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Schöne Literaten
Von Henner Reitmeier
Alle paar Monate fällt ein hochglänzendes
buntes Faltblättchen der Nichtregierungsorganisation „Unsere
Buchempfehlungen für Sie“ aus FREITAG oder JUNGE WELT.
Erstaunlicherweise stammen sämtliche Bücher, die „von
hoch qualifizierten Redakteuren und erfahrenen Literatur-Experten“
dieser NGO ermittelt worden sind, aus den Verlagen der Berliner
Eulenspiegel-Gruppe. Was die Bücher weiter eint, sind Titelfotos.
Ungefähr Dreiviertel der abgebildeten Werke stellen uns auf
Deckel oder Umschlag ihren Autor oder ihre Autorin in gelungenen
Portraitaufnahmen vor. Ich nenne stellvertretend die Schönsten:
Egon Krenz, Lucy Redler, Sahra Wagenknecht. Von der Letzten erfahren
wir auch, DIE NEUE WAGENKNECHT sei ein BESTSELLER. Und der Knüller
WAS WILL DIE ROTE LUCY? ist „hoch aktuell!“ - und zwar,
weil seine Autorin Redler „jung, weiblich, wortgewaltig, ultralinks,
attraktiv“ ist, wie die Berliner NGO voller Stolz den Befund
der revolutionären Hamburger Tageszeitung DIE WELT zitiert.
Nun ist es vielleicht nicht jedermanns Geschmack,
am Fraktions- oder Frühstückstisch einer prinzessinnenhaften
Erscheinung wie der medial zurechtfrisierten Frau Wagenknecht gegenüber
sitzen zu müssen. Mit Sicherheit dagegen traten Sozialisten
dereinst dafür ein, zufällige Begünstigungen durch
Natur, Schicksal, Erbrecht mittels „Chancengleichheit“
auszuhebeln. Doch der häßliche Göttinger Gnom Lichtenberg
hätte bei unseren erfahrenen NGO-Literaturexperten null Chancen
gehabt. Wahrscheinlich hätten sie ihn auch nicht verstanden,
da er nicht in den Lehrplänen unserer Marketing-Fachschulen
steht. „Mein Verstand folgt heute den Gedanken des großen
Newton durch das Weltgebäude nach, nicht ohne den Kitzel eines
gewissen Stolzes“, trägt er beispielsweise um 1770 in
seine Sudelbücher ein. „Also bin ich doch auch von dem
nämlichen Stoff wie jener große Mann, weil mir seine
Gedanken nicht unbegreiflich sind und mein Gehirn Fibern hat, die
jenen Gedanken korrespondieren...“
Allerdings wäre Newton in unserem postmodernen
Bildschirmzeitalter noch unglaublich viel größer - nämlich
allgegenwärtig grinsend auf Illustrierten, Litfaßsäulen,
T-Shirts; auch unermüdlich labernd in Talkshows, Dichterlesungen,
Interviews. So käme ich selbst im hintersten Thüringer
Walde nicht an einem Newton vorbei. Da die postmoderne Personalisierung
durch Fluten von Abbildungen und Auftritten die Funktion hat, die
Sachfragen zu verwässern bis sie unerheblich werden, kommt
es natürlich darauf an, die betreffenden Personen möglichst
wichtig zu machen. Blickt uns von der FREITAG-Kolumne auf Seite
2 unten der Kolumnist persönlich entgegen, muß er natürlich
lesenswerter sein als irgendein Schriftsteller, der nur schreibt.
Bläst die JUNGE WELT jeden zweiten Artikel durch die sattsam
bekannten PolitikerInnen-Visagen auf, lädt sie uns nachdrücklich
dazu ein, diese Lügenmäuler und Hohlköpfe, die uns
regieren, endlich ernst zu nehmen. Mit der von allen Reformisten
angebeteten „Theorie des Kleineren Übels“ läßt
sich das locker rechtfertigen. Denn es sind immer noch größere
Lügenmäuler und Hohlköpfe denkbar - wie ja auch herkömmliche
Gewehrkugeln bekömmlicher als Urangeschosse und nur 70 Tote
humaner als 700 Tote sind.
