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Olaf und Cosima
Von Reinhard Bernhof
Olafs Halbschwester heißt Cosima. Er ist stolz
auf sie, denn sie hat eine milchkaffeefarbene Haut und rabenschwarzes
Haar, das sich an den Zopfenden kräuselt. Olaf dagegen ist
blaß, seine Haare sind blond und kurz geschnitten, so daß
er von seinen Klassenkameraden Mecki gerufen wird. Sie sind umgezogen
und gehen erst seit wenigen Tagen in die neue Schule, Olaf ist in
der 2b, Cosima in der 3a.
Olaf wundert sich, daß seine Schwester immer
allein am Zaun steht, während die anderen aus ihrer Klasse
lustig herumfliegen wie Schwalben. Spielt denn keiner mit dir? fragt
er Cosima.
Ach, die anderen sind doof, antwortet sie.
Aber sofort hat Olaf Cosimas Antwort vergessen, denn
Sven tritt dazwischen - und der redet nur von Fußball und
von den Messerstichen, die eine Frau im Fernsehen töteten.
Er ahmt ihre Schreie und Verkrümmungen nach ...
Am nächsten Tag sieht Olaf seine Schwester erneut
am Zaun stehen, wieder ganz in sich versunken.
Was hast du bloß? Er will sie vom Zaun wegziehen,
aber sie wehrt ab. - Nach einer Weile sagt sie zögernd: Es
ist wegen dir. Du bist weiß - und die Kinder sagen, daß
wir gar keine richtigen Geschwister sind. Dann wollen sie wissen,
warum das so ist.
Olaf weiß nicht so recht, was er antworten soll.
Nach der Schule gehen Olaf und Cosima gemeinsam nach
Hause. Gegen nachmittag kommt ihre Mutter ebenfalls aus der Schule,
aus einer anderen, denn sie ist Lehrerin für Englisch und Französisch.
Sofort belagern sie die Mutter. Mutti, die Kinder möchten wissen,
warum Cosima eine dunkle Hautfarbe hat und ich dagegen eine weiße,
sagt Olaf ganz aufgeregt.
Ich habe es doch Cosima schon erklärt, sagt die
Mutter. Sag ihnen, daß Cosimas Vater Afrikaner ist. Er ist
wieder in Ghana, weil ihn sein Land braucht. Und nun haben wir Dirk,
unseren Vater. Siehst du, weil dein Vater aus Ghana ist, sagt Olaf
zu Cosima. So ist es, sagt die Mutter und streichelt Cosima. Und
weil es heute draußen so schön ist, gehen wir gemeinsam
noch wohin. Ich weiß, wir gehen in die Eisdiele, stimmts?
fragt Olaf. Verrate ich nicht, sagt die Mutter.
Kurz vor der Eisdiele bleibt die Mutter vor einem
Blumengeschäft stehen.
Schaut nur mal, Kinder, hier gibt es aber schöne
Blumen. Im Schaufenster stehen mehrere große Vasen, gefüllt
mit prachtvollen Dahlien.
Sie betreten den Laden. Die Mutter kauft einen schönen
Dahlienstrauß aus einheitlichen gelben Blumen und einen zweiten
in verschiedenen Farben: vom tiefsten Dunkelrot bis zum wundervollen
Hellrosa, vom leuchtenden Ocker bis zum zartesten Weiß. Warum
kaufen wir bloß so viele Blumen? fragen die Kinder. Oma hat
nicht Geburtstag und Dirk, unser Vater, auch nicht. Abwarten, sagt
die Mutter. Und jetzt gehen wir in die Eisdiele. Vor der Eisdiele
ist eine lange Schlange. Aber drinnen sind noch Tische frei. Die
Kinder suchen sich einen Platz am Fenster aus, während sich
die Mutter anstellt.
Kannst du dir vorstellen, was Mutter mit den beiden
Sträußen vorhat? fragt Olaf.
Weiß nicht, sagt Cosima. Vielleicht hat in Muttis
Schule jemand Geburtstag.
Endlich kommt die Mutter mit drei großen Eisbechern
auf dem Tablett wie eine Kellnerin.
Ich krieg den linken Eisbecher! ruft Olaf.
Die sind alle gleich, sagt die Mutter. Eßt langsam,
verkühlt euch nicht den Magen.
Als sie das Eis mit den Früchten aufgeschleckt
haben, sagt die Mutter zu Cosima: Diese beiden Blumensträuße
nimmst du morgen mit in die Klasse und sagst Frau Gundermann, deiner
Lehrerin, einen schönen Gruß von mir. Sie soll die Klasse
fragen, welcher von beiden Sträußen den Kindern am besten
gefällt. Der Strauß, den die Klasse am schönsten
findet, soll im Klassenzimmer bleiben, den anderen soll Frau Gundermann
mit nach Hause nehmen.
Am nächsten Morgen gehen Olaf und Cosima schon
früh aus dem Haus. Jeder trägt einen Blumenstrauß.
Vor Cosimas Klassenzimmer gibt Olaf seiner Schwester den Strauß.
Am liebsten würde er heute mit in ihrer Klasse sitzen.
In der Klasse sind noch nicht viele. Cosima holt zwei
Keramikvasen aus dem Lehrerzimmer, füllt sie mit Wasser und
stellt die Blumensträuße hinein. Hat denn Frau Gundermann
heute Geburtstag, fragt Kathleen.
