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Florian Felix Weyh
Die letzte Wahl
Therapien für die leidende Demokratie.
Eichborn Verlag, Frankfurt am Main 2007.
323 Seiten, 27,50 Euro
Ausgelitten –
Florian Felix Weyh therapiert die Demokratie zu Tode
Das Unbehagen an der Demokratie ist evident. Nur,
worin besteht es? Zweifellos ist es nötig zu fragen, was Demokratie
ist, woher sie kommt, was sie kann, wie sie funktioniert, wo ihre
Integrationskraft und wo ihre Schwächen liegen. Doch macht
Florian Felix Weyh das? Nur sehr bedingt, denn nicht die Demokratie
in ihrer Gesamtheit wird diskutiert, sondern ausschließlich
deren Wahlverfahren. Alles, was der Markt an Reformvorschlägen
in den letzten Jahrzehnten aufzubieten hatte, findet sich auch bei
Weyh. Stets geht es um konkrete Maßnahmen, die der Demokratie
wieder neues Leben einhauchen sollen. Diese Vorschläge, frisch
verpackt, werden als „Heilversuche“ vorgestellt, aufbereitet
in diversen Behandlungsgesprächen zwischen einem Therapeuten
und seiner Patientin, die angeblich unter einer Demokratiephobie
leidet.
Angeregt wird etwa die Schaffung einer Eventualstimme,
die, sollte die erstgewählte Partei leer ausgehen, der zweiten
Präferenzpartei zugerechnet wird. Eingetreten wird für
das freie Mandat, für das Persönlichkeitswahlrecht, für
Abwahlreferenden und für Kinderstimmen, die den Eltern zufallen.
Natürlich ist Weyh auch ein Vertreter des Mehrheitswahlrechts.
Die Gesamtzahl der Mandate sollte sich nach der Wahlbeteiligung
richten, das Stimmgewicht eines Abgeordneten nach den Stimmen, die
er lukriert hat. Plädiert wird für gesonderte Landesparteien.
Kandidaten der Landespartei dürfen nicht für eine Bundespartei
kandidieren, und vice versa. Empfohlen werden des Weiteren auch
Negativstimmen gegen einzelne Parteien, die als Abzüge geltend
gemacht werden sollen.
Halten wir kurz inne und stellen uns Folgendes vor:
Ich gebe einer Liste die Stimme, einigen Kandidaten eine Vorzugsstimme,
einer zweiten Partei eine Eventualstimme und einer dritten eine
Negativstimme. Außerdem verfüge ich über zweieinhalb
Stimmen: meine und eineinhalb für die auf Vater und Mutter
aufgeteilten Kinder. (Habe ich nun zweieinhalb Stimmzettel oder
nur einen, der zweieinhalbfach zählt?!?) Die Gefahr falsch
zu wählen oder den Stimmzettel ungültig auszufüllen,
wächst exorbitant an. „Wie wähle ich richtig, ohne
mich zu verwählen?“, da werden nicht nur Oma und Opa
nervös. Schon der Wahlakt des Einzelnen würde aufwendige
Vorbereitungen erfordern und ein Vielfaches an Zeit beanspruchen,
auch an der Urne. Von der Auszählung ganz zu schweigen. Oder
wählen wir dann alle via Netz? Und die Trojaner gleich mit?
Erledigen wir alles per Mouse-Click? Und was, wenn die Computer
gerade am Wahltag abstürzen?
Selbstverständlich schwärmt Weyh vom E-Voting.
Der Optimismus geht dann sogar soweit, das Parlament durch Volksabstimmungen
per Handy zu ersetzen. „Das Volk entscheidet über alle
Gesetze und Verordnungen; besondere Termine dafür gibt es nicht,
weil eine elektronische Abstimmung kaum Aufwand erfordert. In alter
Begrifflichkeit bildet das Volk somit ein riesiges Freizeitparlament,
das sich immer dann mit Politik befasst, wenn dies notwendig wird
- vielleicht täglich, vielleicht einmal die Woche, vielleicht
nur einmal im Monat.“ „Totale Wahl“ wird dieses
Outsourcing genannt.
