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– Vortrag, gehalten am 23. September 2007 in der Hanse-Akademie
Lübeck –
Die Lage des Durchschnittsmenschen zeichnet sich heute
durch den zunehmenden Verlust seiner Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten
aus, sowohl in Bezug auf seine unmittelbare Umwelt wie gegenüber
des Weltganzen. Er ist entsprechend ein weitgehend entmachteter
Mensch geworden. Das stolze Subjekt der Moderne, das sich einbildete,
alle wichtigen Unterdrückungserscheinungen der vormodernen
Gesellschaft hinter sich gelassen zu haben und Herr seines eigenen
Schicksals geworden zu sein, muss sich seit langem mit einem kümmerlichen
Rest von Souveränität zufriedengeben und läuft Gefahr,
Knecht der technozentrischen, menschenfeindlichen und zerstörerischen
Zivilisation zu werden, die er in den letzten Jahrhunderten durch
eine fehlgeleitete, menschenfeindliche Anwendung seiner wissenschaftlichen,
technischen und produkiven Mittel errichtet hat. Die gleiche Ideologie,
die sich im Namen des Volkes und der Gleichheit des Menschen gegen
die Herrschaft der Kirche und des Adels erhob und das Reich des
freien Subjekts verkündete, ist im Begriff, es kaltblütig
zu liquidieren. Nichts ist unwahrer als die Behauptung des Systems,
wir lebten in einer pluralistischen, permissiven, flexiblen, offenen
Gesellschaft voller Gleichheitschancen für alle. In Wirklichkeit
gibt es kaum eine Lebenssphäre, die frei von der Lenkung, der
Steuerung und der Kontrolle der etablierten Macht wäre, einerlei
ob es sich um die Wirtschaft, die Arbeitswelt, die Politik, die
Massenmedien, die Kultur- und Unterhaltungsindustrie oder gar des
Sports handelt. Man verherrlicht unentwegt das Prinzip Privateigentum
als das höchste Gut, aber das erste, was man den Einzelnen
zunehmend wegnimmt, ist die freie Verfügbarkeit über seine
Person, die immer mehr zum Spielball der Mächtigen und deren
Interessen wird. Die Grenze, die Habermas zwischen der ökonomisch-staatlichen
Welt und der „Lebenswelt“ der Kultur, der Kommunikation
und der Freizeit zieht, beruht auf einer Unterschätzung ersterer
und einer Überschätzung letzterer. Als abtrünniger
Schüler der Kritischen Theorie und als Apologet der bürgerlichen
Spätmoderne in ihrer europäisch-amerikanischen Fassung,
hat er nie wahr haben wollen, dass der Akkumulationsprozess des
Kapitals auch nicht vor der „Lebenswelt“ des „kommunikativen
Handels“ Halt macht. Gerade, weil das System es immer weniger
schafft, seine immanenten und sich vermehrenden Widersprüche
im primären Bereich der Wirtschaftsdynamik in den Griff zu
bekommen, versucht es dieses Grunddefizit durch eine zunehmende
Beherrschung des kulturellen Überbaus und der Freizeit auszugleichen.
Das Ziel dieser verstärkten Instrumentalisierung der privaten,
ausserökonomischen Dimension des Lebens besteht darin, mittels
des pausenlosen Einsatzes des Amüsierbetriebst, die Menschen
von ihren Problemen und Sorgen abzulenken und ihnen das Gefühl
zu vermitteln, dass sie immer Grund haben, sich ihres Daseins zu
erfreuen. Es ist dieselbe Strategie des panem et circenses, derer
sich schon die römischen Machthaber bedienten, um die Volksgunst
zu gewinnen. Diese uralte Politik von „Brot und Spiele“
wird heute von den Ideologen des Systems „Spassgesellschaft“
genannt, eine Spassgesellschaft allerdings, die zugleich unter dem
täglichen „ökonomische Terror“ leben muss,
den die französische Politologin Vivianne Forrester vor Jahren
zurecht als das einzig wahre Gesicht des Systems entlarvte. Und
längst vor ihr hatten schon Horkheimer und Adorno in ihrer
„Dialektik der Aufklärung“ festgestelltt, dass
„Amüsement die Verlängerung der Arbeit unter dem
Spätkapitalismus“ sei.
Der gesellschaftliche Raum ist von motorisierten
Monaden besetzt
Der Entmachtungsprozess des Menschen vollzieht sich
an erster Stelle durch den immer umfassender werdenden Druck, den
die äusseren Verhälnisse auf ihn ausüben; er geht
aber einher mit der Preisgabe des Selbstbewusstseins seitens des
Subjeks. Es gibt also eine doppelte Entmachtung: eine äussere
und eine innere. Daher die abnehmende Entschlossenheit, sich gegen
die Vereinnahmung durch die äussere Welt zur Wehr zu setzen.
