XXVI. Jahrgang, Heft 146
Okt - Nov - Dez 2007/4

 
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Letzte Änderung:
11.12.2007

 
 

 

 
 

 

 

Meinungen–Karawanserei

Transnational statt internationalistisch!

Ungeschliffene Thesen zur überfälligen Entvolkung

   
 
 


Wir werden mehr umdenken müssen als wir vor einigen Jahren noch glaubten. Aus dem Reformationsprojekt des Sozialismus ist inzwischen ein Abbruchunternehmen geworden und immer weniger eignet sich zur Weiterverwendung. Kein Begriff, der heute noch ungeniert verwendet werden könnte. Die Aufgabe ist größer als angenommen und übersteigt bei weitem unsere bisherigen Kräfte. Wer hätte vor zwanzig, ja vor zehn Jahre noch gedacht, dass es irgendwann Zeit wird, den allseits gut beleumundeten Terminus des „Internationalismus“ als trojanisches Pferd zu bezeichnen und folgerichtig zu kippen. Doch genau das steht an und wird in Folge auch unternommen.

1. Der Internationalismus setzt Völker und Nationen als getrennte, abgespaltene und eherne Einheiten voraus. Er möchte Nationen als vernünftige Nachbarn etablieren, Völker verbinden, daher auch das institutionalisierte Gefüge der „United Nations“. Im Internationalismus wird die Nation eben nicht in Frage gestellt, sondern positiv codiert. Sie wird nicht aufgegeben, ihr wird gerade inbrünstig angehangen. Nation wird anerkannt, dass „inter“ vorne kündet nur davon, dass es auch friedvoller ginge, ließe man die Völker nur machen. Völkerfreundschaft nennt sich das dann. Internationalismus bedeutet lediglich Koexistenz.

2. Der Internationalismus dehnt das Nationale nur international aus, anstatt es hier wie dort konsequent zu negieren. Er will Begrenzungen und Schranken schmackhaft machen, d.h. ontologisieren, eben nicht als vergänglich und überwindenswert auffassen. Das unentwegte Gerede der Völker vergisst die in ihnen eingesperrten Menschen bzw. degradiert sie geradewegs zu unterworfenen Subjekten.

3. Die Überwindung der Nation ist nicht die Internation. Weder Internationale noch Internationalismus. Dass jede Nation sowieso Internation ist, weil jene ohne diese gar nicht zu denken ist, scheint den Internationalisten sogar weniger zu kommen als den Nationalisten. Selbstredend ist die nationale Konkurrenz nichts anderes als ein internationaler Wettbewerb. Der Grundvorwurf an den Internationalismus ist der gleiche wie an den Nationalismus: Sie wollen beide die Nation erhalten, sie ist Fixpunkt ihrer Überlegungen. Diese Fixierung zeugt von einer völligen Befangenheit in den Kategorien Staat und Politik. Gerade „politisch sein“ oder „Politik machen“ heißt im Sinne der staatlichen Ordnung tätig zu werden, heißt den nationalen Rahmen und die internationale Konstellation als Grundvoraussetzungen zu akzeptieren, so abweichend die Vorstellungen auch sein mögen. Diese Befangenheit wird im Internationalismus überhaupt nicht problematisiert. Wer Politik machen will, will mit Nationen auf internationaler Ebene handeln.

4. Wer für das Internationale ist, gibt zu verstehen, dass er für das Nationale ist, was meint, die Völker sollen weiterbestehen statt abgeschafft werden. Der Internationalismus ist eine besondere Formel des Nationalismus, und zwar die Schönwetterformel für die Linken aller ihrer Herren Länder. Wobei stets die Nation andere Nationen anerkennen muss, denn sie ist durch das sich staatlich Auszugrenzende definiert. Ich bin, weil es andere gibt. Internationalismus ist Multiplizierung durch gegenseitige Bestätigung und Zulassung. Internationalismus sagt aus, dass jede Nation bei sich bleiben sollte oder (was dann schon schlimmer ist) zu sich kommen dürfte. Er genehmigt die durchgesetzten Nationen als seine Grundlage, schließt aber andere Durchsetzungen nicht aus. Aus diesem Verständnis heraus ist es nur logisch gewesen, die richtig so benannten „nationalen Befreiungsbewegungen“ frenetisch zu unterstützen.

5. Die Nation ist der heilige (aber handfeste) Geist des Staates, der Internationalismus dementsprechend die Anerkennung, dass es neben meinem Geist auch andere gibt. Anstatt der Geisterei ein Ende zu machen, hebt er sie nur auf demokratische Basis. Die internationalistische Gesinnung ist nicht das Gegenteil der nationalistischen, sondern deren Fortsetzung. Nicht nur zum eigenen Staat wird sich bekannt, sondern gleich zu den vielen anderen auch. Internationalismus ist pluralistische Prostaatlichkeit.

