XXVII. Jahrgang, Heft 147
Jan - Apr 2008/1
 
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Letzte Änderung:
24.2.2008

 
 

 

 
 

 

 

MEDIEN – KULTUR – SCHAU




   
 
 


Wolfgang Benz (Hrsg.)
Umgang mit Flüchtlingen
Ein humanitäres Problem. dtv, München 2006. 221 Seiten, 11,50 Euro

Rita Süssmuth
Migration und Integration
Testfall für Gesellschaft. dtv, München 2006. 239 Seiten, 14,– Euro

Reinhard Johler/Ansgar Thiel/Josef Schmid/Rainer Treptow
Europa und seine Fremden
Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung. transcript,
Bielefeld 2007. 217 Seiten, 21,90 Euro

OECD (Hrsg.)
From Migration to Integration
Local Solutions to a Global Challenge. OECD, Paris 2006.
332 Seiten, 50,– Euro

Ihsan Acer
Der Türke: das Original
dtv, München 2007. 110 Seiten, 7.90 Euro


Nicht nur Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, sondern selbst die Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mittlerweile von der Notwendigkeit der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund (vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.10.2007). Dies nehmen wir zum Anlass, auf einige Bücher aufmerksam zu machen.

Das erste Buch, herausgegeben von Wolfgang Benz, ist eine Sammlung von Aufsätzen. Zehn namhafte Autoren - von Edzard Reuter, Ex-Manager von Mercedes Benz, über Rita Süssmuth, Ex-Bundestagspräsidentin, bis Rupert Neudeck, Mitgründer und ehemaliger Leiter von Cap Anamur - versuchen mit elf Aufsätzen, mehr Offenheit in die migrationspolitische Diskussion hineinzutragen. Reuter beschreibt, wie die Türkei Flüchtlinge aus Deutschland während der NS-Zeit offenherzig aufgenommen hat. Claudia Curio schildert, wie unbegleitete Kinder aus Deutschland und besetzten Gebieten 1938/39 nach Großbritannien (GB) transportiert wurden. Fritz Kiefer schreibt über die erste Flüchtlingskonferenz in Evian. Diese wurde von den USA und GB initiiert. An der Konferenz nahmen 38 Nationen teil. Wolfgang Benz, der Historiker, gibt einen Überblick über die 50-jährige Geschichte der Migration in das Einwanderungsland Deutschland. Rita Süssmuth, die auch den Vorsitz des Sachverständigenrats für Zuwanderung und Integration inne hatte, schreibt über das Zuwanderungsgesetz und über die Änderung des Asylrechts. Peter Widmann stellt die deutsche Migrationspolitik am Beispiel der Vietnamesen dar. An Beispielen von drei Ländern - Italien, Spanien und Australien -wird verdeutlicht, wie unterschiedlich Industriestaaten mit Asylbewerbern und Flüchtlingen umgehen. Zum Schluss lotet Rupert Neudeck aus, welche Möglichkeiten und Grenzen es bei humanitären Engagements gibt.

Rita Süssmuth war lange Zeit einsame Ruferin von Vernunft in Sachen Migration innerhalb ihrer Partei CDU. Dass sich die Einstellung der CDU mittlerweile gewandelt hat, ist vornehmlich ihr Verdienst. ‘Für die Beziehung zwischen Zuwanderern und Einheimischen sind Selbst- und Fremdbilder von entscheidender Bedeutung. Sie bestimmen maßgeblich Akzeptanz oder Distanz, Vertrauen oder Misstrauen,’ schreibt Rita Süssmuth und fügt hinzu, „Diese Bilder sind nicht Abbild der Wirklichkeit, sondern ein psychisches Konstrukt.“ Nach einer Analyse über die Ursachen und Folgen der weltweiten Migration von 200 Millionen Menschen fasst sie folgende Schwerpunkte für eine Integration der Migranten in Deutschland zusammen: vorschulische Sprachförderung, flexiblere Schuleingangsphase, Intensivierung der Elternarbeit, Ausbau der Ganztagsschulen, verbindliche und systematische Verankerung der interkulturellen Kompetenz in der Lehrerausbildung, Förderunterricht für Schüler mit unzureichenden Deutschkenntnissen. An den Forderungen kann man unschwer erkennen, dass Rita Süssmuth eine Erziehungswissenschaftlerin ist. Diese Forderungen sind zwar nicht neu, bekommen aber ein Gewicht, weil Frau Süssmuth sie zusammenstellt.

