XXIX. Jahrgang, Heft 153
Jan - Apr 2010/1
 
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Letzte Änderung:
3.4.2010

 
 

 

 
 

 

 

IMEINUNGEN-KARAWANSEREI


   
 
 


Reich und gut

Reichtum war für mich immer ein ausgesprochen positiver Begriff. Selbst in Zeiten, wo ich die Reichen mit den Bösen gleichsetzte, waren mir Reichtum und Luxus, die ich nie hatte, nicht fremd. Zumindest insgeheim, offiziell nötigte ich mir (und auch anderen) gelegentlich ML-artige Bekenntnisse ab, die schwer ideologietrunken Enthaltsamkeit propagierten. Aber das ist lange her.

Ein Lob der Armut ist so ziemlich das Letzte, was man aussprechen soll oder gar empfehlen kann. Armut kotzt wirklich an. Armut ist abzuschaffen. Ersatzlos. Die Leute sollen reich sein. Durchaus auch im Sinne von verfügen und haben. Das ist eine Bedingung, um ein gutes Leben bewerkstelligen zu können. Materielle Probleme sind, anders als andere, grundsätzlich lösbar, und sie sollten auch gelöst werden. Die Angst, unter die Räder zu kommen, oder das soziale Elend, die sind wirklich in historische Ausstellungen zu überführen.

Reichtum ist – anders als das individuelle Glück – kollektiv herstellbar. Analog zu Marx könnte man sagen: der Reichtum der freien Assoziation ist keine “ungeheure Warensammlung“, der die Ware als Elementarform zugrunde liegt, sondern der entfaltete und zugängige Einsatz und Schatz menschlicher Fähigkeiten, Tätigkeiten und Resultate. Wie diese sich konkret entwickeln und darstellen, hat Ausdruck und Folge selbstbestimmter (Ver-)Handlungen zu sein. Ökologische Verträglichkeit ist dabei eine vorausgesetzte Selbstverständlichkeit. Reichtum meint ideell wie reell Mannigfaltigkeit und Möglichkeit, meint Erlebnis und Erfahrung, meint Schönheit und Lust. Gut essen, gut trinken, gut reden, gut schlafen, gut bumsen, gut denken, gut wandern, gut wundern...

Es geht ums Gut, nicht um den Wert. Dieses Gut kennt viele, viele Facetten, es verweist nicht nur auf die Güter oder eine prinzipielle Einstellung. Gut sein heißt nicht gutmütig, duldend oder gar leidend zu sein. Im Gegenteil, nicht selten gilt es vielmehr, ausgesprochen scharf zu sein, sinnig wie sinnlich. Dumm stellen statt dumm sein, gehört ebenfalls dazu. Das alles und vieles andere ist mit inbegriffen, ansonsten wird das Gute ob seiner Rücksicht und Klugheit ranzig.

Reich ist, wer viel Zeit hat, wer viele Freunde und Freuden hat, wer vor allem sich selbst hat. Die Verlorenheit hat verloren zu gehen. Dass da etwas ist, auf das man bauen kann, auf das man sich verlassen kann, auf das man vertrauen kann. Die Ressourcen, uns solchen Reichtum zu bescheren, sind vorhanden, denken wir jene nur etwas anders als dies gemeinhin der Fall ist. Wir müssen nur zugreifen, die größte Ressource ist die menschliche Kommunikations- und Kooperationskraft, heute ist diese immense Produktivkraft schwer gestört durch das Gegeneinander der Konkurrenz. Was wir dafür zu opfern haben, sind lediglich die Fetische, denen wir heute dienen. Um die ist es allerdings nicht schade.

