XXVI. Jahrgang, Heft 146
Okt - Nov - Dez 2007/4

 
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Letzte Änderung:
11.12.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kosmopolitane Menschenwelten

Die unverzichtbare Freiheit
Für eine Kultur der Selbstbestimmung
Von Heleno Saña

   
 
 


– Vortrag, gehalten am 23. September 2007 in der Hanse-Akademie Lübeck –

Die Lage des Durchschnittsmenschen zeichnet sich heute durch den zunehmenden Verlust seiner Selbstbestimmungs- und Gestaltungsmöglichkeiten aus, sowohl in Bezug auf seine unmittelbare Umwelt wie gegenüber des Weltganzen. Er ist entsprechend ein weitgehend entmachteter Mensch geworden. Das stolze Subjekt der Moderne, das sich einbildete, alle wichtigen Unterdrückungserscheinungen der vormodernen Gesellschaft hinter sich gelassen zu haben und Herr seines eigenen Schicksals geworden zu sein, muss sich seit langem mit einem kümmerlichen Rest von Souveränität zufriedengeben und läuft Gefahr, Knecht der technozentrischen, menschenfeindlichen und zerstörerischen Zivilisation zu werden, die er in den letzten Jahrhunderten durch eine fehlgeleitete, menschenfeindliche Anwendung seiner wissenschaftlichen, technischen und produkiven Mittel errichtet hat. Die gleiche Ideologie, die sich im Namen des Volkes und der Gleichheit des Menschen gegen die Herrschaft der Kirche und des Adels erhob und das Reich des freien Subjekts verkündete, ist im Begriff, es kaltblütig zu liquidieren. Nichts ist unwahrer als die Behauptung des Systems, wir lebten in einer pluralistischen, permissiven, flexiblen, offenen Gesellschaft voller Gleichheitschancen für alle. In Wirklichkeit gibt es kaum eine Lebenssphäre, die frei von der Lenkung, der Steuerung und der Kontrolle der etablierten Macht wäre, einerlei ob es sich um die Wirtschaft, die Arbeitswelt, die Politik, die Massenmedien, die Kultur- und Unterhaltungsindustrie oder gar des Sports handelt. Man verherrlicht unentwegt das Prinzip Privateigentum als das höchste Gut, aber das erste, was man den Einzelnen zunehmend wegnimmt, ist die freie Verfügbarkeit über seine Person, die immer mehr zum Spielball der Mächtigen und deren Interessen wird. Die Grenze, die Habermas zwischen der ökonomisch-staatlichen Welt und der „Lebenswelt“ der Kultur, der Kommunikation und der Freizeit zieht, beruht auf einer Unterschätzung ersterer und einer Überschätzung letzterer. Als abtrünniger Schüler der Kritischen Theorie und als Apologet der bürgerlichen Spätmoderne in ihrer europäisch-amerikanischen Fassung, hat er nie wahr haben wollen, dass der Akkumulationsprozess des Kapitals auch nicht vor der „Lebenswelt“ des „kommunikativen Handels“ Halt macht. Gerade, weil das System es immer weniger schafft, seine immanenten und sich vermehrenden Widersprüche im primären Bereich der Wirtschaftsdynamik in den Griff zu bekommen, versucht es dieses Grunddefizit durch eine zunehmende Beherrschung des kulturellen Überbaus und der Freizeit auszugleichen. Das Ziel dieser verstärkten Instrumentalisierung der privaten, ausserökonomischen Dimension des Lebens besteht darin, mittels des pausenlosen Einsatzes des Amüsierbetriebst, die Menschen von ihren Problemen und Sorgen abzulenken und ihnen das Gefühl zu vermitteln, dass sie immer Grund haben, sich ihres Daseins zu erfreuen. Es ist dieselbe Strategie des panem et circenses, derer sich schon die römischen Machthaber bedienten, um die Volksgunst zu gewinnen. Diese uralte Politik von „Brot und Spiele“ wird heute von den Ideologen des Systems „Spassgesellschaft“ genannt, eine Spassgesellschaft allerdings, die zugleich unter dem täglichen „ökonomische Terror“ leben muss, den die französische Politologin Vivianne Forrester vor Jahren zurecht als das einzig wahre Gesicht des Systems entlarvte. Und längst vor ihr hatten schon Horkheimer und Adorno in ihrer „Dialektik der Aufklärung“ festgestelltt, dass „Amüsement die Verlängerung der Arbeit unter dem Spätkapitalismus“ sei.