Daher auch der trostlose Konformismus, der sich quer durch alle
Schichten des gesellschaftlichen Ganzen ausgebreitet hat. Mit Konformismus
meine ich nicht nur die Bereitschaft, sich mit dem Bestehenden zu
arrangieren, sondern auch, auf die eigenen Selbstverwirklichungsvorstellungen
zu verzichten und sich mit den verschiedenen Pseudo- Erfüllungsvarianten
zu begnügen, die das System als Belohnung für unsere Fügsamkeit
parat hat. Mehr denn je, ist der Mensch der passive, gleichgeschaltete,
robotisierte „verwaltete Mensch“ geworden, den Adorno
und Horkheimer vor Jahrzehnten mit ihrer üblichen Hellsichtigkeit
klar erkannten. Das Übliche ist der Wille zur Anpassung und
die mit ihr kausal verbundene Unfähigkeit, jene „Ausübung
des Ungehorsams“ zu wagen, die Ulrich Sonnemann in den sechziger
Jahren empfahl, um den Mächtigen zu trotzen und sie in ihre
Schranken zu verweisen. Es ist eigentlich eingetreten, was Nietzsche
voraussah: „Denn die Dressierbarkeit des Menschen ist in diesem
demokratischen Europa sehr gross geworden. Menschen, die leicht
lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das Herdentier,
sogar höchst intelligent, ist präpariert“.
Es leuchtet ein, dass dort, wo die Preisgabe des Selbstbewusstseins
eine allgemeine Erscheinung geworden ist, sich auch kein nennenswertes
kollektives, gesellschaftliches Bewusstsein bilden kann. Was unvermeidlich
entsteht, ist vielmehr gegenseitige Entfremdung, Vereinzelung und
Kommunikationslosigkeit. Der gesellschaftliche Raum ist von motorisierten
Monaden besetzt, die sich höchst eilig von einem Punkt zum
anderen begeben, ohne ihre Mitmenschen wahrzunehmen. Nicht Dialog,
sondern Geschwindigkeit ist das Zeichen der Zeit. Gemeinsames Handeln
kann nur das Produkt echter Intersubjektivität sein, was wiederum
das Vorhandensein echter Subjektivität voraussetzt. Beides
existiert heute gar nicht oder nur in residualem Umfang. Das System
weiss, dass dieser Zustand ihn vor jeglicher Revolte im voraus schützt;
deshalb ist es der erste, der interessiert ist, ihn aufrechtzuerhalten,
deshalb versucht er immer wieder, das Kollektive als jene gefügige,
„lonely crowd“ zu degradieren, die David Riesman vor
mehr als fünfzig Jahren in seinem berühmten Bestseller
beschrieb.
Der heutige herrschende Zeitgeist zeichnet
sich durch die tiefe Krise des idealistisch-emanzipatorisch ausgerichteten
Denkens aus
Gerade weil der Einzelne verlernt hat, aus eigener
Verantwortung sich mit der Problematik seines Menschseins zu befassen,
ist er dazu verdammt, sich auf die Normen und Anweisungen des waltenden
Diskurses zu verlassen, ein Diskurs, der, wie Pierre Bordieu immer
wieder gezeigt hat, aus nackter symbolischer Gewalt besteht. Damit
ist sein Schicksal als Sein-für-Anderes besiegelt. Überhaupt:
solange der Mensch sich nicht darüber im Klaren ist, was er
will und welche Lebensziele er anstrebt, hat er keine Chance, das
Weltgeschehen wirklich zu begreifen und sich darin zurechtzufinden.
Daher die Bedeutung, die die alten Griechen dem gnothi seauton des
Orakel von Delphi zuschrieben, eine Maxime, die sich nicht zufällig
Sokrates zu eigen machte. Der Mensch der gegenwärtigen Konsumgesellschaft
schafft es immer weniger, sich selbst zu erkennen und zu finden.
Die Folge dieser Selbstunkenntnis bzw. Selbstverkennung sind Orientierungslosigkeit
und Selbstverlorenheit, auch wenn, gestützt auf alle möglichen
technischen und wissenschaftlichen Apparaturen und Daten, der heutige
Mensch sich einbildet, den richtigen Weg zu kennen. Nichtsdestotrotz,
ist er in Wirklichkeit ein Umherirrender, der von Aporia zu Aporía
steuert, ein Wort, das in Griechisch genau das bedeutet: Sackgasse
oder Nicht-Weg.
Die Haltung des Menschen gegenüber der etablierten
Macht war immer sowohl von objektiven wie von subjektiven Faktoren
bedingt. Aber auch der Zeitgeist hat dabei eine nicht zu unterschätzende
Rolle gespielt. Der heutige herrschende Zeitgeist zeichnet sich
durch die tiefe Krise des idealistisch-emanzipatorisch ausgerichteten
Denkens aus. Das Sagen haben weitgehend der Pragmatismus, der Empirismus,
der Positivismus, der Relativismus und andere Ideologien und Weltanschauungen,
die sich grundsätzlich mit dem System identifizieren und jeden
Versuch, es zu bekämpfen, als Irrtum, als naive Illusion oder
als gefährliche Torheit brandmarken. Oder wie die Postmodernisten
sagen: da alle emanzipatorischen, utopischen Versuche der Moderne
ausnahmslos kläglich gescheitert sind, bleibt uns nichts anderes
übrig, als uns mit der nackten Wirklichkeit abzufinden und
von den „grands méta-récits“ endgültig
Abschied zu nehmen. Dies ist es auch, was die Medien mit anderen
Worten tagtäglich wiederholen.
Menschen begegnen sich heute vorwiegend nicht als
Personen, sondern als Sachen. Sie handeln in diesem Sinn nach demselben
Verwertungsprinzip der bürgerlich-kapitalistische Ideologie.
