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Wolfgang Benz (Hrsg.)
Umgang mit Flüchtlingen
Ein humanitäres Problem. dtv, München 2006. 221 Seiten,
11,50 Euro
Rita Süssmuth
Migration und Integration
Testfall für Gesellschaft. dtv, München 2006. 239 Seiten,
14,– Euro
Reinhard Johler/Ansgar Thiel/Josef Schmid/Rainer Treptow
Europa und seine Fremden
Die Gestaltung kultureller Vielfalt als Herausforderung. transcript,
Bielefeld 2007. 217 Seiten, 21,90 Euro
OECD (Hrsg.)
From Migration to Integration
Local Solutions to a Global Challenge. OECD, Paris 2006.
332 Seiten, 50,– Euro
Ihsan Acer
Der Türke: das Original
dtv, München 2007. 110 Seiten, 7.90 Euro
Nicht nur Maria Böhmer, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung,
sondern selbst die Bundeskanzlerin Angela Merkel spricht mittlerweile
von der Notwendigkeit der Integration von Kindern mit Migrationshintergrund
(vgl. Süddeutsche Zeitung vom 17.10.2007). Dies nehmen wir
zum Anlass, auf einige Bücher aufmerksam zu machen.
Das erste Buch, herausgegeben von Wolfgang Benz, ist
eine Sammlung von Aufsätzen. Zehn namhafte Autoren - von Edzard
Reuter, Ex-Manager von Mercedes Benz, über Rita Süssmuth,
Ex-Bundestagspräsidentin, bis Rupert Neudeck, Mitgründer
und ehemaliger Leiter von Cap Anamur - versuchen mit elf Aufsätzen,
mehr Offenheit in die migrationspolitische Diskussion hineinzutragen.
Reuter beschreibt, wie die Türkei Flüchtlinge aus Deutschland
während der NS-Zeit offenherzig aufgenommen hat. Claudia Curio
schildert, wie unbegleitete Kinder aus Deutschland und besetzten
Gebieten 1938/39 nach Großbritannien (GB) transportiert wurden.
Fritz Kiefer schreibt über die erste Flüchtlingskonferenz
in Evian. Diese wurde von den USA und GB initiiert. An der Konferenz
nahmen 38 Nationen teil. Wolfgang Benz, der Historiker, gibt einen
Überblick über die 50-jährige Geschichte der Migration
in das Einwanderungsland Deutschland. Rita Süssmuth, die auch
den Vorsitz des Sachverständigenrats für Zuwanderung und
Integration inne hatte, schreibt über das Zuwanderungsgesetz
und über die Änderung des Asylrechts. Peter Widmann stellt
die deutsche Migrationspolitik am Beispiel der Vietnamesen dar.
An Beispielen von drei Ländern - Italien, Spanien und Australien
-wird verdeutlicht, wie unterschiedlich Industriestaaten mit Asylbewerbern
und Flüchtlingen umgehen. Zum Schluss lotet Rupert Neudeck
aus, welche Möglichkeiten und Grenzen es bei humanitären
Engagements gibt.
Rita Süssmuth war lange Zeit einsame Ruferin
von Vernunft in Sachen Migration innerhalb ihrer Partei CDU. Dass
sich die Einstellung der CDU mittlerweile gewandelt hat, ist vornehmlich
ihr Verdienst. ‘Für die Beziehung zwischen Zuwanderern
und Einheimischen sind Selbst- und Fremdbilder von entscheidender
Bedeutung. Sie bestimmen maßgeblich Akzeptanz oder Distanz,
Vertrauen oder Misstrauen,’ schreibt Rita Süssmuth und
fügt hinzu, „Diese Bilder sind nicht Abbild der Wirklichkeit,
sondern ein psychisches Konstrukt.“ Nach einer Analyse über
die Ursachen und Folgen der weltweiten Migration von 200 Millionen
Menschen fasst sie folgende Schwerpunkte für eine Integration
der Migranten in Deutschland zusammen: vorschulische Sprachförderung,
flexiblere Schuleingangsphase, Intensivierung der Elternarbeit,
Ausbau der Ganztagsschulen, verbindliche und systematische Verankerung
der interkulturellen Kompetenz in der Lehrerausbildung, Förderunterricht
für Schüler mit unzureichenden Deutschkenntnissen. An
den Forderungen kann man unschwer erkennen, dass Rita Süssmuth
eine Erziehungswissenschaftlerin ist. Diese Forderungen sind zwar
nicht neu, bekommen aber ein Gewicht, weil Frau Süssmuth sie
zusammenstellt.