Warte ab, bis sie kommt, sagt Cosima geheimnisvoll
und rückt die Blumen in der Vase noch einmal zurecht. Als die
Lehrerin das Klassenzimmer betritt und sie die Kinder, die aufgestanden
sind, begrüßt, meldet sich sogleich Cosima und sagt,
was ihr die Mutter aufgetragen hat. Die Augen von Frau Gundermann
strahlen. Sie geht ganz nahe an die Blumen heran, um ihren Duft
zu spüren, und sagt: Das sind ja zwei prachtvolle Blumensträuße.
Aber einer, Kinder, soll in der Klasse bleiben, den anderen darf
ich mit nach Hause nehmen. Natürlich bleibt der schönste
Strauß hier. Den Strauß, der euch am besten gefallt,
wollen wir jeden Morgen frisches Wasser geben.
Die Kinder überlegen nicht lange und rufen einhellig:
Der dort! und deuten auf den bunten Dahlienstrauß, vom tiefsten
Dunkelrot bis zum wundervollen Hellrosa, vom leuchtenden Ocker bis
zum zartesten Weiß. Danach ruft die Lehrerin Frank auf, damit
er vor der Klasse die Entscheidung begründe.
Weil er so schöne und viele Farben hat, sagt
er.
Mir gefällt der bunte Blumenstrauß auch
am besten, sagt die Lehrerin. - Aber nicht nur Blumen haben so viele
und verschiedene Farben, auch Tiere und Menschen.
Die Kinder sehen mit großen Augen zu Cosima.
Ja, mit Cosima hat Gott so ein farbiges und schönes
Menschenkind geschaffen, sagt die Lehrerin. Da können wir froh
sein.
In der Schulpause sucht Olaf erneut seine Schwester.
Er schreitet vergebens den langen Schulzaun ab. Da entdeckt er sie
mitten auf dem Schulhof im weißgepunkteten Kleid, wie sie
sich aufgeregt und lachend mit ihren Mitschülerinnen unterhält.
Aus: »Augenblicke der Kinder«.Plöttner Verlag,
Leipzig 2006
***
Der alte Mann und der Büchnerpreis
Von Ní Gudix
Pinsel war ganz aus dem Häuschen. Er verstand nicht viel von
Lyrik, er war Herausgeber - aber jetzt schien er, beim Zusammenstellen
der Zettel für die nächste Nummer, auf etwas gestoßen
zu sein, das ihm gefiel.
„Mensch“, sagte Pinsel, „kuck dir
diesen Blenzinger an!“
Ich kuckte mir diesen Blenzinger an. Es gab ein Foto
von ihm: ein alter Mann mit vergrätztem Gesichtsausdruck, weißem
Bart, Spießerbrille und ungepflegten Kleidern. Es sagte mir
nichts.
„Kuck dir mal dieses Sonett da an!“
Ich tat es. Blenzinger schrieb nur Sonette. Die Sonette
sagten mir mehr als die Fotografie. Obwohl sie noch vergrätzter
waren.
„Mensch, du“, sagte Pinsel, „ich
weiß was! Wir nominieren den Blenzinger für den Büchnerpreis!
Hier! Im Impressum!“
Das verblüffte mich nun doch. „Wie?“
fragte ich. „Aber Blenzinger schreibt doch klar und deutlich
in dem Essay, den du drucken willst, daß er den Büchnerpreis
sofort ablehnen würde, wenn er ihm mal angeboten würde!“
„Das isch ja grad der Witz!“ sagte Pinsel
und lachte. „Komm schon, alle zusammen, du, Max, ich, wir
sind die Herausgeber, und wir sagen hiermit einstimmig: Blenzinger
für den Büchnerpreis!“
„Na schön“, sagte ich, „warum
nicht.“ Was ging das mich an? Blenzinger würde den Büchnerpreis
sowieso nie bekommen. Pinsel rannte in den Keller und kam mit einer
Buddel Frascati zurück, und wir stießen auf Blenzinger
an und den Büchnerpreis und auf unser Käsblättle
und auf uns. Es war wunderbar.
Das war an Ostern Nullzwei. Jetzt, fast zwei Jahre
später, gibt es das Käsblättle zu dritt nicht mehr,
Pinsel distanziert sich von unserer fröhlichen Sauferei, Max
ist ganz woanders, und Blenzinger sieht noch vergrätzter aus
als auf dem Foto. Den Büchnerpreis hat er natürlich immer
noch nicht erhalten.
Und ich? Ich schüttle den Kopf.
Mir ist Blenzinger und sein Scheißbüchnerpreis
sowas von egal. War er immer schon. Aber jetzt kann ich es offiziell
sagen. Seit Blenzinger mit mir nichts mehr zu tun hat. Weil ich
nichts mehr mit dem Käsblättle von Pinsel zu tun habe.
Das jetzt nur noch ein Blenzingerblättle ist, lobhudelnd voll
von seinen vergrätzten Sonetten, und hinten steht stereotyp
wiederholend jedesmal aufs neue: „Die Herausgeber nominieren
Klaus Horst Blenzinger für den Büchnerpreis.“
Die Herausgeber. Das ist nur noch Pinsel. Der im Plural
schreibt, damit nicht so deutlich wird, daß Max und ich ihn
für einen Idioten halten.
Blenzinger geht für seinen Büchnerpreis
über Leichen. Ich bin eine davon.
Blenzinger ist ein einsamer, neurotischer alter Mann
mit Alkohol- und Sexproblemen. Als ich ihn das erstemal besuchte,
hielt er ein Literglas abgestandenes Bier in der Hand und lächelte
mich senil an. Dann betrat ich seine gute Stube. Im Kühlschrank
nichts außer Bier, und im Wandschrank nichts außer Wein.
