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Reich und gut
Reichtum war für mich immer ein ausgesprochen
positiver Begriff. Selbst in Zeiten, wo ich die Reichen mit den
Bösen gleichsetzte, waren mir Reichtum und Luxus, die ich nie
hatte, nicht fremd. Zumindest insgeheim, offiziell nötigte
ich mir (und auch anderen) gelegentlich ML-artige Bekenntnisse ab,
die schwer ideologietrunken Enthaltsamkeit propagierten. Aber das
ist lange her.
Ein Lob der Armut ist so ziemlich das Letzte, was
man aussprechen soll oder gar empfehlen kann. Armut kotzt wirklich
an. Armut ist abzuschaffen. Ersatzlos. Die Leute sollen reich sein.
Durchaus auch im Sinne von verfügen und haben. Das ist eine
Bedingung, um ein gutes Leben bewerkstelligen zu können. Materielle
Probleme sind, anders als andere, grundsätzlich lösbar,
und sie sollten auch gelöst werden. Die Angst, unter die Räder
zu kommen, oder das soziale Elend, die sind wirklich in historische
Ausstellungen zu überführen.
Reichtum ist – anders als das individuelle Glück
– kollektiv herstellbar. Analog zu Marx könnte man sagen:
der Reichtum der freien Assoziation ist keine “ungeheure Warensammlung“,
der die Ware als Elementarform zugrunde liegt, sondern der entfaltete
und zugängige Einsatz und Schatz menschlicher Fähigkeiten,
Tätigkeiten und Resultate. Wie diese sich konkret entwickeln
und darstellen, hat Ausdruck und Folge selbstbestimmter (Ver-)Handlungen
zu sein. Ökologische Verträglichkeit ist dabei eine vorausgesetzte
Selbstverständlichkeit. Reichtum meint ideell wie reell Mannigfaltigkeit
und Möglichkeit, meint Erlebnis und Erfahrung, meint Schönheit
und Lust. Gut essen, gut trinken, gut reden, gut schlafen, gut bumsen,
gut denken, gut wandern, gut wundern...
Es geht ums Gut, nicht um den Wert. Dieses Gut kennt
viele, viele Facetten, es verweist nicht nur auf die Güter
oder eine prinzipielle Einstellung. Gut sein heißt nicht gutmütig,
duldend oder gar leidend zu sein. Im Gegenteil, nicht selten gilt
es vielmehr, ausgesprochen scharf zu sein, sinnig wie sinnlich.
Dumm stellen statt dumm sein, gehört ebenfalls dazu. Das alles
und vieles andere ist mit inbegriffen, ansonsten wird das Gute ob
seiner Rücksicht und Klugheit ranzig.
Reich ist, wer viel Zeit hat, wer viele Freunde und
Freuden hat, wer vor allem sich selbst hat. Die Verlorenheit hat
verloren zu gehen. Dass da etwas ist, auf das man bauen kann, auf
das man sich verlassen kann, auf das man vertrauen kann. Die Ressourcen,
uns solchen Reichtum zu bescheren, sind vorhanden, denken wir jene
nur etwas anders als dies gemeinhin der Fall ist. Wir müssen
nur zugreifen, die größte Ressource ist die menschliche
Kommunikations- und Kooperationskraft, heute ist diese immense Produktivkraft
schwer gestört durch das Gegeneinander der Konkurrenz. Was
wir dafür zu opfern haben, sind lediglich die Fetische, denen
wir heute dienen. Um die ist es allerdings nicht schade.
Franz Schandl
A - Wien
***
»Mein teurer Pass«
Die unwahrscheinliche Odyssee einer somalischen Kanadierin
Siebenundachtzig Dollar darf der Staatsbürger
loswerden, um sich einen kanadischen Pass mit zehnjähriger
Gültigkeit ausstellen zu lassen (oder zweiundneunzig, wenn
man mehr “Ahornblätter“ für all die Stempel
all der Behörden aus aller Damen und Herren Länder braucht).
Das ist nicht viel, soweit der Pass seine Schuldigkeit tut und bei
Bedarf dem erwartungsvollen Träger Ansehen und Schutz gewährt.