In dem dritten Buch beschäftigen sich 18 Fachkräfte aus Wissenschaft verschiedener Disziplinen und Praxis mit dem Verhältnis von Europa zu seinen Fremden. Das Buch ist in drei Teile gegliedert. Im ersten Teil geht es um die Auseinandersetzung mit Begriffen und Konzepten wie Migration, Integration. Kulturelle Vielfalt (Ansgar u.a), über das Paradigma kultureller Differenz und Perspektiven interkulturellen Lernens. Der aktuelle Stand der Theoriediskussion wird hier mit kritischer Reflexion gut zusammengefasst.

Migration und deren Folgen sind der Gegenstand des zweiten Teils des Buches. Mit der Differenz als Herausforderung für Europa beschäftigt sich Karin Amos. Karin Schittenhelm berichtet über Ergebnisse einer Untersuchung, die sich mit Bildungs- und Berufsbiographien von Akademikern mit Migrationshintergrund auseinandersetzt. Ebenfalls über eine Erhebung über das Verhältnis von Jugend und transnationaler Migration berichten Sara Fürstenau und Heike Niedrig. Während sich der erste Teil mit den Theorien auseinandersetzt, beschäftigt sich der dritte Teil mit der Praxis, mit Kontroversen, mit der Reflexion über Praxis und mit Forschungsergebnissen: Wie gestaltet sich die Integration? Hier geht es um Sozialisationsinstanzen, vornehmlich um Schulen - mit drei Beiträgen - und um Selbstorganisation von Migrantinnen von Olga Zitzelsberger und Patricia Latorre Pallares. Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Ingrid Gogolin, die sich kritisch evaluierend mit dem Konzept des Programms zur Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzt. Gogolin such auch nach der Lehre aus dem internationalen Vergleich.

Gerade dafür ist das OECD-Buch hervorragend geeignet. In diesem geht es darum aufzuzeigen, wie lokale Initiativen mit einer ‘Policy mix’ an das Problem der Migration und Integration mit Erfolg herangehen. Dafür werden Beispiele aus fünf Ländern - Großbritannien (GB), Italien, Kanada, Spanien und die Schweiz - verglichen. Verglichen werden nicht die Länder miteinander, sondern Aktivitäten bestimmter Kommunen. Dargestellt wird die erfolgreiche Praxis von Montréal, Toronto und Winnipeg (Kanada), Trient, Turin und Mailand (Italien), London (GB), Madrid, Barcelona und Lleida (Spanien), Genf, Zürich und Neuchâtel(Schweiz). Aktivitäten und Initiativen gehen sowohl von öffentlichen und privaten Institutionen als auch von verschiedenen NGOs aus. Unter öffentlichen Institutionen werden Regierungen und Verwaltungen der Kommunen und Regionen verstanden. Private Institutionen schließen sowohl Unternehmen als auch Non-Profit-Organisationen ein. Das Ziel der Studie ist, Bedingungen herauszufinden, die eine Integration der Migranten besonders begünstigen. Aus den Ergebnissen werden Empfehlungen abgeleitet. Einige der wichtigsten Empfehlungen sind:

• eine Koordination von verschiedenen Initiativen auf lokaler und regionaler Ebene,

• ein übergeordneter politischer Rahmen,

• Förderung und Anerkennung von Kompetenzen und Qualifikationen der Migranten,

• rechtzeitige Intervention, um sicherzustellen, dass die Migranten nicht allzu lange Zeit aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen bleiben.