Franz Schandl

A - Wien


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»Mein teurer Pass«

Die unwahrscheinliche Odyssee einer somalischen Kanadierin

Siebenundachtzig Dollar darf der Staatsbürger loswerden, um sich einen kanadischen Pass mit zehnjähriger Gültigkeit ausstellen zu lassen (oder zweiundneunzig, wenn man mehr “Ahornblätter“ für all die Stempel all der Behörden aus aller Damen und Herren Länder braucht). Das ist nicht viel, soweit der Pass seine Schuldigkeit tut und bei Bedarf dem erwartungsvollen Träger Ansehen und Schutz gewährt. Es ist nicht viel, soweit man im Ausland gegebenenfalls mit der Unterstützung kanadischer Vertretungen rechnen kann, etwa mit der Unterstützung der Canadian High Commission in Nairobi.

Als die somalische Kanadierin Suaad Haji Mohamud jedoch im Mai 2009 von Kenya aus in aller Ruhe den Rückflug nach Toronto antreten wollte, meinte ein gar nicht so netter Beamter, ihr Passbild wirke unüberzeugend, ja verdächtig, und kam dann schnell auf Identitätsklau und Gefängnis zu sprechen. Denn wer ein Verbrechen begeht, wird bestraft. Gefangen, gehangen. Die keines Vergehens schuldige und deswegen durchaus zuversichtliche Trägerin eines kanadischen Passes wurde im Handumdrehen offiziell zu Freiwild erklärt. An ihren fernen Wohnort in Kanada zurück zu kehren: undenkbar.

Das Flugzeug war pünktlich, die Insassen bereits (fast) allesamt an Bord. In Toronto freute sich ein Zwölfjähriger auf die baldige Ankunft seiner Mutter, ohne zu ahnen, dass diese jenseits des großen Wassers gerade von den Exponenten einer fragwürdigen Staatsgewalt festgenommen wurde. Was ihr die ganze Sache denn wert sei, wollte der nicht so nette nairobische Beamte noch wissen, gab Mohamud später bekannt. Denn man könne sich ja immerhin diskret einigen.

Aber die eingebürgerte Kanadierin wollte die “Chance“ nicht wahrnehmen, was rausspringen zu lassen und dafür unversehrt davonzukommen. Vielmehr beteuerte sie andauernd ihre absolute Rechtschaffenheit. Mohamud baute blindlings auf ihre kanadische Staasbürgerschaft. Es ging ihr nämlich ums Prinzip. Und schmieren kam eben einmal nicht in Frage - trotz der brenzligen Lage. Sie war sozusagen schon immer wegen Nichtschmierenkönnen aufgefallen.

“Hm“, sagte der Beamte. Kein Schmiergeld, kein Rückflug. Sie müsse ins Gefängnis. Denn wer nicht gibt, darf nicht nach Hause gehen. Keine Ausflüchte. Mohamud sagte auch: “Hm“. Da sie in der Tat anders aussah als ihr Lichtbild, folgerte die auf ihr Ersuchen eingeschaltete Canadian High Commission in Nairobi prompt, es handle sich offensichtlich um eine Betrügerin. Keine Spur Toronto-look. Keine Rechtschaffenheit im Blick. Äußerst verdächtig. Die Justiz in Nairobi möge ihr immer nur ruhig auf die Schliche kommen.

Die rechtliche Frage am Beispiel Mohamuds: Wo ist man Kanadier? Wo darf man’s sein? Die Antwort der hohen Kommission: nur nicht in Nairobi. Führerschein, weitere kanadische Ausweise und die vom fassungslosen Opfer amtlicher Willkür angebotenen Fingerabdrücke wurden aus irgendwelchen Gründen von den überheblichen Entscheidungsfaktoren an Ort und Stelle wie zu Hause in Kanada erstaunlicherweise zunächst keineswegs berücksichtigt. Mohamud bestand jedoch auf einen DNA-Test, der dann nach langem Hin und Her schließlich auch durchgeführt wurde, da ihr Rechtsanwalt in Kanada Druck auf die kanadischen Behörden ausübte. Achthundert Dollar von staatlicher Seite kostete der Spaß. Und sieh einer an! Sie war, die sie war – mit an 99.99% grenzender Wahrscheinlichkeit. Anders gesagt: Die verpönte Somalierin durfte wieder eine anständige Kanadierin sein.