Es ist nicht viel, soweit man im Ausland gegebenenfalls mit der
Unterstützung kanadischer Vertretungen rechnen kann, etwa mit
der Unterstützung der Canadian High Commission in Nairobi.
Als die somalische Kanadierin Suaad Haji Mohamud jedoch
im Mai 2009 von Kenya aus in aller Ruhe den Rückflug nach Toronto
antreten wollte, meinte ein gar nicht so netter Beamter, ihr Passbild
wirke unüberzeugend, ja verdächtig, und kam dann schnell
auf Identitätsklau und Gefängnis zu sprechen. Denn wer
ein Verbrechen begeht, wird bestraft. Gefangen, gehangen. Die keines
Vergehens schuldige und deswegen durchaus zuversichtliche Trägerin
eines kanadischen Passes wurde im Handumdrehen offiziell zu Freiwild
erklärt. An ihren fernen Wohnort in Kanada zurück zu kehren:
undenkbar.
Das Flugzeug war pünktlich, die Insassen bereits
(fast) allesamt an Bord. In Toronto freute sich ein Zwölfjähriger
auf die baldige Ankunft seiner Mutter, ohne zu ahnen, dass diese
jenseits des großen Wassers gerade von den Exponenten einer
fragwürdigen Staatsgewalt festgenommen wurde. Was ihr die ganze
Sache denn wert sei, wollte der nicht so nette nairobische Beamte
noch wissen, gab Mohamud später bekannt. Denn man könne
sich ja immerhin diskret einigen.
Aber die eingebürgerte Kanadierin wollte die
“Chance“ nicht wahrnehmen, was rausspringen zu lassen
und dafür unversehrt davonzukommen. Vielmehr beteuerte sie
andauernd ihre absolute Rechtschaffenheit. Mohamud baute blindlings
auf ihre kanadische Staasbürgerschaft. Es ging ihr nämlich
ums Prinzip. Und schmieren kam eben einmal nicht in Frage - trotz
der brenzligen Lage. Sie war sozusagen schon immer wegen Nichtschmierenkönnen
aufgefallen.
“Hm“, sagte der Beamte. Kein Schmiergeld,
kein Rückflug. Sie müsse ins Gefängnis. Denn wer
nicht gibt, darf nicht nach Hause gehen. Keine Ausflüchte.
Mohamud sagte auch: “Hm“. Da sie in der Tat anders aussah
als ihr Lichtbild, folgerte die auf ihr Ersuchen eingeschaltete
Canadian High Commission in Nairobi prompt, es handle sich offensichtlich
um eine Betrügerin. Keine Spur Toronto-look. Keine Rechtschaffenheit
im Blick. Äußerst verdächtig. Die Justiz in Nairobi
möge ihr immer nur ruhig auf die Schliche kommen.
Die rechtliche Frage am Beispiel Mohamuds: Wo ist
man Kanadier? Wo darf man’s sein? Die Antwort der hohen Kommission:
nur nicht in Nairobi. Führerschein, weitere kanadische Ausweise
und die vom fassungslosen Opfer amtlicher Willkür angebotenen
Fingerabdrücke wurden aus irgendwelchen Gründen von den
überheblichen Entscheidungsfaktoren an Ort und Stelle wie zu
Hause in Kanada erstaunlicherweise zunächst keineswegs berücksichtigt.
Mohamud bestand jedoch auf einen DNA-Test, der dann nach langem
Hin und Her schließlich auch durchgeführt wurde, da ihr
Rechtsanwalt in Kanada Druck auf die kanadischen Behörden ausübte.
Achthundert Dollar von staatlicher Seite kostete der Spaß.
Und sieh einer an! Sie war, die sie war – mit an 99.99% grenzender
Wahrscheinlichkeit. Anders gesagt: Die verpönte Somalierin
durfte wieder eine anständige Kanadierin sein.