In dem dritten Buch beschäftigen sich 18 Fachkräfte
aus Wissenschaft verschiedener Disziplinen und Praxis mit dem Verhältnis
von Europa zu seinen Fremden. Das Buch ist in drei Teile gegliedert.
Im ersten Teil geht es um die Auseinandersetzung mit Begriffen und
Konzepten wie Migration, Integration. Kulturelle Vielfalt (Ansgar
u.a), über das Paradigma kultureller Differenz und Perspektiven
interkulturellen Lernens. Der aktuelle Stand der Theoriediskussion
wird hier mit kritischer Reflexion gut zusammengefasst.
Migration und deren Folgen sind der Gegenstand des
zweiten Teils des Buches. Mit der Differenz als Herausforderung
für Europa beschäftigt sich Karin Amos. Karin Schittenhelm
berichtet über Ergebnisse einer Untersuchung, die sich mit
Bildungs- und Berufsbiographien von Akademikern mit Migrationshintergrund
auseinandersetzt. Ebenfalls über eine Erhebung über das
Verhältnis von Jugend und transnationaler Migration berichten
Sara Fürstenau und Heike Niedrig. Während sich der erste
Teil mit den Theorien auseinandersetzt, beschäftigt sich der
dritte Teil mit der Praxis, mit Kontroversen, mit der Reflexion
über Praxis und mit Forschungsergebnissen: Wie gestaltet sich
die Integration? Hier geht es um Sozialisationsinstanzen, vornehmlich
um Schulen - mit drei Beiträgen - und um Selbstorganisation
von Migrantinnen von Olga Zitzelsberger und Patricia Latorre Pallares.
Besonders hervorzuheben ist der Beitrag von Ingrid Gogolin, die
sich kritisch evaluierend mit dem Konzept des Programms zur Förderung
von Kindern und Jugendlichen mit Migrationshintergrund auseinandersetzt.
Gogolin such auch nach der Lehre aus dem internationalen Vergleich.
Gerade dafür ist das OECD-Buch hervorragend geeignet.
In diesem geht es darum aufzuzeigen, wie lokale Initiativen mit
einer ‘Policy mix’ an das Problem der Migration und
Integration mit Erfolg herangehen. Dafür werden Beispiele aus
fünf Ländern - Großbritannien (GB), Italien, Kanada,
Spanien und die Schweiz - verglichen. Verglichen werden nicht die
Länder miteinander, sondern Aktivitäten bestimmter Kommunen.
Dargestellt wird die erfolgreiche Praxis von Montréal, Toronto
und Winnipeg (Kanada), Trient, Turin und Mailand (Italien), London
(GB), Madrid, Barcelona und Lleida (Spanien), Genf, Zürich
und Neuchâtel(Schweiz). Aktivitäten und Initiativen gehen
sowohl von öffentlichen und privaten Institutionen als auch
von verschiedenen NGOs aus. Unter öffentlichen Institutionen
werden Regierungen und Verwaltungen der Kommunen und Regionen verstanden.
Private Institutionen schließen sowohl Unternehmen als auch
Non-Profit-Organisationen ein. Das Ziel der Studie ist, Bedingungen
herauszufinden, die eine Integration der Migranten besonders begünstigen.
Aus den Ergebnissen werden Empfehlungen abgeleitet. Einige der wichtigsten
Empfehlungen sind:
• eine Koordination von verschiedenen Initiativen
auf lokaler und regionaler Ebene,
• ein übergeordneter politischer Rahmen,
• Förderung und Anerkennung von Kompetenzen
und Qualifikationen der Migranten,
• rechtzeitige Intervention, um sicherzustellen,
dass die Migranten nicht allzu lange Zeit aus dem Arbeitsmarkt ausgeschlossen
bleiben.