6. Die Frontstellung „Internationalisten gegen Nationalisten“ mag in einer gewissen Epoche progressiven Sinn gehabt haben, heute ist sie nur noch reaktionärer Unsinn. Die Internationalisten der Gegenwart sitzen in der EU, der USA, der NATO. Peter Handke hatte schon recht als er anlässlich der Zerschlagung des alten Jugoslawiens gegen die „Internationalen“ wetterte.

7. Die „Internationale“, jenes berühmte Kampflied der Arbeiterbewegung, ist ein regressiver Schlager. Der ganzen Sermon findet sich hier; explizit: Völker, Gefecht, Menschenrecht; implizit: Freiheit, Gleichheit, Gerechtigkeit. Und natürlich dezidiert der Müßiggänger, der beiseite geschafft werden soll. Was soll man da noch sagen? - Auf den Misthaufen der Geschichte mit alledem! Es geht auch nicht mehr um den Aufbau irgendeiner revolutionären Internationale.

8. Mit einem Standpunkt, der die Nation als „eine historisch entstandene stabile Gemeinschaft von Menschen“ (Josef Stalin) oder noch deutlicher als „eine durch Schicksalsgemeinschaft erwachsene Charaktergemeinschaft“ (Otto Bauer) ausweist, ist unsere Position unvereinbar.

9. Volk bezeichnet keine unbestimmte Menge, sondern das Fußvolk eines Staates. Und zwar nicht nur die zusammengefasste Masse für einen Staat, sondern auch die sich selbst zusammenfassende. Eine Herde, die sich für sich selbst hält und hütet. Volk bedeutet eine gemeinschaftliche Identitätsfixierung, die aber anders als Fangemeinden niederen Typs durch ihre unerschütterliche Beharrlichkeit besticht. Man wähnt, dass man ist, wozu man sich verpflichtet fühlt. Volk ist das Versetzen von in einem Staat (oder in einen Staat wollenden) zusammengepferchter Exemplare in einen kollektiven Wahn der Gehörigkeit: Angehörigkeit, Zugehörigkeit, Zusammengehörigkeit, auf jeden Fall Hörigkeit.

10. Um als Nation oder Volk anerkannt worden zu sein, mussten sich diese erst gewalttätig ins Recht gesetzt haben. Die ursprüngliche Akkumulation des Volkes ist ohne Krieg nicht zu haben. Daher geistern die Sagen und begeistern die Mythen. Sie sind emotionaler Grundstock jedes nationalen Gefühlshaushalts.

11. Wir glauben nicht an das friedliche Zusammenleben der Völker. Völker als wehrhafte Haufen staatlich organisierte Banden werden nie friedlich zusammenleben können. Völker sind das jeweils konfrontative und wehrhafte Gegenüber. Dienstbereites Personal ihrer Staaten. Die Dichotomie Volk und Herrschaft ist eine irreführende. Völker schließen Ordnung und Herrschaft ein, vor allem aber Zucht in doppeltem Wortsinn. Volk meint Abgrenzung vom anderen Volk. Vice versa. Diese Abgrenzung, deren praktische Formen bis zum Krieg, ja zur Auslöschung und Vernichtung reichen, ist dem Volk inhärent.

12. Wenn Volk und Nation als allgemeine Besonderheit und eherne Einheit begriffen werden, dann kann das nur heißen, dass alles, was ihrer „Substanz“ fremd oder bedrohlich erscheint, abgewehrt, bekämpft, assimiliert oder eliminiert werden muss. Dass hat der Nationalist besser begriffen als der Internationalist, der immer noch vom friedlichen Nebeneinander (Staatengemeinschaft) oder Miteinander (multiethische Gesellschaft) träumt.

13. Der nationale Ausweis beherbergt keinen selektiven Anspruch, nirgendwo, er verweist lediglich auf die Befangenheit seiner Protagonisten. Wer erst im Volk zu sich findet, verrät sich nur als nationale Charaktermaske seines Standorts, und vor allem, dass eins sich selbst nicht hat, sondern verloren hat.

14. Man soll Landschaften mögen, Weinsorten bevorzugen - vor allem Menschen lieben! Aber es ist ausgezeichneter Unsinn, eine vorbestimmte Gruppe und einen vorbestimmten Staat via Geworfenheit als das zu Akklamierende anzuerkennen. Die Geworfenheit ist Zufall, sich ihr als Schicksal zu fügen, ja sich positiv zu verfügen ist ein Grundübel unserer Zeit, das sich Patriidiotismus nennt. Patrioten sind wahrlich die Idioten ihres Staates, Anbeter einer spezifischen Abstraktion, die sie für Natur halten, ihnen zugehörige Natur, leibhaftiges Wesen, nicht konstruiertes, aber gesellschaftlich durchgesetztes Unwesen.