Kurz und bündig? Beinahe drei Monate in Kenya
festgenagelt, weil ihr kanadischer Pass im Ausland offensichtlich
wertlos war: Dafür wolle die vom Vater Staat fallen gelassene
somalische Kanadierin die Regierung in Ottawa verklagen, hieß
es dann Ende August. Um zweieinhalb Millionen Dollar.
“Ihr Pass ist ein verflucht teurer Pass“,
könnte Kanadas Premierminister Stephen Harper sagen –
um es auf etwas unwirsch Amtliches ankommen zu lassen - und sich
dabei von einem Bein aufs andere wiegen. Doch er lässt davon
ab und lenkt ein. Ermitteln lassen will er die ganze Sache. Ja,
jetzt, erst jetzt, lenkt er ein. Denn man könne sich ja immerhin
diskret einigen. Die Klägerin will es freilich keineswegs etwa
aufs Geld abgesehen haben, sondern es gehe ihr eben vielmehr wieder
mal ums Prinzip. Also dann eben vor Gericht.
Zweieinhalb Millionen wegen eines unpässlichen
Passbilds? Dass so eine Klage verrückt sei, meinte gar mancher
waschechter, “patriotischer“ Kanadier – sei es
nun ganz laut oder eben lieber leise. Der Fall Mohamud entfachte
nämlich aufs Neue die andauernde, wenig erbauliche Diskussion
rund um Ottawas skandalöse Aufopferung seiner Bürger in
Not, besonders wenn diese an und für sich ja strenggenommen
gar nicht so kanadisch aussehen.
Wäre der Mensch Anno 2009 endlich in der Tat
das Maß aller Dinge, so hätte allerdings – in Ottawa
wie in Naiorbi – das unbarmherzige Mühlrad der Bürokratie
sein wohlfeiles Opfer überhaupt erst nicht ins Bild zwingen
wollen, das sich der Durschnittsbeamte weltweit nach wie vor gerne
vom Durchschnittsbürger macht: “Wird sich schon fügen
müssen.“ Die Gerichte wären nicht genötigt
worden, jetzt mitzumischen, um Anstand und Würde zu quantifizieren.
Kanada würde nicht in den Schlagzeilen stehen. Wir hätten
unseren guten Namen bewahrt. Wir hätten viel Geld gespart.
Pass beschlagnahmt und für null und nichtig erklärt,
Trägerin hinter Schloss und Riegel, bestechlichen Beamten im
Ausland der Rücken gestärkt: das bestmögliche Rezept,
sich eine Blöße zu geben. What’s next? Der kanadischen
Vertretung in Kenya dürfte es künftig wohl mehr ausmachen,
wenn die Öffentlichkeit dergleiche Haltungen nicht hinnimmt.
Liliane Khadour, First Secretary of the Canadian High Commission,
die ihrer vollkommen unschuldigen Mitbürgerin mit ihren vollkommen
unzeitgemäßen Prinzipien im Mai ohne viele Gewissensbisse
den Rücken kehrte, musste Ende August zurück nach Kanada.
“Aber nicht wegen ihrer Rolle im Fall Mohamud“, so das
Kanadische Auswärtige Amt. Damage control. Was die Welt davon
hält? Dieser Pass ist ein wahnsinnig teurer Pass geworden,
einer der teuersten Pässe, die man sich denken kann.