Während sich die vier bislang besprochenen Bücher für Bildungsarbeit und Hochschulseminare gut eignen, ist das letzte Buch ein liebevoll humoristisches ‘Erklärungsmuster’ vom Verhalten ‘der Türken’. Allein der Titel ist eine Provokation, eine Anspielung auf Vorurteile der Mehrheiten dieser Gesellschaft. Ihsan Acar, selbst ein Migrant der zweiten Generation, erklärt, warum der Türke gerne grillt, am liebsten Auto fährt, als Unternehmer steinreich wird, zum Urlaub in die Heimat reist. Er liefert zugleich auch Rezepte für ein friedvolles Miteinander von Minderheiten und Mehrheiten. ‘Wir Türken müssen den Deutschen entgegenkommen. Dann integrieren sie sich auch.’ Ein Buch voller Überraschungen und ironischer Verallgemeinerungen. Ein Buch zum Schmunzeln.

Asit Datta

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Richard Dawkins
Der Gotteswahn
Ullstein Verlag, Berlin 2007. 575 Seiten, 22,90 Euro

Glücklicher Atheist

„Religion ist irrational, fortschrittsfeindlich und zerstörerisch“ - so lautet eine der Grundthesen des Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der damit ein leidenschaftliches Plädoyer für die Vernunft hält. Den Glauben an eine übernatürliche Macht hält er nicht nur für überholt, denn der liefert die Welt nur der Dominanz von Fundamentalisten aus - ja, der Glaube an ein göttliches Wesen ist (in der Historie wie auch verschiedentlich noch in der Gegenwart) vielfach die Ursache von Terror, Zerstörung, Verfolgung und Inquisition. Und so unternimmt es Dawkins, die Existenz eines persönlichen Gottes anzuzweifeln - und damit die Existenzberechtigung von Religion.

Dawkins fragt, warum ein Märchenbuch wie die Bibel zum Fundament eines weltumspannenden Glaubensfundamentalismus werden konnte. Er stellt die Existenz eines Gottes mit den Mitteln der Naturwissenschaft in Frage. In einem Interview (Okt. 2007) meinte Dawkins, daß manche Menschen wohl einen Gott als Freund bräuchten und als Erklärung für ihre Existenz. Aber: „An einen Gott zu glauben, der Trost spendet, sagt nichts darüber aus, ob er tatsächlich existiert.“ Und Dawkins stellt fest: „Mein größtes Anliegen ist die Wahrheit. Ich will wissen, ob es Gott gibt oder nicht. Diese Frage will ich mit meinen Lesern erörtern.“ Er bezeichnet sich selbst als Agnostiker (leugnet die rationale Erkenntnis des Göttlichen) - wobei er als Wissenschaftler „sich nie hundertprozentig sicher sein“ dürfe. Dawkins liefert ein leidenschaftliches Plädoyer für die Vernunft ab, indem er den Glauben an eine übernatürliche Macht nicht nur ablehnt, sondern auch als gefährlich darstellt.