Blenzinger entkorkte einen Wein, goß mir ein Glas voll und
begann zu reden. Ich konnte kein Wort dazwischen sagen. Nicht ein
Wort. Ich zündete mir eine Zigarette an. Ich trank viel zuviel.
Öfter warf ich eine Silbe ein, aber bevor ein Wort draus geworden
war, quasselte er schon wieder. Er schien seit Wochen mit niemandem
geredet zu haben. Seine Stimme war schlurig, seine Sprechweise undeutlich,
und es schien ihm egal zu sein, ob man ihm zuhörte oder nicht.
Ich wünschte mich weg. Er erzählte von seinem Abitur,
von seinen Sonetten, von seinen Reisen, von seinen Sonetten, von
seinem Ruhm, von seinen Sonetten, von seiner Zeitungskarriere, von
seinen Sonetten, von seiner Frau, von seinen Sonetten, von Wolf
Biermann, von seinen Sonetten, von Wollschläger, von seinen
Sonetten, von seinem Großvater. Und von seinen Sonetten. Nach
Stunden, mein Arsch war schon ganz platt, bedankte ich mich für
den guten Wein, torkelte raus, taumelte zur Telefonzelle an der
Straßenecke und rief Max an.
„Ja?“
„Süßer, ich bin’s. Kann ich
noch bei dir vorbeikommen?“
„Aber sicher doch. Wo steckst du?“
„Bei der Bonhoeffer. Ich war bei Blenzinger.
Ich bin gleich bei dir.“
Ich verlief mich am Gesundbrunnen und stolperte an
der Prenzlauer, aber dann sah ich Max schon in der Tür der
Stargarder stehn.
„Ich wußte, daß du kommst“,
sagte er.
Und ich flog in seine Arme.
„Was habt ihr gemacht, du und Blenzinger?“
„Er hat geschwätzt“, sagte ich. „Und
alles andere weiß ich nicht mehr, denn ich hab mich an den
Wein gehalten.“
Fünf Tage später war ich wieder bei Blenzinger.
Ich wollte nun das tun, weshalb ich ihn überhaupt aufgesucht
hatte: mit ihm reden über Dada, Social Beat, Subkultur. Aber
daraus wurde nichts. Diesmal brachte ich zwar einen Satz oder so
ein. Aber mehr auch nicht. Blenzinger schwätzte. Ich gab es
auf. Für immer.
Am Ende des Nachmittags war ich zu müde, um es
noch zu U zu schaffen. Schon seit einer Viertelstunde hatte ich
die Augen geschlossen. Was Blenzinger nicht zu stören schien,
er schwätzte weiter.
„Äh“, sagte ich, „Herr Blenzinger
-“
„Ja?“ sagte er. „Wattisdenn? Nasiesehnjaplötzlisomüdeaus!“
„Könnte ich unter Umständen bei Ihnen
- heute nacht - auf der Couch oder -“
Er bleckte sein Gebiß. „Naaberklar! Ikhamirschonjedach,
ikhamirschonüberlech, jetzkommsedamitihrnfreund -“
Mein Freund, der Säufer, mit dem ich gerade logierte,
lag wohl in Pankow sternhagel auf seiner Matratz. Obwohl wir uns
gestern gestritten hatten, sehnte ich mich zu ihm. Mir ging dieser
schmierige alte Mann auf den Senkel.
Blenzinger lotste mich zur anderen Hälfte seines
französischen Bettes, löschte das Licht und fiel über
mich her.
Nicht richtig natürlich. Schließlich war
er doch kein Macho, wie er mir ständig vorseierte. Haha. Er
saß auf mir und schob mir seinen widerlichen Schwanz in den
Mund. Ich spuckte ihn wieder aus, schob den Kerl von mir runter
und drehte mich zur Seite. Er kam wieder mit seinem Schwanz an.
„Ich brauch das!“ nölte er. „Aber ich nicht!“
sagte ich und wandte ihm den Rücken zu. Er kam von hinten gekrochen
und umhalste mich. Ich sagte nach hinten, daß ich mich beengt
fühle. „Wie fühlst du dich?“ fragte er und
verstärkte seinen Klammergriff. „Beengt!“ schrie
ich und bewegte meinen Kopf ruckartig nach hinten. Er ließ
mich los und fluchte. Ich tat so, als schlief ich. Das war ja alles,
was ich wollte, heaven and hell! Ich wollte nur schlafen. Wenn ich
nicht tatsächlich so müde gewesen wäre, wäre
ich jetzt aufgesprungen und zur U gerannt. Blenzinger schien zu
denken, ich hätte das mit dem Müdesein nur gesagt als
Verführungsmittel und war jetzt beleidigt, weil ich auf seine
phalloiden Spielchen nicht einging. Es war ekelhaft. Soviel Realitätsblindheit
auf einmal. Und sowas will den Büchnerpreis. Der sollte sich
wohl erst in der Klapse therapieren lassen, is ja nich mal weit
von hier, die Bonhoeffer-Nervenklinik, genannt Bonnie’s Ranch,
war von hier aus nur hundert Meter weg.