Daher ist es berechtigt, mit Paul Ricoeur zu sagen, dass wir in
„einer Welt ohne Nächsten“ leben. Die auf freiwilliger
Bindung zum Gemeinsamen orientierte Selbstverwirklichungsethik findet
heute kaum Anhänger. Das Ganze wird von den Durchschnittsmenschen
der Gegenwart zum eigenen Selbst reduziert. Alles, was ihn nicht
unmittelbar trifft, zählt für ihn nicht. Das ist die eigentliche
Umwertung aller Werte, die die Spätmoderne und die Postmoderne
vollzogen haben: das eigene Ich zu verabsolutieren und alles, was
sich seiner Durchsetzung widersetzt, als feindliches, störendes
Nicht-Ich zu betrachten. Das ist auch das, was schon Fichte mit
seiner Philosophie des absoluten Ich oder später Max Stirner
mit der Moral des „Ich geniesse mich“ seines „Einzigen
und sein Eigentum“ taten. Da das Weltganze heute der Weltmarkt
bzw. das Weltgeld sind, geht es darum, sich soviel Profit wie nur
möglich anzueignen. Oder wie Erich Fromm in seinem Werk „Das
Christusdogma und andere Essays“ schrieb: „Der Mensch
hat sich selbst in eine Ware verwandelt und fasst sein Leben als
Kapital auf, das gewinnbringend investiert werden muss“. Nicht
zufällig bezeichnete Daniel Bell in seinem Buch „The
Coming of Post-Industrial Society“ unsere Zeit als „Business
civilization“. Aber gerade, weil alle unbedingt Gewinner sein
wollen, gibt es fast nur Verlierer, wie der französische Philosoph
Michel Serres in einem Gespräch mit seinem Landsmann Bruno
Latour Anfang der neunziger Jahre feststellte: „Es hat, glaube
ich, keinen Moment der Geschichte gegeben, in der es so viele Verlierer
und so wenig Gewinner gab“ (Eclaircissements). Solange wir
Gefangene des Verdinglichungsprozess bleiben, der heute im zwischenmenschlichen
Bereich herrscht, werden wir es nicht schaffen, sowohl die Beziehungen
zu uns selbst wie zu unseren Mitmenschen auf eine selbständige,
entfremdungsfreie Grundlage zu stellen. Wir stehen wieder einmal
vor der grossen Frage über unsere Bestimmung sowohl als Einzelner
wie als Gesellschaftswesen, eine Frage, die Kierkegaard zu recht
als das Entweder/Oder der menschlichen Existenz auffasste. Das Problem
ist freilich so alt wie die Geschichte selbst und taucht vom Beginn
an unter der Bezeichnung liberum arbitrium auf. Was die meisten
Menschen wählen ist keineswegs das, was sie möchten, sondern
eher, was das System will. Hinter dieser Entscheidung steht die
Angst, das Wenige zu verlieren, was man hat, aber auch die Hoffnung,
trotz dieser inneren Kapitulation doch zu einem halbwegs erfüllten
und erfolgreichen Dasein zu gelangen. Dass diese Erwartung auf einer
Selbsttäuschung beruht, beweist allein das unglückliche
Bewusstsein, das das Leben des heutigen Individuums charakterisiert.
Das gilt insbesondere für die benachteiligten Teile der Gesellschaft,
aber auch für ihre priviligierten Schichten- trotz der Macht,
des Reichtums oder dem Ansehen, die sie geniessen können. Denn,
wie Max Horkheimer in seinem Buch „Zur Kritik der instrumentellen
Vernunft“ feststellte, „besonders die sogenannten Grössen
von heute, die Idole der Massen, sind keine echten Individuen; sie
sind einfach Geschöpfe ihrer eigenen Reklame, Vergrösserungen
ihrer eigenen Photographien, Funktionen geselllschaftlicher Prozesse“.
Die von den Massenmedien und Werbeagenturen hergestellte Prominenz
besteht aus nichts anderem als Masken, die ihre jeweilige Rolle
in der allgemeinen Maskerade der modernen Welt spielen, wie schon
der alte Schopenhauer wusste. Und obwohl er das gerade Gegenteil
von einem Revolutionär oder einem Freund des Volkes war, war
er mutig genug, um öffentlich zu erklären, dass unter
diesen Masken „in der Regel Geldspekulanten (money-makers)
steckten“, wie er in „Paralipomena“ schrieb. Die
herrschende Ideologie hat es geschafft, den Menschen einzubläuen,
dass der höchste Wert ihres Daseins darin besteht, Erfolg zu
haben. Das erklärt, warum das Verhalten der Durchnittsmenschen
an erster Stelle durch die vom System fetischierte Erfolgssucht
bestimmt wird. Und da dieses Ziel nur innerhalb der bestehenden
Spielregeln zu erreichen ist, zieht man es vor, mitzuspielen und
alle anderen Werte und Selbstverwirklichungsformen als unnötigen
Ballast oder gar Hindernis beiseite zu schieben.
Was heute als Demokratie verherrlicht wird,
ist eigentlich eine Oligarchie
Das erste, was man ausgeschaltet hat, ist die Ethik,
und mit ihr alle Grundwerte, die mit dieser uralten Kategorie zusammenhängen,
darunter soziale Gerechtigkeit, Solidarität mit den Notleidenden
und überhaupt Rücksicht auf den anderen. Das bedeutet
einen totalen Bruch mit den besten Traditionen des universalen Denkens.