Kurz und bündig? Beinahe drei Monate in Kenya festgenagelt, weil ihr kanadischer Pass im Ausland offensichtlich wertlos war: Dafür wolle die vom Vater Staat fallen gelassene somalische Kanadierin die Regierung in Ottawa verklagen, hieß es dann Ende August. Um zweieinhalb Millionen Dollar.

“Ihr Pass ist ein verflucht teurer Pass“, könnte Kanadas Premierminister Stephen Harper sagen – um es auf etwas unwirsch Amtliches ankommen zu lassen - und sich dabei von einem Bein aufs andere wiegen. Doch er lässt davon ab und lenkt ein. Ermitteln lassen will er die ganze Sache. Ja, jetzt, erst jetzt, lenkt er ein. Denn man könne sich ja immerhin diskret einigen. Die Klägerin will es freilich keineswegs etwa aufs Geld abgesehen haben, sondern es gehe ihr eben vielmehr wieder mal ums Prinzip. Also dann eben vor Gericht.

Zweieinhalb Millionen wegen eines unpässlichen Passbilds? Dass so eine Klage verrückt sei, meinte gar mancher waschechter, “patriotischer“ Kanadier – sei es nun ganz laut oder eben lieber leise. Der Fall Mohamud entfachte nämlich aufs Neue die andauernde, wenig erbauliche Diskussion rund um Ottawas skandalöse Aufopferung seiner Bürger in Not, besonders wenn diese an und für sich ja strenggenommen gar nicht so kanadisch aussehen.

Wäre der Mensch Anno 2009 endlich in der Tat das Maß aller Dinge, so hätte allerdings – in Ottawa wie in Naiorbi – das unbarmherzige Mühlrad der Bürokratie sein wohlfeiles Opfer überhaupt erst nicht ins Bild zwingen wollen, das sich der Durschnittsbeamte weltweit nach wie vor gerne vom Durchschnittsbürger macht: “Wird sich schon fügen müssen.“ Die Gerichte wären nicht genötigt worden, jetzt mitzumischen, um Anstand und Würde zu quantifizieren. Kanada würde nicht in den Schlagzeilen stehen. Wir hätten unseren guten Namen bewahrt. Wir hätten viel Geld gespart.

Pass beschlagnahmt und für null und nichtig erklärt, Trägerin hinter Schloss und Riegel, bestechlichen Beamten im Ausland der Rücken gestärkt: das bestmögliche Rezept, sich eine Blöße zu geben. What’s next? Der kanadischen Vertretung in Kenya dürfte es künftig wohl mehr ausmachen, wenn die Öffentlichkeit dergleiche Haltungen nicht hinnimmt. Liliane Khadour, First Secretary of the Canadian High Commission, die ihrer vollkommen unschuldigen Mitbürgerin mit ihren vollkommen unzeitgemäßen Prinzipien im Mai ohne viele Gewissensbisse den Rücken kehrte, musste Ende August zurück nach Kanada. “Aber nicht wegen ihrer Rolle im Fall Mohamud“, so das Kanadische Auswärtige Amt. Damage control. Was die Welt davon hält? Dieser Pass ist ein wahnsinnig teurer Pass geworden, einer der teuersten Pässe, die man sich denken kann.