Grundsätzlich ist zu fragen, wann die Theologie im Unterschied zur Wissenschaft jemals etwas von sich gegeben hätte, das auch nur von allerkleinstem Nutzen gewesen wäre. Wie konnte überhaupt jemand jemals auf die Idee kommen, daß Theologie ein ernst zu nehmendes Studienfach sein könnte. Dawkins versichert uns: Man kann als Atheist glücklich, ausgeglichen, moralisch und geistig ausgefüllt sein.“ Und man möge mutig bedenken, daß die Gotteshypothese wie jede andere Annahme skeptisch zu analysieren ist. Dawkins verkündet: „Atheist zu sein, ist nichts, wofür man sich entschuldigen müßte. Im Gegenteil: Man kann stolz darauf sein (...), denn Atheismus ist ... ein Zeichen für eine gesunde geistige Unabhängigkeit.“ Jedenfalls lehnt Dawkins es auch ab, Religion oder sog. religiöse Gefühle als etwas besonders Schützenswertes zu akzeptieren - nicht mehr und nicht weniger, als dies im Rahmen der Meinungs- und Pressefreiheit erforderlich ist. Nirgendwo sonst sind Menschen so stur und unbeweglich wie in ihren religiösen Überzeugungen. Aber mit welcher Berechtigung ernennen sie sich selbst (oder lassen sich ernennen) zum Verfechter einer göttlichen Instanz, deren moralische Autorität sie zu vertreten hätten? Dawkins macht auf zwei grundsätzliche Argumentationsmuster bzw. Denkfehler aufmerksam:

1) „Von der Voraussetzung, daß die Frage nach der Existenz Gottes prinzipiell nicht zu beantworten ist, vollziehen wir den Sprung zu der Schlußfolgerung, seine Existenz und Nichtexistenz seien gleichermaßen wahrscheinlich“ - also glauben soundso viele Menschen vorsichtshalber daran.

2) „Viele strenggläubige Menschen reden so, als wäre es die Aufgabe der Skeptiker, überkommene Dogmen zu widerlegen, und nicht die der Dogmatiker, sie zu beweisen. Das ist natürlich ein Fehler.“ Und er verweist auf Bertrand Russells köstliche Parabel von der himmlischen Teekanne, von der man behaupten könne, sie kreise auf einer elliptischen Bahn um die Sonne. Sie sei aber so klein, daß man ihre Existenz nicht beweisen könne.

Also, liebe „Theisten“: Die „Beweislast“ liegt bei den „Gläubigen“, nicht bei den „Ungläubigen“! Ohnehin ist es schwierig bis unmöglich, die Nichtexistenz von etwas nicht Vorhandenem zu beweisen - andererseits ist es eine arrogante, naive und lächerliche Zumutung, etwas Nichtbewiesenes als universelles Axiom zu etablieren. Zum wissenschaftlichen Selbstverständnis gehört es jedenfalls, Nichtwissen einzugestehen und Neues zu erforschen.

Die fundamentale Frage muß gestellt werden: Warum streiten wir Menschen uns eigentlich darum, ob es einen Gott gibt oder nicht? Außerdem: welcher von all den Göttern in den verschiedenen Kulturkreisen soll denn der Obergott sein? Offensichtlich gibt es bei allerhand Menschen ein Bedürfnis nach Religion - da wäre eben zu fragen: wieso eigentlich? Dient Religion der Tröstung, hilft sie bei der Hordenbildung, ist sie ein Akt bewußter Selbsttäuschung, ist sie Ausdruck von Wunschdenken oder eines Sekurutätsprinzips?! Eine weitere wichtige These von Dawkins lautet: „Wir brauchen Gott nicht, um gut zu sein - oder böse.“ Ethik gab es schon vor der Religion - und gibt es weiterhin auch unabhängig davon! Es gibt eine Moral, „die ohne Überwachung funktioniert“ - ohne die notwendigkeit, sich bei einem Alphawesen einzuschleimen. Dawkins gibt zu bedenken: „Glaube ist genau des halb bösartig, weil er keine Rechtfertigung braucht und keine Diskussion duldet.“ Schlimm ist, „mit welcher Überheblichkeit religiöse Menschen ohne jeden Beleg wissen, daß ihr Glaube der einzig wahre Glaube ist.“