Gerade die DDR-Damenriege Merkel-Pau-Wagenknecht hat
auf die Schießtürme am Todesstreifen verzichtet, um uns
volksnähere Standpunkte vorgaukeln zu können. Faktisch
glänzt sie mit den Standarten auf den Kühlergrillen ihrer
schwarzlackierten Dienstwagen. Ihre Turnkleidung ist reif für
einen JOOP-Katalog. Da die Lehrfächer „Kritik der Wertform“
und „Kritik der Warenästhetik“ an den SED-Parteischulen
chronisch unterbesetzt waren, ist es auch kein Wunder, wenn FREITAG
und JUNGE WELT nicht die peinliche Doofheit scheuen, die handelsüblichen
Abo-Prämien auszuloben - wenn keine ROLEX-Armbanduhr, dann
doch wenigstens DIE NEUE WAGENKNECHT, in der sich Prinzessin Sahra,
Angelas Kanzleramtssessel im Auge, vielleicht zugunsten gesunder
Volksgeländewagen gegen die schändliche Vernichtung von
Arbeitsplätzen ausspricht. Neulich war eine solche für
Brüssel geplant. Dazu Sahra im JUNGE-WELT-Interview auf S.2
links mit aller ihr zur Verfügung stehenden Empörung:
„VW kann nicht seine ganze Produktion in Europa stillegen
und den europäischen Markt von Indien aus beliefern.“
Mit dieser Sorge endete das Interview, das selbstverständlich
stets mit einem Portraitfoto der Befragten garniert ist. Von Sozialismus
im ganzen Interview nicht ein Hauch. Sahra möchte gesunde,
PS-starke Volkswagen. Könnte man nicht einen so großen
bauen, daß er ins Ozonloch paßt?
Um noch einmal auf die Abo-Prämien zurück
zu kommen, liegt das Betörende der genannten Blätter also
ganz wie bei Frau Wagenknecht nicht in weltanschaulichen oder sprachlichen,
vielmehr materiellen Reizen. Den sprachlichen Gipfel erklimmt die
Eulenspiegel-NGO im Prospekt. Neben der entsprechenden Abbildung
heißt es da: „Diesen Lese-Spaß haben wir nun exklusiv
für Sie reserviert. Sie erhalten das hochwertige Buch KINDERMUND
gratis und völlig unverbindlich zu Ihrer Buch-Reservierung.
Wir freuen uns Ihnen dieses kostbare Geschenk zusenden zu dürfen...“
Neben den Schießtürmen, ihren unehelichen
Kindern und ihren gar zu betagten Eltern haben Kämpferinnen
der Sorte Sahra Volkswagenknecht auch ihren Internationalismus in
der DDR zurückgelassen, die ja ohnehin veröden wird, weil
der schwäbische Proletarier für seine Erholung im Sommerurlaub
ein günstig an Autobahnen liegendes Naturschutzgebiet braucht.
Damit will ich nicht sagen, wir müßten unbedingt so weit
gehen wie der am 17.November 1947 gestorbene Revolutionär und
Schriftsteller Victor Serge. Dieser russischstämmige, in Belgien
geborene Anarchist war in zahlreichen Ländern, Sprachen, Kerkern
tätig. Seine Erinnerungen, die ich in der Ausgabe der EDITION
NAUTILUS von 1991 besitze, sind überragend geschrieben. Nebenbei
zeigt der Buchdeckel kein Foto, vielmehr Schwärze. Auf S.294
verwirft Serge die Form des herkömmlichen Romans mit seinem
herausgehobenen Personal. „Die individuellen Existenzen -
die meine eingeschlossen - interessierten mich nur als Funktion
des großen kollektiven Daseins, dessen mehr oder weniger mit
Bewußtsein begabte Teilchen wir sind.“
***
Eiszeit
Von Teja Bernardy
Wann ist die richtige Zeit, sich mit Eis zu beschäftigen? Im
Winter, wenn die Temperaturen in den Eiskeller purzeln? Im Sommer,
wenn es in Tüten und Bechern schmilzt, an den Polen sowieso?
Im Frühjahr, wenn laue Lüfte einen Winter verabschieden,
der ein nicht endender Herbst war, einen Sommer ankünden, dessen
erhöhten Ozonwerten und Feinstaub wir mit Fahrverboten drohen,
uns selbst bedrohen? Im Herbst, in dem Stürme Geschwindigkeiten
ankündigen, mit denen wir uns dem Abgrund nähern, mit
dem wir so gerne immer den anderen drohen, obwohl wir mit dem Tempo
nicht einmal mehr über die Autobahn dürfen?