Vasile V. Poenaru

Kanada – Toronto


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Über den Intellektuellen

Neuerdings zählt man sich zu den Intellektuellen sobald man ein bloßes Allgemeinwissen überschreitendes Verständnis von den komplizierten Verhältnissen dieser Welt und den verhältnismäßig nicht weniger komplexen Zuständen der eigenen Gesellschaft besitzt. Es spielt kaum bis gar keine Rolle, ob man über Charakter und Persönlichkeit verfügt oder über Courage und Mut, es ist überhaupt nicht die Aufgabe des Intellektuellen hierzulande, engagiert gegen die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu protestieren oder gegen die Ungleichheiten in der eigenen Gesellschaft. Was zählt, ist die Kunstfertigkeit, belesen zu sein oder aber wenigstens belesen zu wirken und sich zur geistigen Elite einer an wahrhaft geistiger Spitze ermangelnden Gesellschaft zu zählen. Wer sich aber einmal zur geistig-ungeistigen Elite zählen darf, wer einmal die Privilegien dieser Spitze in Anspruch genommen hat, der vergisst die Mühe und Mühsal, die er auf sich genommen hat, um überhaupt einmal diesen Gipfel betreten zu dürfen. Der Gipfel aber wäre nicht Gipfel, würde er nicht seiner Natur nach wenig Platz bieten -- auf der Spitze ist das Gedränge groß und die Gefahr des Absturzes größer. Also umarmen sich die Gipfelbeherrscher mit aller Macht, nicht weil sie sich ihrer Natur nach gern hätten, sie wissen, dass dort unten im Tal eine unüberschaubare Masse den Aufstieg plant. Also solidarisieren sich die Gipfelbeherrscher der äußeren Notwendigkeit zuliebe und treten mit aller Macht gegen die anstürmenden Gipfelgänger, denn sie wissen, der Platz auf dem Gipfel ist gering. Meinungen und Überzeugungen werden hier oben der wechselhaften Wetterlage angepasst, was zählen hier die Werte und Normen, die man noch am Fuss des Berges vertrat? Was zählt hier die Menschlichkeit, wenn die Elite auf dem Gipfel entscheidet, was menschlich ist und was nicht? Opportunismus ist eine Sache der äußeren Umstände, die inneren Umstände hier oben ändern sich stündlich! _Was aber ist Charakter? Charakter soll hier heißen, von seinen eigenen Bedürfnissen absehend, die grundlegenden Bedürfnisse der Schwächeren einzufordern. Was aber ist Persönlichkeit? Persönlichkeit soll hier heißen, seine Meinung, welche durchaus einer Überzeugung nahe kommen darf, soll und muss, grundsätzlich geltend zu machen, denn keine Meinung überwiegt oder unterliegt einer anderen, solange keine Argumente für sie oder gegen sie sprechen und die meisten Argumente sind Werke der Phantasie und nicht der Vernunft und des Verstandes. Was aber ist Courage? Courage soll hier heißen, die eigene Meinung und Überzeugung tatsächlich durch Handlungen geltend zu machen, denn unausgesprochene Meinungen gelten in einer Welt stündlich wechselnder Ansichten nicht. Was aber ist Mut? Mut soll hier heißen, für seine Überzeugung Entbehrungen in Kauf nehmen, denn wer die unsichtbaren Fesseln seiner Abhängigkeiten nicht erkennen will und entbehren kann, der findet sich in einer äußeren Freiheit wieder, die einem inneren Kerker gleicht.

Über den Fremden

Der Fremde ist immer derjenige, der mir befremdlich erscheint, weil er anders aussieht, einem anderen Gott huldigt oder eine andere Sprache spricht, die ich nicht verstehen kann, kurzum, der Fremde denkt, glaubt, spricht oder erscheint mir ganz anders, als ich mich selbst wahrnehme. Das Unverständnis ist hier das entscheidende Kriterium, denn was ich nicht verstehen kann, das ängstigt mich und wovor ich Angst habe, das vermeide oder bekämpfe ich, anders gesprochen, ich grenze den Fremden aus oder vertreibe ihn, jegliches aggressive Ausgrenzen und Anfeinden wurzelt in meiner Angst vor dem Fremden. Ich fürchte mich vor dem Fremden aufgrund seiner Fremdheit, er erscheint mir nicht als Mensch befremdlich, denn auch er ist ein Mensch wie du und ich, nur unterliegt sein Selbst- und Seinsverständnis einer anderen, mir fremd erscheinenden Existenzweise, die nicht der meinen entspricht. Wäre sie gleich oder ähnlich, so würde sie mir sympathisch erscheinen, ich würde mich dem Fremden allmählich öffnen, der Umfang meiner Toleranz ist beschränkt. Gerne schreibe ich dem Fremden Eigenschaften zu, die ich mir selbst nie zuschreiben würde, negative Zuschreibungen finden sich in meinen Vorurteilen wieder, sie helfen mir insbesondere in Krisenzeiten, ein positives Selbstbild zu bewahren. Und doch übt der Fremde eine ungeheure Suggestivkraft auf mich aus, er verkörpert das gänzlich Andere, das Exotische, jene alternative Existenzweise, die mich unheimlich reizt und zugleich unvermindert abstößt, in meinem ambivalenten Verhältnis dem Fremden gegenüber liegt das Potential jeglicher Form von Erkundung aber auch Eroberung und Vernichtung - Kolonialismus und Tourismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.