15. Wer meint ein Österreicher zu sein, ist zu fragen was das denn sei außer die vorgeschriebene Unterwerfung unter das Gewalt-, Steuer- und Rechtsmonopol des Staates? Was verbindet einen mit Jörg Haider oder Wolfgang Schüssel, das über den gemeinsamen Pass, also die Staatsbürgerschaft hinausgeht? Irgendeine Nationalmannschaft? Irgendetwas Charakterliches? Irgendetwas Blutiges? Wir wollen doch nicht annehmen, dass einem hier wirklich etwas einfällt. Sollte dies doch der Fall sein, ist der Träger solcher „Mein“ung, die nichts anderes als eine öffentlich-private Kundgebung ist, als Patriot und Nationalist ausgewiesen.

16. Den Schicksalsgemeinschaften gilt es zu fliehen, aber nicht zu ihnen, sondern von ihnen. Der Bezug auf den „eigenen Staat“ (gemeint ist der, dem man via Staatszugehörigkeit Hörigkeit zu zollen hat) hat ein rein pragmatischer zu sein. Wie nutze ich ihn? Wie erleide ich den geringsten Schaden? Auch die Staatsbürgerschaft ist nicht zur Weltbürgerschaft zu steigern, sondern abzuschaffen. Welchen Sinn sollte sie auch ohne Staat und Bürger machen?

17. Die Gattung ist kein Zoo der Völker. Gegen die Ethnie irgendwelcher Mehrheiten setzen wir nicht die Identität der Minderheiten, mag man sie auch als Notwehrgemeinschaft tolerieren und unterstützen. Gegen die ethnische Reinheit setzen wir nicht die multiethische Vielheit. Wir plädieren schlicht die Aufhebung nationaler Identitäten. Die Ethnie ist zu kippen wie der Staat. Damit Menschen Individuen werden können, müssen sie sich von ihren Zwangsvergemeinschaftungen lösen. Diese Entledigung ist freilich ohne Erledigung nicht zu haben. Welche Assoziationen die Individuen sodann etablieren, bleibt ihnen selbst überlassen.

18. Es gilt sich jenseits des Binnenkonflikts von Globalisierung und Antiglobalisierung zu positionieren. Wer den Unbegriff „Anti- Globalisierungs-Bewegung“ erfunden hat, mag ziemlich gerissen gewesen sein, wer ihn allerdings bereitwillig übernimmt, muss schon ziemlich dumm sein. Weder Abschottung oder gar Heimatschutz ist unsere Aufgabe, ebenso wenig sind wir aber der ideologische Flankenschutz der rasenden Liberalisierung.

19. Globalisierung ist nicht etwas von oben, das nun von unten in Angriff genommen werden muss, sondern kommt von innen heraus, ist eine generelle Tendenz, die in allen Poren dieses Systems der Wertvergesellschaftung steckt. Diesseits der Globalisierung gibt es keine Alternativen. Den nationalen Reformern aller Länder sei ins Stammbuch geschrieben: Abhängen kann man nur den Weltmarkt, nicht sich vom Weltmarkt. Unabhängigkeit ist Trug, Nation ihr Fetisch. Fremdherrschaft abzulehnen, bedeutet nicht schon Herrschaft abzulehnen. Herrschaft wird hier am deutlichsten als äußerer Faktor wahrgenommen, nicht als inneres Wesen bürgerlicher Verfasstheit. Wer sich auf Unabhängigkeit kapriziert und diese als nationale versteht, streicht sich selbst durch. Die Nationen haben ebenso wenig unabhängig zu sein wie die Staaten frei zu sein haben. Umgekehrt: Menschen haben sich von Staaten zu befreien und von Nationen zu emanzipieren.

20. Ohne historische Kämpfe pauschal beurteilen zu wollen, beschließt das auch, dass wir heute, also: jetzt und fortan Befreiungskämpfe unter nationalem Vorzeichen ablehnen. Selbstbestimmung der Menschen darf nicht auf das Niveau oder die Scholle von Volk und Nation, aber auch nicht ihrer falschen Individualisierungen wie Bürger, freier Wille oder die verlogene Mündigkeit heruntergeholt werden.