Während sich die vier bislang besprochenen Bücher
für Bildungsarbeit und Hochschulseminare gut eignen, ist das
letzte Buch ein liebevoll humoristisches ‘Erklärungsmuster’
vom Verhalten ‘der Türken’. Allein der Titel ist
eine Provokation, eine Anspielung auf Vorurteile der Mehrheiten
dieser Gesellschaft. Ihsan Acar, selbst ein Migrant der zweiten
Generation, erklärt, warum der Türke gerne grillt, am
liebsten Auto fährt, als Unternehmer steinreich wird, zum Urlaub
in die Heimat reist. Er liefert zugleich auch Rezepte für ein
friedvolles Miteinander von Minderheiten und Mehrheiten. ‘Wir
Türken müssen den Deutschen entgegenkommen. Dann integrieren
sie sich auch.’ Ein Buch voller Überraschungen und ironischer
Verallgemeinerungen. Ein Buch zum Schmunzeln.
Asit Datta
***
Richard Dawkins
Der Gotteswahn
Ullstein Verlag, Berlin 2007. 575 Seiten, 22,90 Euro
Glücklicher Atheist
„Religion ist irrational, fortschrittsfeindlich
und zerstörerisch“ - so lautet eine der Grundthesen des
Evolutionsbiologen Richard Dawkins, der damit ein leidenschaftliches
Plädoyer für die Vernunft hält. Den Glauben an eine
übernatürliche Macht hält er nicht nur für überholt,
denn der liefert die Welt nur der Dominanz von Fundamentalisten
aus - ja, der Glaube an ein göttliches Wesen ist (in der Historie
wie auch verschiedentlich noch in der Gegenwart) vielfach die Ursache
von Terror, Zerstörung, Verfolgung und Inquisition. Und so
unternimmt es Dawkins, die Existenz eines persönlichen Gottes
anzuzweifeln - und damit die Existenzberechtigung von Religion.
Dawkins fragt, warum ein Märchenbuch wie die
Bibel zum Fundament eines weltumspannenden Glaubensfundamentalismus
werden konnte. Er stellt die Existenz eines Gottes mit den Mitteln
der Naturwissenschaft in Frage. In einem Interview (Okt. 2007) meinte
Dawkins, daß manche Menschen wohl einen Gott als Freund bräuchten
und als Erklärung für ihre Existenz. Aber: „An einen
Gott zu glauben, der Trost spendet, sagt nichts darüber aus,
ob er tatsächlich existiert.“ Und Dawkins stellt fest:
„Mein größtes Anliegen ist die Wahrheit. Ich will
wissen, ob es Gott gibt oder nicht. Diese Frage will ich mit meinen
Lesern erörtern.“ Er bezeichnet sich selbst als Agnostiker
(leugnet die rationale Erkenntnis des Göttlichen) - wobei er
als Wissenschaftler „sich nie hundertprozentig sicher sein“
dürfe. Dawkins liefert ein leidenschaftliches Plädoyer
für die Vernunft ab, indem er den Glauben an eine übernatürliche
Macht nicht nur ablehnt, sondern auch als gefährlich darstellt.
Grundsätzlich ist zu fragen, wann die Theologie
im Unterschied zur Wissenschaft jemals etwas von sich gegeben hätte,
das auch nur von allerkleinstem Nutzen gewesen wäre. Wie konnte
überhaupt jemand jemals auf die Idee kommen, daß Theologie
ein ernst zu nehmendes Studienfach sein könnte. Dawkins versichert
uns: Man kann als Atheist glücklich, ausgeglichen, moralisch
und geistig ausgefüllt sein.“ Und man möge mutig
bedenken, daß die Gotteshypothese wie jede andere Annahme
skeptisch zu analysieren ist. Dawkins verkündet: „Atheist
zu sein, ist nichts, wofür man sich entschuldigen müßte.
