XXVI. Jahrgang, Heft 146
Okt - Nov - Dez 2007/4

 
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Letzte Änderung:
11.12.2007

 
 

 

 
 

 

 

MEDIEN – KULTUR – SCHAU




   
 
 


Florian Felix Weyh
Die letzte Wahl
Therapien für die leidende Demokratie.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007.
323 Seiten, 27,50 Euro

Ausgelitten –
Florian Felix Weyh therapiert die Demokratie zu Tode

Das Unbehagen an der Demokratie ist evident. Nur, worin besteht es? Zweifellos ist es nötig zu fragen, was Demokratie ist, woher sie kommt, was sie kann, wie sie funktioniert, wo ihre Integrationskraft und wo ihre Schwächen liegen. Doch macht Florian Felix Weyh das? Nur sehr bedingt, denn nicht die Demokratie in ihrer Gesamtheit wird diskutiert, sondern ausschließlich deren Wahlverfahren. Alles, was der Markt an Reformvorschlägen in den letzten Jahrzehnten aufzubieten hatte, findet sich auch bei Weyh. Stets geht es um konkrete Maßnahmen, die der Demokratie wieder neues Leben einhauchen sollen. Diese Vorschläge, frisch verpackt, werden als „Heilversuche“ vorgestellt, aufbereitet in diversen Behandlungsgesprächen zwischen einem Therapeuten und seiner Patientin, die angeblich unter einer Demokratiephobie leidet.

Angeregt wird etwa die Schaffung einer Eventualstimme, die, sollte die erstgewählte Partei leer ausgehen, der zweiten Präferenzpartei zugerechnet wird. Eingetreten wird für das freie Mandat, für das Persönlichkeitswahlrecht, für Abwahlreferenden und für Kinderstimmen, die den Eltern zufallen. Natürlich ist Weyh auch ein Vertreter des Mehrheitswahlrechts. Die Gesamtzahl der Mandate sollte sich nach der Wahlbeteiligung richten, das Stimmgewicht eines Abgeordneten nach den Stimmen, die er lukriert hat. Plädiert wird für gesonderte Landesparteien. Kandidaten der Landespartei dürfen nicht für eine Bundespartei kandidieren, und vice versa. Empfohlen werden des Weiteren auch Negativstimmen gegen einzelne Parteien, die als Abzüge geltend gemacht werden sollen.

Halten wir kurz inne und stellen uns Folgendes vor: Ich gebe einer Liste die Stimme, einigen Kandidaten eine Vorzugsstimme, einer zweiten Partei eine Eventualstimme und einer dritten eine Negativstimme. Außerdem verfüge ich über zweieinhalb Stimmen: meine und eineinhalb für die auf Vater und Mutter aufgeteilten Kinder. (Habe ich nun zweieinhalb Stimmzettel oder nur einen, der zweieinhalbfach zählt?!?) Die Gefahr falsch zu wählen oder den Stimmzettel ungültig auszufüllen, wächst exorbitant an. „Wie wähle ich richtig, ohne mich zu verwählen?“, da werden nicht nur Oma und Opa nervös. Schon der Wahlakt des Einzelnen würde aufwendige Vorbereitungen erfordern und ein Vielfaches an Zeit beanspruchen, auch an der Urne. Von der Auszählung ganz zu schweigen. Oder wählen wir dann alle via Netz? Und die Trojaner gleich mit? Erledigen wir alles per Mouse-Click? Und was, wenn die Computer gerade am Wahltag abstürzen?

Selbstverständlich schwärmt Weyh vom E-Voting. Der Optimismus geht dann sogar soweit, das Parlament durch Volksabstimmungen per Handy zu ersetzen. „Das Volk entscheidet über alle Gesetze und Verordnungen; besondere Termine dafür gibt es nicht, weil eine elektronische Abstimmung kaum Aufwand erfordert. In alter Begrifflichkeit bildet das Volk somit ein riesiges Freizeitparlament, das sich immer dann mit Politik befasst, wenn dies notwendig wird - vielleicht täglich, vielleicht einmal die Woche, vielleicht nur einmal im Monat.“ „Totale Wahl“ wird dieses Outsourcing genannt.

