XXVII. Jahrgang, Heft 147
Jan - Apr 2008/1
 
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Letzte Änderung:
24.2.2008

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER




   
 
 


Olaf und Cosima

Von Reinhard Bernhof

Olafs Halbschwester heißt Cosima. Er ist stolz auf sie, denn sie hat eine milchkaffeefarbene Haut und rabenschwarzes Haar, das sich an den Zopfenden kräuselt. Olaf dagegen ist blaß, seine Haare sind blond und kurz geschnitten, so daß er von seinen Klassenkameraden Mecki gerufen wird. Sie sind umgezogen und gehen erst seit wenigen Tagen in die neue Schule, Olaf ist in der 2b, Cosima in der 3a.

Olaf wundert sich, daß seine Schwester immer allein am Zaun steht, während die anderen aus ihrer Klasse lustig herumfliegen wie Schwalben. Spielt denn keiner mit dir? fragt er Cosima.

Ach, die anderen sind doof, antwortet sie.

Aber sofort hat Olaf Cosimas Antwort vergessen, denn Sven tritt dazwischen - und der redet nur von Fußball und von den Messerstichen, die eine Frau im Fernsehen töteten. Er ahmt ihre Schreie und Verkrümmungen nach ...

Am nächsten Tag sieht Olaf seine Schwester erneut am Zaun stehen, wieder ganz in sich versunken.

Was hast du bloß? Er will sie vom Zaun wegziehen, aber sie wehrt ab. - Nach einer Weile sagt sie zögernd: Es ist wegen dir. Du bist weiß - und die Kinder sagen, daß wir gar keine richtigen Geschwister sind. Dann wollen sie wissen, warum das so ist.

Olaf weiß nicht so recht, was er antworten soll.

Nach der Schule gehen Olaf und Cosima gemeinsam nach Hause. Gegen nachmittag kommt ihre Mutter ebenfalls aus der Schule, aus einer anderen, denn sie ist Lehrerin für Englisch und Französisch. Sofort belagern sie die Mutter. Mutti, die Kinder möchten wissen, warum Cosima eine dunkle Hautfarbe hat und ich dagegen eine weiße, sagt Olaf ganz aufgeregt.

Ich habe es doch Cosima schon erklärt, sagt die Mutter. Sag ihnen, daß Cosimas Vater Afrikaner ist. Er ist wieder in Ghana, weil ihn sein Land braucht. Und nun haben wir Dirk, unseren Vater. Siehst du, weil dein Vater aus Ghana ist, sagt Olaf zu Cosima. So ist es, sagt die Mutter und streichelt Cosima. Und weil es heute draußen so schön ist, gehen wir gemeinsam noch wohin. Ich weiß, wir gehen in die Eisdiele, stimmts? fragt Olaf. Verrate ich nicht, sagt die Mutter.

Kurz vor der Eisdiele bleibt die Mutter vor einem Blumengeschäft stehen.

Schaut nur mal, Kinder, hier gibt es aber schöne Blumen. Im Schaufenster stehen mehrere große Vasen, gefüllt mit prachtvollen Dahlien.

Sie betreten den Laden. Die Mutter kauft einen schönen Dahlienstrauß aus einheitlichen gelben Blumen und einen zweiten in verschiedenen Farben: vom tiefsten Dunkelrot bis zum wundervollen Hellrosa, vom leuchtenden Ocker bis zum zartesten Weiß. Warum kaufen wir bloß so viele Blumen? fragen die Kinder. Oma hat nicht Geburtstag und Dirk, unser Vater, auch nicht. Abwarten, sagt die Mutter. Und jetzt gehen wir in die Eisdiele. Vor der Eisdiele ist eine lange Schlange. Aber drinnen sind noch Tische frei. Die Kinder suchen sich einen Platz am Fenster aus, während sich die Mutter anstellt.

Kannst du dir vorstellen, was Mutter mit den beiden Sträußen vorhat? fragt Olaf.

Weiß nicht, sagt Cosima. Vielleicht hat in Muttis Schule jemand Geburtstag.

Endlich kommt die Mutter mit drei großen Eisbechern auf dem Tablett wie eine Kellnerin.

Ich krieg den linken Eisbecher! ruft Olaf.

Die sind alle gleich, sagt die Mutter. Eßt langsam, verkühlt euch nicht den Magen.

Als sie das Eis mit den Früchten aufgeschleckt haben, sagt die Mutter zu Cosima: Diese beiden Blumensträuße nimmst du morgen mit in die Klasse und sagst Frau Gundermann, deiner Lehrerin, einen schönen Gruß von mir. Sie soll die Klasse fragen, welcher von beiden Sträußen den Kindern am besten gefällt. Der Strauß, den die Klasse am schönsten findet, soll im Klassenzimmer bleiben, den anderen soll Frau Gundermann mit nach Hause nehmen.

Am nächsten Morgen gehen Olaf und Cosima schon früh aus dem Haus. Jeder trägt einen Blumenstrauß. Vor Cosimas Klassenzimmer gibt Olaf seiner Schwester den Strauß. Am liebsten würde er heute mit in ihrer Klasse sitzen.

In der Klasse sind noch nicht viele. Cosima holt zwei Keramikvasen aus dem Lehrerzimmer, füllt sie mit Wasser und stellt die Blumensträuße hinein. Hat denn Frau Gundermann heute Geburtstag, fragt Kathleen.