Der gesellschaftliche Raum ist von motorisierten Monaden besetzt

Der Entmachtungsprozess des Menschen vollzieht sich an erster Stelle durch den immer umfassender werdenden Druck, den die äusseren Verhälnisse auf ihn ausüben; er geht aber einher mit der Preisgabe des Selbstbewusstseins seitens des Subjeks. Es gibt also eine doppelte Entmachtung: eine äussere und eine innere. Daher die abnehmende Entschlossenheit, sich gegen die Vereinnahmung durch die äussere Welt zur Wehr zu setzen. Daher auch der trostlose Konformismus, der sich quer durch alle Schichten des gesellschaftlichen Ganzen ausgebreitet hat. Mit Konformismus meine ich nicht nur die Bereitschaft, sich mit dem Bestehenden zu arrangieren, sondern auch, auf die eigenen Selbstverwirklichungsvorstellungen zu verzichten und sich mit den verschiedenen Pseudo- Erfüllungsvarianten zu begnügen, die das System als Belohnung für unsere Fügsamkeit parat hat. Mehr denn je, ist der Mensch der passive, gleichgeschaltete, robotisierte „verwaltete Mensch“ geworden, den Adorno und Horkheimer vor Jahrzehnten mit ihrer üblichen Hellsichtigkeit klar erkannten. Das Übliche ist der Wille zur Anpassung und die mit ihr kausal verbundene Unfähigkeit, jene „Ausübung des Ungehorsams“ zu wagen, die Ulrich Sonnemann in den sechziger Jahren empfahl, um den Mächtigen zu trotzen und sie in ihre Schranken zu verweisen. Es ist eigentlich eingetreten, was Nietzsche voraussah: „Denn die Dressierbarkeit des Menschen ist in diesem demokratischen Europa sehr gross geworden. Menschen, die leicht lernen, leicht sich fügen, sind die Regel: das Herdentier, sogar höchst intelligent, ist präpariert“.

Es leuchtet ein, dass dort, wo die Preisgabe des Selbstbewusstseins eine allgemeine Erscheinung geworden ist, sich auch kein nennenswertes kollektives, gesellschaftliches Bewusstsein bilden kann. Was unvermeidlich entsteht, ist vielmehr gegenseitige Entfremdung, Vereinzelung und Kommunikationslosigkeit. Der gesellschaftliche Raum ist von motorisierten Monaden besetzt, die sich höchst eilig von einem Punkt zum anderen begeben, ohne ihre Mitmenschen wahrzunehmen. Nicht Dialog, sondern Geschwindigkeit ist das Zeichen der Zeit. Gemeinsames Handeln kann nur das Produkt echter Intersubjektivität sein, was wiederum das Vorhandensein echter Subjektivität voraussetzt. Beides existiert heute gar nicht oder nur in residualem Umfang. Das System weiss, dass dieser Zustand ihn vor jeglicher Revolte im voraus schützt; deshalb ist es der erste, der interessiert ist, ihn aufrechtzuerhalten, deshalb versucht er immer wieder, das Kollektive als jene gefügige, „lonely crowd“ zu degradieren, die David Riesman vor mehr als fünfzig Jahren in seinem berühmten Bestseller beschrieb.

Der heutige herrschende Zeitgeist zeichnet sich durch die tiefe Krise des idealistisch-emanzipatorisch ausgerichteten Denkens aus

Gerade weil der Einzelne verlernt hat, aus eigener Verantwortung sich mit der Problematik seines Menschseins zu befassen, ist er dazu verdammt, sich auf die Normen und Anweisungen des waltenden Diskurses zu verlassen, ein Diskurs, der, wie Pierre Bordieu immer wieder gezeigt hat, aus nackter symbolischer Gewalt besteht. Damit ist sein Schicksal als Sein-für-Anderes besiegelt. Überhaupt: solange der Mensch sich nicht darüber im Klaren ist, was er will und welche Lebensziele er anstrebt, hat er keine Chance, das Weltgeschehen wirklich zu begreifen und sich darin zurechtzufinden. Daher die Bedeutung, die die alten Griechen dem gnothi seauton des Orakel von Delphi zuschrieben, eine Maxime, die sich nicht zufällig Sokrates zu eigen machte. Der Mensch der gegenwärtigen Konsumgesellschaft schafft es immer weniger, sich selbst zu erkennen und zu finden. Die Folge dieser Selbstunkenntnis bzw. Selbstverkennung sind Orientierungslosigkeit und Selbstverlorenheit, auch wenn, gestützt auf alle möglichen technischen und wissenschaftlichen Apparaturen und Daten, der heutige Mensch sich einbildet, den richtigen Weg zu kennen. Nichtsdestotrotz, ist er in Wirklichkeit ein Umherirrender, der von Aporia zu Aporía steuert, ein Wort, das in Griechisch genau das bedeutet: Sackgasse oder Nicht-Weg.

Die Haltung des Menschen gegenüber der etablierten Macht war immer sowohl von objektiven wie von subjektiven Faktoren bedingt. Aber auch der Zeitgeist hat dabei eine nicht zu unterschätzende Rolle gespielt. Der heutige herrschende Zeitgeist zeichnet sich durch die tiefe Krise des idealistisch-emanzipatorisch ausgerichteten Denkens aus. Das Sagen haben weitgehend der Pragmatismus, der Empirismus, der Positivismus, der Relativismus und andere Ideologien und Weltanschauungen, die sich grundsätzlich mit dem System identifizieren und jeden Versuch, es zu bekämpfen, als Irrtum, als naive Illusion oder als gefährliche Torheit brandmarken. Oder wie die Postmodernisten sagen: da alle emanzipatorischen, utopischen Versuche der Moderne ausnahmslos kläglich gescheitert sind, bleibt uns nichts anderes übrig, als uns mit der nackten Wirklichkeit abzufinden und von den „grands méta-récits“ endgültig Abschied zu nehmen. Dies ist es auch, was die Medien mit anderen Worten tagtäglich wiederholen.