Im Gegenteil: Man kann stolz darauf sein (...), denn Atheismus ist
... ein Zeichen für eine gesunde geistige Unabhängigkeit.“
Jedenfalls lehnt Dawkins es auch ab, Religion oder sog. religiöse
Gefühle als etwas besonders Schützenswertes zu akzeptieren
- nicht mehr und nicht weniger, als dies im Rahmen der Meinungs-
und Pressefreiheit erforderlich ist. Nirgendwo sonst sind Menschen
so stur und unbeweglich wie in ihren religiösen Überzeugungen.
Aber mit welcher Berechtigung ernennen sie sich selbst (oder lassen
sich ernennen) zum Verfechter einer göttlichen Instanz, deren
moralische Autorität sie zu vertreten hätten? Dawkins
macht auf zwei grundsätzliche Argumentationsmuster bzw. Denkfehler
aufmerksam:
1) „Von der Voraussetzung, daß die Frage
nach der Existenz Gottes prinzipiell nicht zu beantworten ist, vollziehen
wir den Sprung zu der Schlußfolgerung, seine Existenz und
Nichtexistenz seien gleichermaßen wahrscheinlich“ -
also glauben soundso viele Menschen vorsichtshalber daran.
2) „Viele strenggläubige Menschen reden
so, als wäre es die Aufgabe der Skeptiker, überkommene
Dogmen zu widerlegen, und nicht die der Dogmatiker, sie zu beweisen.
Das ist natürlich ein Fehler.“ Und er verweist auf Bertrand
Russells köstliche Parabel von der himmlischen Teekanne, von
der man behaupten könne, sie kreise auf einer elliptischen
Bahn um die Sonne. Sie sei aber so klein, daß man ihre Existenz
nicht beweisen könne.
Also, liebe „Theisten“: Die „Beweislast“
liegt bei den „Gläubigen“, nicht bei den „Ungläubigen“!
Ohnehin ist es schwierig bis unmöglich, die Nichtexistenz von
etwas nicht Vorhandenem zu beweisen - andererseits ist es eine arrogante,
naive und lächerliche Zumutung, etwas Nichtbewiesenes als universelles
Axiom zu etablieren. Zum wissenschaftlichen Selbstverständnis
gehört es jedenfalls, Nichtwissen einzugestehen und Neues zu
erforschen.
Die fundamentale Frage muß gestellt werden:
Warum streiten wir Menschen uns eigentlich darum, ob es einen Gott
gibt oder nicht? Außerdem: welcher von all den Göttern
in den verschiedenen Kulturkreisen soll denn der Obergott sein?
Offensichtlich gibt es bei allerhand Menschen ein Bedürfnis
nach Religion - da wäre eben zu fragen: wieso eigentlich? Dient
Religion der Tröstung, hilft sie bei der Hordenbildung, ist
sie ein Akt bewußter Selbsttäuschung, ist sie Ausdruck
von Wunschdenken oder eines Sekurutätsprinzips?! Eine weitere
wichtige These von Dawkins lautet: „Wir brauchen Gott nicht,
um gut zu sein - oder böse.“ Ethik gab es schon vor der
Religion - und gibt es weiterhin auch unabhängig davon! Es
gibt eine Moral, „die ohne Überwachung funktioniert“
- ohne die notwendigkeit, sich bei einem Alphawesen einzuschleimen.