Ich stellte mir vor: Blenzinger im ZDF, wie er im
gleißenden Scheinwerferlicht seinen Büchnerpreis entgegennahm,
mit ungebügeltem Anzug, unsicher umhertapsend wie Ozzy Osbourne,
dazu senil grinsend und ein Sektglas schwenkend. Dann hält
er schlurig und unartikuliert seine Dankesrede, nicht ohne aber
gehörig mit Donnerstimme hinzuzufügen, daß hiermit
der Büchnerpreis endlich mal an jemanden ging, der es wirklich
verdient hat, und nicht immer nur an diese „Halsabschneider“
von der „Literaturmafia“! Und dann würde er sämtliche
weibliche Anwesende auf der Gala, wenn diese den Fehler machten,
etwas direkt zu ihm zu sagen, erbarmungslos zutexten und in die
Wange kneifen, wie er das jetzt bei mir tat. Es war widerlich, sich
das vorzustellen: der alte Mann und der Büchnerpreis. Und am
Ende würde er dann wohl sogar mit seinem Erzrivalen, Wolf Biermann,
Bruderschaft trinken.
Nein, es war mir nicht wegen der Gala. Wenn Rimbaud
aufgetaucht wäre, wenn ihm jemand den Büchnerpreis gegeben
hätte, dann hätte er sich damit öffentlich den Arsch
abgeputzt, hätte „merde“ gerufen und sich anschließend
hemmungslos betrunken, klar. Und ich mit ihm. Aber nicht mit Blenzinger.
Denn Blenzinger war mir zu verlogen, wie ich jetzt feststellte.
Einerseits prangerte er in seinen satirisch-bissigen Sonetten die
angeblich skrupellose und dazu noch strohdumme „Literaturmafia“
an - aber andererseits kroch er hocherfreut in jeden Mafia-Arsch,
der sich ihm bot. Er hatte gewettert gegen den Büchnerpreis
- aber jetzt, wo er ihn bekommen sollte, kümmerte ihn sein
Geschwätz von gestern nicht mehr. Blenzinger kam aus der Subkultur,
er hatte in den Fünfzigern Dada gemacht und kannte einen der
Ur-Dadaisten, Richard Hülsenbeck, persönlich - aber wenn
er Dada wirklich begriffen hätte, so würde er jetzt auf
diese Literaturhierarchie und damit auf den Büchnerpreis scheißen
wie Rimbaud, denn Dada war Anarchie. Blenzinger aber war ein Preuße
alten Schlags. Er glaubte an Etikette. Er hatte sich richtigen Ruhm
gewünscht, er hatte berühmt werden wollen, Preise kassieren,
in Zeitungen stehen, einen Bodyguard beschäftigen, in Fußballstadien
Sonette lesen. Das hatte nicht geklappt. Wolf Biermann war immer
einen Tick schneller am Ruhm und an der Kohle drangewesen. Deshalb
schien Blenzinger der Büchnerpreis jetzt die einzig wirkliche
Wiedergutmachung für die ganze erlittene Schmach.
Das mit den Etiketten merkte ich auch daran, wie er
sich Frauen, also mir, gegenüber benahm. Er sagte, ich müsse
mich anders kleiden, man sähe ja gar nicht, was ich zu bieten
hätte, ich solle aufhören, so schüchtern zu sein,
und vor allem müsse ich mich ganz anders verhalten, ich sei
ja viel zu wenig kokett. Schüchtern? Nur weil ich ihm nicht
enthemmt entgegengeflogen war? Weil ich nicht hingebungsvoll seinen
Schwanz leckte und weil ich mir nicht munter die Bluse vom Leib
fetzte? Ich kotzte. Die Frau sei ein niedliches, kokett lächelndes
Etwas mit Push-Up-BH und Lippenstift, die schön mit dem Arsch
wackelt, perfekten Smalltalk beherrscht und vor allem ihn, den Mann,
den Gott, den großen Dichter, anhimmelt. Leck mich doch, du
alter Wichser, dachte ich. Ich hatte noch nie etwas realitätsblinderes
gesehen als Blenzinger. Hatte Blenzinger schon mal was gehört
von Frauenemanzipation, von Frauen, die sich aus bewußter
Negation heraus gegen diesen entwürdigenden weiblichen Verhaltenskodex
stellten? Die sich nicht schminkten und auch den vor Doofheit strotzenden
Kommunikationritus, genannt Small Talk, boykottierten und negierten?
Offensichtlich nicht. Sowas paßte nicht in sein preußisches
Weltgefüge.
Aber genau hier sitzt doch die Mafia. Blenzingers
Literaturmafia ist nur ein Ausläufer der Sprachmafia, und die
beginnt beim hirnlosen zeittotschlagenden Unsinnlabern. Das verstand
Blenzinger nicht. Ich erklärte es ihm auch nicht. Das war nicht
meine Aufgabe.
Am nächsten Morgen stand ich um sechs Uhr auf,
erzählte Blenzinger irgendwas, warum ich ganz dringend zurück
nach Pankow müsse, und ging. Er bestand darauf, mir ein Taxi
zu rufen und ermahnte mich, zurückzukommen, wenn ich in die
Kolchose in Pankow aus irgendeinem Grund nicht hineinkäme (ich
hatte keinen Schlüssel, und wenn Franz, mein Säufer, tatsächlich
sternhagel auf der Matratz lag, dann hörte er auch die Klingel
nicht). „Jaja“, sagte ich, aber nie im Leben wär
ich wieder zurückgekommen.
Dann war ich weg aus Berlin, und Blenzinger bombardierte
mich erbarmungslos mit Briefen. Er widmete mir ein Sonett, das mit
mir nichts zu tun hatte, in das er seine ganzen neurotischen Frauenprojektionen
hineingepackt hatte. Was ging das mich an? Alter seniler Schwanzwedler.
Weiß alles besser und hat von nichts ne Ahnung. Mir egal.
