XXVI. Jahrgang, Heft 146
Okt - Nov - Dez 2007/4

 
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Letzte Änderung:
11.12.2007

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER




   
 
 


Schöne Literaten

Von Henner Reitmeier

Alle paar Monate fällt ein hochglänzendes buntes Faltblättchen der Nichtregierungsorganisation „Unsere Buchempfehlungen für Sie“ aus FREITAG oder JUNGE WELT. Erstaunlicherweise stammen sämtliche Bücher, die „von hoch qualifizierten Redakteuren und erfahrenen Literatur-Experten“ dieser NGO ermittelt worden sind, aus den Verlagen der Berliner Eulenspiegel-Gruppe. Was die Bücher weiter eint, sind Titelfotos. Ungefähr Dreiviertel der abgebildeten Werke stellen uns auf Deckel oder Umschlag ihren Autor oder ihre Autorin in gelungenen Portraitaufnahmen vor. Ich nenne stellvertretend die Schönsten: Egon Krenz, Lucy Redler, Sahra Wagenknecht. Von der Letzten erfahren wir auch, DIE NEUE WAGENKNECHT sei ein BESTSELLER. Und der Knüller WAS WILL DIE ROTE LUCY? ist „hoch aktuell!“ - und zwar, weil seine Autorin Redler „jung, weiblich, wortgewaltig, ultralinks, attraktiv“ ist, wie die Berliner NGO voller Stolz den Befund der revolutionären Hamburger Tageszeitung DIE WELT zitiert.

Nun ist es vielleicht nicht jedermanns Geschmack, am Fraktions- oder Frühstückstisch einer prinzessinnenhaften Erscheinung wie der medial zurechtfrisierten Frau Wagenknecht gegenüber sitzen zu müssen. Mit Sicherheit dagegen traten Sozialisten dereinst dafür ein, zufällige Begünstigungen durch Natur, Schicksal, Erbrecht mittels „Chancengleichheit“ auszuhebeln. Doch der häßliche Göttinger Gnom Lichtenberg hätte bei unseren erfahrenen NGO-Literaturexperten null Chancen gehabt. Wahrscheinlich hätten sie ihn auch nicht verstanden, da er nicht in den Lehrplänen unserer Marketing-Fachschulen steht. „Mein Verstand folgt heute den Gedanken des großen Newton durch das Weltgebäude nach, nicht ohne den Kitzel eines gewissen Stolzes“, trägt er beispielsweise um 1770 in seine Sudelbücher ein. „Also bin ich doch auch von dem nämlichen Stoff wie jener große Mann, weil mir seine Gedanken nicht unbegreiflich sind und mein Gehirn Fibern hat, die jenen Gedanken korrespondieren...“

Allerdings wäre Newton in unserem postmodernen Bildschirmzeitalter noch unglaublich viel größer - nämlich allgegenwärtig grinsend auf Illustrierten, Litfaßsäulen, T-Shirts; auch unermüdlich labernd in Talkshows, Dichterlesungen, Interviews. So käme ich selbst im hintersten Thüringer Walde nicht an einem Newton vorbei. Da die postmoderne Personalisierung durch Fluten von Abbildungen und Auftritten die Funktion hat, die Sachfragen zu verwässern bis sie unerheblich werden, kommt es natürlich darauf an, die betreffenden Personen möglichst wichtig zu machen. Blickt uns von der FREITAG-Kolumne auf Seite 2 unten der Kolumnist persönlich entgegen, muß er natürlich lesenswerter sein als irgendein Schriftsteller, der nur schreibt. Bläst die JUNGE WELT jeden zweiten Artikel durch die sattsam bekannten PolitikerInnen-Visagen auf, lädt sie uns nachdrücklich dazu ein, diese Lügenmäuler und Hohlköpfe, die uns regieren, endlich ernst zu nehmen. Mit der von allen Reformisten angebeteten „Theorie des Kleineren Übels“ läßt sich das locker rechtfertigen. Denn es sind immer noch größere Lügenmäuler und Hohlköpfe denkbar - wie ja auch herkömmliche Gewehrkugeln bekömmlicher als Urangeschosse und nur 70 Tote humaner als 700 Tote sind.