Das Hauptanliegen Karl-Otto Apels, eine „universalistische
Makroethik der Menscheit“ bzw. eine „planetarische Makroethik
der Verantwortung“ zu entwickeln, hat immer weniger Aussichten,
Wirklichkeit zu werden. Karl Raimund Popper, der Theoretiker der
„offenen Gesellschaft“ war alles andere als ein Gegner
des Systems; dennoch musste er schliesslich in seinem Buch „Auf
der Suche nach einer besseren Welt“ zugeben: „Unser
Unglück ist, dass sich unsere Intelligenz schneller entwickelt
hat als unsere moralischen Gaben“. Klarer drückte sich
der deutsch-italienische Philosoph Vittorio Hösle aus, als
er in einem seiner Bücher auf den in unserer Zeit herrschenden
„ethischen Nihilismus“ hinwies. Mit der Ausschaltung
der Ethik als Grundlage des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen
Zusamamenlebens ändert sich auch die Kategorie des Politischen
in ihrem ursprünglichen, platonisch-aristotelischen Sinn, der
darin bestand, für das Wohl der Polis zu arbeiten. Getrennt
von ihrem ethischen Inhalt, von dem, was Montesquieu „vertu
politique“ nannte, muss Politik zwangsläufig zu nackter
Machtsucht und Machtmissbrauch verkommen, wie es heute überall
in der Welt der Fall ist. Die Wechselwirkung zwischen der res publica
und res privata, die das Zeichen eines aufgeklärten, gut funktionierenden
Gemeinwesens ist, findet kaum statt. Die Verwaltung des öffentllichen
Wesens trifft direkt oder indirekt auf alle Bürgerinnen und
Bürger zu, aber sie wird von einer Minderheit von Berufspolikern,
Staatsbeamten und Technokraten monopolisiert, die mit wenigen Ausnahmen
mehr an ih eigenes Wohl als an das Wohl der Gesellschaft denken.
Chancen, sich innerhalb der bestehenden Gesetze und Institutionen
gegen diese Bevormundung zur Wehr setzen, bleiben äusserst
gering. Was heute als Demokratie verherrlicht wird, ist eigentlich
eine Oligarchie, oder genauer: eine Plutokratie oder Herrschaft
der Reichen. Deutschland bietet dafür ein Paradebeispiel. Wir
haben gewisss freie Wahlen, aber gewählt werden fast ausschliesslich
die zwei führenden Parteien, die jede auf ihre Weise und mit
ihrer eigenen Rhetorik für das Grosskapital regieren, allen
voran die Partei, die die Unverfrorenheit hat, sich auf die christllichen
Grundwerte ihres Programms immer wieder zu berufen. Seit wann bedeutet
Christentum Mammonkult? Was die Sozialdemokratie angeht, scheinen
ihre Führer seit etlichen Jahren keinen anderen Ehrgeiz zu
haben, als eine bessere CDU-CSU zu werden. Die Politik des Sozialabbaus,
die von Gerhard Schröder eingeleitet wurde, wird von seinen
Nachfolgern getreu weitergeführt. Diesen offenen Verrat an
den sozialen Traditionen der Partei nennen sie „Modernisierung“
und „Öffnung zur Mitte“, wie sie es neulich in
dem Sammelband „Auf der Höhe der Zeit“ getan haben.
Die Möglichkeit des Andersseinkönnens wird
immer geringer, die Herrschaft der Faktizität immer erdrückender.
Die Menschen, die mit mehr oder weniger Glück versuchen, sich
dieser Automatik zu entziehen, leben im Zustand des inneren Exils,
sind Verbannte der sie umgebenden Realität. Und weil sie das
Äussere als Unzuhause erleben, versuchen sie, in ihrem Inneren
Zuflucht zu nehmen. Sie wählen diesen Ausweg aus Ekel vor der
schauderhaften Farce, die sich tagtäglich vor ihren Augen abspielt,
aber auch weil sie zu dem Schluss gekommen sind, dass es keine Alternative
zum bestehenden Elend gibt. Sie merken nicht, dass sie sich mit
ihrer resignierten Haltung stillschweigend mit der vom System propagierten
These seiner Alternativlosigkeit identifizieren. Noch weniger merken
sie, dass diese angebliche Alternativlosigkeit zum Bestehenden zur
herrschenden Ideologie des Systems gehört und dem Zweck dient,
die Menschen einzuschüchtern, zu entmütigen und ihnen
jegliche Hoffnung auf ein anderes Daseins- und Gesellschaftsmodell
endgültig zu entreissen. Es ist das schändlichste und
unmenschlichste, das sich das System leistet: das Prinzip Hoffnung
durch das Prinzip Hoffnungslosigkeit zu ersetzen, eine Strategie,
die ich nicht anders als seelischen Terror bezeichnen kann.
Natürlich ist das bestehende System nicht alternativlos.