Warte ab, bis sie kommt, sagt Cosima geheimnisvoll und rückt die Blumen in der Vase noch einmal zurecht. Als die Lehrerin das Klassenzimmer betritt und sie die Kinder, die aufgestanden sind, begrüßt, meldet sich sogleich Cosima und sagt, was ihr die Mutter aufgetragen hat. Die Augen von Frau Gundermann strahlen. Sie geht ganz nahe an die Blumen heran, um ihren Duft zu spüren, und sagt: Das sind ja zwei prachtvolle Blumensträuße. Aber einer, Kinder, soll in der Klasse bleiben, den anderen darf ich mit nach Hause nehmen. Natürlich bleibt der schönste Strauß hier. Den Strauß, der euch am besten gefallt, wollen wir jeden Morgen frisches Wasser geben.

Die Kinder überlegen nicht lange und rufen einhellig: Der dort! und deuten auf den bunten Dahlienstrauß, vom tiefsten Dunkelrot bis zum wundervollen Hellrosa, vom leuchtenden Ocker bis zum zartesten Weiß. Danach ruft die Lehrerin Frank auf, damit er vor der Klasse die Entscheidung begründe.

Weil er so schöne und viele Farben hat, sagt er.

Mir gefällt der bunte Blumenstrauß auch am besten, sagt die Lehrerin. - Aber nicht nur Blumen haben so viele und verschiedene Farben, auch Tiere und Menschen.

Die Kinder sehen mit großen Augen zu Cosima.

Ja, mit Cosima hat Gott so ein farbiges und schönes Menschenkind geschaffen, sagt die Lehrerin. Da können wir froh sein.

In der Schulpause sucht Olaf erneut seine Schwester. Er schreitet vergebens den langen Schulzaun ab. Da entdeckt er sie mitten auf dem Schulhof im weißgepunkteten Kleid, wie sie sich aufgeregt und lachend mit ihren Mitschülerinnen unterhält.


Aus: »Augenblicke der Kinder«.Plöttner Verlag, Leipzig 2006

***


Der alte Mann und der Büchnerpreis

Von Ní Gudix


Pinsel war ganz aus dem Häuschen. Er verstand nicht viel von Lyrik, er war Herausgeber - aber jetzt schien er, beim Zusammenstellen der Zettel für die nächste Nummer, auf etwas gestoßen zu sein, das ihm gefiel.

„Mensch“, sagte Pinsel, „kuck dir diesen Blenzinger an!“

Ich kuckte mir diesen Blenzinger an. Es gab ein Foto von ihm: ein alter Mann mit vergrätztem Gesichtsausdruck, weißem Bart, Spießerbrille und ungepflegten Kleidern. Es sagte mir nichts.

„Kuck dir mal dieses Sonett da an!“

Ich tat es. Blenzinger schrieb nur Sonette. Die Sonette sagten mir mehr als die Fotografie. Obwohl sie noch vergrätzter waren.

„Mensch, du“, sagte Pinsel, „ich weiß was! Wir nominieren den Blenzinger für den Büchnerpreis! Hier! Im Impressum!“

Das verblüffte mich nun doch. „Wie?“ fragte ich. „Aber Blenzinger schreibt doch klar und deutlich in dem Essay, den du drucken willst, daß er den Büchnerpreis sofort ablehnen würde, wenn er ihm mal angeboten würde!“

„Das isch ja grad der Witz!“ sagte Pinsel und lachte. „Komm schon, alle zusammen, du, Max, ich, wir sind die Herausgeber, und wir sagen hiermit einstimmig: Blenzinger für den Büchnerpreis!“

„Na schön“, sagte ich, „warum nicht.“ Was ging das mich an? Blenzinger würde den Büchnerpreis sowieso nie bekommen. Pinsel rannte in den Keller und kam mit einer Buddel Frascati zurück, und wir stießen auf Blenzinger an und den Büchnerpreis und auf unser Käsblättle und auf uns. Es war wunderbar.

Das war an Ostern Nullzwei. Jetzt, fast zwei Jahre später, gibt es das Käsblättle zu dritt nicht mehr, Pinsel distanziert sich von unserer fröhlichen Sauferei, Max ist ganz woanders, und Blenzinger sieht noch vergrätzter aus als auf dem Foto. Den Büchnerpreis hat er natürlich immer noch nicht erhalten.

Und ich? Ich schüttle den Kopf.

Mir ist Blenzinger und sein Scheißbüchnerpreis sowas von egal. War er immer schon. Aber jetzt kann ich es offiziell sagen. Seit Blenzinger mit mir nichts mehr zu tun hat. Weil ich nichts mehr mit dem Käsblättle von Pinsel zu tun habe. Das jetzt nur noch ein Blenzingerblättle ist, lobhudelnd voll von seinen vergrätzten Sonetten, und hinten steht stereotyp wiederholend jedesmal aufs neue: „Die Herausgeber nominieren Klaus Horst Blenzinger für den Büchnerpreis.“

Die Herausgeber. Das ist nur noch Pinsel. Der im Plural schreibt, damit nicht so deutlich wird, daß Max und ich ihn für einen Idioten halten.

Blenzinger geht für seinen Büchnerpreis über Leichen. Ich bin eine davon.