Im Dezember besuchte ich ihn wieder. Aus Nettigkeit
und aus Höflichkeit, aber nicht mehr aus wirklichem Interesse.
In den Briefen hatte er weniger nach seniler alter Lustmolch geklungen,
und wenn der Dialog schriftlich geführt wurde, hörte er
dem anderen sogar zu; somit dachte ich: naja, vielleicht klappts
jetzt ja doch mit einer netten Diskussion zu zweit, vielleicht ist
er gar nicht so ekelhaft wie bei diesem ersten Besuch, du warst
schlecht drauf, er war schlecht drauf, in Wirklichkeit ist er ein
alter Dichter, mit dem man doch nett plaudern kann.
Das Treffen endete genauso wie beim ersten Mal. Er
laberte mich zu, ich trank Wein. Ich übernachtete bei ihm,
er versuchte sich an mich ranzumachen - zwar jetzt vorsichtiger
als beim ersten Mal, er nahm mich jetzt sogar beim Wort, wenn ich
sagte, er solle mich in Ruhe lassen - aber trotzdem war es furchtbar.
Ich stand x-mal auf, ging in die Küche, machte Licht, knackte
eine Dose Bier, trank sie so langsam wie möglich, sah auf die
Uhr und kroch zurück ins Bett, wo sofort wieder Blenzingers
Hände auf mir lagen, die ich von mir schob. Am nächsten
Morgen frühstückten wir zusammen, dann erzählte ich
ihm wieder ein Märchen: ich müsse sofort zurück in
die Stargarder, denn Max käme heute aus Leipzig zurück,
und Franz und ich wollten ihn mit einem Essen überraschen,
das aber erst gekocht werden müsse, und Franz warte jetzt auf
mich. Blenzinger glaubte mir das. Auch wenn er beleidigt war, daß
Max, Franz, die Stargarder, Pankow und die Katze von Franz für
mich anscheinend wichtiger waren als er. Während Blenzinger
sich anzog, klaute ich ihm einige Dosen Bier aus dem Kühlschrank
und schüttete noch den Rest Wein vom Vorabend hinunter. Rimb
hätte dasselbe gemacht. Blenzinger begleitete mich watschelnd
zur U Bonhoeffer, und dann war ich ihn los.
Ich fühlte mich froh und frei. „Loseisen“:
noch nie hatte ich dieses Wort besser begriffen als jetzt. Ich hätte
singen können. Es war später Vormittag, ich war mehr oder
minder betrunken, und ich kehrte jetzt zurück in die kalte
schmutzige Baracke in der Stargarder, zu Katze, Spinnweben, Flöhen,
Schimmel - aber das schien mir das Paradies zu sein jetzt, in jedem
Fall Blenzingers schwülem überheiztem Domizil vorzuziehen.
In der Stargarder war niemand. Max war in Leipzig,
Franz war wohl beim Saufen. Ich setzte mich auf die Bank vorm Haus
und knackte das erste bei Blenzinger geklaute Bier. Nach einer Weile
kam Alexegorow, der Russe, der bei uns wohnte. Er kochte Haschtee,
und wir setzten uns in die Küche und dröhnten uns zu.
Franz kam, ich bot ihm das geklaute Bier an, er freute sich. Wo
denn Max sei? In Leipzig, sagte ich, weißt du doch! Nee, wußte
er nicht. Max hatte es ihm gesagt, dreimal, Franz hatte „alles
klar!“ gerufen und genickt - aber da war er so besoffen gewesen,
daß er sich daran jetzt nicht mehr erinnern konnte. Egal.
Ich war froh, wieder bei den meinen zu sein. Wir soffen, kifften,
sangen, lachten, und Blenzinger konnte bleiben, wo der Pfeffer wuchs.
Herrgott, war ich happy!
Ich übernachtete nie mehr bei Blenzinger. Ich
sah in noch ein paarmal, ich besuchte ihn noch einmal, aber nicht
allein, sondern gemeinsam mit Max, weil Max seine Lyrik mochte und
ich auch, seine LYRIK, aber nicht seine Schleimigkeit, und zusammen
mit Max wurde das Treffen mal endlich so, wie ich es mir immer gewünscht
hatte: Blenzinger sprach über Lyrik, Max sprach über Lyrik,
ich sprach über Prosa, und Blenzinger ließ uns sogar
zu Wort kommen und verkniff sich seinen senilen Lustmolchblick.
Am Abend gab es ein herzliches Verabschieden, ich klaute wieder
Bier und sagte bis bald. Und weg waren wir, ich und Max.
Ich sprach nicht über die Nächte in Blenzingers
Bett. Das hätte eine tolle Schlagzeile gegeben in Pinsels Käsblättle:
„K.H. BLENZINGER: SEXUELLE BELÄSTIGUNG UNSERER MITHERAUSGEBERIN!“
Aber dazu kam es nicht. Denn Pinsel war krank geworden, er neurotisierte
herum und sah Wahngestalten. Und als er wieder zu sich kam, kannte
er mich nicht mehr und kroch Blenzinger statt dessen noch tiefer
in den Arsch. Alle Blenzingersonette verpflichtete er sich in seinem
Käsblättle zu drucken. Auch das mir gewidmete fand ich
eines Tages auf dem Titel. Ich war verletzt und schrieb Pinsel einen
wütenden Brief. Den dieser, ganz gehorsamer Sklave, der er
war, sofort postwendend an Blenzinger weiterleitete. Und Blenzinger
schrieb nun, vergrätzt wie eh und je, zurück, ich solle
doch bitte die Fresse halten und ihn, Blenzinger, nicht auf seinem
Weg zum Ruhm behindern! Am Ende scheitere der gloriose Büchnerpreis
womöglich noch an mir!