Wie soll man sich das nun praktisch vorstellen? Man
stürme frühmorgens Handy oder PC, studiere vier Gesetzesvorlagen
und zwanzig Verordnungen und beurteile sie pflichtgemäß
als Freizeitparlamentarier? Was passiert mit den nicht Angeschlossenen?
Werden die dann ausgeschlossen? Außerdem: Wie komme ich dazu,
mir Bauverordnungen zur Fassadenhöhe und Erkergröße
in Orten bis 1000 Einwohner freiwillig reinzuziehen. Weder kann
ich da durchblicken noch möchte ich da durchblicken können.
Warum soll ich müssen?
Gewinnt man vorerst den Eindruck, hier füttert
jemand bürokratische Krokodile, so drängt sich mit zunehmender
Seitenzahl das Gefühl auf, die Demokratie der Zukunft habe
einem magersüchtigen Model zu gleichen. Erscheint der erste
Teil wie eine Aufrüstung des demokratischen Procederes, so
steht der zweite ganz unter dem Diktat des Lean managements. Mästen
und Fasten lösen sich in dieser Rosskur unvermittelt ab. „Demokratie
muss knapp sein, um Achtung zu genießen“. Mitbestimmung
in Wirtschaft, Wissenschaft, Kunst und Erziehung sei ineffizient,
„störend, nicht produktiv“. Führung sei unerlässlich,
man müsse daher für eine „beherzte Kerndemokratisierung“
eintreten. „Man muss sagen, für welche Bereiche Demokratie
taugt und für welche nicht.“
Weyh gefällt sich in einer affirmativen, durch
und durch elitären Haltung. Unmöglich findet er, dass
Achtzehnjährigen die demokratische Reife zugestanden wird.
Das seien „Mitwirkungsrechte ohne Prüfung“. Eine
Demokratie-Musterungskommission für Youngsters und andere Minderbemittelte
muss her. Es geht um einen „Stimmrechtserwerb“, um eine
„Bürgerprüfung“. Die Prüfungsinhalte
legt die „Bundesbürgerbank“ fest. Fehlt nur noch
die Überlegung, jenen, die dreimal durchfallen, die Staatsbürgerschaft
abzuerkennen.
„Das Dogma der Zählwertgleichheit - jeder
Wähler hat eine Stimme, und jede Stimme zählt gleich viel
- lässt sich nur aufrechterhalten, wenn die intellektuellen
Voraussetzungen bei allen Wählern nahezu identisch sind. Nur
in diesem Fall ist es legitim, Stimmen zu zählen statt zu gewichten.“
Mit zunehmendem Alter sollten sich sowieso die Stimmen entwerten,
man dürfe die Staaten nicht der „Lemurenperspektive“
aussetzen. Ganz generell hält der Autor die Leute für
ungleichwertig. Die Wirtschaft führe ihnen das doch auch täglich
vor Augen. Warum sollte das in der Politik nicht gelten? Weyh schlägt
nichts anderes vor, als die Demokratie auch formal dem Markt anzupassen.
So könnte man das Wahlrecht etwa ans Steueraufkommen koppeln.
Wer nichts zur Volkswirtschaft beiträgt, warum sollte man den
wählen lassen? Eben.
Dieser Demokratietheoretiker ist ein Trendsetter,
zweifelsfrei. Sein Anliegen ist die finale Okkupation der Politik
durch den Neoliberalismus. „Politik ist existentiell“,
verkündet Weyh. „Denn bei aller Politik geht es nur darum,
die richtigen Menschen ausfindig zu machen, denen man sich auf Zeit
unterwirft. Zufall, Zensus, Abwahl sind dafür die geeigneten
Instrumente. Das Wahlprinzip ist an sich mangelhaft.“ Zu guter
Letzt hat auch noch Friedrich August von Hayek seinen großen
Auftritt. Warum eigentlich so oft wählen, fragt Weyh mit ihm,
einmal so um die Lebensmitte reicht vollauf.
Was vor allem ärgert, ist diese von sich überzeugte
und doch penetrant konsequenzlose Denke. Weyh denkt zwar nach, was
er sagen könnte, aber er denkt nicht nach, was er gesagt hat.