Wie sollte es auch? Macht ist nicht gleichbedeutend mit Wahrheit,
die historische Erfahrung zeigt uns, dass es meistens das gerade
Gegenteil war. Das gilt auch für heute. Brutalität, physische
und strukturelle Gewalt und Ausbeutung von Milliarden von Menschen
können nie die Grundlage einer endgültigen, legitimen,
akzeptablen Ordnung sein. Nicht, weil das System gut für die
Menschen ist behauptet es sich, sondern vielmehr, weil den Menschen
meistens die Einsicht und die Kraft fehlt, es zum Teufel zu jagen
und es durch ein anderes zu ersetzen. Und darum geht es: sich klar
zu werden, dass das System eine Mega-Destruktionsmaschine geworden
ist, die nichts anderes verdient, als zugrunde zu gehen und zu Graben
getragen zu werden. Leider sind wir weit davon entfernt, dies erkannt
zu haben. Man ist unzufrieden, man meckert und jammert über
dieses und jenes und man hat Angst vor dem Kommenden, aber man macht
trotzdem weiter und unternimmt nichts Nennenswertes gegen die waltende
Sinnlosigkeit, obwohl es immer mehr Gründe gibt, sich seiner
Haut zu wehren. Vor Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel „Die
Zivilisation frisst ihre Kinder“, versäumte dabei leider
darauf hinzuweisen, dass das erste, was von dieser Zivilisation
gefressen wird, der Widerstandsgeist des Einzelnen ist. Von jenem
Erhaltungstrieb, der nach Spinoza der tiefste Trieb des Menschen
ist, ist immer weniger zu spüren. Immer sichtbarer wird hingegen
der Todestrieb, der nach dem späte Freud in der Natur des Menschen
steckt. Ist die Selbstkastration und Selbstverleugnung, die immer
mehr Menschen erfasst, nicht eine Form des inneren Sterbens?
Wie dem auch sei: wir sind weder von der Natur noch
von den Göttern dazu verurteilt, Marionetten von Institutionen,
Strukturen und Machtverhältnissen zu werden, die unseren Bedürfnissen,
unseren Träumen und Glücksvorstellungen zuwiderlaufen.
Wir sind frei geboren und damit mit dem angeborenen Recht ausgestattet,
uns gegen jegliche Form von Subordination und Unterdrückung
zur Wehr zu setzen. Entsprechend schliesse ich meine Überlegungen
mit den Worten, die der griechisch-französische Philosoph Cornelius
Castoriadis in seinem Buch „Gesellschaft als imaginäre
Institution“ schrieb: „Ich akzpetiere nicht, dass Tag
für Tag über mein Schicksal Leute entscheiden, deren Absichten
mir feindlich oder gar unbekannt sind; Leute, für die wir -
ich und alle anderen - blosse Ziffern in einem Plan oder Spielfiguren
auf einem Schachbrett sind“.
***
Ist das Kopftuch ein Stück Ideologie?
Von Riza Baran
Bevor wir staunend vor der nächsten migrantInnenfeindlichen
Welle in Deutschland stehen, sollten wir uns noch einmal vergegenwärtigen,
welche Schlussfolgerungen aus der Kopftuchdiskussion der Jahre 2003/2004
von der Mehrheitsgesellschaft als scheinbare Ergebnisse gezogen
worden waren:
• Der Islam sei eine rückwärtsgewandte
Religion
• Die Migrantinnen seien an Ihrer graduellen Nichtintegration
selber schuld, da sie sich nicht von ihrer Herkunftsreligion und
-kultur lösen wollten.
Als Hintergrund und gleichzeitig als Selbstbestätigung
für diese Schlussfolgerungen dient die Inanspruchnahme einer
Leitkultur für Westeuropa. Der Begriff der Kultur (und dabei
wird fast nur an Religion gedacht) ist zur zentralen Rechtfertigung
für Diskriminierung und Unterdrückung jedweder Art geworden.
Die Reduktion gesellschaftlicher Probleme auf Fragen der kulturellen
Unterschiede lässt sich in weiten Teilen der Gesellschaft feststellen.
Eigentlich müssten die hiesigen Gesellschaften
die Diskussion um das Tragen des Kopftuchs durch Moslems als Zeichen
verstehen, aktiv ein Gleichgewicht zwischen ihren säkularisierten
Gesellschaften und dem Islam entwickeln zu müssen. Ein Gleichgewicht,
analog demjenigen, welches die hiesigen Gesellschaften während
der vergangenen Jahrhunderte auch zu anderen wichtigen Religionen,
wie den christlichen Konfessionen und dem Judentum, entwickelt haben.
Diese Selbstfindung und Weiterentwicklung braucht Zeit und kann
nur miteinander gelingen, damit die Muslime in unserer Gesellschaft
nicht nur dabei sind, sondern mittendrin!
Eine Emotionalisierung und Dramatisierung anhand der
Diskussion um Kopftücher könnte ansonsten zu einem Kulturkampf
in einer Welt führen, die gleichzeitig immer näher zusammen
rückt.
Verschleierte oder Kopftuch tragende muslimische Frauen
in Europa – kaum ein Thema vermag derart viele Vorurteile
auf den Plan zu rufen, kaum ein Thema erweckt so viele Emotionen.
Einige neigen zu nicht weniger verzerrenden Romantizismen, während
die Anderen sofort von der Unterdrückung der islamischen Frauen
sprechen und das Kopftuch unhinterfragt als ein Symbol für
den fundamentalistischen Islam sehen. Dabei werden Migrantinnen
auf eine Opferrolle reduziert, wobei ihnen jegliche Handlungs- und
Kommunikationskompetenz abgesprochen wird. Differenzierungen, welche
die facettenreichen Lebenswelten und Familienstrukturen aufzeigen,
finden nicht statt.