Gerade die DDR-Damenriege Merkel-Pau-Wagenknecht hat auf die Schießtürme am Todesstreifen verzichtet, um uns volksnähere Standpunkte vorgaukeln zu können. Faktisch glänzt sie mit den Standarten auf den Kühlergrillen ihrer schwarzlackierten Dienstwagen. Ihre Turnkleidung ist reif für einen JOOP-Katalog. Da die Lehrfächer „Kritik der Wertform“ und „Kritik der Warenästhetik“ an den SED-Parteischulen chronisch unterbesetzt waren, ist es auch kein Wunder, wenn FREITAG und JUNGE WELT nicht die peinliche Doofheit scheuen, die handelsüblichen Abo-Prämien auszuloben - wenn keine ROLEX-Armbanduhr, dann doch wenigstens DIE NEUE WAGENKNECHT, in der sich Prinzessin Sahra, Angelas Kanzleramtssessel im Auge, vielleicht zugunsten gesunder Volksgeländewagen gegen die schändliche Vernichtung von Arbeitsplätzen ausspricht. Neulich war eine solche für Brüssel geplant. Dazu Sahra im JUNGE-WELT-Interview auf S.2 links mit aller ihr zur Verfügung stehenden Empörung: „VW kann nicht seine ganze Produktion in Europa stillegen und den europäischen Markt von Indien aus beliefern.“ Mit dieser Sorge endete das Interview, das selbstverständlich stets mit einem Portraitfoto der Befragten garniert ist. Von Sozialismus im ganzen Interview nicht ein Hauch. Sahra möchte gesunde, PS-starke Volkswagen. Könnte man nicht einen so großen bauen, daß er ins Ozonloch paßt?

Um noch einmal auf die Abo-Prämien zurück zu kommen, liegt das Betörende der genannten Blätter also ganz wie bei Frau Wagenknecht nicht in weltanschaulichen oder sprachlichen, vielmehr materiellen Reizen. Den sprachlichen Gipfel erklimmt die Eulenspiegel-NGO im Prospekt. Neben der entsprechenden Abbildung heißt es da: „Diesen Lese-Spaß haben wir nun exklusiv für Sie reserviert. Sie erhalten das hochwertige Buch KINDERMUND gratis und völlig unverbindlich zu Ihrer Buch-Reservierung. Wir freuen uns Ihnen dieses kostbare Geschenk zusenden zu dürfen...“

Neben den Schießtürmen, ihren unehelichen Kindern und ihren gar zu betagten Eltern haben Kämpferinnen der Sorte Sahra Volkswagenknecht auch ihren Internationalismus in der DDR zurückgelassen, die ja ohnehin veröden wird, weil der schwäbische Proletarier für seine Erholung im Sommerurlaub ein günstig an Autobahnen liegendes Naturschutzgebiet braucht. Damit will ich nicht sagen, wir müßten unbedingt so weit gehen wie der am 17.November 1947 gestorbene Revolutionär und Schriftsteller Victor Serge. Dieser russischstämmige, in Belgien geborene Anarchist war in zahlreichen Ländern, Sprachen, Kerkern tätig. Seine Erinnerungen, die ich in der Ausgabe der EDITION NAUTILUS von 1991 besitze, sind überragend geschrieben. Nebenbei zeigt der Buchdeckel kein Foto, vielmehr Schwärze. Auf S.294 verwirft Serge die Form des herkömmlichen Romans mit seinem herausgehobenen Personal. „Die individuellen Existenzen - die meine eingeschlossen - interessierten mich nur als Funktion des großen kollektiven Daseins, dessen mehr oder weniger mit Bewußtsein begabte Teilchen wir sind.“


***

Eiszeit

Von Teja Bernardy


Wann ist die richtige Zeit, sich mit Eis zu beschäftigen? Im Winter, wenn die Temperaturen in den Eiskeller purzeln? Im Sommer, wenn es in Tüten und Bechern schmilzt, an den Polen sowieso? Im Frühjahr, wenn laue Lüfte einen Winter verabschieden, der ein nicht endender Herbst war, einen Sommer ankünden, dessen erhöhten Ozonwerten und Feinstaub wir mit Fahrverboten drohen, uns selbst bedrohen? Im Herbst, in dem Stürme Geschwindigkeiten ankündigen, mit denen wir uns dem Abgrund nähern, mit dem wir so gerne immer den anderen drohen, obwohl wir mit dem Tempo nicht einmal mehr über die Autobahn dürfen?