Er gehört zu jener Sorte von Autoren, die Originalität
mit Kaltschnäuzigkeit verwechseln. Die leidende Demokratie
hätte ausgelitten, würde man Weyhs therapeutische Ratschläge
umsetzen, en detail oder en gros. Die jeweilige Kombination von
Überdosis und Entzug hält das stärkste Ross nicht
aus. Der Reformstau würde sich zum Reformgau steigern.
Franz Schandl
***
Kien Nghi Ha / Ni’cola Laure al-Samarai / Sheila Mysorekar
(Hrsg.)
re/visionen
Postkoloniale Perspektiven von People of Color auf Rassismus, Kulturpolitik
und Widerstand in Deutschland. UNRAST-Verlag,
Münster 2007, 488 Seiten, 24,– Euro
Im vorliegenden Band werden, wie im Klappentext zusammengefaßt,
erstmals kritische Stimmen ausnahmslos von People of Color zusammen
gebracht - Afro-, Asiatisch- und andere Schwarze Deutsche, Roma
und Menschen mit außereuropäischen Flucht-und Migrationshintergründen.
Ihre widerständige Wissensproduktion und ihr politischer Erfahrungsaustausch
bringen alternative Diskussionen hervor. Sie setzen sich mit Rassismus,
Islamophobie und ausgrenzenden Migrations- und Integrationsregimes
auseinander und diskutieren Fragen von individuellem und kollektivem
Widerstand, antirassistischer Kulturpolitik und postkolonialen Denkansätzen.
Selbstbestimmte Räume und solidarische Visionen werden sichtbar,
welche die rassistische Logik des Teilens und Herrschens herausfordern
und auf grenzüberschreitende Identitäten und Bündnisse
zielen. Die politischen Analysen, literarischen Essays, Glossen
sowie Gespräche verweisen auf eine große Bandbreite von
Ausdrucksformen. Zu Wort kommen Theoretiker, Aktivisten und Kulturarbeiter.
Ihre Standpunkte sind vielschichtig und unterschiedlich, doch verbindet
sie ein gemeinsamer gesellschaftlicher Ausgangspunkt: Alle vermessen,
von diversen rassifizierten Subjektpositionen aus, den dominanten
Mainstream in neuer Weise. Durch den People of Color-Ansatz wird
ein Paradigmenwechsel möglich, der die Weiße Norm hinterfragt
und nachhaltig untergräbt. Ein Ziel dieses Buches ist es, andere
Sensibilitäten und Artikulationen zugänglich zu machen
und mit befreienden Impulsen in aktuelle politische Debatten einzugreifen,
die bisher von Weißen Perspektiven geprägt sind.
Die Herausgeber erwähnen einleitend ausdrücklich,
dass im „leitkulturellen“ Weißen Deutschland,
Deutsch-Sein und Weiß-Sein als identisch und folglich „normal“
vorausgesetzt werden.
„Weiße ‘Normalität’ ist
allerdings weder Ansichtssache noch ist sie ein ‘natürliches’,
quasi gegebenes oder unsichtbares Phänomen, das im luftleeren
Raum entstand. Aufs engste mit den Praktiken des Kolonialismus und
des modernen Rassismus verknüpft, drückt sie das historische
Gewordensein eines rassistischen Herrschaftsverhältnisses aus.
Darin werden, in Verbindung mit anderen Ordnungskategorien wie Geschlecht
(gender), Klassenzugehörigkeit oder sexueller Orientierung,
gesellschaftliche und soziale Beziehungen hergestellt und geregelt.
Weiße ‘Normalität’ greift damit in gravierender
Weise in den Bereich des Zwischenmenschlichen ein. Sie ist in allen
Institutionen, in politischen und sozio-ökonomischen Strukturen
sowie in der Kultur- und Wissensproduktion verankert und wird in
Weißen Dominanzgesellschaften durch Prozesse der Rassifizierung
und Minorisierung durchgesetzt. Das bedeutet, dass bestimmte Personen
und Communities auf der Basis zugeschriebener, vermeintlich wesenhafter
‘rassischer’ und/oder kultureller Unterschiede als ‘anders’,
‘abweichend’ und ‘unterlegen’ konstruiert
werden. Erst durch Ausschlüsse und Diskriminierungen erscheinen
sie als ‘Minderheiten’. Da ein positiv besetztes Weißes
Selbst als gegenüberliegendes und im Grunde unerreichbares
‘Maß der Dinge’ füngiert, geraten Blick-
und Sprechverhältnisse zu einem Werte behafteten, einseitigen
Monolog: Die Weiße Norm spricht, beurteilt und bleibt in diesem
machtvollen Prozess unsichtbar, die ‘Anderen’ werden
besprochen, analysiert und abgewertet und so zu vermeintlich stummen,
geschichtslosen ‘Objekten’. Was in landläufigen
Weißen Kontexten über die ‘Welt’ und diese
‘Anderen’ - seien sie fern oder nah, seien sie vergangen
oder gegenwärtig - ‘gewusst’ wird, ist folglich
kein unschuldiges, ‘objektives’ oder gar universell
gültiges Wissen, sondern immer eingebettet in komplexe, räumlich
und zeitlich gebundene Prozesse einer rassifizierten Machtausübung.