Nun möchte Dawkins mit seinem Buch alle Menschen zum selbständigen Denken ermutigen - und er fordert alle insgeheimen „Ungläubigen“ bzw. Atheisten auf, sich als solche zu outen, damit in der Gesellschaft ein Gegengewicht entstehen kann zur religiös verbrämten political correctness. Kritiker an Dawkins’ Thesen bringen ein Argument an, der Mensch müsse im Leben einen Zweck erkennen können, der über das Materielle hinausgehe. Dazu muß man antworten: befreit euren Geist von allen Beeinflussungen aus alten Schriften oder durch Institutionen, die euch logistisch in eine Ewigkeit einsortieren! Seid human, indem ihr euch gegenseitig Freude bereitet! Dawkins’ Buch ist wirklich ein Jungbrunnen für den Geist. Dawkins ist ein ganz lieber Zeitgenosse, er schreibt eingängig und humorvoll, er beflügelt und stimmt froh - man fühlt den Horizont erleuchtet und die Fenster weit geöffnet. Und wenn sich seine Kritiker an einigen seiner Beispiele stören, so ändern gut oder schlecht recherchierte Beispiele nichts daran, daß wir mit gutem Gewissen Religion für überflüssig erklären können.

Karlyce Schrybyr

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Heinz Geyer
Zeitzeichen
40 Jahre in Spionageabwehr und Aufklärung.
Zeitzeugenbericht. Herausgeber: Peter Wolter. Kai Homilius Verlag (Edition Zeitgeschichte, Band 8), Berlin 2007. 160 Seiten (Hardcover mit Schutzumschlag), 12,80 Euro

Verkenne dich selbst – Rechtfertigung von Links – oder: Im Osten nichts Neues

Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, dieses Markus -Mischa - Wolf zugeschriebene Wort stellt Generalmajor a.D. Heinz Geyer, letzter Stabschef der Hauptverwaltung Aufklärung im Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen Republik selig, seinen Erinnerungen voran. Ungeklärt bleibt, ob so auch Das letzte Wort geschrieben sein muß, bleibt es doch zuviel Antwort schuldig.

Ein Rezensent ohne DDR-Vergangenheit, durchaus kritisch gegenüber seinem Freistaat, für gewisse Zeit freiwilliges Mitglied dessen sogenannter Verteidigungsorganisation Bundeswehr, welche Freiheit zur Zeit so erfolgreich wehrhaft sogar in Afghanistan verteidigt, solch Kritikaster nimmt verklärte Erinnerungen eines älteren Herrn gleich einem Magenbitter zur Brust, lauert auf die beruhigende Wirkung der als Digestif verabreichten Essenz. Und doch, mit der Faust in der Tasche behält er Bauchgrimmen nicht nur über unverdauliche Gegenwart, nein, auch über hier ausgebreitete Vergangenheit, über lineare Fortsetzung von Mein Kampf zu allenthalben Krampf hüben und drüben.

Heinz Geyer, letzter auch Stellvertreter des Leiters der Hauptverwaltung Aufklärung Markus Wolf, erzählt aus seinem Leben als geheimdienstliches Trüffelschwein Ost, vermarktet als „endlich“ Brechen eines selbst auferlegten Schweigens achtzehn Jahre nach Untergang des sinnstiftenden Auftraggebers, achtzehn Jahre nach Untergang „seines“ Staates DDR. Dabei war das unendliche Schweigen durchaus endlich, trug der Erzähler doch 2006 anläßlich des Todes von Markus Wolf jene DDR-Sansibar-Kooperation laut und deutlich in die Öffentlichkeit. Darüber hinaus muß die Frage lauten, was hat Heinz Geyer zu erzählen, was der auch literarisch verdienstvolle Mischa Wolf nicht längst erzählt hat?