Wie soll man sich das nun praktisch vorstellen? Man stürme frühmorgens Handy oder PC, studiere vier Gesetzesvorlagen und zwanzig Verordnungen und beurteile sie pflichtgemäß als Freizeitparlamentarier? Was passiert mit den nicht Angeschlossenen? Werden die dann ausgeschlossen? Außerdem: Wie komme ich dazu, mir Bauverordnungen zur Fassadenhöhe und Erkergröße in Orten bis 1000 Einwohner freiwillig reinzuziehen. Weder kann ich da durchblicken noch möchte ich da durchblicken können. Warum soll ich müssen?

Gewinnt man vorerst den Eindruck, hier füttert jemand bürokratische Krokodile, so drängt sich mit zunehmender Seitenzahl das Gefühl auf, die Demokratie der Zukunft habe einem magersüchtigen Model zu gleichen. Erscheint der erste Teil wie eine Aufrüstung des demokratischen Procederes, so steht der zweite ganz unter dem Diktat des Lean managements. Mästen und Fasten lösen sich in dieser Rosskur unvermittelt ab. „Demokratie muss knapp sein, um Achtung zu genießen“. Mitbestimmung in Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Erziehung sei ineffizient, „störend, nicht produktiv“. Führung sei unerlässlich, man müsse daher für eine „beherzte Kerndemokratisierung“ eintreten. „Man muss sagen, für welche Bereiche Demokratie taugt und für welche nicht.“

Weyh gefällt sich in einer affirmativen, durch und durch elitären Haltung. Unmöglich findet er, dass Achtzehnjährigen die demokratische Reife zugestanden wird. Das seien „Mitwirkungsrechte ohne Prüfung“. Eine Demokratie-Musterungskommission für Youngsters und andere Minderbemittelte muss her. Es geht um einen „Stimmrechtserwerb“, um eine „Bürgerprüfung“. Die Prüfungsinhalte legt die „Bundesbürgerbank“ fest. Fehlt nur noch die Überlegung, jenen, die dreimal durchfallen, die Staatsbürgerschaft abzuerkennen.

„Das Dogma der Zählwertgleichheit - jeder Wähler hat eine Stimme, und jede Stimme zählt gleich viel - lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die intellektuellen Voraussetzungen bei allen Wählern nahezu identisch sind. Nur in diesem Fall ist es legitim, Stimmen zu zählen statt zu gewichten.“ Mit zunehmendem Alter sollten sich sowieso die Stimmen entwerten, man dürfe die Staaten nicht der „Lemurenperspektive“ aussetzen. Ganz generell hält der Autor die Leute für ungleichwertig. Die Wirtschaft führe ihnen das doch auch täglich vor Augen. Warum sollte das in der Politik nicht gelten? Weyh schlägt nichts anderes vor, als die Demokratie auch formal dem Markt anzupassen. So könnte man das Wahlrecht etwa ans Steueraufkommen koppeln. Wer nichts zur Volkswirtschaft beiträgt, warum sollte man den wählen lassen? Eben.

Dieser Demokratietheoretiker ist ein Trendsetter, zweifelsfrei. Sein Anliegen ist die finale Okkupation der Politik durch den Neoliberalismus. „Politik ist existentiell“, verkündet Weyh. „Denn bei aller Politik geht es nur darum, die richtigen Menschen ausfindig zu machen, denen man sich auf Zeit unterwirft. Zufall, Zensus, Abwahl sind dafür die geeigneten Instrumente. Das Wahlprinzip ist an sich mangelhaft.“ Zu guter Letzt hat auch noch Friedrich August von Hayek seinen großen Auftritt. Warum eigentlich so oft wählen, fragt Weyh mit ihm, einmal so um die Lebensmitte reicht vollauf.