(...)
Im Mehrheitsdeutschland werden Vorhandensein und Wirkweisen
von rassistischen Strukturen und Rassifizierungsprozessen üblicherweise
reflexartig zurückgewiesen. Der sich liberal verstehende Mainstream
lagert Rassismus entweder in verschüttete oder einigermaßen
‘bewältigte’ Vergangenheiten aus, verbannt diesen
an den rechten Gesellschaftsrand oder verpackt ihn in neutral erscheinende
Begrifflichkeiten. Unterzieht man jedoch gängige, vornehmlich
aus dem sozialwissenschaftlichen Diskurs stammende Fremdbezeichnungen
wie ‘Nicht-Weiße’, ‘sichtbare Minorität
(visible minority), ‘ethnische Minderheit oder ‘Migrant/-in’
einer kritischen Betrachtung, zeigt sich schnell, wie wenig sie
dazu geeignet sind, gesellschaftliche Realitäten kritisch zu
erfassen. Während ‘Nicht-Weiße’ die Anwesenheit
rassifizierter Subjekte auf eine Differenz von der Norm bzw. auf
eine reine Negation reduziert und damit die dominante Perspektive
reproduziert, besteht die Gefahr, dass durch Begriffe wie ‘Minorität’
oder ‘Minderheit’ bestehende Machtverhältnisse
verobjektiviert werden. In ihnen erscheint die Weiße Mehrheit
- durch demokratische Prinzipien legitimiert - als eine gegebene
Größe, die ‘selbstverständlich’ entscheidet
und regiert. Die Tatsache, dass Mehrheits- und Minderheitenverhältnisse
gesellschaftlich hergestellt sind und Konstrukte darstellen, mit
denen die privilegierte Gruppe sich ‘ihre’ Minderheiten
definiert, gerät so aus dem Blick. Eine damit einhergehende
Naturalisierung sozialer Macht- und Ungleichheitsverhältnisse
erschwert es zudem, rassistische Grundannahmen offen zu legen und
sie zu dekonstruieren. (...)
In der wohlmeinenden Mitte der Gesellschaft nimmt
man inzwischen meist unwillig zur Kenntnis, dass es zwar eine Menge
‘Betroffener’ gibt, dass diese ‘Betroffenen’
jedoch nicht mehr so sind, wie man sie gern hätte: Sie geben
kaum noch Auskunft über ihre ‘Betroffenheit’ und
verweigern sich ausufernden Fragenkatalogen. Sie trotzen der Integrationsmission
und verschanzen sich in ‘Parallelgesellschaften’. Sie
lassen sich nicht mehr fremdbezeichnen und nehmen sich, gänzlich
ungefragt, den Raum für das Neu-Entwerfen und Artikulieren
eigenständiger Geschichten und Diskurse. Mit anderen Worten:
Wir sind sprechende, handelnde und anwesende Subjekte, die selbst-erzählen.