Menschen begegnen sich heute vorwiegend nicht als Personen, sondern als Sachen. Sie handeln in diesem Sinn nach demselben Verwertungsprinzip der bürgerlich-kapitalistische Ideologie. Daher ist es berechtigt, mit Paul Ricoeur zu sagen, dass wir in „einer Welt ohne Nächsten“ leben. Die auf freiwilliger Bindung zum Gemeinsamen orientierte Selbstverwirklichungsethik findet heute kaum Anhänger. Das Ganze wird von den Durchschnittsmenschen der Gegenwart zum eigenen Selbst reduziert. Alles, was ihn nicht unmittelbar trifft, zählt für ihn nicht. Das ist die eigentliche Umwertung aller Werte, die die Spätmoderne und die Postmoderne vollzogen haben: das eigene Ich zu verabsolutieren und alles, was sich seiner Durchsetzung widersetzt, als feindliches, störendes Nicht-Ich zu betrachten. Das ist auch das, was schon Fichte mit seiner Philosophie des absoluten Ich oder später Max Stirner mit der Moral des „Ich geniesse mich“ seines „Einzigen und sein Eigentum“ taten. Da das Weltganze heute der Weltmarkt bzw. das Weltgeld sind, geht es darum, sich soviel Profit wie nur möglich anzueignen. Oder wie Erich Fromm in seinem Werk „Das Christusdogma und andere Essays“ schrieb: „Der Mensch hat sich selbst in eine Ware verwandelt und fasst sein Leben als Kapital auf, das gewinnbringend investiert werden muss“. Nicht zufällig bezeichnete Daniel Bell in seinem Buch „The Coming of Post-Industrial Society“ unsere Zeit als „Business civilization“. Aber gerade, weil alle unbedingt Gewinner sein wollen, gibt es fast nur Verlierer, wie der französische Philosoph Michel Serres in einem Gespräch mit seinem Landsmann Bruno Latour Anfang der neunziger Jahre feststellte: „Es hat, glaube ich, keinen Moment der Geschichte gegeben, in der es so viele Verlierer und so wenig Gewinner gab“ (Eclaircissements). Solange wir Gefangene des Verdinglichungsprozess bleiben, der heute im zwischenmenschlichen Bereich herrscht, werden wir es nicht schaffen, sowohl die Beziehungen zu uns selbst wie zu unseren Mitmenschen auf eine selbständige, entfremdungsfreie Grundlage zu stellen. Wir stehen wieder einmal vor der grossen Frage über unsere Bestimmung sowohl als Einzelner wie als Gesellschaftswesen, eine Frage, die Kierkegaard zu recht als das Entweder/Oder der menschlichen Existenz auffasste. Das Problem ist freilich so alt wie die Geschichte selbst und taucht vom Beginn an unter der Bezeichnung liberum arbitrium auf. Was die meisten Menschen wählen ist keineswegs das, was sie möchten, sondern eher, was das System will. Hinter dieser Entscheidung steht die Angst, das Wenige zu verlieren, was man hat, aber auch die Hoffnung, trotz dieser inneren Kapitulation doch zu einem halbwegs erfüllten und erfolgreichen Dasein zu gelangen. Dass diese Erwartung auf einer Selbsttäuschung beruht, beweist allein das unglückliche Bewusstsein, das das Leben des heutigen Individuums charakterisiert. Das gilt insbesondere für die benachteiligten Teile der Gesellschaft, aber auch für ihre priviligierten Schichten- trotz der Macht, des Reichtums oder dem Ansehen, die sie geniessen können. Denn, wie Max Horkheimer in seinem Buch „Zur Kritik der instrumentellen Vernunft“ feststellte, „besonders die sogenannten Grössen von heute, die Idole der Massen, sind keine echten Individuen; sie sind einfach Geschöpfe ihrer eigenen Reklame, Vergrösserungen ihrer eigenen Photographien, Funktionen geselllschaftlicher Prozesse“. Die von den Massenmedien und Werbeagenturen hergestellte Prominenz besteht aus nichts anderem als Masken, die ihre jeweilige Rolle in der allgemeinen Maskerade der modernen Welt spielen, wie schon der alte Schopenhauer wusste. Und obwohl er das gerade Gegenteil von einem Revolutionär oder einem Freund des Volkes war, war er mutig genug, um öffentlich zu erklären, dass unter diesen Masken „in der Regel Geldspekulanten (money-makers) steckten“, wie er in „Paralipomena“ schrieb. Die herrschende Ideologie hat es geschafft, den Menschen einzubläuen, dass der höchste Wert ihres Daseins darin besteht, Erfolg zu haben. Das erklärt, warum das Verhalten der Durchnittsmenschen an erster Stelle durch die vom System fetischierte Erfolgssucht bestimmt wird. Und da dieses Ziel nur innerhalb der bestehenden Spielregeln zu erreichen ist, zieht man es vor, mitzuspielen und alle anderen Werte und Selbstverwirklichungsformen als unnötigen Ballast oder gar Hindernis beiseite zu schieben.