Um konstruktiv voran zu kommen, ist es notwendig sich
von Verallgemeinerungen zu verabschieden. Dies würde den Einzelnen
nicht gerecht werden und die ambivalente, teilweise in sich widersprüchliche
Lebenswirklichkeit von Muslimen innerhalb dieser Gesellschaft außer
Acht lassen.
Durch die aktive Auseinandersetzung mit kulturellen
Traditionen und Normen entwickeln die Migrantinnen beispielsweise
individuelle Handlungsstrategien, die es ihnen ermöglichen,
ihre Wünsche und Ziele, welche die Aufrechterhaltung der engen
Bindung an die Kernfamilie, individuelle Entscheidungsfreiheit sowie
einen Bildungsaufstieg beinhalten, zu erreichen (vgl. Gölbol,
2007).
Andererseits besteht die Gefahr den Umgang mit dem
Kopftuch von Person zu Person unterschiedlich zu handhaben. Dies
würde die Tür für Willkür, Verdächtigungen
und Überwachung öffnen und das geistige Klima vergiften.
Außerdem sind diese Gesellschaft und auch ihr
Staat nicht völlig religionsneutral. Alle Religionen sind permanent
präsent – mal offensichtlicher, mal weniger. Ein Berufsverbot
über das Vehikel der Bekleidung einzuführen wäre
kontraproduktiv und völlig überzogen. Wo sollte da auch
eine Grenze sein? Was wäre mit der Kippa auf dem Kopf? Oder
mit einem Kreuz an der Halskette?
Diskursziel: Begriffsklärung
Die Frage nach der Ideologie ließe sich eigentlich
kurz und bündig beantworten, indem man sich die Gegenfrage
stellt: ”Was ist keine Ideologie?”
Die Antwort auf die letzte Frage lautet ”Nichts”.
Woraus sich logischerweise ergibt, dass die Antwort auf die erste
Frage lauten muss: ”Alles!”
Eigentlich schien diese Frage im Zuge der Diskussion
um die Wissenschaftstheorien der Frankfurter Schule und des Positivismus’
während der 60er Jahre (Positivismusstreit) schon beantwortet.
Auch die später stattgefundene Debatte um die Totalitarismustheorie
während des Kalten Krieges sowie die bundesrepublikanische
Diskussion um die Freiheitlich Demokratische Grundordnung (FDGO)
hatten schon dargelegt, dass es keinen Raum innerhalb einer Gesellschaft,
innerhalb eines Ganzen gibt, der frei wäre von persönlichen
und auch gleichzeitig von außen beeinflussten Einstellungen
- zu welchem Thema auch immer.
Oder, um es direkter zu formulieren: Es gibt keine
ideologiefreie Sphäre innerhalb einer Gesellschaft!
Schon gar nicht im Bereich des Bildungswesens kann
davon die Rede sein. Jede Gesellschaft bildet für die SchülerInnen
ein vorgefundenes Umfeld, in das die Bildungsinstitutionen wie selbstverständlich
eingebettet sind. LehrerInnen sollen nach allgemeiner Ansicht nicht
nur Fachinhalte vermitteln, sondern auch Werte vermitteln und anbieten,
an denen SchülerInnen sich bei ihrer Identitätsfindung
orientieren können. Wir dürfen aber den Einfluss der LehrerInnen
auf die SchülerInnen auch nicht überschätzen. Sie
konkurrieren mit der Familie, dem Freundeskreis, der Musik, der
Literatur, den Massenmedien oder dem Internet. Und sie konkurrieren
vor allem auch mit der Realität einer Gesellschaft. Außerdem
darf nicht vergessen werden, dass LehrerInnen und SchülerInnen
in einem antagonistischen Verhältnis stehen, wodurch jede Äußerung
von LehrerInnen grundsätzlich kritisch beäugt wird. Maßgeblich
für den Einfluss von LehrerInnen wird bleiben, was der ehemalige
Ministerpräsident Teufel aus Baden-Württemberg mal sagte:
”Entscheidend ist nicht, was man auf dem Kopf hat, sondern
das, was man im Kopf hat”. In diese Gemengelage sollte die
Diskussion eingeordnet werden, damit die junge Generation sich zunehmend
an die Gesellschaft gewöhnt und im Gesellschaftssystem funktioniert.
Niemand kann sich seiner Sozialisation entledigen
und so ist die Hauptfrage, wie selbstbewusst fühlt sich eine
Gesellschaft, damit sie glaubt, sich erlauben zu können, die
Erziehung der jungen Generation so zu gestalten, dass die SchülerInnen
befähigt werden
• Zu analysieren,
• Zu vergleichen,
• Sich selbstkritisch zu hinterfragen,
• Sich Diskussionen zu stellen und
• Sich eine eigene Meinung zu bilden.
Diskursziel: Zivilgesellschaft
Um diese zivilgesellschaftlichen Erziehungs- und Entwicklungsziele
erreichen zu können, müssen mehrere Voraussetzungen existieren.
Eine Grundvoraussetzung besteht in der Möglichkeit
der freien Meinungsäußerung und in der Nichtexistenz
von Denkverboten. Ohne diese Grundlagen werden sich die von den
LehrerInnen abhängigen SchülerInnen nicht zu selbstbewussten
und mündigen Menschen entwickeln können. Die Kehrseite
dieser Medaille ist, dass die LehrerInnen keine Werbung für
ihre Einstellungen betreiben oder Druck auf die SchülerInnen
ausüben dürfen, was im Übrigen kontraproduktiv wäre.