Was vor allem ärgert, ist diese von sich überzeugte und doch penetrant konsequenzlose Denke. Weyh denkt zwar nach, was er sagen könnte, aber er denkt nicht nach, was er gesagt hat. Er gehört zu jener Sorte von Autoren, die Originalität mit Kaltschnäuzigkeit verwechseln. Die leidende Demokratie hätte ausgelitten, würde man Weyhs therapeutische Ratschläge umsetzen, en detail oder en gros. Die jeweilige Kombination von Überdosis und Entzug hält das stärkste Ross nicht aus. Der Reformstau würde sich zum Reformgau steigern.

Franz Schandl


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Kien Nghi Ha / Ni’cola Laure al-Samarai / Sheila Mysorekar (Hrsg.)

re/visionen
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik und Widerstand in Deutschland. UNRAST-Verlag, Münster 2007, 488 Seiten, 24,– Euro

Im vorliegenden Band werden, wie im Klappentext zusammengefaßt, erstmals kritische Stimmen ausnahmslos von People of Color zusammen gebracht - Afro-, Asiatisch- und andere Schwarze Deutsche, Roma und Menschen mit außereuropäischen Flucht-und Migrationshintergründen. Ihre widerständige Wissensproduktion und ihr politischer Erfahrungsaustausch bringen alternative Diskussionen hervor. Sie setzen sich mit Rassismus, Islamophobie und ausgrenzenden Migrations- und Integrationsregimes auseinander und diskutieren Fragen von individuellem und kollektivem Widerstand, antirassistischer Kulturpolitik und postkolonialen Denkansätzen. Selbstbestimmte Räume und solidarische Visionen werden sichtbar, welche die rassistische Logik des Teilens und Herrschens herausfordern und auf grenzüberschreitende Identitäten und Bündnisse zielen. Die politischen Analysen, literarischen Essays, Glossen sowie Gespräche verweisen auf eine große Bandbreite von Ausdrucksformen. Zu Wort kommen Theoretiker, Aktivisten und Kulturarbeiter. Ihre Standpunkte sind vielschichtig und unterschiedlich, doch verbindet sie ein gemeinsamer gesellschaftlicher Ausgangspunkt: Alle vermessen, von diversen rassifizierten Subjektpositionen aus, den dominanten Mainstream in neuer Weise. Durch den People of Color-Ansatz wird ein Paradigmenwechsel möglich, der die Weiße Norm hinterfragt und nachhaltig untergräbt. Ein Ziel dieses Buches ist es, andere Sensibilitäten und Artikulationen zugänglich zu machen und mit befreienden Impulsen in aktuelle politische Debatten einzugreifen, die bisher von Weißen Perspektiven geprägt sind.

Die Herausgeber erwähnen einleitend ausdrücklich, dass im „leitkulturellen“ Weißen Deutschland, Deutsch-Sein und Weiß-Sein als identisch und folglich „normal“ vorausgesetzt werden.

„Weiße ‘Normalität’ ist allerdings weder Ansichtssache noch ist sie ein ‘natürliches’, quasi gegebenes oder unsichtbares Phänomen, das im luftleeren Raum entstand. Aufs engste mit den Praktiken des Kolonialismus und des modernen Rassismus verknüpft, drückt sie das historische Gewordensein eines rassistischen Herrschaftsverhältnisses aus. Darin werden, in Verbindung mit anderen Ordnungskategorien wie Geschlecht (gender), Klassenzugehörigkeit oder sexueller Orientierung, gesellschaftliche und soziale Beziehungen hergestellt und geregelt. Weiße ‘Normalität’ greift damit in gravierender Weise in den Bereich des Zwischenmenschlichen ein. Sie ist in allen Institutionen, in politischen und sozio-ökonomischen Strukturen sowie in der Kultur- und Wissensproduktion verankert und wird in Weißen Dominanzgesellschaften durch Prozesse der Rassifizierung und Minorisierung durchgesetzt. Das bedeutet, dass bestimmte Personen und Communities auf der Basis zugeschriebener, vermeintlich wesenhafter ‘rassischer’ und/oder kultureller Unterschiede als ‘anders’, ‘abweichend’ und ‘unterlegen’ konstruiert werden. Erst durch Ausschlüsse und Diskriminierungen erscheinen sie als ‘Minderheiten’. Da ein positiv besetztes Weißes Selbst als gegenüberliegendes und im Grunde unerreichbares ‘Maß der Dinge’ füngiert, geraten Blick- und Sprechverhältnisse zu einem Werte behafteten, einseitigen Monolog: Die Weiße Norm spricht, beurteilt und bleibt in diesem machtvollen Prozess unsichtbar, die ‘Anderen’ werden besprochen, analysiert und abgewertet und so zu vermeintlich stummen, geschichtslosen ‘Objekten’. Was in landläufigen Weißen Kontexten über die ‘Welt’ und diese ‘Anderen’ - seien sie fern oder nah, seien sie vergangen oder gegenwärtig - ‘gewusst’ wird, ist folglich kein unschuldiges, ‘objektives’ oder gar universell gültiges Wissen, sondern immer eingebettet in komplexe, räumlich und zeitlich gebundene Prozesse einer rassifizierten Machtausübung. (...)