Was heute als Demokratie verherrlicht wird, ist eigentlich eine Oligarchie

Das erste, was man ausgeschaltet hat, ist die Ethik, und mit ihr alle Grundwerte, die mit dieser uralten Kategorie zusammenhängen, darunter soziale Gerechtigkeit, Solidarität mit den Notleidenden und überhaupt Rücksicht auf den anderen. Das bedeutet einen totalen Bruch mit den besten Traditionen des universalen Denkens. Das Hauptanliegen Karl-Otto Apels, eine „universalistische Makroethik der Menscheit“ bzw. eine „planetarische Makroethik der Verantwortung“ zu entwickeln, hat immer weniger Aussichten, Wirklichkeit zu werden. Karl Raimund Popper, der Theoretiker der „offenen Gesellschaft“ war alles andere als ein Gegner des Systems; dennoch musste er schliesslich in seinem Buch „Auf der Suche nach einer besseren Welt“ zugeben: „Unser Unglück ist, dass sich unsere Intelligenz schneller entwickelt hat als unsere moralischen Gaben“. Klarer drückte sich der deutsch-italienische Philosoph Vittorio Hösle aus, als er in einem seiner Bücher auf den in unserer Zeit herrschenden „ethischen Nihilismus“ hinwies. Mit der Ausschaltung der Ethik als Grundlage des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Zusamamenlebens ändert sich auch die Kategorie des Politischen in ihrem ursprünglichen, platonisch-aristotelischen Sinn, der darin bestand, für das Wohl der Polis zu arbeiten. Getrennt von ihrem ethischen Inhalt, von dem, was Montesquieu „vertu politique“ nannte, muss Politik zwangsläufig zu nackter Machtsucht und Machtmissbrauch verkommen, wie es heute überall in der Welt der Fall ist. Die Wechselwirkung zwischen der res publica und res privata, die das Zeichen eines aufgeklärten, gut funktionierenden Gemeinwesens ist, findet kaum statt. Die Verwaltung des öffentllichen Wesens trifft direkt oder indirekt auf alle Bürgerinnen und Bürger zu, aber sie wird von einer Minderheit von Berufspolikern, Staatsbeamten und Technokraten monopolisiert, die mit wenigen Ausnahmen mehr an ih eigenes Wohl als an das Wohl der Gesellschaft denken. Chancen, sich innerhalb der bestehenden Gesetze und Institutionen gegen diese Bevormundung zur Wehr setzen, bleiben äusserst gering. Was heute als Demokratie verherrlicht wird, ist eigentlich eine Oligarchie, oder genauer: eine Plutokratie oder Herrschaft der Reichen. Deutschland bietet dafür ein Paradebeispiel. Wir haben gewisss freie Wahlen, aber gewählt werden fast ausschliesslich die zwei führenden Parteien, die jede auf ihre Weise und mit ihrer eigenen Rhetorik für das Grosskapital regieren, allen voran die Partei, die die Unverfrorenheit hat, sich auf die christllichen Grundwerte ihres Programms immer wieder zu berufen. Seit wann bedeutet Christentum Mammonkult? Was die Sozialdemokratie angeht, scheinen ihre Führer seit etlichen Jahren keinen anderen Ehrgeiz zu haben, als eine bessere CDU-CSU zu werden. Die Politik des Sozialabbaus, die von Gerhard Schröder eingeleitet wurde, wird von seinen Nachfolgern getreu weitergeführt. Diesen offenen Verrat an den sozialen Traditionen der Partei nennen sie „Modernisierung“ und „Öffnung zur Mitte“, wie sie es neulich in dem Sammelband „Auf der Höhe der Zeit“ getan haben.

Die Möglichkeit des Andersseinkönnens wird immer geringer, die Herrschaft der Faktizität immer erdrückender. Die Menschen, die mit mehr oder weniger Glück versuchen, sich dieser Automatik zu entziehen, leben im Zustand des inneren Exils, sind Verbannte der sie umgebenden Realität. Und weil sie das Äussere als Unzuhause erleben, versuchen sie, in ihrem Inneren Zuflucht zu nehmen. Sie wählen diesen Ausweg aus Ekel vor der schauderhaften Farce, die sich tagtäglich vor ihren Augen abspielt, aber auch weil sie zu dem Schluss gekommen sind, dass es keine Alternative zum bestehenden Elend gibt. Sie merken nicht, dass sie sich mit ihrer resignierten Haltung stillschweigend mit der vom System propagierten These seiner Alternativlosigkeit identifizieren. Noch weniger merken sie, dass diese angebliche Alternativlosigkeit zum Bestehenden zur herrschenden Ideologie des Systems gehört und dem Zweck dient, die Menschen einzuschüchtern, zu entmütigen und ihnen jegliche Hoffnung auf ein anderes Daseins- und Gesellschaftsmodell endgültig zu entreissen. Es ist das schändlichste und unmenschlichste, das sich das System leistet: das Prinzip Hoffnung durch das Prinzip Hoffnungslosigkeit zu ersetzen, eine Strategie, die ich nicht anders als seelischen Terror bezeichnen kann.