Eigentlich ist es höchste Zeit, sich mit Eiszeiten
zu befassen, mit der Unausweichlichkeit ihrer periodischen Wiederkehr,
mit der unausweichlich fortschrittlichen Beschleunigung ihrer unausweichlich
beschleunigten Wiederkehr durch unausweichlichen Fortschritt, der
wirklich alles beschleunigt, selbst die Zeit, den unausweichlichen
Ablauf der Frist. Die Aussicht auf Fristende macht Gänsehaut
noch in den Tropen, läßt das Blut in den Adern gefrieren.
Fortschritt liefert Erleichterung in allen Lebenslagen.
So wenigstens will uns nicht nur Hegel glauben lassen. Und doch,
es ist ein Glaube, den wir lieber lassen sollten, jetzt wo alle
Welt fliegt und fährt und auf Fortschritt abfährt! Mobilität
als Band für erkaltete Verbindungen, als den Globus umspannendes
Gummiband konstanter Abwärme, kalt lächelnd zur Generierung
von Umsatz, eiskalt nutzbringend zum Anheizen des Konsumklimas eingesetzt.
Alleine der Gedanke an den warmen Dividendenregen marginalisiert
sauren Regen zum Süßstoff für Slums und Farvelas.
Während allenthalben Menschen in Eisdielen sich
vergnügt dem Genuß am Eis ergeben, es sich munden lassen,
ist Klimawandel in aller Munde, ohne daß auch nur einer beim
Eislutschen oder gar bei dem abgelutschten Thema Klimaveränderung
innehält, nur um sich zu erinnern, wo die Energie, die Temperaturdifferenz
geblieben ist, damit uns Eis genüßlich auf der Zunge
zergeht, seine Konsistenz in Kühlschränken nicht verliert,
gehärtet den Kufen von Pirouetten drehenden Schlittschuhen
selbst in Dubai widersteht und doch Gletscher und Pole fluchtartig
verläßt, uns zufließt, bis es unsere Überflußgesellschaft
überfließt, ersäuft, überflüssig macht.
Die Macht der Sonne, die Atommächte, die Ohnmacht der Menschheit,
die Macht der Unvernunft, sie alle zusammen machen die Endlichkeit
des Fortschritts deutlich, künden neue, künden fröhliche
Eiszeit an. Wer will, kann sie schon vorher besichtigen, die Eiszeit,
ihre Relikte, Polkappen, besonders die am Nordpol. Nur eiskalt eine
Luxusreise buchen: Flug über den Nordpol, Dauer etwa achtzehn
bis neunzehn Stunden, einschließlich zwei oder drei Pirouetten
über dem ewigen, ewig schwindenden Eis, die im Flug vergehen.
Das Eis auch. Gegen die Geringe Menge von rund sechsundzwanzig Tonnen
Kerosin und einen humanen Aufschlag von fünfzig Euro pro Person
auf den Flugpreis als Ausgleichsabgabe in unbekannte heiße,
Subventionstöpfe geheißene Kassenattrappen nahe am grünen
Punkt nähert sich der Temperaturausgleich zwischen Äquator
und Nordpol mit der Narrenkappe im Fluge den Polkappen jener Unumkehrbarkeit,
der noch jede Klimakonferenz eiskalt Rechnung trägt, erfolgreich
trotzt, uns einheizt, handeln läßt, ... mit Emissionsrechten.
Gewiß, der Mensch, die Menschheit schlechthin
hat eine Menge drauf, diesen runden Ball zu zerstören, gar
zu sprengen. Das eben heißt Zivilisation. Gewiß aber
haben Natur, Welt, Kosmos weit mehr drauf! Sie haben mehr drauf,
die Menschheit von der Kugel zu sprengen, zu tilgen, ihre Art dem
Artensterben zu überantworten, Zivilisten zu belehren: Soldaten,
Militär, technischer Fortschritt sind keine Zivilisationsmerkmale.
So gewiß, wie der Globus die Naturerscheinung Mensch mit oder
ohne Uniform nicht benötigt, sie eiskalt entbehren kann, vielleicht
schon ganz heiß darauf ist, die Menschheit nur ja loszuwerden,
so gewiß ist natürlich der Mensch mit heißem Herzen
eben auf diese Erdkugel angewiesen, an sie gekettet, allen Naturerscheinungen
ausgesetzt. Die nächste Eiszeit kommt bestimmt! In unseren
Beziehungen untereinander liegt ein erster Vorgeschmack.