21. Was ein transnationaler Befreiungskampf ist und was der (vor allem auch in der so genannten Dritten Welt) bedeuten könnte, ist allerdings noch offen. Wer glaubt im abzeichnenden Nord-Südkonflikt ob der notwendigen Ablehnung der diversen Vorhaben nordischer Heerführer samt Horden gleich Partei für den Süden ergreifen zu müssen, hat die präsentierte und oktroyierte Frontstellung als akzeptable und somit auch als seine akzeptiert anstatt sie zurückgewiesen. Die Orte der Befreiung jedoch sind überall, es geht um ein subversives Einnisten, nicht ein rigides Partei beziehen. Nicht revolutionäre Subjekte sind zu suchen (am aller wenigsten solche, die sich aus irgendwelchen bürgerlichen Charaktermasken herleiten), sondern die Bewusstsein und Erkenntnis wider die Unmenschlichkeit und die Zumutungen ist überall möglich wie unmöglich. Irgends wie nirgends. Gefordert sind Transnationale oder besser noch: Transvolutionäre, d.h. sich in Kenntnis und Bewusstsein setzende Individuen, die etwas anderes denken und wollen.

22. Transnational ist nicht gleich antinational. Der uns bekannte Antinationalismus, insbesondere das Antideutschtum, stellt lediglich den Nationalismus auf den Kopf und propagiert dessen negative Variante. Inzwischen hat er vielfach begonnen, Nationen nicht nur konjunkturell, sondern systematisch und kategorial in schlechtere und weniger schlechte (also bessere!) einzuteilen. Schlussendlich landet solcher Antinationalismus selbst wieder im Schoß bestimmter Staaten und Nationen, deren Hilfskompanie er folgerichtig und folgsam abgibt.

23. Die Völker sollen also nicht ihren eigenen Weg gehen, sie sollen schlicht und einfach weg. Entvolkung statt Zusammenvolkung ist angesagt. Wir sind für das definitive Ende aller Völker und Nationen, das heißt ihre transvolutionäre Transformation. In letzter Konsequenz gehören Völker nicht vermittelt, sondern zersetzt. Die Migration tut das ihre. Wir sollten das unsere tun. Die Alternative zur ethnischen Abgrenzung ist nicht deren Anerkennung, sondern deren Auflösung im Kommunismus. Wobei es im Regelfall die Aufgabe jedes und jeder Transnationalen ist die „eigene“ Nation, das „eigene“ Gewaltmonopol, dem er oder sie unterstellt ist zur vorrangigen Aufgabe der Destruktion zu machen.

24. Vaterlandslose Gesellen nannten die national gesinnten Bürger einst die Proletarier. Sie waren es nicht, wir sind es schon. In der Stunde der Entscheidung lassen wir unser Vaterland nicht im Stich, sagten die Klassenkämpfer. In der Stunde der Entscheidung versetzen wir ihm den Todesstich, sagen wir. Hoch die nationale Leidenschaft? Lasset uns kotzen! Hoch die internationale Solidarität? Auch da sollte einem speiübel werden. - Solidarität reicht! Nicht Zärtlichkeit der Völker fordern wir ein, sondern Zärtlichkeit der Menschen. Homo homini homo.

25. Nicht Internationalisten sind wir, sondern Transnationale. Die Zukunft liegt in der transnationalen Befreiungsbewegung. Diese muss freilich mit den Fetischen der bürgerlichen Tradition fundamental brechen. Ihr Denken ist gegen diese Welt, weil diese Welt zwar eine menschengemachte, aber eine menschenfeindliche ist. Ihr Reflektieren ist zwar aus dieser Welt, aber nicht mehr von dieser Welt. Hegelisch gesprochen Repulsion ohne Attraktion. So könnte kurz gesagt der Grundbegriff der Transvolution gefasst werden.

26. Transvolutionäre wird man daran erkennen, dass sie aufhören, den Kanon der Herrschaft zu singen, die Hits von Kommerz und Kapital: Vom wertschaffenden Arbeiter, von den zu befreienden Völkern, von der zivilen Gesellschaft, von Sachlichkeit und Konstruktivität, vom freien Willen der mündigen Bürger, von Menschenrechten, Wohlfahrtsstaat und Demokratie. That’s over.

Franz Schandl
A – Wien


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Der Mensch ist im Prinzip menschlich

Unter Menschlichkeit wird manches verstanden, auch und besonders jene liebevoll tolerante Umgangweise unter uns Artgenossen und -genossinnen. Und diese Umgangsform schließt selbstverständlich die Duldsamkeit menschlicher Schwäche mit ein.

Auf der Gegenseite des Verhaltens der Gattung Mensch steht jener von Ökonomie geprägte Wirtschaftsdarwinismus, der ausschließlich starke Siegertypen bevorzugt. Angeblich sei hier, so die Darwinisten, ohnehin die Natur am Werk, die dem Menschen mit ihren Gesetzen Kampf auferlege, auf dass ausschließlich der Stärkere überlebe. Das sei in der Tier- und Pflanzenwelt so und damit natürlich auch unter den höchstentwickelten Säugetieren, den Menschen, überlebensnotwendig.