Natürlich ist das bestehende System nicht alternativlos. Wie sollte es auch? Macht ist nicht gleichbedeutend mit Wahrheit, die historische Erfahrung zeigt uns, dass es meistens das gerade Gegenteil war. Das gilt auch für heute. Brutalität, physische und strukturelle Gewalt und Ausbeutung von Milliarden von Menschen können nie die Grundlage einer endgültigen, legitimen, akzeptablen Ordnung sein. Nicht, weil das System gut für die Menschen ist behauptet es sich, sondern vielmehr, weil den Menschen meistens die Einsicht und die Kraft fehlt, es zum Teufel zu jagen und es durch ein anderes zu ersetzen. Und darum geht es: sich klar zu werden, dass das System eine Mega-Destruktionsmaschine geworden ist, die nichts anderes verdient, als zugrunde zu gehen und zu Graben getragen zu werden. Leider sind wir weit davon entfernt, dies erkannt zu haben. Man ist unzufrieden, man meckert und jammert über dieses und jenes und man hat Angst vor dem Kommenden, aber man macht trotzdem weiter und unternimmt nichts Nennenswertes gegen die waltende Sinnlosigkeit, obwohl es immer mehr Gründe gibt, sich seiner Haut zu wehren. Vor Jahren schrieb ich ein Buch mit dem Titel „Die Zivilisation frisst ihre Kinder“, versäumte dabei leider darauf hinzuweisen, dass das erste, was von dieser Zivilisation gefressen wird, der Widerstandsgeist des Einzelnen ist. Von jenem Erhaltungstrieb, der nach Spinoza der tiefste Trieb des Menschen ist, ist immer weniger zu spüren. Immer sichtbarer wird hingegen der Todestrieb, der nach dem späte Freud in der Natur des Menschen steckt. Ist die Selbstkastration und Selbstverleugnung, die immer mehr Menschen erfasst, nicht eine Form des inneren Sterbens?

Wie dem auch sei: wir sind weder von der Natur noch von den Göttern dazu verurteilt, Marionetten von Institutionen, Strukturen und Machtverhältnissen zu werden, die unseren Bedürfnissen, unseren Träumen und Glücksvorstellungen zuwiderlaufen. Wir sind frei geboren und damit mit dem angeborenen Recht ausgestattet, uns gegen jegliche Form von Subordination und Unterdrückung zur Wehr zu setzen. Entsprechend schliesse ich meine Überlegungen mit den Worten, die der griechisch-französische Philosoph Cornelius Castoriadis in seinem Buch „Gesellschaft als imaginäre Institution“ schrieb: „Ich akzpetiere nicht, dass Tag für Tag über mein Schicksal Leute entscheiden, deren Absichten mir feindlich oder gar unbekannt sind; Leute, für die wir - ich und alle anderen - blosse Ziffern in einem Plan oder Spielfiguren auf einem Schachbrett sind“.


***


Ist das Kopftuch ein Stück Ideologie?

Von Riza Baran

Bevor wir staunend vor der nächsten migrantInnenfeindlichen Welle in Deutschland stehen, sollten wir uns noch einmal vergegenwärtigen, welche Schlussfolgerungen aus der Kopftuchdiskussion der Jahre 2003/2004 von der Mehrheitsgesellschaft als scheinbare Ergebnisse gezogen worden waren:

• Der Islam sei eine rückwärtsgewandte Religion
• Die Migrantinnen seien an Ihrer graduellen Nichtintegration selber schuld, da sie sich nicht von ihrer Herkunftsreligion und -kultur lösen wollten.

Als Hintergrund und gleichzeitig als Selbstbestätigung für diese Schlussfolgerungen dient die Inanspruchnahme einer Leitkultur für Westeuropa. Der Begriff der Kultur (und dabei wird fast nur an Religion gedacht) ist zur zentralen Rechtfertigung für Diskriminierung und Unterdrückung jedweder Art geworden. Die Reduktion gesellschaftlicher Probleme auf Fragen der kulturellen Unterschiede lässt sich in weiten Teilen der Gesellschaft feststellen.

Eigentlich müssten die hiesigen Gesellschaften die Diskussion um das Tragen des Kopftuchs durch Moslems als Zeichen verstehen, aktiv ein Gleichgewicht zwischen ihren säkularisierten Gesellschaften und dem Islam entwickeln zu müssen. Ein Gleichgewicht, analog demjenigen, welches die hiesigen Gesellschaften während der vergangenen Jahrhunderte auch zu anderen wichtigen Religionen, wie den christlichen Konfessionen und dem Judentum, entwickelt haben. Diese Selbstfindung und Weiterentwicklung braucht Zeit und kann nur miteinander gelingen, damit die Muslime in unserer Gesellschaft nicht nur dabei sind, sondern mittendrin!

Eine Emotionalisierung und Dramatisierung anhand der Diskussion um Kopftücher könnte ansonsten zu einem Kulturkampf in einer Welt führen, die gleichzeitig immer näher zusammen rückt.

Verschleierte oder Kopftuch tragende muslimische Frauen in Europa – kaum ein Thema vermag derart viele Vorurteile auf den Plan zu rufen, kaum ein Thema erweckt so viele Emotionen. Einige neigen zu nicht weniger verzerrenden Romantizismen, während die Anderen sofort von der Unterdrückung der islamischen Frauen sprechen und das Kopftuch unhinterfragt als ein Symbol für den fundamentalistischen Islam sehen. Dabei werden Migrantinnen auf eine Opferrolle reduziert, wobei ihnen jegliche Handlungs- und Kommunikationskompetenz abgesprochen wird. Differenzierungen, welche die facettenreichen Lebenswelten und Familienstrukturen aufzeigen, finden nicht statt.