Blenzinger ist ein einsamer, neurotischer alter Mann mit Alkohol- und Sexproblemen. Als ich ihn das erstemal besuchte, hielt er ein Literglas abgestandenes Bier in der Hand und lächelte mich senil an. Dann betrat ich seine gute Stube. Im Kühlschrank nichts außer Bier, und im Wandschrank nichts außer Wein. Blenzinger entkorkte einen Wein, goß mir ein Glas voll und begann zu reden. Ich konnte kein Wort dazwischen sagen. Nicht ein Wort. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich trank viel zuviel. Öfter warf ich eine Silbe ein, aber bevor ein Wort draus geworden war, quasselte er schon wieder. Er schien seit Wochen mit niemandem geredet zu haben. Seine Stimme war schlurig, seine Sprechweise undeutlich, und es schien ihm egal zu sein, ob man ihm zuhörte oder nicht. Ich wünschte mich weg. Er erzählte von seinem Abitur, von seinen Sonetten, von seinen Reisen, von seinen Sonetten, von seinem Ruhm, von seinen Sonetten, von seiner Zeitungskarriere, von seinen Sonetten, von seiner Frau, von seinen Sonetten, von Wolf Biermann, von seinen Sonetten, von Wollschläger, von seinen Sonetten, von seinem Großvater. Und von seinen Sonetten. Nach Stunden, mein Arsch war schon ganz platt, bedankte ich mich für den guten Wein, torkelte raus, taumelte zur Telefonzelle an der Straßenecke und rief Max an.

„Ja?“

„Süßer, ich bin’s. Kann ich noch bei dir vorbeikommen?“

„Aber sicher doch. Wo steckst du?“

„Bei der Bonhoeffer. Ich war bei Blenzinger. Ich bin gleich bei dir.“

Ich verlief mich am Gesundbrunnen und stolperte an der Prenzlauer, aber dann sah ich Max schon in der Tür der Stargarder stehn.

„Ich wußte, daß du kommst“, sagte er.

Und ich flog in seine Arme.

„Was habt ihr gemacht, du und Blenzinger?“

„Er hat geschwätzt“, sagte ich. „Und alles andere weiß ich nicht mehr, denn ich hab mich an den Wein gehalten.“

Fünf Tage später war ich wieder bei Blenzinger. Ich wollte nun das tun, weshalb ich ihn überhaupt aufgesucht hatte: mit ihm reden über Dada, Social Beat, Subkultur. Aber daraus wurde nichts. Diesmal brachte ich zwar einen Satz oder so ein. Aber mehr auch nicht. Blenzinger schwätzte. Ich gab es auf. Für immer.

Am Ende des Nachmittags war ich zu müde, um es noch zu U zu schaffen. Schon seit einer Viertelstunde hatte ich die Augen geschlossen. Was Blenzinger nicht zu stören schien, er schwätzte weiter.

„Äh“, sagte ich, „Herr Blenzinger -“

„Ja?“ sagte er. „Wattisdenn? Nasiesehnjaplötzlisomüdeaus!“

„Könnte ich unter Umständen bei Ihnen - heute nacht - auf der Couch oder -“

Er bleckte sein Gebiß. „Naaberklar! Ikhamirschonjedach, ikhamirschonüberlech, jetzkommsedamitihrnfreund -“

Mein Freund, der Säufer, mit dem ich gerade logierte, lag wohl in Pankow sternhagel auf seiner Matratz. Obwohl wir uns gestern gestritten hatten, sehnte ich mich zu ihm. Mir ging dieser schmierige alte Mann auf den Senkel.

Blenzinger lotste mich zur anderen Hälfte seines französischen Bettes, löschte das Licht und fiel über mich her.

Nicht richtig natürlich. Schließlich war er doch kein Macho, wie er mir ständig vorseierte. Haha. Er saß auf mir und schob mir seinen widerlichen Schwanz in den Mund. Ich spuckte ihn wieder aus, schob den Kerl von mir runter und drehte mich zur Seite. Er kam wieder mit seinem Schwanz an. „Ich brauch das!“ nölte er. „Aber ich nicht!“ sagte ich und wandte ihm den Rücken zu. Er kam von hinten gekrochen und umhalste mich. Ich sagte nach hinten, daß ich mich beengt fühle. „Wie fühlst du dich?“ fragte er und verstärkte seinen Klammergriff. „Beengt!“ schrie ich und bewegte meinen Kopf ruckartig nach hinten. Er ließ mich los und fluchte. Ich tat so, als schlief ich. Das war ja alles, was ich wollte, heaven and hell! Ich wollte nur schlafen. Wenn ich nicht tatsächlich so müde gewesen wäre, wäre ich jetzt aufgesprungen und zur U gerannt. Blenzinger schien zu denken, ich hätte das mit dem Müdesein nur gesagt als Verführungsmittel und war jetzt beleidigt, weil ich auf seine phalloiden Spielchen nicht einging. Es war ekelhaft. Soviel Realitätsblindheit auf einmal. Und sowas will den Büchnerpreis. Der sollte sich wohl erst in der Klapse therapieren lassen, is ja nich mal weit von hier, die Bonhoeffer-Nervenklinik, genannt Bonnie’s Ranch, war von hier aus nur hundert Meter weg.

