten Kapitel einen Blick in die Provinz auf die „Autonomen Nationalisten“ in Pulheim, einer Kleinstadt im Kölner Umland. Wenngleich diese Neonazigruppe aktuell nicht zuletzt wegen anstehender Strafprozesse ihren Aktivitätsgrad stark eingeschränkt hat, so wird doch deutlich, dass es sich bei den „Autonomen Nationalisten“ inzwischen nicht mehr nur um ein urbanes Phänomen handelt, das aus gewachsenen Neonazi-Strukturen entsteht.

   

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