Im Mehrheitsdeutschland werden Vorhandensein und Wirkweisen von rassistischen Strukturen und Rassifizierungsprozessen üblicherweise reflexartig zurückgewiesen. Der sich liberal verstehende Mainstream lagert Rassismus entweder in verschüttete oder einigermaßen ‘bewältigte’ Vergangenheiten aus, verbannt diesen an den rechten Gesellschaftsrand oder verpackt ihn in neutral erscheinende Begrifflichkeiten. Unterzieht man jedoch gängige, vornehmlich aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs stammende Fremdbezeichnungen wie ‘Nicht-Weiße’, ‘sichtbare Minorität (visible minority), ‘ethnische Minderheit oder ‘Migrant/-in’ einer kritischen Betrachtung, zeigt sich schnell, wie wenig sie dazu geeignet sind, gesellschaftliche Realitäten kritisch zu erfassen. Während ‘Nicht-Weiße’ die Anwesenheit rassifizierter Subjekte auf eine Differenz von der Norm bzw. auf eine reine Negation reduziert und damit die dominante Perspektive reproduziert, besteht die Gefahr, dass durch Begriffe wie ‘Minorität’ oder ‘Minderheit’ bestehende Machtverhältnisse verobjektiviert werden. In ihnen erscheint die Weiße Mehrheit - durch demokratische Prinzipien legitimiert - als eine gegebene Größe, die ‘selbstverständlich’ entscheidet und regiert. Die Tatsache, dass Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse gesellschaftlich hergestellt sind und Konstrukte darstellen, mit denen die privilegierte Gruppe sich ‘ihre’ Minderheiten definiert, gerät so aus dem Blick. Eine damit einhergehende Naturalisierung sozialer Macht- und Ungleichheitsverhältnisse erschwert es zudem, rassistische Grundannahmen offen zu legen und sie zu dekonstruieren. (...)

In der wohlmeinenden Mitte der Gesellschaft nimmt man inzwischen meist unwillig zur Kenntnis, dass es zwar eine Menge ‘Betroffener’ gibt, dass diese ‘Betroffenen’ jedoch nicht mehr so sind, wie man sie gern hätte: Sie geben kaum noch Auskunft über ihre ‘Betroffenheit’ und verweigern sich ausufernden Fragenkatalogen. Sie trotzen der Integrationsmission und verschanzen sich in ‘Parallelgesellschaften’. Sie lassen sich nicht mehr fremdbezeichnen und nehmen sich, gänzlich ungefragt, den Raum für das Neu-Entwerfen und Artikulieren eigenständiger Geschichten und Diskurse. Mit anderen Worten: Wir sind sprechende, handelnde und anwesende Subjekte, die selbst-erzählen.