Dawkins gibt zu bedenken: „Glaube ist genau des halb bösartig,
weil er keine Rechtfertigung braucht und keine Diskussion duldet.“
Schlimm ist, „mit welcher Überheblichkeit religiöse
Menschen ohne jeden Beleg wissen, daß ihr Glaube der einzig
wahre Glaube ist.“
Nun möchte Dawkins mit seinem Buch alle Menschen
zum selbständigen Denken ermutigen - und er fordert alle insgeheimen
„Ungläubigen“ bzw. Atheisten auf, sich als solche
zu outen, damit in der Gesellschaft ein Gegengewicht entstehen kann
zur religiös verbrämten political correctness. Kritiker
an Dawkins’ Thesen bringen ein Argument an, der Mensch müsse
im Leben einen Zweck erkennen können, der über das Materielle
hinausgehe. Dazu muß man antworten: befreit euren Geist von
allen Beeinflussungen aus alten Schriften oder durch Institutionen,
die euch logistisch in eine Ewigkeit einsortieren! Seid human, indem
ihr euch gegenseitig Freude bereitet! Dawkins’ Buch ist wirklich
ein Jungbrunnen für den Geist. Dawkins ist ein ganz lieber
Zeitgenosse, er schreibt eingängig und humorvoll, er beflügelt
und stimmt froh - man fühlt den Horizont erleuchtet und die
Fenster weit geöffnet. Und wenn sich seine Kritiker an einigen
seiner Beispiele stören, so ändern gut oder schlecht recherchierte
Beispiele nichts daran, daß wir mit gutem Gewissen Religion
für überflüssig erklären können.
Karlyce Schrybyr
***
Heinz Geyer
Zeitzeichen
40 Jahre in Spionageabwehr und Aufklärung. Zeitzeugenbericht.
Herausgeber: Peter Wolter. Kai Homilius Verlag (Edition Zeitgeschichte,
Band 8), Berlin 2007. 160 Seiten (Hardcover mit Schutzumschlag),
12,80 Euro
Verkenne dich selbst – Rechtfertigung
von Links – oder: Im Osten nichts Neues
Das letzte Wort ist noch nicht gesprochen, dieses
Markus -Mischa - Wolf zugeschriebene Wort stellt Generalmajor a.D.
Heinz Geyer, letzter Stabschef der Hauptverwaltung Aufklärung
im Ministerium für Staatssicherheit der Deutschen Demokratischen
Republik selig, seinen Erinnerungen voran. Ungeklärt bleibt,
ob so auch Das letzte Wort geschrieben sein muß, bleibt es
doch zuviel Antwort schuldig.
Ein Rezensent ohne DDR-Vergangenheit, durchaus kritisch
gegenüber seinem Freistaat, für gewisse Zeit freiwilliges
Mitglied dessen sogenannter Verteidigungsorganisation Bundeswehr,
welche Freiheit zur Zeit so erfolgreich wehrhaft sogar in Afghanistan
verteidigt, solch Kritikaster nimmt verklärte Erinnerungen
eines älteren Herrn gleich einem Magenbitter zur Brust, lauert
auf die beruhigende Wirkung der als Digestif verabreichten Essenz.
Und doch, mit der Faust in der Tasche behält er Bauchgrimmen
nicht nur über unverdauliche Gegenwart, nein, auch über
hier ausgebreitete Vergangenheit, über lineare Fortsetzung
von Mein Kampf zu allenthalben Krampf hüben und drüben.
Heinz Geyer, letzter auch Stellvertreter des Leiters
der Hauptverwaltung Aufklärung Markus Wolf, erzählt aus
seinem Leben als geheimdienstliches Trüffelschwein Ost, vermarktet
als „endlich“ Brechen eines selbst auferlegten Schweigens
achtzehn Jahre nach Untergang des sinnstiftenden Auftraggebers,
achtzehn Jahre nach Untergang „seines“ Staates DDR.
Dabei war das unendliche Schweigen durchaus endlich, trug der Erzähler
doch 2006 anläßlich des Todes von Markus Wolf jene DDR-Sansibar-Kooperation
laut und deutlich in die Öffentlichkeit. Darüber hinaus
muß die Frage lauten, was hat Heinz Geyer zu erzählen,
was der auch literarisch verdienstvolle Mischa Wolf nicht längst
erzählt hat?