Die gleiche Wirkung hätte eine Gängelung
der LehrerInnen durch den Staat mittels Verboten und/oder Drohungen.
Das Verbot für bestimmte Lehrerinnen mit Kopftuch zu unterrichten
fällt in diese Kategorie von Kontraproduktivität. Und
dies hinsichtlich mehrerer Dimensionen:
• Hinsichtlich der Entwicklung der SchülerInnen
• Hinsichtlich des Zusammenwachsens von Mehrheits- und Minderheitengesellschaft
• Hinsichtlich der Neutralität und Säkularität
des Staates
• Hinsichtlich der Grundgesetznorm der Gleichheit und der
Religionsfreiheit und
• Hinsichtlich der individuellen Meinungsfreiheit.
Nicht nur einige der genannten Dimensionen, sondern
vor allem die dann existierende Realität eines Berufsverbotes
für betroffene Frauen (und zwar nur für Frauen!) würde
wahrscheinlich zu erfolgreichen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht
führen.
Um eine Ausgewogenheit zwischen Toleranz gegenüber
Minderheiten einerseits und der Verhinderung von antitoleranten
Handlungen gerade dieser Minderheiten sicher zu stellen, besitzt
die Justiz ausreichend Mittel, die nur konsequent eingesetzt zu
werden bräuchten.
Diskursziel: Frauenemanzipation und behutsame
Integration
Beim Tragen eines Kopftuchs kann es auch nicht um
den Begriff der Kompromissfähigkeit gehen. Denn es gibt nur
zwei Möglichkeiten: Entweder tragen oder nicht tragen.
Auch der Rückgriff auf unser prinzipiell religiös
neutrales öffentliches Schulsystem geht an der Wahrheit vorbei.
Unser Schulsystem ist selbstverständlich in die Jahrtausende
alte Tradition des Christentums in unseren Breiten eingebettet.
Das Umfeld unserer Gesellschaft wirkt so vielfältig und unterschwellig
auf unser Schulsystem und auf unsere LehrerInnen, dass es für
die Werteentwicklung der SchülerInnen fast gar keine Religionskonkurrenz
auf gleicher Augenhöhe geben kann. Außerdem sollte nicht
verschwiegen werden, dass der Staat sich alles andere als wertneutral
verhält, wenn man an den christlichen Religionsunterricht oder
an die Einziehung von Kirchensteuern denkt.
Um das Spannungsverhältnis zwischen Antirassismus
und Frauenemanzipation soweit wie möglich aufzulösen,
sollten wir ihre gemeinsame Wurzel betonen. Schon die Migration
ist ein erster Schritt auf dem Wege zur Emanzipation. Die Frauen
unterdrückende Symbolkraft des Kopftuchtragens kann auf die
Dauer nur verringert werden, wenn sie sich auf eine Entwicklung
stützt, die aus der Mitte der muslimischen Frauen in Deutschland
heraus in Gang kommt. Solche Ansätze müssen durch die
Zivilgesellschaft unterstützt werden.
Und diese Entwicklung nicht schon eingesetzt. Ist
nicht die Berufstätigkeit von Musliminnen als Lehrerinnen ein
unübersehbares Aufbrechen traditioneller Geschlechtermuster?
Und dies nicht nur in Bezug auf den Islam? Und gibt es nicht auch
eine (abendländische) Mode- und Zivilisationsgeschichte des
Kopftuches?
Müssten wir alle nicht gerade fordern, dass alle
Frauen und Mädchen unserer Gesellschaft dabei unterstützt
und gefördert werden, sich ihre Rechte zu erkämpfen!?
Und zwar über die Bildung, die Ausbildung sowie über die
rechtliche, soziale und wirtschaftliche Chancengleichheit. Dadurch
würden vor allem auch die Frauen und Mädchen mit muslimischem
Hintergrund innerhalb ihrer Familien und anderer Zusammenhänge
gestärkt und könnten sich dem traditionellen Begriff von
Ehre entziehen. Es wird von den VerbotsverfechterInnen oftmals ausgeblendet,
dass es innerhalb des Islam eine lebendige Auseinandersetzung um
die Rolle der Frau gibt, die durch Verbote unbeabsichtigt kontraproduktiv
beeinflusst werden kann.
Keineswegs ist verhüllt sein identisch mit Erniedrigung.
Es kann im Gegenteil sogar mit höchstem Respekt zu tun haben.
Islamische Kultur und Religion und damit auch das Kopftuch müssen
unter den gegebenen Bedingungen auch als Symbol für Identität
herhalten; sie bieten Schutz und psychische Sicherheit und sind
somit als Ausgangsgrundlage für eigenes Selbstbewusstsein und
Wege zur Integration zu verstehen - von daher sollten wir sie akzeptieren.
Das Gezerre um ein Symbol wie das Kopftuch ist eigentlich
ein Nebenkriegsschauplatz. Das eigentliche Problem der Mehrheitsgesellschaft
ist die Erkenntnis, dass sie es bisher nicht ausreichend verstanden
hat, die Integration der MigrantInnen zu fördern und jetzt
darauf verfällt, dies mit repressiven Mitteln nachholen zu
wollen. Diese Gemengelage provoziert gerade bei selbstbewussten
Musliminnen in Europa die Entscheidung für das Kopftuch. Dabei
wird verdrängt, dass hier bis in die 60er Jahre hinein noch
ähnlich konservative Moralvorstellungen existierten wie sie
jetzt von vielen MuslimInnen vertreten werden.