Fix Stühle aufgestellt, Tische hergerichtet für
jene dreifarbigen Bomben, die zu Berlin der Konditor Schulz Unter
den Linden reihenweise deponierte und damit solange zündelte,
bis Hermann Fürst Pückler-Muskau zu den Unsterblichen
zählte. Wer erwärmt sich bei all der globalen Erwärmung
nicht wenigstens für ein bekömmliches Fürst-Pückler-Eis
zur Abkühlung?! Sollten wir es uns nicht genüßlich
auf der Zunge zergehen lassen? Welch ideal exemplarischer Mikrokosmos
für die Funktionsweise des Temperaturanstieges mit Flüssigkeitszugewinn.
Am besten mit Sahne!
***
Slovi und die Weide
Von Reinhard Bernhof
Slovi war aus den Ruinen gekommen, in denen er gespielt hatte. Die
Häuser der Straßen waren vom Krieg ausgebrannt und von
Maschinengewehrgarben durchlöchert. Alle Leute waren geflohen,
manche nach Deutschland, und Slovi war mit seiner Mutter und seinem
Großvater wieder zurückgekommen. Der Großvater
und die Mutter hatten ihr Haus in der Nähe von Sarajewo wieder
aufgebaut. Aber Freunde hatte Slovi noch nicht gefunden. Darüber
ärgerte er sich nicht, er konnte auch alleine spielen. Manchmal
sprach er mit den ausländischen Soldaten, die blaue Helme trugen,
sogar mit einem Mann mit dunkelbrauner Hautfarbe aus Ghana. Aus
vielen Ländern waren sie gekommen, um den Frieden zu sichern.
Slovi hatte gehört, daß die Schule, in
die er gehen sollte, bald wieder öffnen würde, und er
freute sich schon darauf. Vielleicht würde er dann einen Freund
finden, mit dem er spielen könnte. Oder auch eine Freundin.
In Deutschland hatte er die kleine Nina kennengelernt aus einem
Kriegsgebiet, aus Tschetschenien. Sie war ebenfalls in seinem Aufnahmeheim
gewesen. Obwohl sie kaum miteinander sprechen konnten, verständigten
sie sich mit wenigen Brocken Deutsch.
Slovi lief auf dem Bürgersteig, der war voller
Löcher, überall noch geborstene, eingedrückte Zementplatten,
Fallen für Fußgänger. Er lief lieber inmitten der
Petrinjskastraße weiter, auf der noch feste Stellen waren.
Plötzlich näherte sich mit erheblicher Geschwindigkeit
ein altes Lastauto. Slovi sprang zur Seite - und da fiel etwas vom
Fahrzeug, ein fingerdicker gelblicher Ast. Slovi hob ihn auf und
dachte an Brennholz, das knapp war. Sogleich spürte er, daß
er keinen vertrockneten Ast in der Hand hielt, er spürte auf
irgendeine Weise Leben in ihm.
Als er nach Hause kam, sagte die Mutter: Das ist ein
Ableger einer Weide. Wir schneiden ihn zurecht und stecken ihn in
die Erde. Weiden schlagen im Frühjahr meistens aus.
Wirklich? fragte Slovi ungläubig.
Wenn sie genügend Wasser bekommen und nicht vertrocknet
sind, schlagen Weiden hundertprozentig wieder aus.
Gleich darauf hielten beide im Garten Ausschau, wo
sie den Weidenstock in die Erde einpflanzen könnten. Am besten
in der Nähe meines Fensters, sagte Slovi.
Wenn du willst, sagte die Mutter.
Slovi grub mit dem Spaten ein tiefes Loch und holte
sich von einem Maulwurfshügel mit der Schubkarre weiche und
gedüngte Erde; dann drückte er zusammen mit der Mutter
den Stock in sie, traten ihn fest und gössen Wasser darauf.
Der Stock soll ausschlagen? fragte Slovi noch einmal
verwundert. - Das glaube ich nicht.
Eins-zu-tausend, sagte die Mutter. Du wirst sehen,
wenn es Frühling wird ... Und wenn du ihn immer gießt.
Jeden Tag besuchte Slovi seine Weide und gab ihr genügend
Wasser. Und als es Mai wurde, hatte sich das Eins-zu-tausend der
Mutter bewahrheitet. Der Weidenstock hatte tatsächlich Knospen
angesetzt. Ein kleines Wunder war für Slovi die Weide geworden.
Und die Schule hatte inzwischen vorzeitig begonnen, obwohl das Dach
noch immer kaputt war, aber die fremden Soldaten bauten mit an der
Schule und setzten Fenster und Türen ein. Auch einige Familien,
die Slovis Mutter noch von früher kannte, waren zurückgekehrt.