Das Leben und vierzig Jahre Dienstzeit, zuletzt in der DDR-Hauptverwaltung Aufklärung, breitet Heinz Geyer auf knapp 144 Textseiten aus, denen ein Fragenkatalog und Kurzinterview mit dem Herausgeber Peter Wolter, nicht vergangenheitsloser Redakteur junge Welt, anhängen. Markus Wolf, der Chef, bemüht quasi eine Trilogie mit Spionagechef im geheimen Krieg, Die Troika, Freunde sterben nicht. Er läßt nach seinem Rücktritt literarisch und nach Fakten seinem Stellvertreter Geyer kaum Raum für Unbekanntes, haben doch Aufklärung West samt jetzt Birtheler-Behörde benamtem Gaus-Amt die Lücken kenntnisreich längst gefüllt. Und dann noch alle Wolf- und Geyer-Kollegen.

Aufklärung, ein so oder so verteufelt Ding, hat vierzig Lebensjahre des Heinz Geyer bestimmt. Die eine ist bis heute nicht bei ihm angekommen, die andere zur Petitesse geronnene Realität eines am Siechtum so oder so mangelnder Aufklärung dahingegangenen Staatsregimes, was ja noch nicht heißen muß, die Konkurrenz habe besseres oder auch nur anderes geleistet, gar zu bieten.

Doch der Reihe nach: Als ein in das NS-Unrechtssystem 1929 Hineingeborener nur halber Gnade zu später Geburt beruft sich der Autor auf Nationalsozialisten zuzuordnendes Unrecht, als beträfe dieses nicht zuerst die Nation, als sei dieses Unrecht nicht allen Deutschen zueigen. Die geographische Ostnähe des Geburtsortes und eine von anderen zu Unrecht Vertreibung genannte kürzere Um- oder Aussiedlungswanderung verhilft zum Verharren in der sowjetisch besetzten Deutschlandzone, aus der einmal die DDR hervorgehen sollte. Ohne Gesinnungsprobe nationalsozialistischer Couleur über Deutsches Jungvolk und Hitlerjugend hinaus, gestattete dem frisch freigesprochenen Friseurgesellen sein Dazugehörenwollen für einen Neuanfang in der lokalen Beschränkung auf das nähere Lebensumfeld ahnungsloses und kritikloses Eingehen auf die neue, die andere Ideologie. Der allgemein und auch dialektisch Ungeschulte entdeckt für sich eine reizvolle andere Gedankenwelt, die ihrerseits den Unfertigen für sich vollständig vereinnahmt. Eine Chance für beide, von welcher der Eleve zu dem Zeitpunkt nicht einmal ahnen kann, wohin sie ihn führen wird.

Von der Pflichterfüllung im Auftrag der einen Gesinnung befreit, folgt Heinz Geyer der Pflichterfüllung an der anderen Gesinnung, zufällig eine Gesinnung Ost, welche, wäre der Protagonist bis in den Westen gelangt, ebenso eine Gesinnung West hätte sein können, jeweils Kennzeichen deutscher Gesinnung allgemein nach der Niederlage 1945. Damit unterscheidet er sich weder von den Pflichterfüllern des Dritten Reiches, noch von denen der alten oder neuen Bundesrepublik. Deutsche Tugend.

Sachlich nüchtern, fast im Stile einer summarischen Zusammenfassung als Vorlage für einen ministeriellen Bericht, spult Geyer seinen Werdegang vom Friseurgesellen zum Generalmajor in der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR ab, legt auch seine Familienbande offen. Im freimütigen Bekenntnis zum untergegangenen System schildert er die Innenansicht eines mit Staatssicherheit Beauftragten, der das System seines Staates verinnerlicht hat, ihm mit Leidenschaft dient. Bei aller besonders im Westen unausweichlichen Kritik an solchem Dienen, dem sich kein Wessi für seinen Wessi-Staat je entzogen hat, dieser Dienst war für Heinz Geyer nicht nur Aufgabe, nicht nur Pflicht, sondern sein ganz persönliches und gutes Recht, zudem das gute Recht eines souveränen, völkerrechtlich anerkannten Staates, auch wenn der anderen noch so sehr mißfallen hat.