Ich stellte mir vor: Blenzinger im ZDF, wie er im gleißenden Scheinwerferlicht seinen Büchnerpreis entgegennahm, mit ungebügeltem Anzug, unsicher umhertapsend wie Ozzy Osbourne, dazu senil grinsend und ein Sektglas schwenkend. Dann hält er schlurig und unartikuliert seine Dankesrede, nicht ohne aber gehörig mit Donnerstimme hinzuzufügen, daß hiermit der Büchnerpreis endlich mal an jemanden ging, der es wirklich verdient hat, und nicht immer nur an diese „Halsabschneider“ von der „Literaturmafia“! Und dann würde er sämtliche weibliche Anwesende auf der Gala, wenn diese den Fehler machten, etwas direkt zu ihm zu sagen, erbarmungslos zutexten und in die Wange kneifen, wie er das jetzt bei mir tat. Es war widerlich, sich das vorzustellen: der alte Mann und der Büchnerpreis. Und am Ende würde er dann wohl sogar mit seinem Erzrivalen, Wolf Biermann, Bruderschaft trinken.

Nein, es war mir nicht wegen der Gala. Wenn Rimbaud aufgetaucht wäre, wenn ihm jemand den Büchnerpreis gegeben hätte, dann hätte er sich damit öffentlich den Arsch abgeputzt, hätte „merde“ gerufen und sich anschließend hemmungslos betrunken, klar. Und ich mit ihm. Aber nicht mit Blenzinger. Denn Blenzinger war mir zu verlogen, wie ich jetzt feststellte. Einerseits prangerte er in seinen satirisch-bissigen Sonetten die angeblich skrupellose und dazu noch strohdumme „Literaturmafia“ an - aber andererseits kroch er hocherfreut in jeden Mafia-Arsch, der sich ihm bot. Er hatte gewettert gegen den Büchnerpreis - aber jetzt, wo er ihn bekommen sollte, kümmerte ihn sein Geschwätz von gestern nicht mehr. Blenzinger kam aus der Subkultur, er hatte in den Fünfzigern Dada gemacht und kannte einen der Ur-Dadaisten, Richard Hülsenbeck, persönlich - aber wenn er Dada wirklich begriffen hätte, so würde er jetzt auf diese Literaturhierarchie und damit auf den Büchnerpreis scheißen wie Rimbaud, denn Dada war Anarchie. Blenzinger aber war ein Preuße alten Schlags. Er glaubte an Etikette. Er hatte sich richtigen Ruhm gewünscht, er hatte berühmt werden wollen, Preise kassieren, in Zeitungen stehen, einen Bodyguard beschäftigen, in Fußballstadien Sonette lesen. Das hatte nicht geklappt. Wolf Biermann war immer einen Tick schneller am Ruhm und an der Kohle drangewesen. Deshalb schien Blenzinger der Büchnerpreis jetzt die einzig wirkliche Wiedergutmachung für die ganze erlittene Schmach.

Das mit den Etiketten merkte ich auch daran, wie er sich Frauen, also mir, gegenüber benahm. Er sagte, ich müsse mich anders kleiden, man sähe ja gar nicht, was ich zu bieten hätte, ich solle aufhören, so schüchtern zu sein, und vor allem müsse ich mich ganz anders verhalten, ich sei ja viel zu wenig kokett. Schüchtern? Nur weil ich ihm nicht enthemmt entgegengeflogen war? Weil ich nicht hingebungsvoll seinen Schwanz leckte und weil ich mir nicht munter die Bluse vom Leib fetzte? Ich kotzte. Die Frau sei ein niedliches, kokett lächelndes Etwas mit Push-Up-BH und Lippenstift, die schön mit dem Arsch wackelt, perfekten Smalltalk beherrscht und vor allem ihn, den Mann, den Gott, den großen Dichter, anhimmelt. Leck mich doch, du alter Wichser, dachte ich. Ich hatte noch nie etwas realitätsblinderes gesehen als Blenzinger. Hatte Blenzinger schon mal was gehört von Frauenemanzipation, von Frauen, die sich aus bewußter Negation heraus gegen diesen entwürdigenden weiblichen Verhaltenskodex stellten? Die sich nicht schminkten und auch den vor Doofheit strotzenden Kommunikationritus, genannt Small Talk, boykottierten und negierten? Offensichtlich nicht. Sowas paßte nicht in sein preußisches Weltgefüge.

Aber genau hier sitzt doch die Mafia. Blenzingers Literaturmafia ist nur ein Ausläufer der Sprachmafia, und die beginnt beim hirnlosen zeittotschlagenden Unsinnlabern. Das verstand Blenzinger nicht. Ich erklärte es ihm auch nicht. Das war nicht meine Aufgabe.

Am nächsten Morgen stand ich um sechs Uhr auf, erzählte Blenzinger irgendwas, warum ich ganz dringend zurück nach Pankow müsse, und ging. Er bestand darauf, mir ein Taxi zu rufen und ermahnte mich, zurückzukommen, wenn ich in die Kolchose in Pankow aus irgendeinem Grund nicht hineinkäme (ich hatte keinen Schlüssel, und wenn Franz, mein Säufer, tatsächlich sternhagel auf der Matratz lag, dann hörte er auch die Klingel nicht). „Jaja“, sagte ich, aber nie im Leben wär ich wieder zurückgekommen.

Dann war ich weg aus Berlin, und Blenzinger bombardierte mich erbarmungslos mit Briefen. Er widmete mir ein Sonett, das mit mir nichts zu tun hatte, in das er seine ganzen neurotischen Frauenprojektionen hineingepackt hatte. Was ging das mich an? Alter seniler Schwanzwedler. Weiß alles besser und hat von nichts ne Ahnung. Mir egal.