Auf die Weise kann sich jeder Kapitalist - und gerade der Turbokapitalist - auf die Natur berufen und den Kapitalismus als die natürlichste Gesellschaftsform apostolieren.

Verdrängung von Konkurrenten, Umverteilung von Geld und Besitz von Armen auf Reiche, alle Macht den Starken und viele weitere Ungerechtigkeiten und Brutalitäten ließen sich auf diese naturgewollten Grausamkeiten zurückführen. Und im Letzten unterscheidet sich solches Denken nicht sonderlich auffällig von faschistischen Herrenmensch-Ideologien.

Zum Glück ist in der internationalen neurobiologischen Forschung immer häufiger vom „social brain“ die Rede. Danach sind wir Menschen nicht vorrangig Konkurrenten und Egoisten, sondern von Natur aus vor allem auf gemeinschaftliches Zusammenwirken und auf Resonanz, also gegenseitiges Mitschwingen, angelegt. Denn unser Gehirn belohnt nun einmal menschliches Miteinander durch die Ausschüttung von (Glücks-)Botenstoffen, die Wohlgefühle veranlassen.

Joachim Bauer, Medizinprofessor und Psychotherapeut, hat dazu in seinem Buch „Prinzip Menschlichkeit“ (Hoffmann und Campe, Hamburg 2007) nachdrücklich auf jene dem Darwinismus entgegenstehenden Erkenntnisse der modernen Neurobiologie verwiesen und festgestellt: „Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch“. Außerdem weist Bauer nach, wie sehr Nachfolger Charles Darwins die Erkenntnisse des Begründers ihrer Lehre durch entsprechende theoretische Behauptungen ideologisch angereichert haben.

Das sogenannte Recht des Stärkeren entbehrt nach Bauer weitgehend natürlichen Grundlagen. Vielmehr ist es das, was dieses angeeignete Recht ohnehin immer war, Anmaßung und eine fragwürdige Rechtfertigung von Macht und Gewalt.

Mächtige haben es immer verstanden, ihre Macht ideologisch zu rechtfertigen und durch wissenschaftliche Denker rechtfertigen zu lassen. Sowohl kapitalistisch als auch sozialistisch geprägte Machtsysteme haben dafür kaum eine brauchbare Denkart ausgelassen. Und viele gesponserte wissenschaftliche Forscher werden auch in der Zukunft jene Ergebnisse liefern, die der Sponsor von ihnen erfahren will. Und dem Geldgeber werden sie weiterhin dazu dienen, jene Gewinne anzuhäufen, von denen er Teilbeträge erneut in die Forschung stecken kann.

Nun hat in der Demokratie mit ihrer immerhin über zweitausend Jahre alten Tradition die Masse der Machtloseren durch Mehrheitsbildung grundsätzlich Macht entwickeln können. Nach Darwin und seinen Mit- und Nachfolgedenkern setzen sich dennoch nach einer gewissen Zeit immer wieder die Alpha-Tiere durch. Und wenn der eher vom gesellschaftlichen System unvereinnahmte Zeitgenosse (den es vermutlich nicht wirklich gibt) sich auf der Erde und in der menschlichen Gesellschaft umsieht, wird er vermutlich entdecken, dass mit der so genannten Globalisierung, die vor allem wirtschaftlichen Interessen folgt, nicht gerade demokratische Formen entwickelt werden. Und da wo es sie gibt, werden sie zurzeit eher abgebaut.

Bei den sogenannten Terroristen, die den materialistischen Kapitalismus verteufeln und bekämpfen und sich angeblich deswegen auf die Seite der Schwachen schlagen, herrscht perverses, von religiösem Missbrauch geprägtes Machtdenken vor. Sie opfern Schwache und Unterdrückte, die auf Erden ohnehin wenig zu verlieren haben, als lebende Bomben und stellen ihnen dafür Macht, Wohlstand, Freiheit und Sieg im Jenseits in Aussicht.

Außerdem vermitteln sie den Selbstmordattentätern Macht über das eigene Leben und den eigenen Tod sowie über Leben und Tod angeblicher Feinde.

Wenn Joachim Bauer mit seinem „Prinzip Menschlichkeit“ Recht behalten soll, wenn der Mensch im gelingenden, friedlichen und liebevollen menschlichen Zusammenleben sein wahres Glück findet und nicht im Sieg über andere Menschen die höchste Erfüllung erlebt, dann müsste auf Dauer, um nur einige Beispiele zu nennen, die Integration von Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund in Deutschland, der Frieden zwischen Israelis und Palästinensern sowie die Wiedervereinigung von Nord- und Südkorea gelingen.