Das Leben und vierzig Jahre Dienstzeit, zuletzt in
der DDR-Hauptverwaltung Aufklärung, breitet Heinz Geyer auf
knapp 144 Textseiten aus, denen ein Fragenkatalog und Kurzinterview
mit dem Herausgeber Peter Wolter, nicht vergangenheitsloser Redakteur
junge Welt, anhängen. Markus Wolf, der Chef, bemüht quasi
eine Trilogie mit Spionagechef im geheimen Krieg, Die Troika, Freunde
sterben nicht. Er läßt nach seinem Rücktritt literarisch
und nach Fakten seinem Stellvertreter Geyer kaum Raum für Unbekanntes,
haben doch Aufklärung West samt jetzt Birtheler-Behörde
benamtem Gaus-Amt die Lücken kenntnisreich längst gefüllt.
Und dann noch alle Wolf- und Geyer-Kollegen.
Aufklärung, ein so oder so verteufelt Ding, hat
vierzig Lebensjahre des Heinz Geyer bestimmt. Die eine ist bis heute
nicht bei ihm angekommen, die andere zur Petitesse geronnene Realität
eines am Siechtum so oder so mangelnder Aufklärung dahingegangenen
Staatsregimes, was ja noch nicht heißen muß, die Konkurrenz
habe besseres oder auch nur anderes geleistet, gar zu bieten.
Doch der Reihe nach: Als ein in das NS-Unrechtssystem
1929 Hineingeborener nur halber Gnade zu später Geburt beruft
sich der Autor auf Nationalsozialisten zuzuordnendes Unrecht, als
beträfe dieses nicht zuerst die Nation, als sei dieses Unrecht
nicht allen Deutschen zueigen. Die geographische Ostnähe des
Geburtsortes und eine von anderen zu Unrecht Vertreibung genannte
kürzere Um- oder Aussiedlungswanderung verhilft zum Verharren
in der sowjetisch besetzten Deutschlandzone, aus der einmal die
DDR hervorgehen sollte. Ohne Gesinnungsprobe nationalsozialistischer
Couleur über Deutsches Jungvolk und Hitlerjugend hinaus, gestattete
dem frisch freigesprochenen Friseurgesellen sein Dazugehörenwollen
für einen Neuanfang in der lokalen Beschränkung auf das
nähere Lebensumfeld ahnungsloses und kritikloses Eingehen auf
die neue, die andere Ideologie. Der allgemein und auch dialektisch
Ungeschulte entdeckt für sich eine reizvolle andere Gedankenwelt,
die ihrerseits den Unfertigen für sich vollständig vereinnahmt.
Eine Chance für beide, von welcher der Eleve zu dem Zeitpunkt
nicht einmal ahnen kann, wohin sie ihn führen wird.
Von der Pflichterfüllung im Auftrag der einen
Gesinnung befreit, folgt Heinz Geyer der Pflichterfüllung an
der anderen Gesinnung, zufällig eine Gesinnung Ost, welche,
wäre der Protagonist bis in den Westen gelangt, ebenso eine
Gesinnung West hätte sein können, jeweils Kennzeichen
deutscher Gesinnung allgemein nach der Niederlage 1945. Damit unterscheidet
er sich weder von den Pflichterfüllern des Dritten Reiches,
noch von denen der alten oder neuen Bundesrepublik. Deutsche Tugend.
Sachlich nüchtern, fast im Stile einer summarischen
Zusammenfassung als Vorlage für einen ministeriellen Bericht,
spult Geyer seinen Werdegang vom Friseurgesellen zum Generalmajor
in der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR ab, legt auch seine
Familienbande offen. Im freimütigen Bekenntnis zum untergegangenen
System schildert er die Innenansicht eines mit Staatssicherheit
Beauftragten, der das System seines Staates verinnerlicht hat, ihm
mit Leidenschaft dient. Bei aller besonders im Westen unausweichlichen
Kritik an solchem Dienen, dem sich kein Wessi für seinen Wessi-Staat
je entzogen hat, dieser Dienst war für Heinz Geyer nicht nur
Aufgabe, nicht nur Pflicht, sondern sein ganz persönliches
und gutes Recht, zudem das gute Recht eines souveränen, völkerrechtlich
anerkannten Staates, auch wenn der anderen noch so sehr mißfallen
hat.