Im Dezember besuchte ich ihn wieder. Aus Nettigkeit und aus Höflichkeit, aber nicht mehr aus wirklichem Interesse. In den Briefen hatte er weniger nach seniler alter Lustmolch geklungen, und wenn der Dialog schriftlich geführt wurde, hörte er dem anderen sogar zu; somit dachte ich: naja, vielleicht klappts jetzt ja doch mit einer netten Diskussion zu zweit, vielleicht ist er gar nicht so ekelhaft wie bei diesem ersten Besuch, du warst schlecht drauf, er war schlecht drauf, in Wirklichkeit ist er ein alter Dichter, mit dem man doch nett plaudern kann.

Das Treffen endete genauso wie beim ersten Mal. Er laberte mich zu, ich trank Wein. Ich übernachtete bei ihm, er versuchte sich an mich ranzumachen - zwar jetzt vorsichtiger als beim ersten Mal, er nahm mich jetzt sogar beim Wort, wenn ich sagte, er solle mich in Ruhe lassen - aber trotzdem war es furchtbar. Ich stand x-mal auf, ging in die Küche, machte Licht, knackte eine Dose Bier, trank sie so langsam wie möglich, sah auf die Uhr und kroch zurück ins Bett, wo sofort wieder Blenzingers Hände auf mir lagen, die ich von mir schob. Am nächsten Morgen frühstückten wir zusammen, dann erzählte ich ihm wieder ein Märchen: ich müsse sofort zurück in die Stargarder, denn Max käme heute aus Leipzig zurück, und Franz und ich wollten ihn mit einem Essen überraschen, das aber erst gekocht werden müsse, und Franz warte jetzt auf mich. Blenzinger glaubte mir das. Auch wenn er beleidigt war, daß Max, Franz, die Stargarder, Pankow und die Katze von Franz für mich anscheinend wichtiger waren als er. Während Blenzinger sich anzog, klaute ich ihm einige Dosen Bier aus dem Kühlschrank und schüttete noch den Rest Wein vom Vorabend hinunter. Rimb hätte dasselbe gemacht. Blenzinger begleitete mich watschelnd zur U Bonhoeffer, und dann war ich ihn los.

Ich fühlte mich froh und frei. „Loseisen“: noch nie hatte ich dieses Wort besser begriffen als jetzt. Ich hätte singen können. Es war später Vormittag, ich war mehr oder minder betrunken, und ich kehrte jetzt zurück in die kalte schmutzige Baracke in der Stargarder, zu Katze, Spinnweben, Flöhen, Schimmel - aber das schien mir das Paradies zu sein jetzt, in jedem Fall Blenzingers schwülem überheiztem Domizil vorzuziehen.

In der Stargarder war niemand. Max war in Leipzig, Franz war wohl beim Saufen. Ich setzte mich auf die Bank vorm Haus und knackte das erste bei Blenzinger geklaute Bier. Nach einer Weile kam Alexegorow, der Russe, der bei uns wohnte. Er kochte Haschtee, und wir setzten uns in die Küche und dröhnten uns zu. Franz kam, ich bot ihm das geklaute Bier an, er freute sich. Wo denn Max sei? In Leipzig, sagte ich, weißt du doch! Nee, wußte er nicht. Max hatte es ihm gesagt, dreimal, Franz hatte „alles klar!“ gerufen und genickt - aber da war er so besoffen gewesen, daß er sich daran jetzt nicht mehr erinnern konnte. Egal. Ich war froh, wieder bei den meinen zu sein. Wir soffen, kifften, sangen, lachten, und Blenzinger konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs. Herrgott, war ich happy!

Ich übernachtete nie mehr bei Blenzinger. Ich sah in noch ein paarmal, ich besuchte ihn noch einmal, aber nicht allein, sondern gemeinsam mit Max, weil Max seine Lyrik mochte und ich auch, seine LYRIK, aber nicht seine Schleimigkeit, und zusammen mit Max wurde das Treffen mal endlich so, wie ich es mir immer gewünscht hatte: Blenzinger sprach über Lyrik, Max sprach über Lyrik, ich sprach über Prosa, und Blenzinger ließ uns sogar zu Wort kommen und verkniff sich seinen senilen Lustmolchblick. Am Abend gab es ein herzliches Verabschieden, ich klaute wieder Bier und sagte bis bald. Und weg waren wir, ich und Max.

Ich sprach nicht über die Nächte in Blenzingers Bett. Das hätte eine tolle Schlagzeile gegeben in Pinsels Käsblättle: „K.H. BLENZINGER: SEXUELLE BELÄSTIGUNG UNSERER MITHERAUSGEBERIN!“ Aber dazu kam es nicht. Denn Pinsel war krank geworden, er neurotisierte herum und sah Wahngestalten. Und als er wieder zu sich kam, kannte er mich nicht mehr und kroch Blenzinger statt dessen noch tiefer in den Arsch. Alle Blenzingersonette verpflichtete er sich in seinem Käsblättle zu drucken. Auch das mir gewidmete fand ich eines Tages auf dem Titel. Ich war verletzt und schrieb Pinsel einen wütenden Brief. Den dieser, ganz gehorsamer Sklave, der er war, sofort postwendend an Blenzinger weiterleitete. Und Blenzinger schrieb nun, vergrätzt wie eh und je, zurück, ich solle doch bitte die Fresse halten und ihn, Blenzinger, nicht auf seinem Weg zum Ruhm behindern! Am Ende scheitere der gloriose Büchnerpreis womöglich noch an mir!