Sorgfältig hangelt der Autor sich an den Daten der DDR-Geschichte und den Denkwürdigkeiten des Kalten Krieges entlang, läßt die Unruhen vom 17. Juni 1953 nicht aus, nicht den Ungarn-Aufstand 1956, nicht den Mauerbau vom 13. August 1961, auch nicht den Einmarsch in die CSSR im August 1968 und die ganz persönliche „Bruderhilfe“ des Heinz Geyer vor Ort, oder die „Aufklärung“ im Polen der 80er Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Selbst Ab- und Untergang der DDR läßt Heinz Geyer von innen miterleben. Nebenbei jubelt er seine Sansibar-Abenteuer unter und einen Kubabesuch der 70er Jahre. Nur die Kubakrise vom Oktober 1962 scheint entweder für seinen Staat DDR oder für dessen Geheimdienste nicht stattgefunden zu haben.

Im Anschluß an die chronologische Entwicklung und der in ihr enthaltenen Laufbahn eines stetigen Aufstieges erfährt der Fortgang der Erzählung einen Bruch, verrät der Autor einige der James-Bond-Geheimnisse eher banaler Struktur und erinnert sich dankbarlich aller ihm widerfahrenen Wohltaten bis hin zur Aufnahme in Mielkes Jagdgesellschaft, läßt die Schilderung erneut kippen, fällt in ein Lamento über den Untergang seines geliebten Staates samt der staatstragenden Idee Kommunismus, um sich dann in einem Epilog seiner Abrechnung mit den neuen Machthabern BRD zuzuwenden.

Die Antworten auf spezifische Herausgeberfragen bis in eine moralische Rechtfertigung für Spionage werden verfolgt vom Interview mit eben dem Peter Wolter zur Person Markus Wolf, das über Altbekanntes und Binsenweisheit nicht hinaus kommt.

Der Leser klappt am Ende verblüfft das Buch zu, fragt, was soll’s? Nun, zunächst ein nicht zu unrecht stolzer Lebensbericht eines sehr schlichten, sehr aufrichtigen Mannes. Dann ein Rechtfertigungsversuch, mit dem alle Schlapphüte aller Welt weltweit scheitern, zumindest außerhalb der Grenzen des Landes, das ihnen per Gesetz der Demokratien, Diktaturen oder sonstiger Regime innerhalb ihres Landes Straffreiheit verspricht, weil sie mit eigenen nationalen Gesetzen zu ihrem Tun beauftragt werden. Ihr Handeln und das ihrer Mitarbeiter außerhalb der nationalen Grenzen ist illegal, aus Sicht der betroffenen Staaten Verrat, strafbar! Daneben gibt es noch eine grundsätzlich ethische und persönliche Moral, die, Gesetz hin oder her, Spionage grundsätzlich als unmoralisch verwerfen müßte, auch wenn sie hier verschämt Aufklärung heißt, obwohl sie nicht wenig zur Verwirrung beigetragen hat.

Interessant ist, der Autor berichtet von allerhand Befindlichkeit, jedoch nie von seiner ethischen Ausgangslage und moralischen Empfindsamkeit. Einzig die Friedensarbeit im Sinne einer marxistischen(?) kommunistischen Weltanschauung spezifischer DDR-Facon ist Handlungs- und persönliche Rechtfertigungsgrundlage zugleich. Die Deformation geht so weit, die illegale Benutzung von Botschaften, Konsulaten und sonstigen Auslandsvertretungen als Geheimdienstzentren in operativer Terminologie schlicht als legal zu deklarieren, den Mißbrauch des Diplomatenstatus, die Verletzung des Völkerrechts zu legalisieren. Letztlich heiligt wieder einmal mehr der Zweck die Mittel. Weil doch der Zweck stets ein guter war, kann nicht sein, was nicht sein darf: Aus dem Ministerium für Sicherheit heraus, besonders aus der Hauptverwaltung Aufklärung heraus wurde nie Unrecht begangen. Alles andere ist für Heinz Geyer Verleumdung.