Sorgfältig hangelt der Autor sich an den Daten
der DDR-Geschichte und den Denkwürdigkeiten des Kalten Krieges
entlang, läßt die Unruhen vom 17. Juni 1953 nicht aus,
nicht den Ungarn-Aufstand 1956, nicht den Mauerbau vom 13. August
1961, auch nicht den Einmarsch in die CSSR im August 1968 und die
ganz persönliche „Bruderhilfe“ des Heinz Geyer
vor Ort, oder die „Aufklärung“ im Polen der 80er
Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Selbst Ab- und Untergang der
DDR läßt Heinz Geyer von innen miterleben. Nebenbei jubelt
er seine Sansibar-Abenteuer unter und einen Kubabesuch der 70er
Jahre. Nur die Kubakrise vom Oktober 1962 scheint entweder für
seinen Staat DDR oder für dessen Geheimdienste nicht stattgefunden
zu haben.
Im Anschluß an die chronologische Entwicklung
und der in ihr enthaltenen Laufbahn eines stetigen Aufstieges erfährt
der Fortgang der Erzählung einen Bruch, verrät der Autor
einige der James-Bond-Geheimnisse eher banaler Struktur und erinnert
sich dankbarlich aller ihm widerfahrenen Wohltaten bis hin zur Aufnahme
in Mielkes Jagdgesellschaft, läßt die Schilderung erneut
kippen, fällt in ein Lamento über den Untergang seines
geliebten Staates samt der staatstragenden Idee Kommunismus, um
sich dann in einem Epilog seiner Abrechnung mit den neuen Machthabern
BRD zuzuwenden.
Die Antworten auf spezifische Herausgeberfragen bis
in eine moralische Rechtfertigung für Spionage werden verfolgt
vom Interview mit eben dem Peter Wolter zur Person Markus Wolf,
das über Altbekanntes und Binsenweisheit nicht hinaus kommt.
Der Leser klappt am Ende verblüfft das Buch zu,
fragt, was soll’s? Nun, zunächst ein nicht zu unrecht
stolzer Lebensbericht eines sehr schlichten, sehr aufrichtigen Mannes.
Dann ein Rechtfertigungsversuch, mit dem alle Schlapphüte aller
Welt weltweit scheitern, zumindest außerhalb der Grenzen des
Landes, das ihnen per Gesetz der Demokratien, Diktaturen oder sonstiger
Regime innerhalb ihres Landes Straffreiheit verspricht, weil sie
mit eigenen nationalen Gesetzen zu ihrem Tun beauftragt werden.
Ihr Handeln und das ihrer Mitarbeiter außerhalb der nationalen
Grenzen ist illegal, aus Sicht der betroffenen Staaten Verrat, strafbar!
Daneben gibt es noch eine grundsätzlich ethische und persönliche
Moral, die, Gesetz hin oder her, Spionage grundsätzlich als
unmoralisch verwerfen müßte, auch wenn sie hier verschämt
Aufklärung heißt, obwohl sie nicht wenig zur Verwirrung
beigetragen hat.
Interessant ist, der Autor berichtet von allerhand
Befindlichkeit, jedoch nie von seiner ethischen Ausgangslage und
moralischen Empfindsamkeit. Einzig die Friedensarbeit im Sinne einer
marxistischen(?) kommunistischen Weltanschauung spezifischer DDR-Facon
ist Handlungs- und persönliche Rechtfertigungsgrundlage zugleich.
Die Deformation geht so weit, die illegale Benutzung von Botschaften,
Konsulaten und sonstigen Auslandsvertretungen als Geheimdienstzentren
in operativer Terminologie schlicht als legal zu deklarieren, den
Mißbrauch des Diplomatenstatus, die Verletzung des Völkerrechts
zu legalisieren. Letztlich heiligt wieder einmal mehr der Zweck
die Mittel. Weil doch der Zweck stets ein guter war, kann nicht
sein, was nicht sein darf: Aus dem Ministerium für Sicherheit
heraus, besonders aus der Hauptverwaltung Aufklärung heraus
wurde nie Unrecht begangen. Alles andere ist für Heinz Geyer
Verleumdung.