Warum haben sich die Menschen alle bekämpft,
fragte Slovi des öfteren die Mutter. Wir wohnten doch alle
einmal friedlich zusammen in einer Straße, in einem Dorf,
in einer Stadt, in einem Land. Immer wieder fragte er die Mutter,
warum sein Vater, auch dessen Bruder, sein Onkel, ums Leben gekommen
seien. Die Mutter schüttelte nur den Kopf und sagte: Auf einmal
wurden alle aufgehetzt, gingen alle gegeneinander los: Die Slowenen
gegen die Serben, die Serben gegen die Slowenen. Die Muslime gegen
die Kroaten, die Kroaten gegen die Muslime. Die Albaner gegen die
Serben, die Serben gegen die Albaner. Überall wurde plötzlich
gemordet. Alle lebten doch früher in Eintracht. - In jeder
Straße waren sie miteinander verheiratet, hatten Kinder und
Enkelkinder. Ich zum Beispiel bin Kroatin, Großvater ebenfalls.
Dein Vater war Serbe. - Plötzlich hörte ich auf der Straße
eine Explosion. Zoran lag mit dem Kopf nach unten. Er atmet, er
lebt, ich helfe ihm! rief jemand. Inzwischen traf ein Rettungswagen
ein, und den Sanitätern gelang es, Zoran zu bergen. Er wurde
auf eine Trage gelegt und so in den Krankenwagen geschoben. Ich
stieg mit ein und beobachtete ihn. Die Augen waren offen und bewegten
sich, aber Zoran war nicht bei Bewußtsein. Ich nahm seine
Hand und sagte und sagte immer wieder: Sei stark. Ich bin doch bei
dir. Er atmete schwer. Im Krankenhaus mußte ich im Flur warten.
Es dauerte nicht lange, bis ein Arzt aus dem Operationssaal kam
und sich mit einer schnellen Bewegung die Handschuhe abstreifte.
Da wußte ich Bescheid. Ich schrie ihn an: Lassen Sie mich
zu meinem Mann. Der Arzt versuchte, mich zu beruhigen. Ich wollte
ihn noch einmal sehen und stürzte in den Behandlungsraum. Der
dort auf einer Trage liegende Mann war Zoran, dein Vater. Ich fühlte
kein Blut mehr in mir, nur Eis. Alles war eiskalt. Aber dann sah
ich dich, Slovi. Du lebst im Vater weiter.
Warum mußte das alles passieren? fragte Slovi.
Die Menschen sind so. Oftmals verrückt, sagte
die Mutter. Sie werden aufgehetzt. Irgend jemand organisiert ihnen
Waffen. Plötzlich besitzen sie ein Gewehr, eine Handgranate,
einen Jeep. Manche haben sich sogar Uniformen besorgt; andere kämpfen
im Schlabber-T-Shirt. Und der liebe Gott sieht zu. So ist das immer,
wenn Krieg ist. Und die Händler, die Waffen organisieren, freuen
sich über den Reibach, den sie gemacht haben.
Ich aber habe immer Lust zu leben, sagte Slovi, nicht
um zu kämpfen, um zu sterben. Leben, mehr noch, mehr noch.
Schließlich ist doch wichtig, daß man lebt?
Ja, das ist sehr wichtig, daß du lebst, daß
wir noch leben, sagte der Großvater. - Vielleicht sollte es
nicht nur zehn Gebote geben, sondern elf. - Gott hat es nur vergessen
zu verkünden: Du sollst leben. - Das dürfte genügen.
Man muß nicht alles wissen, um dafür dann zu kämpfen,
um dafür dann zu sterben. Du sollst leben, lautet das elfte
Gebot.
Gott hat vergessen, es in der Bibel niederzuschreiben,
fügte die Mutter hinzu.
Jeden Tag goß Slovi die Weide. Ein Wunder, eine
Weide als Freund zu haben, ein echten Freund, der in sein Leben
getreten war und darin einen Platz einnahm. - War Slovi aber nicht
in ihrer Nähe, fürchtete er um sie und dachte: Hoffentlich
ist der Weide nichts zugestoßen. Hoffentlich haben die Nachbarkinder,
Janko mit seiner Meute, sie bei ihrem Ballspiel nicht umgetreten.
Aber besser wäre es, um den Weidenstock herum einen kleinen
Zaun anzulegen.