Eigentlich ist es höchste Zeit, sich mit Eiszeiten zu befassen, mit der Unausweichlichkeit ihrer periodischen Wiederkehr, mit der unausweichlich fortschrittlichen Beschleunigung ihrer unausweichlich beschleunigten Wiederkehr durch unausweichlichen Fortschritt, der wirklich alles beschleunigt, selbst die Zeit, den unausweichlichen Ablauf der Frist. Die Aussicht auf Fristende macht Gänsehaut noch in den Tropen, läßt das Blut in den Adern gefrieren.

Fortschritt liefert Erleichterung in allen Lebenslagen. So wenigstens will uns nicht nur Hegel glauben lassen. Und doch, es ist ein Glaube, den wir lieber lassen sollten, jetzt wo alle Welt fliegt und fährt und auf Fortschritt abfährt! Mobilität als Band für erkaltete Verbindungen, als den Globus umspannendes Gummiband konstanter Abwärme, kalt lächelnd zur Generierung von Umsatz, eiskalt nutzbringend zum Anheizen des Konsumklimas eingesetzt. Alleine der Gedanke an den warmen Dividendenregen marginalisiert sauren Regen zum Süßstoff für Slums und Farvelas.

Während allenthalben Menschen in Eisdielen sich vergnügt dem Genuß am Eis ergeben, es sich munden lassen, ist Klimawandel in aller Munde, ohne daß auch nur einer beim Eislutschen oder gar bei dem abgelutschten Thema Klimaveränderung innehält, nur um sich zu erinnern, wo die Energie, die Temperaturdifferenz geblieben ist, damit uns Eis genüßlich auf der Zunge zergeht, seine Konsistenz in Kühlschränken nicht verliert, gehärtet den Kufen von Pirouetten drehenden Schlittschuhen selbst in Dubai widersteht und doch Gletscher und Pole fluchtartig verläßt, uns zufließt, bis es unsere Überflußgesellschaft überfließt, ersäuft, überflüssig macht. Die Macht der Sonne, die Atommächte, die Ohnmacht der Menschheit, die Macht der Unvernunft, sie alle zusammen machen die Endlichkeit des Fortschritts deutlich, künden neue, künden fröhliche Eiszeit an. Wer will, kann sie schon vorher besichtigen, die Eiszeit, ihre Relikte, Polkappen, besonders die am Nordpol. Nur eiskalt eine Luxusreise buchen: Flug über den Nordpol, Dauer etwa achtzehn bis neunzehn Stunden, einschließlich zwei oder drei Pirouetten über dem ewigen, ewig schwindenden Eis, die im Flug vergehen. Das Eis auch. Gegen die Geringe Menge von rund sechsundzwanzig Tonnen Kerosin und einen humanen Aufschlag von fünfzig Euro pro Person auf den Flugpreis als Ausgleichsabgabe in unbekannte heiße, Subventionstöpfe geheißene Kassenattrappen nahe am grünen Punkt nähert sich der Temperaturausgleich zwischen Äquator und Nordpol mit der Narrenkappe im Fluge den Polkappen jener Unumkehrbarkeit, der noch jede Klimakonferenz eiskalt Rechnung trägt, erfolgreich trotzt, uns einheizt, handeln läßt, ... mit Emissionsrechten.

Gewiß, der Mensch, die Menschheit schlechthin hat eine Menge drauf, diesen runden Ball zu zerstören, gar zu sprengen. Das eben heißt Zivilisation. Gewiß aber haben Natur, Welt, Kosmos weit mehr drauf! Sie haben mehr drauf, die Menschheit von der Kugel zu sprengen, zu tilgen, ihre Art dem Artensterben zu überantworten, Zivilisten zu belehren: Soldaten, Militär, technischer Fortschritt sind keine Zivilisationsmerkmale. So gewiß, wie der Globus die Naturerscheinung Mensch mit oder ohne Uniform nicht benötigt, sie eiskalt entbehren kann, vielleicht schon ganz heiß darauf ist, die Menschheit nur ja loszuwerden, so gewiß ist natürlich der Mensch mit heißem Herzen eben auf diese Erdkugel angewiesen, an sie gekettet, allen Naturerscheinungen ausgesetzt. Die nächste Eiszeit kommt bestimmt! In unseren Beziehungen untereinander liegt ein erster Vorgeschmack.