„Du hast mein Sonett nicht verstanden! Du verstehst überhaupt sehr wenig! Wie kommst du dazu, du, der du ja noch nicht mal ein Buch veröffentlicht hast, mich, den Dichter mit Lebenswerk und Anwärter auf den Büchnerpreis, zu kritisieren?!“ Howgh. Der Preuße hat gesprochen.

Merde. Leck mich am Arsch. Das Büchnerpreiskomitee schleckt sich doch schon nach dir die Finger ab, Blenzinger.

Aber ich bin Rimbaud. Ich lebe für Literaturanarchie und Dada. Und ich genieße meine Freiheit.

Der alte Mann und der Büchnerpreis. Go for it, darling. Ich kuck mir die Gala an und werd mich kaputtlachen!

Zur historischen Eingliederung taugt der Text nicht. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Lyrikussen können assoziiert werden, müssen aber nicht. Wahrscheinlich war alles in Wirklichkeit genau andersrum.

***


Ein Jahrzehnt zwischen Stambul und Tanger

Von Reimar Lenz


Meinen Eltern wurde zwar ein Sohn geschenkt und mir das Leben. Aber ich wurde nicht gefragt, ob ich das Geschenk auch haben wollte. Die Geburt war schwer, der Kopf zu dick. Meine Mutter erlitt eine Sepsis und verschwand erstmal von der Bild- und Fühl-Fläche. So wurde ich zeitig vom vorgeschriebenen, aber auch illusionären Urvertrauen erlöst. Die Mutter kam erfreulicherweise wieder und lehrte mich bald, einem Gott zu danken, einem lieben. Gründe, dankbar zu sein, gab es durchaus. Bildungsbürgertum im besten Sinne. Vater Professor. Trotzdem kein Idyll. Jungvolk, Hitlerjugend. „Unser Führer Adolf Hitler wurde am 20. April 1887 in Braunau am Inn geboren...” Auswendig lernen!

Wenn ich etwas über die sechziger Jahre schreiben darf, muß ich ein wenig über die dreißiger Jahre voranschicken. Bombenkrieg. Stabbrandbombe im Kinderzimmer. Phosphorbombe im Vorgarten. Luftmine in der Nachbarschaft. Anschiß vom Bannführer, da ich nicht ins Sommerlager wollte. Der Konfirmationslehrer amtierte in der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche. (War das ein Bischof)? Auf dem Dach ein Eisernes Kreuz, in seiner Militärform. Hier gab es nichts vom Führer zu lernen, dafür eine eiserne Ration, für die Zeit, da wir im Schützengraben sein würden, an der Front. Die eiserne Ration bestand in Paul-Gerhardt-Liedern.

Flucht nach Westfalen. Meine Mutter hatte einen Konfirmations-Spruch auf Lager: „Siehe, ich habe Dir geboten, daß Du getrost und freudig seiest.” Altes Testament.

Ich war aber weder getrost noch freudig. Am Tage der Konfirmation brummten US-Bomber über die Kirche, auf dem Flug nach Berlin. Der weißhaarige Superintendent schrie von der Kanzel: „Durch Christi Blut sind wir erlöst”. Er schrie es zum zweiten Male, was mich, trotz der Mühewaltung, auch nicht überzeugte. Ich war unerlöst. Und wurde erstmal Buddhist, bis auf weiteres.

Mit fünfzehn gründete ich dann einen Jungenbund. Der hatte drei Grundsätze, 1. alle Nationen sind gleichberechtigt. 2. alle Religionen sind gleichberechtigt. 3. das kosmische Bewußtsein ist zu pflegen. Leider wurden die Anhänger dieser reformatorischen Bewegung aber alsbald untreu. Sie ersetzten das kosmische Bewußtsein durch das UT. Das UT war das Unternehmen Tanzen. Kurz, die Mädels lockten. Und ich hatte verabsäumt, diese in den Bund zu integrieren.

Wie ging es weiter?

Nach dem Abitur Workcamps in England und Süditalien. Studium in Tübingen. SDS. Neugierige Reise nach Moskau, zu den Weltjugendfestspielen. Dort wollen Komsomolzen-Mädchen von mir wissen, ob ich denn als Westler immer noch von Gott träume. A-Theismus war mir zwar selbst-verständlich geworden, aber einen billigen schnellen Konsens konnte ich auch nicht bieten.

In Berlin hatte ich einen Prozeß am Hals, wegen Gotteslästerung, angezeigt von CDU-Kreisen. Freispruch, da im Grunde kein Lästern. Ich war doch für Jesus und gegen den Allmächtigen. Bleibendes Interesse für Relljohn und Relljohnskritik.

Von Tübingen ging’s an den Rhein, zur Redaktion der Zeitschrift Atomzeitalter. Nach einem halben Jahr weiter nach Berlin, wo ich, im Skriver-Verlag, die Zeitschriften Lyrische Blätter und Alternative redigierte. Es erschien ein Büchlein Die Atomrüstung und der Intellektuelle. Wurde Mitveranstalter des Ersten Studentenkongresses gegen Atomrüstung im Januar 1959. (Anschließend ging ich mit Ulrike Meinhof spazieren, um den See Krumme Lanke herum. Stapf, Stapf. Sie brave Kommunistin, Konkret Fraktion, ich eher SPD. Langes Reden, aber aneinander vorbei...)