Vasile V. Poenaru
Kanada – Toronto
***
Über den Intellektuellen
Neuerdings zählt man sich zu den Intellektuellen
sobald man ein bloßes Allgemeinwissen überschreitendes
Verständnis von den komplizierten Verhältnissen dieser
Welt und den verhältnismäßig nicht weniger komplexen
Zuständen der eigenen Gesellschaft besitzt. Es spielt kaum
bis gar keine Rolle, ob man über Charakter und Persönlichkeit
verfügt oder über Courage und Mut, es ist überhaupt
nicht die Aufgabe des Intellektuellen hierzulande, engagiert gegen
die Ungerechtigkeiten dieser Welt zu protestieren oder gegen die
Ungleichheiten in der eigenen Gesellschaft. Was zählt, ist
die Kunstfertigkeit, belesen zu sein oder aber wenigstens belesen
zu wirken und sich zur geistigen Elite einer an wahrhaft geistiger
Spitze ermangelnden Gesellschaft zu zählen. Wer sich aber einmal
zur geistig-ungeistigen Elite zählen darf, wer einmal die Privilegien
dieser Spitze in Anspruch genommen hat, der vergisst die Mühe
und Mühsal, die er auf sich genommen hat, um überhaupt
einmal diesen Gipfel betreten zu dürfen. Der Gipfel aber wäre
nicht Gipfel, würde er nicht seiner Natur nach wenig Platz
bieten -- auf der Spitze ist das Gedränge groß und die
Gefahr des Absturzes größer. Also umarmen sich die Gipfelbeherrscher
mit aller Macht, nicht weil sie sich ihrer Natur nach gern hätten,
sie wissen, dass dort unten im Tal eine unüberschaubare Masse
den Aufstieg plant. Also solidarisieren sich die Gipfelbeherrscher
der äußeren Notwendigkeit zuliebe und treten mit aller
Macht gegen die anstürmenden Gipfelgänger, denn sie wissen,
der Platz auf dem Gipfel ist gering. Meinungen und Überzeugungen
werden hier oben der wechselhaften Wetterlage angepasst, was zählen
hier die Werte und Normen, die man noch am Fuss des Berges vertrat?
Was zählt hier die Menschlichkeit, wenn die Elite auf dem Gipfel
entscheidet, was menschlich ist und was nicht? Opportunismus ist
eine Sache der äußeren Umstände, die inneren Umstände
hier oben ändern sich stündlich! _Was aber ist Charakter?
Charakter soll hier heißen, von seinen eigenen Bedürfnissen
absehend, die grundlegenden Bedürfnisse der Schwächeren
einzufordern. Was aber ist Persönlichkeit? Persönlichkeit
soll hier heißen, seine Meinung, welche durchaus einer Überzeugung
nahe kommen darf, soll und muss, grundsätzlich geltend zu machen,
denn keine Meinung überwiegt oder unterliegt einer anderen,
solange keine Argumente für sie oder gegen sie sprechen und
die meisten Argumente sind Werke der Phantasie und nicht der Vernunft
und des Verstandes. Was aber ist Courage? Courage soll hier heißen,
die eigene Meinung und Überzeugung tatsächlich durch Handlungen
geltend zu machen, denn unausgesprochene Meinungen gelten in einer
Welt stündlich wechselnder Ansichten nicht. Was aber ist Mut?
Mut soll hier heißen, für seine Überzeugung Entbehrungen
in Kauf nehmen, denn wer die unsichtbaren Fesseln seiner Abhängigkeiten
nicht erkennen will und entbehren kann, der findet sich in einer
äußeren Freiheit wieder, die einem inneren Kerker gleicht.
Über den Fremden
Der Fremde ist immer derjenige, der mir befremdlich
erscheint, weil er anders aussieht, einem anderen Gott huldigt oder
eine andere Sprache spricht, die ich nicht verstehen kann, kurzum,
der Fremde denkt, glaubt, spricht oder erscheint mir ganz anders,
als ich mich selbst wahrnehme. Das Unverständnis ist hier das
entscheidende Kriterium, denn was ich nicht verstehen kann, das
ängstigt mich und wovor ich Angst habe, das vermeide oder bekämpfe
ich, anders gesprochen, ich grenze den Fremden aus oder vertreibe
ihn, jegliches aggressive Ausgrenzen und Anfeinden wurzelt in meiner
Angst vor dem Fremden. Ich fürchte mich vor dem Fremden aufgrund
seiner Fremdheit, er erscheint mir nicht als Mensch befremdlich,
denn auch er ist ein Mensch wie du und ich, nur unterliegt sein
Selbst- und Seinsverständnis einer anderen, mir fremd erscheinenden
Existenzweise, die nicht der meinen entspricht. Wäre sie gleich
oder ähnlich, so würde sie mir sympathisch erscheinen,
ich würde mich dem Fremden allmählich öffnen, der
Umfang meiner Toleranz ist beschränkt. Gerne schreibe ich dem
Fremden Eigenschaften zu, die ich mir selbst nie zuschreiben würde,
negative Zuschreibungen finden sich in meinen Vorurteilen wieder,
sie helfen mir insbesondere in Krisenzeiten, ein positives Selbstbild
zu bewahren. Und doch übt der Fremde eine ungeheure Suggestivkraft
auf mich aus, er verkörpert das gänzlich Andere, das Exotische,
jene alternative Existenzweise, die mich unheimlich reizt und zugleich
unvermindert abstößt, in meinem ambivalenten Verhältnis
dem Fremden gegenüber liegt das Potential jeglicher Form von
Erkundung aber auch Eroberung und Vernichtung - Kolonialismus und
Tourismus sind zwei Seiten ein und derselben Medaille.