Über die Krankheit

Krankheiten sind unwillkommene Gäste, immerzu kommen sie ungelegen, immerzu erscheinen sie unpassend, sie wissen, keinem Menschen sind sie herzlich willkommen, allein aus diesem Grunde erscheinen sie grundsätzlich unangekündigt. Überraschend an einer schweren Krankheit ist jedoch nicht ihr plötzliches Erscheinen. Sie hat ihre Erscheinung schon Wochen, Monate, mitunter schon vor Jahren angekündigt. Mag sein, dass man ihre Ankündigung übersehen hat, mag sein, dass man ihre Annäherung unterschlagen hat, eine schwere Krankheit aber schert das nicht. Überraschend an einer schweren Krankheit ist, dass sie von sich aus nicht mehr gehen will. Es ist dann nicht von ungefähr so, als richtete sie sich im Organismus ein für alle Mal ein, als bereitete sie sich hier auf eine lange Hungerperiode vor, als verlangte sie vom Körper all jenen unermesslichen Tribut, der ihrer destruktiven Herrlichkeit und Herrschsucht angemessen erscheint. Eine schwere Krankheit weiß, dass sie nur selten zum Zuge kommt, hat sie sich aber einmal spürbare Geltung verschafft, hat sie es erst einmal erreicht, sich des erschöpften Körpers zu bemächtigen, so verlangt sie unerbittliche Wiedergutmachung und Vergeltung für all die Tage, Wochen, Monate und Jahre, in denen der Körper unbeschadet existierte. Nun aber, da die Krankheit die Gesundheit unerbittlich aus dem Körper vertrieben hat und unumschränkt über den Körper des Erkrankten herrscht, übt sie mit aller Macht ihre ganze zerstörerische Gewalt aus, martert den Körper mit Schweißausbrüchen, foltert ihn mit Schüttelfrost und angeschwollenen Augen, ermächtigt sich des völlig erschöpften Geistes, ruft Trugbilder und Halluzinationen hervor, löst wirre Träume und Wahnbilder aus und entzieht dem Körper all jene Kraft und Stärke, die er unbedingt zum Überleben braucht. Eine schwere Krankheit ist ein äußerst hungriger Gast, gefräßig frisst sie sich satt am Leibe des Sterbenskranken und trinkt seine letzten heilsamen Körpersäfte aus, sich labend entzieht sie seinem Geist endgültig das Bewusstsein, die letzte Hoffnung und die allerletzte Zuversicht und verlässt den völlig ausgezehrten Körper, sobald sich kein Leben mehr in ihm regt.