Im Gegenteil, wesentliche Strukturelemente existieren
immer noch, so dass selbst aus den PISA-Studien in Deutschland keine
nennenswerte bildungspolitische Konsequenzen gezogen worden sind,
obwohl der durch die Studien aufgedeckte Zusammenhang zwischen dem
Bildungserfolg und der sozialen und/oder ethnischen Herkunft seitdem
in aller Munde ist.
Diskursziel: Wer hat Angst vor dem Fremden in seinem
Spiegelbild?
Die inzwischen zähneknirschend vollzogene Anerkennung
der Tatsache, dass die MigrantInnen für immer hier bleiben
werden hat die Existenz des Islam in das Blickfeld der Mehrheitsgesellschaft
gerückt. Parallel zu dieser Entwicklung haben die MigrantInnen
ihre Anstrengungen verstärkt, öffentlich präsenter
zu sein und die Gesellschaft mit zu gestalten.
Diese permanenten Berührungspunkte zeigen sich,
teilweise sehr emotional, an konkreten Aspekten wie dem Kopftuch
oder dem Bau von Moscheen. Die zugegebenermaßen komplexe Aufgabe
der Verwirklichung einer multireligiösen Gesellschaft bietet
zugleich die Chance, zwischen dem Anspruch einer freiheitlichen
Demokratie und dem Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften
eine Brücke zu bauen. Der Prozess der Artikulation ihrer spezifischen
Interessen innerhalb unseres säkularisierten Rechts hat bei
den muslimischen Verbänden längst begonnen.
Diskursziel: Entdramatisierender Weitblick
Richtig verstandene Integration muss davon ausgehen,
dass es in den verschiedenen Kulturkreisen eben einen unterschiedlichen
Diskussionsstand zum Thema Religion/Staat gibt. Das Kopftuch provoziert
gerade hier, ”obwohl beziehungsweise gerade weil Religion
für viele in Deutschland heute kein Thema mehr zu sein scheint.
Vielfach wird davon ausgegangen, dass Religiösität weder
privat noch öffentlich in unserer Gesellschaft heute noch eine
große Rolle spiele. Im Zuge der Moderne und Postmoderne, so
die Annahme, würden sich die Glaubenssysteme immer weiter überleben
und unsere säkularisierte Gesellschaft sei der beste Beweis
dafür” (B. Rommelspacher, 2002, S. 130).
Toleranz ist also die einzig sinnvolle Alternative,
und Toleranz beschreibt nicht eine Grenze, sondern im historischen
Sinne das Anrecht auf Gleichheit. Die Gewährung gleicher Rechte,
die Schaffung von Bedingungen für soziale Gleichheit und gleichen
Zugang zu den zentralen Lebensbereichen Arbeit, Ausbildung und Wohnen
sind notwendige Voraussetzungen für eine gleichberechtigte
Lebensführung der MigrantInnen und gerade der muslimischen,
türkischen Frauen.
Oft wird in diesem Zusammenhang die Frage gestellt,
”Ist der Islam tolerant oder nicht?” Diese Fragestellung
ist falsch. Denn der Islam macht als Religion unter allen Religionen
keine Ausnahme von der Tatsache, dass man ihn sowohl richtig versteht,
wenn man ihn für eine unverrückbare Gottesoffenbarung
hält, als auch dann, wenn man ihn als Menschenwerk beschreibt.
Als letzteres ist er in die Geschichte verflochten und unterliegt
damit allen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, unter
denen Toleranz gedeihen oder nicht gedeihen kann. Die Frage danach,
ob der Islam so beschaffen sei, dass er nur dann bestehe und Gültigkeit
habe, wenn die prophetische Intoleranz durchgehalten wird, muss
also mit ”Nein” beantwortet werden. In Bezug auf das
Ausmaß, den Tiefgang und das durchschnittliche Eintreten von
Toleranz müssen zukünftig Analysen erarbeitet werden,
um zu einer adäquaten Einschätzung gelangen zu können
(vgl. C. Colpe, 1995, S. 92; in: A. Demandt, Mit Fremden leben).
Ein säkularer Rechtsstaat sollte zwar keine Religion
fördern, aber er ”steht im Blick auf die aktuellen religionspolitischen
Konflikte vor der doppelten Aufgabe, sowohl ‚Neutralität’
in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu wahren als auch
eine Garantiefunktion für die Verwirklichung der Religions-
und Weltanschauungsfreiheit zu übernehmen. Während dem
Staat eine Kompetenz in Sachen religiöser Wahrheit prinzipiell
nicht zusteht, hat er gleichwohl die Aufgabe, die Religionsfreiheit
nach Maßgabe der Gleichberechtigung aktiv zu gewährleisten”
(H. Bielefeldt, 2003, S. 124).
Literatur:
Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat;
2003, Bielefeld
Demandt, Alexander: Mit Fremden leben (Hrsg.), 1995,
München
Gölbol, Yeliz: Lebenswelten türkischer Migrantinnen
der dritten Einwanderergeneration; 2007, Herbolzheim
Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung;
2002, Frankfurt/Main
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