Von People of Color in Deutschland zu sprechen ändert
nicht nur die Art und Weise, in der marginalisierte Menschen adressiert
werden, sondern bewirkt eine grundsätzlichere Transformation:
Durch die erweiterte Anrede wird ein erweiterter Rahmen geschaffen,
der dazu auffordert, die Vielschichtigkeit interner Differenzen
wahrzunehmen und sich auf dieser Basis gleichberechtigt und dialogisch
zu verständigen. Nur eine Solidarität, in der gelebte
und erfahrbare Unterschiedlichkeit respektvoll angenommen wird,
ist in der Lage, breite Bündnisse und robuste Allianzen zu
erscharfen, die nachhaltig sind. Die Erschließung neuer historischer,
kultureller und identitätspolitischer Zusammenhänge ermöglicht
es zudem, positive, auf Unterschiedlichkeit beruhende (diversifizierte)
Selbstbilder zu kreieren, in denen Mehrfachzugehörigkeiten
die Regel und nicht die Ausnahme sind. re/visionen versucht daher,
all jenen Geltung zu verschaffen, die sich sonst als Unterworfene
(Subalterne) verzerrt oder überhaupt nicht repräsentiert
finden. (...)
Die Anthologie (re/visionen) stellt einen Arbeits-
und Gesprächsrahmen her, der historische Rekonstruktionen mit
politischen Konstruktionen verknüpft, sodass die vielzähligen
Verortungen und verwobenen Geschichtlichkeiten von People of Color
in Deutschland nicht mehr isoliert erscheinen, sondern zusammen
gedacht werden können. Der dadurch eröffnete Raum ermutigt
lokale Aneignungen, Interpretationen, Abwandlungen und Anknüpfungen
bereits vorhandener postkolonialer Ansätze und Sprachen, um
die hiesigen Gegebenheiten rassifizierter Menschen und Communities
genauer zu betrachten. Darüber hinaus kommt der Anerkennung
von Rassifizierung als kritische postkoloniale Analysekategorie,
mit der sich gesellschaftliche Konstitutionsprozesse und ihre biopolitischen
Dynamiken beschreiben lassen, eine wichtige Rolle zu.
Die in re/visionen repräsentierte Anerkennung
von Differenz lädt dazu ein, die vielschichtigen Dimensionen
von Identitätspolitik wahrzunehmen und ihre strategischen Potentiale
neu zu überdenken. Indem unterschiedliche Artikulations- und
Textformen wie Analysen, literarische Beiträge oder Interviews
von Theoretiker/-innen, Künstler/-innen und Aktivist/-innen
gleichberechtigten Eingang finden und miteinander kommunizieren,
werden nicht nur verschiedenartige Wissensformen sichtbar, sondern
ebenso ihre unterschiedlichen Zugänge. Was dabei entsteht,
kann und soll keine abgeschlossene Erzählung oder ganzheitliche
Perspektive sein. Vielmehr stellen die im Buch enthaltenen Beiträge
Fragmente und Anhaltspunkte einer interkommunalen Geschichte von
People of Color in Deutschland dar, die noch erarbeitet und geschrieben
werden muss.
re/visionen ist eine Wegmarke veränderter kultureller
und mentaler Landkarten, in denen Geschichten und Geografien längst
ineinander fallen: Hier mündet der Rhein in den Golf von Guinea
und die Elbe in den Bosporus; hier werden die ostfriesischen Inseln
vom Pazifik umspült; hier kann man vom Erzgebirge aus über
das Mekong-Delta blicken; hier ist der Atlantik nicht breiter als
die Spree. Die Gesichter der Menschen am Ufer sind klar zu erkennen,
ihre Stimmen deutlich zu hören.“
***
Gerd Lüdemann
Das Jesusbild des Papstes
Über Joseph Ratzingers kühnen Umgang
mit den Quellen.
Zu Klampen Verlag, Springe 2007, 158 Seiten, 9,95 Euro
Jesus und kein Ende – über die Renaissance
des katholischen Fundamentalismus
In Zeiten gesellschaftlicher Krisen blüht der
Aberglaube, dubiose Heilsgemeinschaften schießen wie Pilze
aus dem Boden und finden rasend Zulauf. Die Erfahrungen mußten
schon die römischen Cäsaren machen, als sich in dem wankenden
Imperium ein aus dem Nahen Osten importierter Modekult mehr und
mehr ausbreitete. Diese Sekte brachte es in der spätantiken
Gesellschaft zur Staatsreligion und wurde schließlich Legitimationsideologie
der feudalen Finsternis des abendländischen Mittelalters.
Die Parallelen zur Gegenwart sind kaum zu übersehen.