Über die Krankheit
Krankheiten sind unwillkommene Gäste, immerzu
kommen sie ungelegen, immerzu erscheinen sie unpassend, sie wissen,
keinem Menschen sind sie herzlich willkommen, allein aus diesem
Grunde erscheinen sie grundsätzlich unangekündigt. Überraschend
an einer schweren Krankheit ist jedoch nicht ihr plötzliches
Erscheinen. Sie hat ihre Erscheinung schon Wochen, Monate, mitunter
schon vor Jahren angekündigt. Mag sein, dass man ihre Ankündigung
übersehen hat, mag sein, dass man ihre Annäherung unterschlagen
hat, eine schwere Krankheit aber schert das nicht. Überraschend
an einer schweren Krankheit ist, dass sie von sich aus nicht mehr
gehen will. Es ist dann nicht von ungefähr so, als richtete
sie sich im Organismus ein für alle Mal ein, als bereitete
sie sich hier auf eine lange Hungerperiode vor, als verlangte sie
vom Körper all jenen unermesslichen Tribut, der ihrer destruktiven
Herrlichkeit und Herrschsucht angemessen erscheint. Eine schwere
Krankheit weiß, dass sie nur selten zum Zuge kommt, hat sie
sich aber einmal spürbare Geltung verschafft, hat sie es erst
einmal erreicht, sich des erschöpften Körpers zu bemächtigen,
so verlangt sie unerbittliche Wiedergutmachung und Vergeltung für
all die Tage, Wochen, Monate und Jahre, in denen der Körper
unbeschadet existierte. Nun aber, da die Krankheit die Gesundheit
unerbittlich aus dem Körper vertrieben hat und unumschränkt
über den Körper des Erkrankten herrscht, übt sie
mit aller Macht ihre ganze zerstörerische Gewalt aus, martert
den Körper mit Schweißausbrüchen, foltert ihn mit
Schüttelfrost und angeschwollenen Augen, ermächtigt sich
des völlig erschöpften Geistes, ruft Trugbilder und Halluzinationen
hervor, löst wirre Träume und Wahnbilder aus und entzieht
dem Körper all jene Kraft und Stärke, die er unbedingt
zum Überleben braucht. Eine schwere Krankheit ist ein äußerst
hungriger Gast, gefräßig frisst sie sich satt am Leibe
des Sterbenskranken und trinkt seine letzten heilsamen Körpersäfte
aus, sich labend entzieht sie seinem Geist endgültig das Bewusstsein,
die letzte Hoffnung und die allerletzte Zuversicht und verlässt
den völlig ausgezehrten Körper, sobald sich kein Leben
mehr in ihm regt.