„Du hast mein Sonett nicht verstanden! Du verstehst
überhaupt sehr wenig! Wie kommst du dazu, du, der du ja noch
nicht mal ein Buch veröffentlicht hast, mich, den Dichter mit
Lebenswerk und Anwärter auf den Büchnerpreis, zu kritisieren?!“
Howgh. Der Preuße hat gesprochen.
Merde. Leck mich am Arsch. Das Büchnerpreiskomitee
schleckt sich doch schon nach dir die Finger ab, Blenzinger.
Aber ich bin Rimbaud. Ich lebe für Literaturanarchie
und Dada. Und ich genieße meine Freiheit.
Der alte Mann und der Büchnerpreis. Go for it,
darling. Ich kuck mir die Gala an und werd mich kaputtlachen!
Zur historischen Eingliederung taugt der Text nicht.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Lyrikussen können
assoziiert werden, müssen aber nicht. Wahrscheinlich war alles
in Wirklichkeit genau andersrum.
***
Ein Jahrzehnt zwischen Stambul und Tanger
Von Reimar Lenz
Meinen Eltern wurde zwar ein Sohn geschenkt und mir das Leben. Aber
ich wurde nicht gefragt, ob ich das Geschenk auch haben wollte.
Die Geburt war schwer, der Kopf zu dick. Meine Mutter erlitt eine
Sepsis und verschwand erstmal von der Bild- und Fühl-Fläche.
So wurde ich zeitig vom vorgeschriebenen, aber auch illusionären
Urvertrauen erlöst. Die Mutter kam erfreulicherweise wieder
und lehrte mich bald, einem Gott zu danken, einem lieben. Gründe,
dankbar zu sein, gab es durchaus. Bildungsbürgertum im besten
Sinne. Vater Professor. Trotzdem kein Idyll. Jungvolk, Hitlerjugend.
„Unser Führer Adolf Hitler wurde am 20. April 1887 in
Braunau am Inn geboren...” Auswendig lernen!
Wenn ich etwas über die sechziger Jahre schreiben
darf, muß ich ein wenig über die dreißiger Jahre
voranschicken. Bombenkrieg. Stabbrandbombe im Kinderzimmer. Phosphorbombe
im Vorgarten. Luftmine in der Nachbarschaft. Anschiß vom Bannführer,
da ich nicht ins Sommerlager wollte. Der Konfirmationslehrer amtierte
in der Ernst-Moritz-Arndt-Kirche. (War das ein Bischof)? Auf dem
Dach ein Eisernes Kreuz, in seiner Militärform. Hier gab es
nichts vom Führer zu lernen, dafür eine eiserne Ration,
für die Zeit, da wir im Schützengraben sein würden,
an der Front. Die eiserne Ration bestand in Paul-Gerhardt-Liedern.
Flucht nach Westfalen. Meine Mutter hatte einen Konfirmations-Spruch
auf Lager: „Siehe, ich habe Dir geboten, daß Du getrost
und freudig seiest.” Altes Testament.
Ich war aber weder getrost noch freudig. Am Tage der
Konfirmation brummten US-Bomber über die Kirche, auf dem Flug
nach Berlin. Der weißhaarige Superintendent schrie von der
Kanzel: „Durch Christi Blut sind wir erlöst”. Er
schrie es zum zweiten Male, was mich, trotz der Mühewaltung,
auch nicht überzeugte. Ich war unerlöst. Und wurde erstmal
Buddhist, bis auf weiteres.
Mit fünfzehn gründete ich dann einen Jungenbund.
Der hatte drei Grundsätze, 1. alle Nationen sind gleichberechtigt.
2. alle Religionen sind gleichberechtigt. 3. das kosmische Bewußtsein
ist zu pflegen. Leider wurden die Anhänger dieser reformatorischen
Bewegung aber alsbald untreu. Sie ersetzten das kosmische Bewußtsein
durch das UT. Das UT war das Unternehmen Tanzen. Kurz, die Mädels
lockten. Und ich hatte verabsäumt, diese in den Bund zu integrieren.
Wie ging es weiter?
Nach dem Abitur Workcamps in England und Süditalien.
Studium in Tübingen. SDS. Neugierige Reise nach Moskau, zu
den Weltjugendfestspielen. Dort wollen Komsomolzen-Mädchen
von mir wissen, ob ich denn als Westler immer noch von Gott träume.
A-Theismus war mir zwar selbst-verständlich geworden, aber
einen billigen schnellen Konsens konnte ich auch nicht bieten.
In Berlin hatte ich einen Prozeß am Hals, wegen
Gotteslästerung, angezeigt von CDU-Kreisen. Freispruch, da
im Grunde kein Lästern. Ich war doch für Jesus und gegen
den Allmächtigen. Bleibendes Interesse für Relljohn und
Relljohnskritik.
Von Tübingen ging’s an den Rhein, zur Redaktion
der Zeitschrift Atomzeitalter. Nach einem halben Jahr weiter nach
Berlin, wo ich, im Skriver-Verlag, die Zeitschriften Lyrische Blätter
und Alternative redigierte. Es erschien ein Büchlein Die Atomrüstung
und der Intellektuelle. Wurde Mitveranstalter des Ersten Studentenkongresses
gegen Atomrüstung im Januar 1959. (Anschließend ging
ich mit Ulrike Meinhof spazieren, um den See Krumme Lanke herum.