Nun gut, als Autor will ich mir nicht naive Blauäugigkeit vorwerfen lassen, schon gar nicht, wenn ich hier in Deutschland erlebe, wie oft Karriere u. a. Vorrang vor dem Umgang mit Kindern und dem Familienleben hat. Karriere verlangt nach darwinistischen Siegertypen. Familie könnte Einübungsfeld für ein liebevolles menschliches Miteinander sein.

Natürlich können Kinder auch in Kindertagesstätten und Schulen liebevolles soziales Miteinander lernen. In der Regel bemühen sich Erzieher und Lehrer auch darum. Aber gleichzeitig werden den Kindern dort durch Personaleinsparungen dauerhafte und intensive Beziehungsangebote vorenthalten. Und darüber hinaus wird über angeordnete Prüfungen, Zensuren und Zertifikate, durch die Betonung kognitiver Lernformen und unter Vernachlässigung emotionaler Intelligenz der Nachwuchs vor allem auf die berufliche und gesellschaftliche Konkurrenz vorbereitet.

Dennoch gilt: „Die beste Droge für den Menschen ist der Mensch“ oder anders ausgedrückt, des Menschen Glück ist der Mensch.

Karl Feldkamp
Bergisch Gladbach


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Zur Korruption internationaler Strafjustiz

Das Verfahren zum Lockerbie-Anschlag von 1988, das demnächst vor dem Obersten Schottischen Gericht überprüft werden soll, ist ein frühes Beispiel für den Einsatz internationaler Strafgerichtsbarkeit gegen Länder, die sich gegen die USA und ihre Verbündeten unbotmäßig verhalten. Sondertribunale z.B. gegen Jugoslawien, Ruanda, Irak und jüngst Libanon (Syrien) etc. bedrohen nicht nur das friedliche Zusammenleben der Völker. Auch ein eisernes Prinzip der liberalen Demokratie bleibt dabei auf der Strecke: Die Gewaltentrennung zwischen vollziehender Gewalt und Recht sprechender Gewalt.

Die „Grenzlinie zwischen einem unparteiischen Verfahren und Siegerjustiz ist schnell überschritten, wenn das Erfordernis der Unparteilichkeit keinen Rückhalt in einer institutionellen Unabhängigkeit hat,“ meint Professor Hans Köchler. Eine solche Unabhängigkeit sei bei keinem dieser Sondergerichte gegeben gewesen. In einem Forschungspapier der International Progress Organisation (1) kritisiert der österreichische Philosophieprofessor, Autor eines Standardwerkes zum Thema (2) Status und Struktur dieser Sondergerichte. Er zeigt, dass universelle Gerichtsbarkeit nicht regionalisiert werden kann (ausgenommen wie beim Europäischen Menschenrechtsgerichtshof des Europarats in einem permanenten regionalen Organisationsrahmen).

Die Sondertribunale des UN-Sicherheitsrats für das ehemalige Jugoslawien und Ruanda seien „von Anfang an nicht in der Lage gewesen, ihre Glaubwürdigkeit als echte Gerichte zu begründen.“ Das Internationale Straftribunal für das ehemalige Jugoslawien (ICTY) in Den Haag, vor dem der Prozess gegen Präsident Slobodan Milosevic bis zu dessen ungeklärtem Tod in der Haft stattfand, habe „als ein politisches Forum agiert und das Recht im wesentlichen für die Zwecke einer Staatenkoalition benutzt, die politisch und militärisch im ehemaligen Jugoslawien intervenierte.“ Die einzige Bestimmung der Charta der UN, auf die sich der Sicherheitsrat bei seinem - „rechtlich unhaltbaren“ - Anspruch auf ein Mandat zur Schaffung irgendwelcher Tribunale stützt, ist Art. 39. Dieser regelt Zwangsmaßnahmen zur Wahrung von Frieden und Sicherheit. Er definiert keine gerichtliche sondern eine politische Kompetenz. Die Verwechslung und Vermischung der Ausübung exekutiver Gewalt durch den Sicherheitsrate mit der Ausübung internationaler Strafgerichtsbarkeit ist nach Auffassung von Köchler eine verhängnisvolle Fehlentwicklung.

Daher konnte auch das internationale Verbrechen des Lockerbie-Anschlag vor einem regionalen - oder quasi-regionalen - Sondergericht „nicht in einer glaubwürdigen und konsistenten Weise strafrechtlich verfolgt werden.“ Formal handelte es sich um ein Vorhaben der schottischen Justiz unter extraterritorialen Gegebenheiten auf holländischem Boden vor einem Gericht, das als ein Sondergericht gemäß einer Sicherheitsratsresolution nach Kapitel VII der UN-Charta eingerichtet worden war. Die Regierungen der USA, Großbritanniens und Libyens hatten sich nicht über die Auslegung der Montreal-Konvention von 1971 zur Sicherheit der Zivilluftfahrt einigen können. „Wegen der - fast unvermeidlichen - Politisierung des Verfahrens, die sich aus dieser Konstellation ergab, produzierte das Verfahren wie auch das Berufungsgericht höchst inkonsistente Urteile.“ Der Fall muss nun vor dem Obersten Schottischen Gericht neu aufgerollt werden.