Über Vertrauen und Missvertrauen

I
Vertrauen auf etwas oder auf jemanden, auf einer Institution oder auf einem Menschen, setzt die Zuversicht voraus, in einer spezifischen Erwartung nicht enttäuscht zu werden. Eine spezifische Erwartung kann bedeuten, dass jene Information, die ich einem Menschen anvertraue, diskret behandelt wird. Ich erwarte also Diskretion und Verschwiegenheit, ich erwarte eine Geheimhaltung, mit anderen Worten, ich gehe in meiner Erwartung immer davon aus, dass mein Vertrauen nicht gebrochen und die Information, die ich jemanden anvertraut habe, nicht gegen mich verwendet wird. So erscheint mir eine Person nur dann als vertrauenswürdig, wenn sie in der Tat die Handlung, die sie mir verspricht, auch einhält, kurzum, ein Versprechen, welches wortwörtlich eingehalten wird, ruft Vertrauen in mir hervor. “Jemanden sein Wort geben!”, bedeutet nichts anderes, als den Worten Taten folgen zu lassen - nur in der versprochenen Tat oder Handlung erscheint das vorangegangene Wort nachträglich auch als vertrauenswürdig. “Ich gebe dir mein Wort!”, heißt nichts anderes, als die Aufrichtigkeit oder Authentizität eines Menschen anhand seiner gegebenen Worte zu messen und zu bewerten. Erst wenn das gegebene Wort und die vollzogene Tat nacheinander in einem nachvollziehbar kausalen Einklang stehen, nachdem also das gegebene Versprechen in der vollzogenen Tat vollends erfüllt wurde, kann auch Vertrauen entstehen. Vertrauen entsteht folglich immer nur nach einer Tat, ein Versprechen allein stellt nur die halbe Miete eines Vertrauensbeweises dar, allein durch die Tat erfülle ich mein Versprechen und erweise mich selbst dem Vertrauenden gegenüber als vertrauenswürdig. Misstrauen aber entstammt aus dem Bruch, der zwischen der versprochenen und nicht erfolgten Handlung und den Worten, die dieser nicht vollzogenen Handlung viel versprechend vorausgingen, entstanden ist. Misstrauen ist folglich die emotionale Konsequenz, die aus einem Vertrauensbruch unmittelbar hervortritt. Jegliches Vertrauen basiert auf der Zuversicht oder dem Glauben an eine Institution oder an einen Menschen, Misstrauen aber entspringt immer aus einer Enttäuschung durch eine Institution oder durch einen Menschen, die ihr Wort, folglich ihr Versprechen, inkonsequenterweise nicht aufrecht hielten.

II
Vertrauen ist das Fundament jeglicher Form zwischenmenschlicher Beziehungen. Ob interpersonal oder zwischen Mensch und Institution, ohne Vertrauen kann keine Beziehung aufrecht - dass heißt authentisch und ohne Misstrauen, - erhalten werden. Vertrauen setzt immer ein Mindestmaß an Zuversicht voraus, eine Minimalzuversicht in eine Person oder in eine Institution, die es mir ermöglicht, in meiner Erwartung von einer gewissen Person oder von einer bestimmten Institution nicht enttäuscht zu werden. Vertrauenswürdig erscheinen mir nur solche Personen oder Institutionen, die ihrem Wort treu bleiben oder ihrem Regelwerk und ihren Prinzipien die Treue halten. Die Erwartung, dass einem einmal gegebenen Wort (mit anderen Worten einer mündlichen Vereinbarung - einem Versprechen) oder einer institutionellen Zusicherung (mit anderen Worten einem schriftlichen Vertrag – einer Versicherung) auch eine adäquate Handlung folgt, setzt mein Vertrauen in diese Personen und Institutionen voraus. Jede voraussagbare Handlung, die nach einem Versprechen oder einer Versicherung auch tatsächlich in Erfüllung geht, bestätigt mein Vertrauen, verstärkt es nachträglich und schenkt mir das Gefühl von Sicherheit. Institutionen, die nach ihrem eigenen Reglement funktionieren, wecken und verstärken mein Vertrauen zu eben diesen Institutionen, folglich in ihr Regelwerk. Ich kann und darf davon ausgehen, dass diese Institutionen nach einmal festgelegten Regeln so – und nur so - und nicht anders funktionieren. Alles Misstrauen entsteht aus der emotionalen Erschütterung meiner zuversichtlichen Erwartung in eine Person oder in eine Institution oder aber ich besaß von vornherein kein Vertrauen, da mich vertrauenshemmende Vorurteile prägen.


Bülent Kacan

Bielefeld

   

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