Zugegeben, hätte die DDR gewonnen, säßen
jetzt BND, MAD und alle westlichen Westentaschenbonds auf Anklagebänken
und zwischen sonstigen Stühlen und auch finanziell auf dem
Trockenen. Ein hüben wie drüben unerträglicher, im
Grunde auch rechtlich unhaltbarer Zustand, den schon Martin Walser
in seiner aus anderem Grunde berühmt berüchtigten Paulskirchen-Rede
vom 11. Oktober 1998 anprangerte. Zugegeben auch, die Stasi-Manie
und die inzwischen umfirmierte Gaus-Behörde, der Größte
Anzunehmende Un-Sinn behördlichen Umgangs mit Akten zur Bedienung
einer Propaganda noch achtzehn Jahre nach dem unrühmlichen
Ende ist unerträglich, selbst für Wessis.
Heute aber im treuesten Propagandajargon die untergegangen
Weisheiten des eigenen Feindblockes wiederzukäuen, nur um den
anderen Feindblock zu denunzieren, das auch vom eigenen Apparat
begangene Unrecht und die eigenen Destabilisierungsversuche des
Gegners zu unterschlagen, ist ebenso unerträglich. Und es soll
keineswegs verschwiegen sein, die westlichen Werte hatten und haben
eine ganze Litanei von Schweinereien drauf, von denen die Stasi
nicht einmal träumen durfte.
Heinz Geyer, Generalmajor a.D., liefert unfreiwillig
gleich einem Schwejk die Vorlage des Funktionierens einer von ihrem
Auftrag durchdrungenen Person, wie sie alle Armeen zu allen Zeiten
hervorgebracht haben, dringend benötigen. Nur mit solchem Kader
sind Kriege zu führen, die heißen wie die kalten! Ob
sie auch zu gewinnen sind? Dazu braucht es mehr als nur einen Markus
Wolf! Tragisch für solche Menschen ist, für den Frieden
sind sie verzichtbar. Seit Aufklärung ist das Standardwissen.
Nachvollziehbar ist die Verbitterung eines Mannes,
der seinen Lebenstraum gescheitert sieht. Nachvollziehbar ist seine
Empörung über das, was den Platz seines geplatzten Traumes
eingenommen hat. Nicht nachvollziehbar ist seine unkritische Reflektion
des Systems, dem er gedient hat. Einem 78 jährigen Rentner
sei der Traum einer Auferstehung des Kommunismus gegönnt, besteht
doch kaum Gefahr, er werde das erleben, ganz besonders nicht die
Auferstehung eines DDR-Kommunismus.
Wäre es das schon, sollte es das auch gewesen
sein! Statt dessen beschert das Werk einen Herausgeber Peter Wolter,
ein westdeutsches Gewächs, das nach vier Jahren freiwilligem
Militärdienst in der Bundesmarine während seines Studiums
von der Hauptverwaltung Aufklärung der DDR angeworben wurde
und bereitwillig 17 Jahre bis zu seiner Enttarnung für dieselbe
Kundschafter im Westen war, wofür er, und das ist ein durchaus
humaner Zug des Systems BRD, lediglich zu einer Freiheitsstrafe
von zwei Jahren auf Bewährung verurteilt worden ist. Der publizistisch
umtriebige Ressortleiter Innenpolitik der junge Welt geistert auch
sonst durch das linke Politikspektrum von einst DKP über SEW,
SED (mit Parteibuch als Wessi!), wiederum DKP, PDS bis erneut DKP.
Warum sich Autor und Verlag Peter Wolter als Herausgeber
antun, läßt nur zwei Vermutungen zu: Entweder soll das
Werk ein Flop werden, oder der Autor wendet sich dezidiert an alte
Kameraden. Wer den Verleger Homilius kennt, schließt die erste
Möglichkeit definitiv aus. Schließt das nicht aber auch
eine öffentlichkeitswirksame Buchbesprechung aus? Zugegeben,
diese Rezension muß nicht sein! Heinz Geyers ZEITZEICHEN mußte
wirklich nicht sein.
Teja Bernardy
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