Um konstruktiv voran zu kommen, ist es notwendig sich von Verallgemeinerungen zu verabschieden. Dies würde den Einzelnen nicht gerecht werden und die ambivalente, teilweise in sich widersprüchliche Lebenswirklichkeit von Muslimen innerhalb dieser Gesellschaft außer Acht lassen.

Durch die aktive Auseinandersetzung mit kulturellen Traditionen und Normen entwickeln die Migrantinnen beispielsweise individuelle Handlungsstrategien, die es ihnen ermöglichen, ihre Wünsche und Ziele, welche die Aufrechterhaltung der engen Bindung an die Kernfamilie, individuelle Entscheidungsfreiheit sowie einen Bildungsaufstieg beinhalten, zu erreichen (vgl. Gölbol, 2007).

Andererseits besteht die Gefahr den Umgang mit dem Kopftuch von Person zu Person unterschiedlich zu handhaben. Dies würde die Tür für Willkür, Verdächtigungen und Überwachung öffnen und das geistige Klima vergiften.

Außerdem sind diese Gesellschaft und auch ihr Staat nicht völlig religionsneutral. Alle Religionen sind permanent präsent – mal offensichtlicher, mal weniger. Ein Berufsverbot über das Vehikel der Bekleidung einzuführen wäre kontraproduktiv und völlig überzogen. Wo sollte da auch eine Grenze sein? Was wäre mit der Kippa auf dem Kopf? Oder mit einem Kreuz an der Halskette?

Diskursziel: Begriffsklärung

Die Frage nach der Ideologie ließe sich eigentlich kurz und bündig beantworten, indem man sich die Gegenfrage stellt: ”Was ist keine Ideologie?”

Die Antwort auf die letzte Frage lautet ”Nichts”. Woraus sich logischerweise ergibt, dass die Antwort auf die erste Frage lauten muss: ”Alles!”

Eigentlich schien diese Frage im Zuge der Diskussion um die Wissenschaftstheorien der Frankfurter Schule und des Positivismus’ während der 60er Jahre (Positivismusstreit) schon beantwortet. Auch die später stattgefundene Debatte um die Totalitarismustheorie während des Kalten Krieges sowie die bundesrepublikanische Diskussion um die Freiheitlich Demokratische Grundordnung (FDGO) hatten schon dargelegt, dass es keinen Raum innerhalb einer Gesellschaft, innerhalb eines Ganzen gibt, der frei wäre von persönlichen und auch gleichzeitig von außen beeinflussten Einstellungen - zu welchem Thema auch immer.

Oder, um es direkter zu formulieren: Es gibt keine ideologiefreie Sphäre innerhalb einer Gesellschaft!

Schon gar nicht im Bereich des Bildungswesens kann davon die Rede sein. Jede Gesellschaft bildet für die SchülerInnen ein vorgefundenes Umfeld, in das die Bildungsinstitutionen wie selbstverständlich eingebettet sind. LehrerInnen sollen nach allgemeiner Ansicht nicht nur Fachinhalte vermitteln, sondern auch Werte vermitteln und anbieten, an denen SchülerInnen sich bei ihrer Identitätsfindung orientieren können. Wir dürfen aber den Einfluss der LehrerInnen auf die SchülerInnen auch nicht überschätzen. Sie konkurrieren mit der Familie, dem Freundeskreis, der Musik, der Literatur, den Massenmedien oder dem Internet. Und sie konkurrieren vor allem auch mit der Realität einer Gesellschaft. Außerdem darf nicht vergessen werden, dass LehrerInnen und SchülerInnen in einem antagonistischen Verhältnis stehen, wodurch jede Äußerung von LehrerInnen grundsätzlich kritisch beäugt wird. Maßgeblich für den Einfluss von LehrerInnen wird bleiben, was der ehemalige Ministerpräsident Teufel aus Baden-Württemberg mal sagte: ”Entscheidend ist nicht, was man auf dem Kopf hat, sondern das, was man im Kopf hat”. In diese Gemengelage sollte die Diskussion eingeordnet werden, damit die junge Generation sich zunehmend an die Gesellschaft gewöhnt und im Gesellschaftssystem funktioniert.

Niemand kann sich seiner Sozialisation entledigen und so ist die Hauptfrage, wie selbstbewusst fühlt sich eine Gesellschaft, damit sie glaubt, sich erlauben zu können, die Erziehung der jungen Generation so zu gestalten, dass die SchülerInnen befähigt werden

• Zu analysieren,
• Zu vergleichen,
• Sich selbstkritisch zu hinterfragen,
• Sich Diskussionen zu stellen und
• Sich eine eigene Meinung zu bilden.

Diskursziel: Zivilgesellschaft

Um diese zivilgesellschaftlichen Erziehungs- und Entwicklungsziele erreichen zu können, müssen mehrere Voraussetzungen existieren.

Eine Grundvoraussetzung besteht in der Möglichkeit der freien Meinungsäußerung und in der Nichtexistenz von Denkverboten. Ohne diese Grundlagen werden sich die von den LehrerInnen abhängigen SchülerInnen nicht zu selbstbewussten und mündigen Menschen entwickeln können. Die Kehrseite dieser Medaille ist, dass die LehrerInnen keine Werbung für ihre Einstellungen betreiben oder Druck auf die SchülerInnen ausüben dürfen, was im Übrigen kontraproduktiv wäre.