Stapf, Stapf. Sie brave Kommunistin, Konkret Fraktion, ich eher
SPD. Langes Reden, aber aneinander vorbei...)
An der Wende von den Fünfzigern zu den Sechzigern
organisierte ich - zusammen mit anderen - eine Dokumentar-Ausstellung,
über die Opfer des Algerienkrieges. Die Optik war dabei antikolonialistisch
und humanitär, nicht von revolutionärer Ungeduld gezeichnet.
Ich trat aus dem SDS aus, war eine Art Linksliberaler.
Am Ende der Sechziger besuchte mich Günter Wallraff
mit anderen Kämpfern in meiner Wilmersdorfer Wohnung mit dem
Anliegen, ich solle helfen, „die Medien zu vergesellschaften”.
Die Springer-Presse habe ich tatsächlich weggewünscht.
Aber den SPIEGEL?! „Den brauchen wir doch noch...”
Rudi Dutschke traf mich in der U-Bahn, haute mich
auf die Schulter und sprach: „Lenz, Du gehörst doch auch
zu uns”. (Ich hatte einen Artikel über den Tod von Benno
Ohnesorg geschrieben.) Aber ich fühlte mich nicht voll zugehörig
zu den Achtundsechzigern, hatte zusätzlich andere kulturelle
Interessen. Ich brauchte Tapetenwechsel, nahm mir ein Flugzeug und
flog nach Tanger, wo ich anschließend sechs Monate blieb.
Schönste Frucht des Orient-Aufenthalts: ein Buch,
im Peter-Hammer-Verlag erschienen, Titel Vom Affen, der ein Visum
suchte. Die Geschichte eines elternlosen Marokkaners, mir auf Französisch
erzählt. Wort für Wort übersetzt. Erlebnisprotokoll
- dann eines Gastarbeiters.
Inzwischen war ich herangereift zum freien Mitarbeiter
bei PARDON, KONKRET, Zeitung, Funk, Bühne, Volkshochschulen,
Evangelischen Akademien. Der Referent für den Kulturaustausch.
Fürs Exotische. Neben den Psalmen kennt er die indischen Veden
und die persischen Verse von Omar Chayyam und nochwas.
So, jetzt sind wir mittendrin in den Sechzigern. Bürgertum
und Christentum hatten mich belehren wollen, wen ich zu lieben hatte,
was ich glauben sollte, wie eine anständige Berufskarriere
aussehe, wie eine Doktorarbeit. Aber das alles fruchtete nicht.
So sorry, es paßte einfach nicht.
Als ich dann Anfang der Sechziger auf dem Anmarsch
nach Indien war, blieb ich in Stambul hängen. Zimmer am Hafen.
Mit Hilfe des Deutschen Archäologischen Instituts Rundfahrt
durch die Türkei. Und dann, typisch verquer, buntscheckig:
mein Besuch in einer griechischen Kirche, zur Osternacht! Und die
Griechen riefen enthusiastisch: Christós ánesti. Und
noch viele Male Christós ánesti. Ich glaubte kein
Wort, aber diese Multikulturalität machte mir Freude. Später
gründliche Gespräche mit einem Scheich aus Kairo. In einer
kleinen Moschee erklärte er mir Gebets-Stellungen des Islam.
Ein junger Gläubiger mußte alles vormachen. Ich war durchaus
beeindruckt, fühlte mich aber gewarnt: ich durfte nicht den
Eindruck machen, ich sei bekehrbar. Das gäbe nur Ent-Täuschungen.
So wunderbar die Zeugnisse des Sufismus auch sein mochten, der islamischen
Mystik, das sollte doch nicht meine Welt werden!
Der Abschied
„Sehr verehrter Herr, ich danke Ihnen tausendmal
für alle Ihre Aufschlüsse. Aber bitte, bitte, verstehen
Sie mich: ich hab da einen anderen Hintergrund als Sie. Ich komme
aus einem anderen Feuer. Ich komme von Feuerbach, Marx, Freud, Nietzsche,
und auch Bertrand Russell. Ich durfte Russell aus der Nähe
erleben, einen großen Gelehrten und Friedenskämpfer.
Aber er hat geschrieben: ‘Warum ich kein Christ bin’.
So wie ich auch nicht mehr mich zählen darf zu den Schriftbesitzern.”
Ich schluckte. Es war Schluß. So zog ich ab, traurig. Der
Scheich war traurig. Diese ganze Geschichte mit den Monotheismen
ist irgendwie auch traurig. Die Aufklärung ist schuld...
Dann stand ich vor der Gartentür des großen
deutschen Orientalisten Hellmut Ritter, der in Stambul das Kompendium
der islamischen Mystik geschrieben hat (Das Meer der Seelen, Verlag
Brill, Leiden). Ich traute mich nicht zu klingeln.
Dann wieder die heilige Musik des Griechen Chrysostomos.
(Warum mußten die Griechen eigentlich die Türkei verlassen?)
Meine Freude am Christentum kühlte schon wieder ab, als ich
herausbekam, daß Kreuz-Zügler, auf dem Durchmarsch zum
Grab des Herrn erstmal das christliche Konstantinopel brandschatzten.
(Siehe: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen, Theodor Lessing).
Die Sechziger! Natürlich auch relativ langhaarige
Jahre. Stand mir nicht. Die Fahrt nach Psyche-Delhi aber war gründlich.