Über Vertrauen und Missvertrauen
I
Vertrauen auf etwas oder auf jemanden, auf einer Institution oder
auf einem Menschen, setzt die Zuversicht voraus, in einer spezifischen
Erwartung nicht enttäuscht zu werden. Eine spezifische Erwartung
kann bedeuten, dass jene Information, die ich einem Menschen anvertraue,
diskret behandelt wird. Ich erwarte also Diskretion und Verschwiegenheit,
ich erwarte eine Geheimhaltung, mit anderen Worten, ich gehe in
meiner Erwartung immer davon aus, dass mein Vertrauen nicht gebrochen
und die Information, die ich jemanden anvertraut habe, nicht gegen
mich verwendet wird. So erscheint mir eine Person nur dann als vertrauenswürdig,
wenn sie in der Tat die Handlung, die sie mir verspricht, auch einhält,
kurzum, ein Versprechen, welches wortwörtlich eingehalten wird,
ruft Vertrauen in mir hervor. “Jemanden sein Wort geben!”,
bedeutet nichts anderes, als den Worten Taten folgen zu lassen -
nur in der versprochenen Tat oder Handlung erscheint das vorangegangene
Wort nachträglich auch als vertrauenswürdig. “Ich
gebe dir mein Wort!”, heißt nichts anderes, als die
Aufrichtigkeit oder Authentizität eines Menschen anhand seiner
gegebenen Worte zu messen und zu bewerten. Erst wenn das gegebene
Wort und die vollzogene Tat nacheinander in einem nachvollziehbar
kausalen Einklang stehen, nachdem also das gegebene Versprechen
in der vollzogenen Tat vollends erfüllt wurde, kann auch Vertrauen
entstehen. Vertrauen entsteht folglich immer nur nach einer Tat,
ein Versprechen allein stellt nur die halbe Miete eines Vertrauensbeweises
dar, allein durch die Tat erfülle ich mein Versprechen und
erweise mich selbst dem Vertrauenden gegenüber als vertrauenswürdig.
Misstrauen aber entstammt aus dem Bruch, der zwischen der versprochenen
und nicht erfolgten Handlung und den Worten, die dieser nicht vollzogenen
Handlung viel versprechend vorausgingen, entstanden ist. Misstrauen
ist folglich die emotionale Konsequenz, die aus einem Vertrauensbruch
unmittelbar hervortritt. Jegliches Vertrauen basiert auf der Zuversicht
oder dem Glauben an eine Institution oder an einen Menschen, Misstrauen
aber entspringt immer aus einer Enttäuschung durch eine Institution
oder durch einen Menschen, die ihr Wort, folglich ihr Versprechen,
inkonsequenterweise nicht aufrecht hielten.
II
Vertrauen ist das Fundament jeglicher Form zwischenmenschlicher
Beziehungen. Ob interpersonal oder zwischen Mensch und Institution,
ohne Vertrauen kann keine Beziehung aufrecht - dass heißt
authentisch und ohne Misstrauen, - erhalten werden. Vertrauen setzt
immer ein Mindestmaß an Zuversicht voraus, eine Minimalzuversicht
in eine Person oder in eine Institution, die es mir ermöglicht,
in meiner Erwartung von einer gewissen Person oder von einer bestimmten
Institution nicht enttäuscht zu werden. Vertrauenswürdig
erscheinen mir nur solche Personen oder Institutionen, die ihrem
Wort treu bleiben oder ihrem Regelwerk und ihren Prinzipien die
Treue halten. Die Erwartung, dass einem einmal gegebenen Wort (mit
anderen Worten einer mündlichen Vereinbarung - einem Versprechen)
oder einer institutionellen Zusicherung (mit anderen Worten einem
schriftlichen Vertrag – einer Versicherung) auch eine adäquate
Handlung folgt, setzt mein Vertrauen in diese Personen und Institutionen
voraus. Jede voraussagbare Handlung, die nach einem Versprechen
oder einer Versicherung auch tatsächlich in Erfüllung
geht, bestätigt mein Vertrauen, verstärkt es nachträglich
und schenkt mir das Gefühl von Sicherheit. Institutionen, die
nach ihrem eigenen Reglement funktionieren, wecken und verstärken
mein Vertrauen zu eben diesen Institutionen, folglich in ihr Regelwerk.
Ich kann und darf davon ausgehen, dass diese Institutionen nach
einmal festgelegten Regeln so – und nur so - und nicht anders
funktionieren. Alles Misstrauen entsteht aus der emotionalen Erschütterung
meiner zuversichtlichen Erwartung in eine Person oder in eine Institution
oder aber ich besaß von vornherein kein Vertrauen, da mich
vertrauenshemmende Vorurteile prägen.
Bülent Kacan
Bielefeld
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