Zugegeben, hätte die DDR gewonnen, säßen jetzt BND, MAD und alle westlichen Westentaschenbonds auf Anklagebänken und zwischen sonstigen Stühlen und auch finanziell auf dem Trockenen. Ein hüben wie drüben unerträglicher, im Grunde auch rechtlich unhaltbarer Zustand, den schon Martin Walser in seiner aus anderem Grunde berühmt berüchtigten Paulskirchen-Rede vom 11. Oktober 1998 anprangerte. Zugegeben auch, die Stasi-Manie und die inzwischen umfirmierte Gaus-Behörde, der Größte Anzunehmende Un-Sinn behördlichen Umgangs mit Akten zur Bedienung einer Propaganda noch achtzehn Jahre nach dem unrühmlichen Ende ist unerträglich, selbst für Wessis.

Heute aber im treuesten Propagandajargon die untergegangen Weisheiten des eigenen Feindblockes wiederzukäuen, nur um den anderen Feindblock zu denunzieren, das auch vom eigenen Apparat begangene Unrecht und die eigenen Destabilisierungsversuche des Gegners zu unterschlagen, ist ebenso unerträglich. Und es soll keineswegs verschwiegen sein, die westlichen Werte hatten und haben eine ganze Litanei von Schweinereien drauf, von denen die Stasi nicht einmal träumen durfte.

Heinz Geyer, Generalmajor a.D., liefert unfreiwillig gleich einem Schwejk die Vorlage des Funktionierens einer von ihrem Auftrag durchdrungenen Person, wie sie alle Armeen zu allen Zeiten hervorgebracht haben, dringend benötigen. Nur mit solchem Kader sind Kriege zu führen, die heißen wie die kalten! Ob sie auch zu gewinnen sind? Dazu braucht es mehr als nur einen Markus Wolf! Tragisch für solche Menschen ist, für den Frieden sind sie verzichtbar. Seit Aufklärung ist das Standardwissen.

Nachvollziehbar ist die Verbitterung eines Mannes, der seinen Lebenstraum gescheitert sieht. Nachvollziehbar ist seine Empörung über das, was den Platz seines geplatzten Traumes eingenommen hat. Nicht nachvollziehbar ist seine unkritische Reflektion des Systems, dem er gedient hat. Einem 78 jährigen Rentner sei der Traum einer Auferstehung des Kommunismus gegönnt, besteht doch kaum Gefahr, er werde das erleben, ganz besonders nicht die Auferstehung eines DDR-Kommunismus.

Wäre es das schon, sollte es das auch gewesen sein! Statt dessen beschert das Werk einen Herausgeber Peter Wolter, ein westdeutsches Gewächs, das nach vier Jahren freiwilligem Militärdienst in der Bundesmarine während seines Studiums von der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR angeworben wurde und bereitwillig 17 Jahre bis zu seiner Enttarnung für dieselbe Kundschafter im Westen war, wofür er, und das ist ein durchaus humaner Zug des Systems BRD, lediglich zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden ist. Der publizistisch umtriebige Ressortleiter Innenpolitik der junge Welt geistert auch sonst durch das linke Politikspektrum von einst DKP über SEW, SED (mit Parteibuch als Wessi!), wiederum DKP, PDS bis erneut DKP.

Warum sich Autor und Verlag Peter Wolter als Herausgeber antun, läßt nur zwei Vermutungen zu: Entweder soll das Werk ein Flop werden, oder der Autor wendet sich dezidiert an alte Kameraden. Wer den Verleger Homilius kennt, schließt die erste Möglichkeit definitiv aus. Schließt das nicht aber auch eine öffentlichkeitswirksame Buchbesprechung aus? Zugegeben, diese Rezension muß nicht sein! Heinz Geyers ZEITZEICHEN mußte wirklich nicht sein.

Teja Bernardy

   

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