Der von der bürgerlichen Aufklärung zurückgedrängte
und von lateinamerikanischen Befreiungstheologen erfolgreich unterwanderte
reaktionäre Katholizismus erlebte unter der Ägide des
polnischen Priesters Karol Wojtyla eine unerwartete Renaissance.
Zwecks Verbreitung der einzig wahren Lehre jettete dieser siebenundzwanzig
Jahre lang als „fliegendes Auge Gottes“ über den
Erdball, propagierte Abtreibungs-, Ehescheidungsverbot und Zölibat,
verwandelte schließlich sein Heimatland von einer laizistischen
Volksdemokratie zurück in einen miefigen Klerikalstaat.
Schon die Person von Wojtlas Nachfolger ließ
Schlimmes vermuten: Der Kardinal Joseph Ratzinger, Sohn eines Dorfgendarmen
aus dem Land der Lederhosen und der Amigo-Skandale, brachte es unter
Wojtyla zum Präfekten der „Kongregation für Glaubenslehre“
(bekannter unter ihrem früheren Namen „Kongregation der
römischen und allgemeinen Inquisition“). In den bisher
zwei Jahren seiner Regierung über den kleinsten Staat der Erde
erwies sich der nunmehrige Papst Benedikt XVI. als Vertreter der
finstersten Reaktion, setzte die Politik seines Vorgängers
nahtlos fort, begann eine Säuberung des katholischen Klerus
von Parteigängern einer Liberalisierung verstaubter kirchlicher
Dogmen, stieß in seinen Reden sowohl die islamische als auch
die nicht-katholische christliche Geistlichkeit vor den Kopf.
Das bürgerliche Feuilleton hinderte dies nicht
daran, den kürzlich erschienenen ersten Teil einer Jesus-Biographie
des Autors Joseph Ratzinger begeistert zu feiern. In Deutschland
startete das Buch demzufolge mit einer Erstauflage von 250.000 Exemplaren,
in traditionell katholischen Italien mit 350.000, in Polen mit 100.000.
Übersetzungen in weitere 32 Sprachen sind nach Angaben des
Verlages in Arbeit.
Gerd Lüdemann, Religionshistoriker und Professor
für Neues Testament, erbitterter Kritiker der kirchenoffiziellen
Theologie, hat sich der Mühe unterzogen, Ratzingers Werk sowie
die dahinter stehende Weltsicht zu analysieren. In seinem kürzlich
erschienenen Buch „Das Jesusbild des Papstes“ unterzieht
er diese einer vernichtenden Kritik. Lüdemann weist nach, daß
Ratzingers Weltbild ahistorisch ist, die Erkenntnisse der modernen
Wissenschaft darin praktisch keine Rolle spielen.
Seit mit Beginn der Aufklärung ein kritischer
Umgang mit religiösen Texten möglich wurde, haben sich
immer wieder bürgerliche Ideologen, zum Beispiel Voltaire,
mit der „Heiligen Schrift“ auseinandergesetzt, erfolgreich
die Existenz des im Neuen Testament beschriebenen Namenspatrons
Jesus Christus hinterfragt und angezweifelt, das die in der Bibel
enthaltenen Berichte über seinen Tod und die Auferstehung tatsächlich
von Augenzeugen verfaßt wurden. Die Religionswissenschaft
konstituierte sich als eigenständige Forschungsdisziplin -
die Geschichte Palästinas im ersten und zweiten Jahrhundert
christlicher Zeitrechnung ist seitdem ein wichtiger Gegenstand historischer
und archäologischer Forschung. An die Stelle der wirren Apostelgeschichten
ist zunehmend die historische Untersuchung getreten, die nachwies,
daß das Neue Testament ein äußerst widersprüchliches
Konglomerat ideologischer Kampschriften ist, die in unterschiedlichen
Phasen der Separation der neu entstandenen Sekte aus dem jüdischen
Glauben entstanden und bis zum Zeitpunkt der Kanonisierung der Bibel
mehrmals umgeschrieben wurden. Zur exakten historischen Rekonstruktion
der Geschehnisse in Palästina der ersten Hälfte des 1.
Jahrhunderts tragen sie nur wenig bei - die Autoren der meisten
Schriften können zu dieser Zeit noch nicht gelebt und daher
unmöglich Zeitgenossen von Jesus gewesen sein.