Die gleiche Wirkung hätte eine Gängelung der LehrerInnen durch den Staat mittels Verboten und/oder Drohungen. Das Verbot für bestimmte Lehrerinnen mit Kopftuch zu unterrichten fällt in diese Kategorie von Kontraproduktivität. Und dies hinsichtlich mehrerer Dimensionen:

• Hinsichtlich der Entwicklung der SchülerInnen
• Hinsichtlich des Zusammenwachsens von Mehrheits- und Minderheitengesellschaft
• Hinsichtlich der Neutralität und Säkularität des Staates
• Hinsichtlich der Grundgesetznorm der Gleichheit und der Religionsfreiheit und
• Hinsichtlich der individuellen Meinungsfreiheit.

Nicht nur einige der genannten Dimensionen, sondern vor allem die dann existierende Realität eines Berufsverbotes für betroffene Frauen (und zwar nur für Frauen!) würde wahrscheinlich zu erfolgreichen Klagen vor dem Bundesverfassungsgericht führen.

Um eine Ausgewogenheit zwischen Toleranz gegenüber Minderheiten einerseits und der Verhinderung von antitoleranten Handlungen gerade dieser Minderheiten sicher zu stellen, besitzt die Justiz ausreichend Mittel, die nur konsequent eingesetzt zu werden bräuchten.

Diskursziel: Frauenemanzipation und behutsame Integration

Beim Tragen eines Kopftuchs kann es auch nicht um den Begriff der Kompromissfähigkeit gehen. Denn es gibt nur zwei Möglichkeiten: Entweder tragen oder nicht tragen.

Auch der Rückgriff auf unser prinzipiell religiös neutrales öffentliches Schulsystem geht an der Wahrheit vorbei. Unser Schulsystem ist selbstverständlich in die Jahrtausende alte Tradition des Christentums in unseren Breiten eingebettet. Das Umfeld unserer Gesellschaft wirkt so vielfältig und unterschwellig auf unser Schulsystem und auf unsere LehrerInnen, dass es für die Werteentwicklung der SchülerInnen fast gar keine Religionskonkurrenz auf gleicher Augenhöhe geben kann. Außerdem sollte nicht verschwiegen werden, dass der Staat sich alles andere als wertneutral verhält, wenn man an den christlichen Religionsunterricht oder an die Einziehung von Kirchensteuern denkt.

Um das Spannungsverhältnis zwischen Antirassismus und Frauenemanzipation soweit wie möglich aufzulösen, sollten wir ihre gemeinsame Wurzel betonen. Schon die Migration ist ein erster Schritt auf dem Wege zur Emanzipation. Die Frauen unterdrückende Symbolkraft des Kopftuchtragens kann auf die Dauer nur verringert werden, wenn sie sich auf eine Entwicklung stützt, die aus der Mitte der muslimischen Frauen in Deutschland heraus in Gang kommt. Solche Ansätze müssen durch die Zivilgesellschaft unterstützt werden.

Und diese Entwicklung nicht schon eingesetzt. Ist nicht die Berufstätigkeit von Musliminnen als Lehrerinnen ein unübersehbares Aufbrechen traditioneller Geschlechtermuster? Und dies nicht nur in Bezug auf den Islam? Und gibt es nicht auch eine (abendländische) Mode- und Zivilisationsgeschichte des Kopftuches?

Müssten wir alle nicht gerade fordern, dass alle Frauen und Mädchen unserer Gesellschaft dabei unterstützt und gefördert werden, sich ihre Rechte zu erkämpfen!? Und zwar über die Bildung, die Ausbildung sowie über die rechtliche, soziale und wirtschaftliche Chancengleichheit. Dadurch würden vor allem auch die Frauen und Mädchen mit muslimischem Hintergrund innerhalb ihrer Familien und anderer Zusammenhänge gestärkt und könnten sich dem traditionellen Begriff von Ehre entziehen. Es wird von den VerbotsverfechterInnen oftmals ausgeblendet, dass es innerhalb des Islam eine lebendige Auseinandersetzung um die Rolle der Frau gibt, die durch Verbote unbeabsichtigt kontraproduktiv beeinflusst werden kann.

Keineswegs ist verhüllt sein identisch mit Erniedrigung. Es kann im Gegenteil sogar mit höchstem Respekt zu tun haben. Islamische Kultur und Religion und damit auch das Kopftuch müssen unter den gegebenen Bedingungen auch als Symbol für Identität herhalten; sie bieten Schutz und psychische Sicherheit und sind somit als Ausgangsgrundlage für eigenes Selbstbewusstsein und Wege zur Integration zu verstehen - von daher sollten wir sie akzeptieren.

Das Gezerre um ein Symbol wie das Kopftuch ist eigentlich ein Nebenkriegsschauplatz. Das eigentliche Problem der Mehrheitsgesellschaft ist die Erkenntnis, dass sie es bisher nicht ausreichend verstanden hat, die Integration der MigrantInnen zu fördern und jetzt darauf verfällt, dies mit repressiven Mitteln nachholen zu wollen. Diese Gemengelage provoziert gerade bei selbstbewussten Musliminnen in Europa die Entscheidung für das Kopftuch. Dabei wird verdrängt, dass hier bis in die 60er Jahre hinein noch ähnlich konservative Moralvorstellungen existierten wie sie jetzt von vielen MuslimInnen vertreten werden.