Fix Stühle aufgestellt, Tische hergerichtet für jene dreifarbigen Bomben, die zu Berlin der Konditor Schulz Unter den Linden reihenweise deponierte und damit solange zündelte, bis Hermann Fürst Pückler-Muskau zu den Unsterblichen zählte. Wer erwärmt sich bei all der globalen Erwärmung nicht wenigstens für ein bekömmliches Fürst-Pückler-Eis zur Abkühlung?! Sollten wir es uns nicht genüßlich auf der Zunge zergehen lassen? Welch ideal exemplarischer Mikrokosmos für die Funktionsweise des Temperaturanstieges mit Flüssigkeitszugewinn. Am besten mit Sahne!


***


Slovi und die Weide

Von Reinhard Bernhof


Slovi war aus den Ruinen gekommen, in denen er gespielt hatte. Die Häuser der Straßen waren vom Krieg ausgebrannt und von Maschinengewehrgarben durchlöchert. Alle Leute waren geflohen, manche nach Deutschland, und Slovi war mit seiner Mutter und seinem Großvater wieder zurückgekommen. Der Großvater und die Mutter hatten ihr Haus in der Nähe von Sarajewo wieder aufgebaut. Aber Freunde hatte Slovi noch nicht gefunden. Darüber ärgerte er sich nicht, er konnte auch alleine spielen. Manchmal sprach er mit den ausländischen Soldaten, die blaue Helme trugen, sogar mit einem Mann mit dunkelbrauner Hautfarbe aus Ghana. Aus vielen Ländern waren sie gekommen, um den Frieden zu sichern.

Slovi hatte gehört, daß die Schule, in die er gehen sollte, bald wieder öffnen würde, und er freute sich schon darauf. Vielleicht würde er dann einen Freund finden, mit dem er spielen könnte. Oder auch eine Freundin. In Deutschland hatte er die kleine Nina kennengelernt aus einem Kriegsgebiet, aus Tschetschenien. Sie war ebenfalls in seinem Aufnahmeheim gewesen. Obwohl sie kaum miteinander sprechen konnten, verständigten sie sich mit wenigen Brocken Deutsch.

Slovi lief auf dem Bürgersteig, der war voller Löcher, überall noch geborstene, eingedrückte Zementplatten, Fallen für Fußgänger. Er lief lieber inmitten der Petrinjskastraße weiter, auf der noch feste Stellen waren. Plötzlich näherte sich mit erheblicher Geschwindigkeit ein altes Lastauto. Slovi sprang zur Seite - und da fiel etwas vom Fahrzeug, ein fingerdicker gelblicher Ast. Slovi hob ihn auf und dachte an Brennholz, das knapp war. Sogleich spürte er, daß er keinen vertrockneten Ast in der Hand hielt, er spürte auf irgendeine Weise Leben in ihm.

Als er nach Hause kam, sagte die Mutter: Das ist ein Ableger einer Weide. Wir schneiden ihn zurecht und stecken ihn in die Erde. Weiden schlagen im Frühjahr meistens aus.

Wirklich? fragte Slovi ungläubig.

Wenn sie genügend Wasser bekommen und nicht vertrocknet sind, schlagen Weiden hundertprozentig wieder aus.

Gleich darauf hielten beide im Garten Ausschau, wo sie den Weidenstock in die Erde einpflanzen könnten. Am besten in der Nähe meines Fensters, sagte Slovi.

Wenn du willst, sagte die Mutter.

Slovi grub mit dem Spaten ein tiefes Loch und holte sich von einem Maulwurfshügel mit der Schubkarre weiche und gedüngte Erde; dann drückte er zusammen mit der Mutter den Stock in sie, traten ihn fest und gössen Wasser darauf.

Der Stock soll ausschlagen? fragte Slovi noch einmal verwundert. - Das glaube ich nicht.

Eins-zu-tausend, sagte die Mutter. Du wirst sehen, wenn es Frühling wird ... Und wenn du ihn immer gießt.

Jeden Tag besuchte Slovi seine Weide und gab ihr genügend Wasser. Und als es Mai wurde, hatte sich das Eins-zu-tausend der Mutter bewahrheitet. Der Weidenstock hatte tatsächlich Knospen angesetzt. Ein kleines Wunder war für Slovi die Weide geworden. Und die Schule hatte inzwischen vorzeitig begonnen, obwohl das Dach noch immer kaputt war, aber die fremden Soldaten bauten mit an der Schule und setzten Fenster und Türen ein. Auch einige Familien, die Slovis Mutter noch von früher kannte, waren zurückgekehrt.