Der „Irakische Oberste Strafgerichtshof“ ist ein weiteres abschreckendes Beispiel. „Dieses Tribunal ist kein Gericht, weil es auf Anordnung der Besatzungsmacht in Verletzung der Dritten Genfer Konvention eingerichtet wurde.“ Als ein von den USA initiiertes Sondergericht „soll es sich mit internationalen Verbrechen der Führer eines besiegten Landes - oder Mitgliedern einer abgesetzten Regierung - befassen“. Dadurch gerate „die ganze Operation des Gerichtshofs unter (direkte) Kontrolle der führenden Besatzungsmacht.“ Deren „strategische Interessen“ bestimmen die Erhebung von Beweisen, die Auswahl der Verdächtigen, die Abfassung der Anklagen etc.“ (nicht zu reden von der Ausbildung des Gerichtspersonals im Ausland durch Experten der USA und Großbritanniens). Der „gemischt innenpolitisch-regionale Rahmen“ des Tribunals garantiere eine „fast totale Kontrolle“ der USA auf Grund der Invasion des Landes, für welche die Führer der USA jedoch nicht vor einem unparteiischen internationalen Gericht zur Verantwortung gezogen werden können. Denn der Internationale Strafgerichtshof besitze keine autonome Gerichtsbarkeit. Die USA könnten mit ihrem Veto im Sicherheitsrat seine Befassung verhindern.

Ähnlich verhält es sich laut Professor Köchler mit der „ziemlich erratischen Praxis universeller Gerichtsbarkeit durch die belgische Justiz auf der Basis eines Gesetzes über Kriegsverbrechen von 1993.“ Dass dieses von der außenpolitisch in Schwierigkeiten gebrachten belgischen Regierung im Wege von Novellierungen ziemlich schnell wieder erledigt worden sei, habe „dem naivsten Beobachter internationaler Vorgänge gezeigt, dass die Anforderungen an eine globale Justiz nicht mit den außenpolitischen Interessen eines Nationalstaates vereinbar sind.“

Der Internationale Strafgerichtshof in Den Haag könnte nach Meinung von Professor Köchler vielleicht einmal „einen angemessenen Verfahrensrahmen für die Ausübung einer universellen Gerichtsbarkeit abgeben, wenn eines Tages die mächtigen Staaten, einschließlich aller permanenten Mitglieder des Sicherheitsrates, dem Statut von Rom beigetreten sein werden.“ Doch das Statut des IStGH räumt dem Sicherheitsrat eine privilegierte Rolle ein. Dieser entscheidet, ob Ermittlungen oder Anklagen dem IStGH zugewiesen oder entzogen werden. Damit hat das höchste Exekutivorgan der UN die Kontrolle über die Ausübung der Rechtsprechung des Gerichts. „Das bedeutet, das das unerlässliche Erfordernis einer Gewaltentrennung nicht einmal im Statut des IStGH erfüllt ist.“ Soweit Professor Köchler.

Das jüngste Internationale Tribunal, das der Sicherheitsrat am 30. Mai zur Verfolgung der Verantwortlichen für die Ermordung des ehemaligen libanesischen Ministerpräsidenten Rafik Hariri beschloss, ähnelt auffällig dem Vorgehen gegen Libyen im Lockerbie-Fall. Auch im Libanon geht es um einen spektakulären Terroranschlag. Auch hier sind die politischen Nutznießer des Terrors die USA, Israel und ihre libanesischen und andere Verbündeten. Auch hier soll ein arabisches Land, Syrien, unter Druck gesetzt werden. Und auch hier arbeitete der erste Ermittler, der Berliner Staatsanwalt Detlev Mehlis, mit fragwürdigen Methoden und Behauptungen. Durch öffentliche spekulative Behauptungen lenkte Mehlis den Verdacht auf Syrien. Auf sein Geheiß wurden vier libanesische Generäle verhaftet, die bis heute ohne konkrete Tatvorwürfe, geschweige denn eine Anklage ihrer Freiheit beraubt werden. „Mehlis stand unter dem Einfluss einer bekannten libanesischen Gruppe. Er war Opfer von Manipulationen bestimmter Mitglieder dieser Gruppe und von Pressionen der USA.“ So ein intimer Kenner der libanesischen Politik, der damalige französische Kommandant der Friedenstruppe UNIFIL, General Alain Pellegrini, im Interview mit der Hezbollah nahe stehenden Wochenzeitung Al Intiqad v. 13. Juli. Mehlis Nachfolger, der Belgier Serge Brammertz sei dagegen „ein erfahrener Mann, der fern von allen Pressionen und von Politisierung arbeitet.“