Drogenforschung zusammen mit Prof. Hans Carl Leuner, Ordinarius
für Neurologie in Göttingen. Der Cantus-Firmus der Sechziger
bei mir allemal: ein Gebot, das ich mir bald nach der mißlungenen
Kon-Firmation gegeben hatte: Lenzchen. Du sollst noch andere Religionen,
Götter, Propheten, Medizinmänner, Kulte und Kulturen kennen
lernen - neben dem ein-tönigen Mono-MonoMoNo! Den Buddhismus
hatte ich mir schon mit dreizehn aus der enormen Bibliothek meiner
Mutter rausgepickt. Wunder über Wunder: bei Buddha gab es auch
eine universale Menschenliebe (Metta) Güte auch gegenüber
der Tierheit, Feindesliebe. (Sowas darf man nicht unterschlagen
in einem Religionsunterricht.) Lebenslänglich habe ich heilige
Schriften studiert, Meditationen probiert, und ich eroberte mir
manchen Peters- oder auch Prometheus-Dom. (Aus der Peterskirche
in Rom wollte man mich rausschmeißen, weil ich angeblich zu
kurze Hosen anhatte. Aber der Dom-Wächter wickelte mich im
letzten Moment ein in eine scham-lindernde Decke. So konnte ich
doch geduldet werden.)
Waren Herbste am Schwarzen Meer, mit endgültigen
Farben. Waren Menschen, die wollten ein Schicksal leihen. Versprengte,
Romantiker, Schwärmer? Viel Respekt habe ich gehabt vor deutschen
Orientalisten (auch Indologen und Sinologen).
Ich bin nach Osten getrampt, folgte dem Ruf des Muezzins,
wenn er an der Karanwanserei erklang. Fuhr dem Frührot entgegen,
der Sonne der Sufis, die einst noch Gebete entzündet hatte
und Hunger nach der Gerechtigkeit. Es gibt auch türkische Früh-Sozialisten
(man sehe: Das Epos von Scheich Bedreddin, Ararat Verlag 1982).
Der Bektaschi-Orden imponierte mir mit seinen strahlenden Liturgien.
Die Tänzer von Eonya. Jaja, ich habe so manche Häfen besucht,
aber nicht, um vor Anker zu gehen. Ich folgte keinem Lotsen, bekehrte
mich zu jedweder Religion als einem weiteren Beweis für die
menschliche Schöpferkraft. Immer eingedenk der Tatsache, daß
der Mensch sich die Götter schuf... Wüstenscheichen las
ich heilige Silben vom Mund, Gurus fraß ich makrobiotische
Körnerfutter aus der Hand, aber niemals für lange. Verzweifelt
kratzte ich den Schutt der Geschichte auf der Suche nach den von
Hagiographie verschütteten Heiligen. Aber dem Paulus aus Tarsus
(in Kilikien) nahm ich seinen krassen, gnostischen Dualismus nicht
ab: hier das Sarx, das niedere, vergängliche Fleisch, das jämmerliche
Diesseits, dort die Zukunft, das Pneuma, der Geist, im Jenseits,
der Geist seines Herrn (den er persönlich gar nicht gekannt
hat). Also da fühlte ich mich doch eher in Griechenland zuhause,
bei Eros, Dionysos, Apoll, Aphrodite, Pallas, Athene (obwohl die
Akropolis ja touristisch überfüllt ist).
Ja, ich las viele heilige Schriften, in den fernen,
nahen Sechzigern. Aber welches heilige Wort hätte nicht Grund,
sich seiner Kanzel, seiner Interpreten zu schämen?! Ich war
mit allen Taufwassern gewaschen, aber ich habe sie auch alle wieder
ausgekippt, wenn sie mir trübe geworden schienen. Die Sünden
der Puritaner hatte ich zu bereuen, nachdem ich viel zu viele köstliche
Sünden verpaßt hatte. Viele Suppen mußten wir ja
auslöffeln, die uns die Väter eingebrockt. So ist man
frei geworden, frei, wie die Väter kaum jemals waren. Keine
feste Burg war mir mein Gott, keine gute Wehr und Waffen! Stattdessen
baute ich mir eine Burg für die Skepsis. Und dann? Aber das
kriegen wir später, wenn der Herausgeber nach den Sechzigern
auch die Siebziger schafft.
Was noch?
Heute Nacht hatte ich einen Traum. Als ich in meinen
mittleren Jahren war, also den Sechzigern, und auf einem Seelenverkäufer
mitfuhr, durch das adriatische Meer, eingeschifft in Venedig, Richtung
Stambul, da erspähte ich einen türkischen Matrosen, wie
er, allein auf dem Zwischendeck, betete, nach Mekka gewandt. Eine
Urszene. Gibt es ein Foto? Nein, aber das Bildnis ist auferstanden,
nachdem der Herausgeber meine Seele wiederentdeckt hat.
Aber vielleicht war das gar kein Türke? Sondern
vielleicht ein Kurde, ein Syrer, ein Ägypter oder sonstwer?
Und vielleicht schaute er auch über Mekka weit hinaus, nach
Osten, vielleicht bis Eapilavastu, Buddhas Geburtsstadt am Himalya?
Oder er dachte - Buddha hin, Allah her - überhaupt an etwas
ganz anderes? Eine ferne Geliebte in Aden? Sicher ist nur, daß
ich damals, als ich in meinen Dreißigern war, also in diesen
verflixten Sechzigern, einigermaßen genug Taktgefühl
besaß, meine Kamera im Seesack zu lassen. No Fotos, keine
Enthüllungen.
Die bringen im Grunde nichts.
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