Von People of Color in Deutschland zu sprechen ändert nicht nur die Art und Weise, in der marginalisierte Menschen adressiert werden, sondern bewirkt eine grundsätzlichere Transformation: Durch die erweiterte Anrede wird ein erweiterter Rahmen geschaffen, der dazu auffordert, die Vielschichtigkeit interner Differenzen wahrzunehmen und sich auf dieser Basis gleichberechtigt und dialogisch zu verständigen. Nur eine Solidarität, in der gelebte und erfahrbare Unterschiedlichkeit respektvoll angenommen wird, ist in der Lage, breite Bündnisse und robuste Allianzen zu erscharfen, die nachhaltig sind. Die Erschließung neuer historischer, kultureller und identitätspolitischer Zusammenhänge ermöglicht es zudem, positive, auf Unterschiedlichkeit beruhende (diversifizierte) Selbstbilder zu kreieren, in denen Mehrfachzugehörigkeiten die Regel und nicht die Ausnahme sind. re/visionen versucht daher, all jenen Geltung zu verschaffen, die sich sonst als Unterworfene (Subalterne) verzerrt oder überhaupt nicht repräsentiert finden. (...)

Die Anthologie (re/visionen) stellt einen Arbeits- und Gesprächsrahmen her, der historische Rekonstruktionen mit politischen Konstruktionen verknüpft, sodass die vielzähligen Verortungen und verwobenen Geschichtlichkeiten von People of Color in Deutschland nicht mehr isoliert erscheinen, sondern zusammen gedacht werden können. Der dadurch eröffnete Raum ermutigt lokale Aneignungen, Interpretationen, Abwandlungen und Anknüpfungen bereits vorhandener postkolonialer Ansätze und Sprachen, um die hiesigen Gegebenheiten rassifizierter Menschen und Communities genauer zu betrachten. Darüber hinaus kommt der Anerkennung von Rassifizierung als kritische postkoloniale Analysekategorie, mit der sich gesellschaftliche Konstitutionsprozesse und ihre biopolitischen Dynamiken beschreiben lassen, eine wichtige Rolle zu.

Die in re/visionen repräsentierte Anerkennung von Differenz lädt dazu ein, die vielschichtigen Dimensionen von Identitätspolitik wahrzunehmen und ihre strategischen Potentiale neu zu überdenken. Indem unterschiedliche Artikulations- und Textformen wie Analysen, literarische Beiträge oder Interviews von Theoretiker/-innen, Künstler/-innen und Aktivist/-innen gleichberechtigten Eingang finden und miteinander kommunizieren, werden nicht nur verschiedenartige Wissensformen sichtbar, sondern ebenso ihre unterschiedlichen Zugänge. Was dabei entsteht, kann und soll keine abgeschlossene Erzählung oder ganzheitliche Perspektive sein. Vielmehr stellen die im Buch enthaltenen Beiträge Fragmente und Anhaltspunkte einer interkommunalen Geschichte von People of Color in Deutschland dar, die noch erarbeitet und geschrieben werden muss.

re/visionen ist eine Wegmarke veränderter kultureller und mentaler Landkarten, in denen Geschichten und Geografien längst ineinander fallen: Hier mündet der Rhein in den Golf von Guinea und die Elbe in den Bosporus; hier werden die ostfriesischen Inseln vom Pazifik umspült; hier kann man vom Erzgebirge aus über das Mekong-Delta blicken; hier ist der Atlantik nicht breiter als die Spree. Die Gesichter der Menschen am Ufer sind klar zu erkennen, ihre Stimmen deutlich zu hören.“


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Gerd Lüdemann
Das Jesusbild des Papstes
Über Joseph Ratzingers kühnen Umgang mit den Quellen.
Zu Klampen Verlag, Springe 2007, 158 Seiten, 9,95 Euro

Jesus und kein Ende – über die Renaissance des katholischen Fundamentalismus

In Zeiten gesellschaftlicher Krisen blüht der Aberglaube, dubiose Heilsgemeinschaften schießen wie Pilze aus dem Boden und finden rasend Zulauf. Die Erfahrungen mußten schon die römischen Cäsaren machen, als sich in dem wankenden Imperium ein aus dem Nahen Osten importierter Modekult mehr und mehr ausbreitete. Diese Sekte brachte es in der spätantiken Gesellschaft zur Staatsreligion und wurde schließlich Legitimationsideologie der feudalen Finsternis des abendländischen Mittelalters.