Im Gegenteil, wesentliche Strukturelemente existieren immer noch, so dass selbst aus den PISA-Studien in Deutschland keine nennenswerte bildungspolitische Konsequenzen gezogen worden sind, obwohl der durch die Studien aufgedeckte Zusammenhang zwischen dem Bildungserfolg und der sozialen und/oder ethnischen Herkunft seitdem in aller Munde ist.

Diskursziel: Wer hat Angst vor dem Fremden in seinem Spiegelbild?

Die inzwischen zähneknirschend vollzogene Anerkennung der Tatsache, dass die MigrantInnen für immer hier bleiben werden hat die Existenz des Islam in das Blickfeld der Mehrheitsgesellschaft gerückt. Parallel zu dieser Entwicklung haben die MigrantInnen ihre Anstrengungen verstärkt, öffentlich präsenter zu sein und die Gesellschaft mit zu gestalten.

Diese permanenten Berührungspunkte zeigen sich, teilweise sehr emotional, an konkreten Aspekten wie dem Kopftuch oder dem Bau von Moscheen. Die zugegebenermaßen komplexe Aufgabe der Verwirklichung einer multireligiösen Gesellschaft bietet zugleich die Chance, zwischen dem Anspruch einer freiheitlichen Demokratie und dem Selbstverständnis religiöser Gemeinschaften eine Brücke zu bauen. Der Prozess der Artikulation ihrer spezifischen Interessen innerhalb unseres säkularisierten Rechts hat bei den muslimischen Verbänden längst begonnen.

Diskursziel: Entdramatisierender Weitblick

Richtig verstandene Integration muss davon ausgehen, dass es in den verschiedenen Kulturkreisen eben einen unterschiedlichen Diskussionsstand zum Thema Religion/Staat gibt. Das Kopftuch provoziert gerade hier, ”obwohl beziehungsweise gerade weil Religion für viele in Deutschland heute kein Thema mehr zu sein scheint. Vielfach wird davon ausgegangen, dass Religiösität weder privat noch öffentlich in unserer Gesellschaft heute noch eine große Rolle spiele. Im Zuge der Moderne und Postmoderne, so die Annahme, würden sich die Glaubenssysteme immer weiter überleben und unsere säkularisierte Gesellschaft sei der beste Beweis dafür” (B. Rommelspacher, 2002, S. 130).

Toleranz ist also die einzig sinnvolle Alternative, und Toleranz beschreibt nicht eine Grenze, sondern im historischen Sinne das Anrecht auf Gleichheit. Die Gewährung gleicher Rechte, die Schaffung von Bedingungen für soziale Gleichheit und gleichen Zugang zu den zentralen Lebensbereichen Arbeit, Ausbildung und Wohnen sind notwendige Voraussetzungen für eine gleichberechtigte Lebensführung der MigrantInnen und gerade der muslimischen, türkischen Frauen.

Oft wird in diesem Zusammenhang die Frage gestellt, ”Ist der Islam tolerant oder nicht?” Diese Fragestellung ist falsch. Denn der Islam macht als Religion unter allen Religionen keine Ausnahme von der Tatsache, dass man ihn sowohl richtig versteht, wenn man ihn für eine unverrückbare Gottesoffenbarung hält, als auch dann, wenn man ihn als Menschenwerk beschreibt. Als letzteres ist er in die Geschichte verflochten und unterliegt damit allen sozialen, kulturellen und politischen Bedingungen, unter denen Toleranz gedeihen oder nicht gedeihen kann. Die Frage danach, ob der Islam so beschaffen sei, dass er nur dann bestehe und Gültigkeit habe, wenn die prophetische Intoleranz durchgehalten wird, muss also mit ”Nein” beantwortet werden. In Bezug auf das Ausmaß, den Tiefgang und das durchschnittliche Eintreten von Toleranz müssen zukünftig Analysen erarbeitet werden, um zu einer adäquaten Einschätzung gelangen zu können (vgl. C. Colpe, 1995, S. 92; in: A. Demandt, Mit Fremden leben).

Ein säkularer Rechtsstaat sollte zwar keine Religion fördern, aber er ”steht im Blick auf die aktuellen religionspolitischen Konflikte vor der doppelten Aufgabe, sowohl ‚Neutralität’ in religiösen und weltanschaulichen Fragen zu wahren als auch eine Garantiefunktion für die Verwirklichung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit zu übernehmen. Während dem Staat eine Kompetenz in Sachen religiöser Wahrheit prinzipiell nicht zusteht, hat er gleichwohl die Aufgabe, die Religionsfreiheit nach Maßgabe der Gleichberechtigung aktiv zu gewährleisten” (H. Bielefeldt, 2003, S. 124).

Literatur:

Bielefeldt, Heiner: Muslime im säkularen Rechtsstaat; 2003, Bielefeld

Demandt, Alexander: Mit Fremden leben (Hrsg.), 1995, München

Gölbol, Yeliz: Lebenswelten türkischer Migrantinnen der dritten Einwanderergeneration; 2007, Herbolzheim

Rommelspacher, Birgit: Anerkennung und Ausgrenzung; 2002, Frankfurt/Main

   

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