An der Wende von den Fünfzigern zu den Sechzigern organisierte ich - zusammen mit anderen - eine Dokumentar-Ausstellung, über die Opfer des Algerienkrieges. Die Optik war dabei antikolonialistisch und humanitär, nicht von revolutionärer Ungeduld gezeichnet. Ich trat aus dem SDS aus, war eine Art Linksliberaler.

Am Ende der Sechziger besuchte mich Günter Wallraff mit anderen Kämpfern in meiner Wilmersdorfer Wohnung mit dem Anliegen, ich solle helfen, „die Medien zu vergesellschaften”. Die Springer-Presse habe ich tatsächlich weggewünscht. Aber den SPIEGEL?! „Den brauchen wir doch noch...”

Rudi Dutschke traf mich in der U-Bahn, haute mich auf die Schulter und sprach: „Lenz, Du gehörst doch auch zu uns”. (Ich hatte einen Artikel über den Tod von Benno Ohnesorg geschrieben.) Aber ich fühlte mich nicht voll zugehörig zu den Achtundsechzigern, hatte zusätzlich andere kulturelle Interessen. Ich brauchte Tapetenwechsel, nahm mir ein Flugzeug und flog nach Tanger, wo ich anschließend sechs Monate blieb.

Schönste Frucht des Orient-Aufenthalts: ein Buch, im Peter-Hammer-Verlag erschienen, Titel Vom Affen, der ein Visum suchte. Die Geschichte eines elternlosen Marokkaners, mir auf Französisch erzählt. Wort für Wort übersetzt. Erlebnisprotokoll - dann eines Gastarbeiters.

Inzwischen war ich herangereift zum freien Mitarbeiter bei PARDON, KONKRET, Zeitung, Funk, Bühne, Volkshochschulen, Evangelischen Akademien. Der Referent für den Kulturaustausch. Fürs Exotische. Neben den Psalmen kennt er die indischen Veden und die persischen Verse von Omar Chayyam und nochwas.

So, jetzt sind wir mittendrin in den Sechzigern. Bürgertum und Christentum hatten mich belehren wollen, wen ich zu lieben hatte, was ich glauben sollte, wie eine anständige Berufskarriere aussehe, wie eine Doktorarbeit. Aber das alles fruchtete nicht. So sorry, es paßte einfach nicht.

Als ich dann Anfang der Sechziger auf dem Anmarsch nach Indien war, blieb ich in Stambul hängen. Zimmer am Hafen. Mit Hilfe des Deutschen Archäologischen Instituts Rundfahrt durch die Türkei. Und dann, typisch verquer, buntscheckig: mein Besuch in einer griechischen Kirche, zur Osternacht! Und die Griechen riefen enthusiastisch: Christós ánesti. Und noch viele Male Christós ánesti. Ich glaubte kein Wort, aber diese Multikulturalität machte mir Freude. Später gründliche Gespräche mit einem Scheich aus Kairo. In einer kleinen Moschee erklärte er mir Gebets-Stellungen des Islam. Ein junger Gläubiger mußte alles vormachen. Ich war durchaus beeindruckt, fühlte mich aber gewarnt: ich durfte nicht den Eindruck machen, ich sei bekehrbar. Das gäbe nur Ent-Täuschungen. So wunderbar die Zeugnisse des Sufismus auch sein mochten, der islamischen Mystik, das sollte doch nicht meine Welt werden!

Der Abschied

„Sehr verehrter Herr, ich danke Ihnen tausendmal für alle Ihre Aufschlüsse. Aber bitte, bitte, verstehen Sie mich: ich hab da einen anderen Hintergrund als Sie. Ich komme aus einem anderen Feuer. Ich komme von Feuerbach, Marx, Freud, Nietzsche, und auch Bertrand Russell. Ich durfte Russell aus der Nähe erleben, einen großen Gelehrten und Friedenskämpfer. Aber er hat geschrieben: ‘Warum ich kein Christ bin’. So wie ich auch nicht mehr mich zählen darf zu den Schriftbesitzern.” Ich schluckte. Es war Schluß. So zog ich ab, traurig. Der Scheich war traurig. Diese ganze Geschichte mit den Monotheismen ist irgendwie auch traurig. Die Aufklärung ist schuld...

Dann stand ich vor der Gartentür des großen deutschen Orientalisten Hellmut Ritter, der in Stambul das Kompendium der islamischen Mystik geschrieben hat (Das Meer der Seelen, Verlag Brill, Leiden). Ich traute mich nicht zu klingeln.

Dann wieder die heilige Musik des Griechen Chrysostomos. (Warum mußten die Griechen eigentlich die Türkei verlassen?) Meine Freude am Christentum kühlte schon wieder ab, als ich herausbekam, daß Kreuz-Zügler, auf dem Durchmarsch zum Grab des Herrn erstmal das christliche Konstantinopel brandschatzten. (Siehe: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, Theodor Lessing).