Die Parallelen zur Gegenwart sind kaum zu übersehen. Der von der bürgerlichen Aufklärung zurückgedrängte und von lateinamerikanischen Befreiungstheologen erfolgreich unterwanderte reaktionäre Katholizismus erlebte unter der Ägide des polnischen Priesters Karol Wojtyla eine unerwartete Renaissance. Zwecks Verbreitung der einzig wahren Lehre jettete dieser siebenundzwanzig Jahre lang als „fliegendes Auge Gottes“ über den Erdball, propagierte Abtreibungs-, Ehescheidungsverbot und Zölibat, verwandelte schließlich sein Heimatland von einer laizistischen Volksdemokratie zurück in einen miefigen Klerikalstaat.

Schon die Person von Wojtlas Nachfolger ließ Schlimmes vermuten: Der Kardinal Joseph Ratzinger, Sohn eines Dorfgendarmen aus dem Land der Lederhosen und der Amigo-Skandale, brachte es unter Wojtyla zum Präfekten der „Kongregation für Glaubenslehre“ (bekannter unter ihrem früheren Namen „Kongregation der römischen und allgemeinen Inquisition“). In den bisher zwei Jahren seiner Regierung über den kleinsten Staat der Erde erwies sich der nunmehrige Papst Benedikt XVI. als Vertreter der finstersten Reaktion, setzte die Politik seines Vorgängers nahtlos fort, begann eine Säuberung des katholischen Klerus von Parteigängern einer Liberalisierung verstaubter kirchlicher Dogmen, stieß in seinen Reden sowohl die islamische als auch die nicht-katholische christliche Geistlichkeit vor den Kopf.

Das bürgerliche Feuilleton hinderte dies nicht daran, den kürzlich erschienenen ersten Teil einer Jesus-Biographie des Autors Joseph Ratzinger begeistert zu feiern. In Deutschland startete das Buch demzufolge mit einer Erstauflage von 250.000 Exemplaren, in traditionell katholischen Italien mit 350.000, in Polen mit 100.000. Übersetzungen in weitere 32 Sprachen sind nach Angaben des Verlages in Arbeit.

Gerd Lüdemann, Religionshistoriker und Professor für Neues Testament, erbitterter Kritiker der kirchenoffiziellen Theologie, hat sich der Mühe unterzogen, Ratzingers Werk sowie die dahinter stehende Weltsicht zu analysieren. In seinem kürzlich erschienenen Buch „Das Jesusbild des Papstes“ unterzieht er diese einer vernichtenden Kritik. Lüdemann weist nach, daß Ratzingers Weltbild ahistorisch ist, die Erkenntnisse der modernen Wissenschaft darin praktisch keine Rolle spielen.

Seit mit Beginn der Aufklärung ein kritischer Umgang mit religiösen Texten möglich wurde, haben sich immer wieder bürgerliche Ideologen, zum Beispiel Voltaire, mit der „Heiligen Schrift“ auseinandergesetzt, erfolgreich die Existenz des im Neuen Testament beschriebenen Namenspatrons Jesus Christus hinterfragt und angezweifelt, das die in der Bibel enthaltenen Berichte über seinen Tod und die Auferstehung tatsächlich von Augenzeugen verfaßt wurden. Die Religionswissenschaft konstituierte sich als eigenständige Forschungsdisziplin - die Geschichte Palästinas im ersten und zweiten Jahrhundert christlicher Zeitrechnung ist seitdem ein wichtiger Gegenstand historischer und archäologischer Forschung. An die Stelle der wirren Apostelgeschichten ist zunehmend die historische Untersuchung getreten, die nachwies, daß das Neue Testament ein äußerst widersprüchliches Konglomerat ideologischer Kampschriften ist, die in unterschiedlichen Phasen der Separation der neu entstandenen Sekte aus dem jüdischen Glauben entstanden und bis zum Zeitpunkt der Kanonisierung der Bibel mehrmals umgeschrieben wurden. Zur exakten historischen Rekonstruktion der Geschehnisse in Palästina der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts tragen sie nur wenig bei - die Autoren der meisten Schriften können zu dieser Zeit noch nicht gelebt und daher unmöglich Zeitgenossen von Jesus gewesen sein.