Wenn der Verwilderung der internationalen Strafjustiz auch hauptsächlich dadurch Grenzen gesetzt werden, dass die betroffenen Länder und Völker gegen die eigentliche Ursache dieser pseudo-juristischen Barbarei, nämlich gegen die Kriege und Interventionen der Großmächte, Widerstand leisten, so können und müssen doch auch die Möglichkeiten genutzt werden, die in westlichen Ländern gegeben sind. In der Tradition des „Russel Tribunal“ von 1967 gegen den Vietnam-Krieg entstanden Tribunale der zivilen Öffentlichkeit zum Jugoslawien-Krieg und zum Irak-Krieg. Sie haben Verantwortliche namhaft gemacht und Kriegsverbrechen dokumentiert. So war es schon heute möglich, Beweismaterial zu sammeln, damit bisher unbehelligte Hauptkriegsverbrecher vielleicht eines Tages vor ordentlichen Gerichten zur Verantwortung gezogen werden können. In Deutschland wurde Strafanzeige gegen den ehemaligen US-Verteidigungsminister Rumsfeld gestellt, sie scheiterte jedoch bisher an der NATO-Bündnistreue der deutschen Justiz. Als während des Verfahrens gegen Präsident Slobodan Milosevic Spendengelder für seine Verteidigung von einer deutschen Oberfinanzdirektion und höheren politischen Instanzen in missbräuchlicher Ausnutzung einer EU-Richtlinie beschlagnahmt wurden, konnte der Eingriff gerichtlich abgewehrt werden. Immerhin handelte es sich um einen schwerwiegenden Eingriff in das Grundrecht auf Verteidigung vor Gericht. Wichtig ist auch die politische und juristische Aufarbeitung der Rolle der Internationalen Straftribunale. Zum ICTY gibt es auf der Webseite www.free-slobo.de eine umfangreiche Dokumentation. Auch liegen inzwischen Bücher über den Milosevic-Prozess von Cathrin Schütz, John Laughland und Germinal Civikov vor. (3) Und der juristisch-politische Kampf gegen das Tribunal muss auch deshalb weitergehen, weil dieses für den Tod von Milosevic verantwortlich zu machen ist. Die Familie Milosevic fordert mit Unterstützung des Internationalen Komitees für die Verteidigung von Slobodan Milosevic Aufklärung der Todesumstände und Bestrafung der Verantwortlichen (siehe: http://www.jungewelt.de/2007/07-16/047.php)

Schließlich ist zu betonen, dass die Korruption der internationalen Strafjustiz auch als eine parallele Entwicklung zum innerstaatlichen „Antiterrorkampf“ zu sehen ist, der sich seit den Terroranschlägen in den USA am 11. September 2001 immer mehr als ein enormes Umorientierungs-, Umerziehungs- und Umgestaltungsprogramm erweist. Eine zusammenfassende Übersicht über die „Sicherheitsmaßnahmen“ der letzten Zeit bietet der Rechtsanwalt und Publizist Rolf Gössner, Präsident der Internationalen Liga für Menschenrechte, in seinem jüngsten Buch. (4) Anscheinend geht es um ein regelrechtes Programm der Demontage hergebrachter Grundsätze des Völkerrechts, der Menschen- und Bürgerrechte und des liberal-demokratischen Rechtsstaates geht.

Klaus von Raussendorff
Bonn

1) Webseite der International Progress Organisation (I.P.O.) www.i-p-o.org .

2) Hans Köchler, Global Justice or Global Revenge? International Criminal Justice at the Crossroads, (Springer-Verlag) Wien, 2003.

3) Cathrin Schütz, Die NATO-Intervention in Jugoslawien - Hintergründe, Nebenwirkungen und Folgen, (Braumüller Verlag, Ethnos Bd.62 XII), Wien 2003; John Laughland, Travesty, The Trial of Slobodan Milosevic and the Corruption of International Justice, (Pluto) London, 2007; Germinal Civikov, Der Milosevic-Prozess - Bericht eines Beobachters (Promedia) Wien 2006.

4) Rolf Gössner, Menschenrechte in Zeiten des Terrors - Kollateralschäden an der ´Heimatfront’, (konkret Literaturverlag), Hamburg 2007.

Der Artikel ist bisher nur auf der Webseite der Interantional Progress Organisation erschienen, deren Direktor Prof. Köchler, Wien, ist (www.i-p-o.org/von_Raussendorff-Strafjustiz-July07.pdf).

   

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