Slovi schlug kleine Pfahle um die Weide und verband
sie mit verrostetem Draht, der überall auf den Feldern spiralenförmig
herumlag. Vor manchen Feldern war ein Schild aufgestellt, auf dem
zu lesen war: Betreten verboten! - Minengefahr! Slovi dachte sofort
an Brotislav aus seiner Schule, der auf so eine Mine getreten war.
Nun hatte er nur noch ein Bein. Ihn hatte Slovi besonders ins Herz
geschlossen. Brotislav erzählte, daß er manchmal heftige
Schmerzen bekäme an der Stelle, wo sich einmal sein zweites
Bein befunden hatte. Wie kann dir etwas weh tun, was du nicht mehr
hast, fragten ihn fast alle Kinder in der Schule. Brotislav war
über diese Fragerei nicht böse und sagte: Auch die Einbildung
kann Schmerzen erzeugen. Ich sehe mich immer noch so wie früher
herumlaufen, als ich noch zwei Beine hatte. Die Krücke ist
nun mein zweites Bein, mein Hilfsbein. Schlimmer ist, wenn man nicht
mehr sehen kann.
Das stimmt, sagten dann jedesmal die Kinder und hielten
sich die Hand vor die Augen. Es wäre das Allerschlimmste auf
der Welt, nicht mehr sehen zu können.
Als dann die Schule richtig begonnen hatte, ohne den
Baulärm der Soldaten, zählte Slovis Klasse sieben Mädchen
und fünf Jungen. Alle Mädchen und alle Jungen wollten
sofort mit Slovi Freundschaft schließen, aber Slovi sagte:
Dazu muß man nichts beschließen, entweder sind wir Freunde,
oder wir sind keine Freunde.
Die Freundschaft kommt ganz von allein. Außerdem
habe ich schon eine Freundschaft.
Mit wem denn? fragten alle aufgeregt.
Ich habe eine Weide gepflanzt.
Eine Weide! Eine Weide! riefen die Kinder. Da lachen
ja die Truthähne! Aber die Lehrerin, Frau Zlatko, freute sich,
daß Slovi einen Baum gepflanzt hatte.
Am nächsten kam Slovis Klasse mit Frau Zlatko
zu ihm nach Hause. Sie bewunderten die kleine Weide, und jeder wollte
sie zuerst gießen. Zärtlich berührte Frau Zlatko
den Baum und sagte: Sie hat in Slovi Wurzeln geschlagen - und sie
soll auch in unseren Herzen Wurzeln schlagen.
Inzwischen funktionierte auch wieder die Stromversorgung.
Die Mutter hatte einen großen Fernsehapparat aus Deutschland
mitgebracht, und nun wurde er angeschaltet. Plötzlich waren
sie wieder mit der ganzen Welt verbunden. Ununterbrochen wußte
das Fernsehen von vielem und verschiedenem zu berichten - und unversehens
wurde Slovis Ort gezeigt, wo noch immer die meisten Einwohner fehlten.
Überall noch ausgebrannte Häuser und ausgebrannte Autos
zwischen den Ruinen. Überall Einöde. Und zwischendurch
bewegten sich Politiker, die irgendwo verhandelten und dabei krampfhaft
zuckten, als wären sie nicht normal. Auf einmal wurde seine
Schule eingeblendet, daß sie wieder eröffnet worden sei
mit ca. dreißig Kindern. Da schrien Slovi, seine Mutter und
der Großvater auf. - Aber sogleich zeigte das Fernsehen neue
Bilder aus dem Kosovo: Flugzeuge stürzten sich auf eine Brücke,
über die ein Zug führ. Der Zug stürzte in den Fluß.
- Über hundert Tote, meldete der Femsehsprecher.
Daß die nicht Ruhe geben, sagte die Mutter.
Ich dachte, der Krieg sei vorbei. Aber gekämpft wird noch immer.
Als Slovi im Bett lag, dachte er an den Krieg: Er
sah eine schwarze, todbringende Maschine, die unaufhörlich
durch das Land rollt und Tote hinterläßt. Aber der Tod
der fernen, unwichtigen Menschen erschien ihm als femer, unwichtiger
Tod, mit dem er nichts anzufangen wußte. Wenngleich auch sein
Vater und sein Onkel nicht mehr lebten.
Es war schon dunkel, der Mond schien für Sekunden
groß in sein Fenster. Da stand er noch einmal auf und sah
zu seiner kleinen Weide, die sich, wenn der Mond gerade durch die
Wolken gedrungen war, mit einem schimmernden Glanz zu erkennen gab.
Aus: »Augenblicke der Kinder«.Plöttner
Verlag, Leipzig 2006
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