Ob dieser als reale Person je existiert hat, wird
sich wohl nie zweifelsfrei klären lassen. Lüdemann weist
nach, daß Jesus - dessen Existenz er nicht hinterfragt - sich
keinesfalls als Religionsstifter oder „Sohn Gottes“
oder gar „Gott“ verstanden haben kann. Die in der Bibel
überlieferten Berichte über sein Leben und die Umstände
seines Todes sind widersprüchlich, wurden zum Teil erst lange
nach den geschilderten Ereignissen geschrieben, spiegeln somit eher
die Entstehungsgeschichte der neuen Religion, aber nicht die Biographie
ihres Namenspatrons wider.
In Josef Ratzinger Jesus-Buch spielt all dies natürlich
keine Rolle. Sein Buch läßt die Evangelien des Neuen
Testaments als überzeugende Quelle gelten, nimmt selbst deren
absurdesten Aussagen wörtlich. Andererseits wimmelt sein Buch
von rein spekulativen Annahmen, für die es keinen historischen
Beleg gibt. Er interpretiert Fakten in das „Heilige Buch“
der Christenheit hinein, die dort nicht stehen, trifft Schlußfolgerungen,
die an den überlieferten Texten vorbei gehen.
Wie Lüdemann schreibt, wird die historisch-kritische
Forschung von Ratzinger zwar nicht rigoros abgelehnt, aber im Bezug
auf die Interpretation der Bibel als untauglich bezeichnet. Damit
befördert der oberste Hirte der katholischen Religionsgemeinschaft
zweihundertfünzig Jahre wissenschaftlicher Forschung mit kühnem
Schwung in den Müll und ersetzt sie durch blinden Glauben an
die Unfehlbarkeit kirchlicher Dogmen.
Ratzinger hat sich mit seinem Buch einer theoretisch
und praktisch nicht lösbaren Aufgabe gestellt: Als Oberhaupt
der konservativen Sekte des Katholizismus ist er zugleich oberster
Wächter über die Einhaltung kirchlicher Beschlüsse.
Zu diesen gehört auch die Kanonisierung der biblischen Schriften
als „unmittelbares Wort Gottes“, an dem nicht gedeutelt
werden könne. Zugleich sind diese einmal kanonisierten Schriften
häufig nicht vereinbar mit später gefaßten Beschlüssen
kirchlicher Konzile. Die christliche Theologie steht damit im Widerspruch
zu sich selbst - in der Geschichte der christlichen Religion war
dies eine nie versiegende Quelle von Richtungskämpfen, Häresien
und Kirchenspaltungen.
Daß Ratzinger in seiner Jesus-Biographie die
Evangelien als historische Wahrheit wörtlich gelten läßt,
sie aber zugleich selbst heftig verbiegt, ist die logische Folge.
Lüdemanns Kritik: „Ratzingers Ausgangspunkt,
daß man den Evangelien historisch trauen kann, ist ein Holzweg“
kann man natürlich beipflichten. Ob vor knapp zweitausend Jahren
ein langhaariger Geschichtenerzähler in Begleitung seiner Fangemeinde
predigend und bettelnd durch Palästina wanderte, bleibt damit
nach wie vor offen. Kein Zweifel kann jedoch daran bestehen, daß
in unserer heutigen Zeit die meisten Leute, die sonntags in der
Kirche gedankenlos „unser täglich Brot gib uns heute“
nachplappern, dem durchgeknallten Sandalenträger mit Sozialtick
ohne Zögern den ALG II-Bezug streichen würden.
Ratzingers Buchveröffentlichung ist Bestandteil
einer derzeit laufenden Offensive stockkonservativer Kräfte
in unserem Land. Vertreter einer gewissen politischen Partei fühlten
sich ermutigt, das Anbringen vom Symbol des gekreuzigten Namenspatrons
ihrer Sekte in allen deutschen Schulen zu fordern - und damit die
Trennung von Staat und Religion weiter aufzuweichen. Und kürzlich
bezeichnete ein höherer Kirchenfürst nicht-religiöse
Kunst als „entartet“ - wobei er wegen diesem Rückfall
in den Sprachgebrauch der Nazis allerdings heftigen Proteste erntete.
Der Verfall der bürgerlichen Moderne schreitet voran.
Gerd Bedszent
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