Warum haben sich die Menschen alle bekämpft, fragte Slovi des öfteren die Mutter. Wir wohnten doch alle einmal friedlich zusammen in einer Straße, in einem Dorf, in einer Stadt, in einem Land. Immer wieder fragte er die Mutter, warum sein Vater, auch dessen Bruder, sein Onkel, ums Leben gekommen seien. Die Mutter schüttelte nur den Kopf und sagte: Auf einmal wurden alle aufgehetzt, gingen alle gegeneinander los: Die Slowenen gegen die Serben, die Serben gegen die Slowenen. Die Muslime gegen die Kroaten, die Kroaten gegen die Muslime. Die Albaner gegen die Serben, die Serben gegen die Albaner. Überall wurde plötzlich gemordet. Alle lebten doch früher in Eintracht. - In jeder Straße waren sie miteinander verheiratet, hatten Kinder und Enkelkinder. Ich zum Beispiel bin Kroatin, Großvater ebenfalls. Dein Vater war Serbe. - Plötzlich hörte ich auf der Straße eine Explosion. Zoran lag mit dem Kopf nach unten. Er atmet, er lebt, ich helfe ihm! rief jemand. Inzwischen traf ein Rettungswagen ein, und den Sanitätern gelang es, Zoran zu bergen. Er wurde auf eine Trage gelegt und so in den Krankenwagen geschoben. Ich stieg mit ein und beobachtete ihn. Die Augen waren offen und bewegten sich, aber Zoran war nicht bei Bewußtsein. Ich nahm seine Hand und sagte und sagte immer wieder: Sei stark. Ich bin doch bei dir. Er atmete schwer. Im Krankenhaus mußte ich im Flur warten. Es dauerte nicht lange, bis ein Arzt aus dem Operationssaal kam und sich mit einer schnellen Bewegung die Handschuhe abstreifte. Da wußte ich Bescheid. Ich schrie ihn an: Lassen Sie mich zu meinem Mann. Der Arzt versuchte, mich zu beruhigen. Ich wollte ihn noch einmal sehen und stürzte in den Behandlungsraum. Der dort auf einer Trage liegende Mann war Zoran, dein Vater. Ich fühlte kein Blut mehr in mir, nur Eis. Alles war eiskalt. Aber dann sah ich dich, Slovi. Du lebst im Vater weiter.

Warum mußte das alles passieren? fragte Slovi.

Die Menschen sind so. Oftmals verrückt, sagte die Mutter. Sie werden aufgehetzt. Irgend jemand organisiert ihnen Waffen. Plötzlich besitzen sie ein Gewehr, eine Handgranate, einen Jeep. Manche haben sich sogar Uniformen besorgt; andere kämpfen im Schlabber-T-Shirt. Und der liebe Gott sieht zu. So ist das immer, wenn Krieg ist. Und die Händler, die Waffen organisieren, freuen sich über den Reibach, den sie gemacht haben.

Ich aber habe immer Lust zu leben, sagte Slovi, nicht um zu kämpfen, um zu sterben. Leben, mehr noch, mehr noch. Schließlich ist doch wichtig, daß man lebt?

Ja, das ist sehr wichtig, daß du lebst, daß wir noch leben, sagte der Großvater. - Vielleicht sollte es nicht nur zehn Gebote geben, sondern elf. - Gott hat es nur vergessen zu verkünden: Du sollst leben. - Das dürfte genügen. Man muß nicht alles wissen, um dafür dann zu kämpfen, um dafür dann zu sterben. Du sollst leben, lautet das elfte Gebot.

Gott hat vergessen, es in der Bibel niederzuschreiben, fügte die Mutter hinzu.

Jeden Tag goß Slovi die Weide. Ein Wunder, eine Weide als Freund zu haben, ein echten Freund, der in sein Leben getreten war und darin einen Platz einnahm. - War Slovi aber nicht in ihrer Nähe, fürchtete er um sie und dachte: Hoffentlich ist der Weide nichts zugestoßen. Hoffentlich haben die Nachbarkinder, Janko mit seiner Meute, sie bei ihrem Ballspiel nicht umgetreten. Aber besser wäre es, um den Weidenstock herum einen kleinen Zaun anzulegen.