Ob dieser als reale Person je existiert hat, wird sich wohl nie zweifelsfrei klären lassen. Lüdemann weist nach, daß Jesus - dessen Existenz er nicht hinterfragt - sich keinesfalls als Religionsstifter oder „Sohn Gottes“ oder gar „Gott“ verstanden haben kann. Die in der Bibel überlieferten Berichte über sein Leben und die Umstände seines Todes sind widersprüchlich, wurden zum Teil erst lange nach den geschilderten Ereignissen geschrieben, spiegeln somit eher die Entstehungsgeschichte der neuen Religion, aber nicht die Biographie ihres Namenspatrons wider.

In Josef Ratzinger Jesus-Buch spielt all dies natürlich keine Rolle. Sein Buch läßt die Evangelien des Neuen Testaments als überzeugende Quelle gelten, nimmt selbst deren absurdesten Aussagen wörtlich. Andererseits wimmelt sein Buch von rein spekulativen Annahmen, für die es keinen historischen Beleg gibt. Er interpretiert Fakten in das „Heilige Buch“ der Christenheit hinein, die dort nicht stehen, trifft Schlußfolgerungen, die an den überlieferten Texten vorbei gehen.

Wie Lüdemann schreibt, wird die historisch-kritische Forschung von Ratzinger zwar nicht rigoros abgelehnt, aber im Bezug auf die Interpretation der Bibel als untauglich bezeichnet. Damit befördert der oberste Hirte der katholischen Religionsgemeinschaft zweihundertfünzig Jahre wissenschaftlicher Forschung mit kühnem Schwung in den Müll und ersetzt sie durch blinden Glauben an die Unfehlbarkeit kirchlicher Dogmen.

Ratzinger hat sich mit seinem Buch einer theoretisch und praktisch nicht lösbaren Aufgabe gestellt: Als Oberhaupt der konservativen Sekte des Katholizismus ist er zugleich oberster Wächter über die Einhaltung kirchlicher Beschlüsse. Zu diesen gehört auch die Kanonisierung der biblischen Schriften als „unmittelbares Wort Gottes“, an dem nicht gedeutelt werden könne. Zugleich sind diese einmal kanonisierten Schriften häufig nicht vereinbar mit später gefaßten Beschlüssen kirchlicher Konzile. Die christliche Theologie steht damit im Widerspruch zu sich selbst - in der Geschichte der christlichen Religion war dies eine nie versiegende Quelle von Richtungskämpfen, Häresien und Kirchenspaltungen.

Daß Ratzinger in seiner Jesus-Biographie die Evangelien als historische Wahrheit wörtlich gelten läßt, sie aber zugleich selbst heftig verbiegt, ist die logische Folge.

Lüdemanns Kritik: „Ratzingers Ausgangspunkt, daß man den Evangelien historisch trauen kann, ist ein Holzweg“ kann man natürlich beipflichten. Ob vor knapp zweitausend Jahren ein langhaariger Geschichtenerzähler in Begleitung seiner Fangemeinde predigend und bettelnd durch Palästina wanderte, bleibt damit nach wie vor offen. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, daß in unserer heutigen Zeit die meisten Leute, die sonntags in der Kirche gedankenlos „unser täglich Brot gib uns heute“ nachplappern, dem durchgeknallten Sandalenträger mit Sozialtick ohne Zögern den ALG II-Bezug streichen würden.

Ratzingers Buchveröffentlichung ist Bestandteil einer derzeit laufenden Offensive stockkonservativer Kräfte in unserem Land. Vertreter einer gewissen politischen Partei fühlten sich ermutigt, das Anbringen vom Symbol des gekreuzigten Namenspatrons ihrer Sekte in allen deutschen Schulen zu fordern - und damit die Trennung von Staat und Religion weiter aufzuweichen. Und kürzlich bezeichnete ein höherer Kirchenfürst nicht-religiöse Kunst als „entartet“ - wobei er wegen diesem Rückfall in den Sprachgebrauch der Nazis allerdings heftigen Proteste erntete. Der Verfall der bürgerlichen Moderne schreitet voran.

Gerd Bedszent

   

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