Die Sechziger! Natürlich auch relativ langhaarige Jahre. Stand mir nicht. Die Fahrt nach Psyche-Delhi aber war gründlich. Drogenforschung zusammen mit Prof. Hans Carl Leuner, Ordinarius für Neurologie in Göttingen. Der Cantus-Firmus der Sechziger bei mir allemal: ein Gebot, das ich mir bald nach der mißlungenen Kon-Firmation gegeben hatte: Lenzchen. Du sollst noch andere Religionen, Götter, Propheten, Medizinmänner, Kulte und Kulturen kennen lernen - neben dem ein-tönigen Mono-MonoMoNo! Den Buddhismus hatte ich mir schon mit dreizehn aus der enormen Bibliothek meiner Mutter rausgepickt. Wunder über Wunder: bei Buddha gab es auch eine universale Menschenliebe (Metta) Güte auch gegenüber der Tierheit, Feindesliebe. (Sowas darf man nicht unterschlagen in einem Religionsunterricht.) Lebenslänglich habe ich heilige Schriften studiert, Meditationen probiert, und ich eroberte mir manchen Peters- oder auch Prometheus-Dom. (Aus der Peterskirche in Rom wollte man mich rausschmeißen, weil ich angeblich zu kurze Hosen anhatte. Aber der Dom-Wächter wickelte mich im letzten Moment ein in eine scham-lindernde Decke. So konnte ich doch geduldet werden.)

Waren Herbste am Schwarzen Meer, mit endgültigen Farben. Waren Menschen, die wollten ein Schicksal leihen. Versprengte, Romantiker, Schwärmer? Viel Respekt habe ich gehabt vor deutschen Orientalisten (auch Indologen und Sinologen).

Ich bin nach Osten getrampt, folgte dem Ruf des Muezzins, wenn er an der Karanwanserei erklang. Fuhr dem Frührot entgegen, der Sonne der Sufis, die einst noch Gebete entzündet hatte und Hunger nach der Gerechtigkeit. Es gibt auch türkische Früh-Sozialisten (man sehe: Das Epos von Scheich Bedreddin, Ararat Verlag 1982). Der Bektaschi-Orden imponierte mir mit seinen strahlenden Liturgien. Die Tänzer von Eonya. Jaja, ich habe so manche Häfen besucht, aber nicht, um vor Anker zu gehen. Ich folgte keinem Lotsen, bekehrte mich zu jedweder Religion als einem weiteren Beweis für die menschliche Schöpferkraft. Immer eingedenk der Tatsache, daß der Mensch sich die Götter schuf... Wüstenscheichen las ich heilige Silben vom Mund, Gurus fraß ich makrobiotische Körnerfutter aus der Hand, aber niemals für lange. Verzweifelt kratzte ich den Schutt der Geschichte auf der Suche nach den von Hagiographie verschütteten Heiligen. Aber dem Paulus aus Tarsus (in Kilikien) nahm ich seinen krassen, gnostischen Dualismus nicht ab: hier das Sarx, das niedere, vergängliche Fleisch, das jämmerliche Diesseits, dort die Zukunft, das Pneuma, der Geist, im Jenseits, der Geist seines Herrn (den er persönlich gar nicht gekannt hat). Also da fühlte ich mich doch eher in Griechenland zuhause, bei Eros, Dionysos, Apoll, Aphrodite, Pallas, Athene (obwohl die Akropolis ja touristisch überfüllt ist).

Ja, ich las viele heilige Schriften, in den fernen, nahen Sechzigern. Aber welches heilige Wort hätte nicht Grund, sich seiner Kanzel, seiner Interpreten zu schämen?! Ich war mit allen Taufwassern gewaschen, aber ich habe sie auch alle wieder ausgekippt, wenn sie mir trübe geworden schienen. Die Sünden der Puritaner hatte ich zu bereuen, nachdem ich viel zu viele köstliche Sünden verpaßt hatte. Viele Suppen mußten wir ja auslöffeln, die uns die Väter eingebrockt. So ist man frei geworden, frei, wie die Väter kaum jemals waren. Keine feste Burg war mir mein Gott, keine gute Wehr und Waffen! Stattdessen baute ich mir eine Burg für die Skepsis. Und dann? Aber das kriegen wir später, wenn der Herausgeber nach den Sechzigern auch die Siebziger schafft.

Was noch?

Heute Nacht hatte ich einen Traum. Als ich in meinen mittleren Jahren war, also den Sechzigern, und auf einem Seelenverkäufer mitfuhr, durch das adriatische Meer, eingeschifft in Venedig, Richtung Stambul, da erspähte ich einen türkischen Matrosen, wie er, allein auf dem Zwischendeck, betete, nach Mekka gewandt. Eine Urszene. Gibt es ein Foto? Nein, aber das Bildnis ist auferstanden, nachdem der Herausgeber meine Seele wiederentdeckt hat.

Aber vielleicht war das gar kein Türke? Sondern vielleicht ein Kurde, ein Syrer, ein Ägypter oder sonstwer? Und vielleicht schaute er auch über Mekka weit hinaus, nach Osten, vielleicht bis Eapilavastu, Buddhas Geburtsstadt am Himalya? Oder er dachte - Buddha hin, Allah her - überhaupt an etwas ganz anderes? Eine ferne Geliebte in Aden? Sicher ist nur, daß ich damals, als ich in meinen Dreißigern war, also in diesen verflixten Sechzigern, einigermaßen genug Taktgefühl besaß, meine Kamera im Seesack zu lassen. No Fotos, keine Enthüllungen.

Die bringen im Grunde nichts.

   

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