Slovi schlug kleine Pfahle um die Weide und verband sie mit verrostetem Draht, der überall auf den Feldern spiralenförmig herumlag. Vor manchen Feldern war ein Schild aufgestellt, auf dem zu lesen war: Betreten verboten! - Minengefahr! Slovi dachte sofort an Brotislav aus seiner Schule, der auf so eine Mine getreten war. Nun hatte er nur noch ein Bein. Ihn hatte Slovi besonders ins Herz geschlossen. Brotislav erzählte, daß er manchmal heftige Schmerzen bekäme an der Stelle, wo sich einmal sein zweites Bein befunden hatte. Wie kann dir etwas weh tun, was du nicht mehr hast, fragten ihn fast alle Kinder in der Schule. Brotislav war über diese Fragerei nicht böse und sagte: Auch die Einbildung kann Schmerzen erzeugen. Ich sehe mich immer noch so wie früher herumlaufen, als ich noch zwei Beine hatte. Die Krücke ist nun mein zweites Bein, mein Hilfsbein. Schlimmer ist, wenn man nicht mehr sehen kann.

Das stimmt, sagten dann jedesmal die Kinder und hielten sich die Hand vor die Augen. Es wäre das Allerschlimmste auf der Welt, nicht mehr sehen zu können.

Als dann die Schule richtig begonnen hatte, ohne den Baulärm der Soldaten, zählte Slovis Klasse sieben Mädchen und fünf Jungen. Alle Mädchen und alle Jungen wollten sofort mit Slovi Freundschaft schließen, aber Slovi sagte: Dazu muß man nichts beschließen, entweder sind wir Freunde, oder wir sind keine Freunde.

Die Freundschaft kommt ganz von allein. Außerdem habe ich schon eine Freundschaft.

Mit wem denn? fragten alle aufgeregt.

Ich habe eine Weide gepflanzt.

Eine Weide! Eine Weide! riefen die Kinder. Da lachen ja die Truthähne! Aber die Lehrerin, Frau Zlatko, freute sich, daß Slovi einen Baum gepflanzt hatte.

Am nächsten kam Slovis Klasse mit Frau Zlatko zu ihm nach Hause. Sie bewunderten die kleine Weide, und jeder wollte sie zuerst gießen. Zärtlich berührte Frau Zlatko den Baum und sagte: Sie hat in Slovi Wurzeln geschlagen - und sie soll auch in unseren Herzen Wurzeln schlagen.

Inzwischen funktionierte auch wieder die Stromversorgung. Die Mutter hatte einen großen Fernsehapparat aus Deutschland mitgebracht, und nun wurde er angeschaltet. Plötzlich waren sie wieder mit der ganzen Welt verbunden. Ununterbrochen wußte das Fernsehen von vielem und verschiedenem zu berichten - und unversehens wurde Slovis Ort gezeigt, wo noch immer die meisten Einwohner fehlten. Überall noch ausgebrannte Häuser und ausgebrannte Autos zwischen den Ruinen. Überall Einöde. Und zwischendurch bewegten sich Politiker, die irgendwo verhandelten und dabei krampfhaft zuckten, als wären sie nicht normal. Auf einmal wurde seine Schule eingeblendet, daß sie wieder eröffnet worden sei mit ca. dreißig Kindern. Da schrien Slovi, seine Mutter und der Großvater auf. - Aber sogleich zeigte das Fernsehen neue Bilder aus dem Kosovo: Flugzeuge stürzten sich auf eine Brücke, über die ein Zug führ. Der Zug stürzte in den Fluß. - Über hundert Tote, meldete der Femsehsprecher.

Daß die nicht Ruhe geben, sagte die Mutter. Ich dachte, der Krieg sei vorbei. Aber gekämpft wird noch immer.

Als Slovi im Bett lag, dachte er an den Krieg: Er sah eine schwarze, todbringende Maschine, die unaufhörlich durch das Land rollt und Tote hinterläßt. Aber der Tod der fernen, unwichtigen Menschen erschien ihm als femer, unwichtiger Tod, mit dem er nichts anzufangen wußte. Wenngleich auch sein Vater und sein Onkel nicht mehr lebten.

Es war schon dunkel, der Mond schien für Sekunden groß in sein Fenster. Da stand er noch einmal auf und sah zu seiner kleinen Weide, die sich, wenn der Mond gerade durch die Wolken gedrungen war, mit einem schimmernden Glanz zu erkennen gab.

Aus: »Augenblicke der Kinder«.Plöttner Verlag, Leipzig 2006

   

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