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Im Kampf um die Nominierung durch ihre Partei für die Präsidentschaftswahl
2008 standen sich auf Seite der Republikaner zwei Kandidaten gegenüber,
die ihren religiösen Glauben zum dominierenden Thema ihrer
Debatten gemacht hatten, sich über ihn definierten und ihn
zum Gradmesser ihrer Wählbarkeit machten wollten. Mike Huckebee,
charismatischer Babtistenpfarrer und ehemaliger Gouverneur von Arkansas,
und Mitt Romney, Mormone und ehemaliger Gouverneur von Massachussetts,
versuchten sich gegenseitig zu überbieten in der Intensität
ihres persönlichen Verhältnisses zu Jesus. Romney, in
der Anstrengung die Amerikaner davon zu überzeugen, dass die
Kirche der Mormonen nicht ein Kult ist, wie viele evangelikale Christen
glauben, knüpfte in einer Fernsehrede an John F. Kennedys Rede
an, in der dieser die Amerikaner davon zu überzeugen suchte,
dass sein Katholizismus keinen Einfluss auf seine Politik ausüben
würde und somit kein Grund sei, ihn nicht zu wählen. Romney
bekannte: „Ich glaube, dass Jesus Christus der Sohn Gottes
und der Retter der Menschheit ist.“ Er gab zu, dass die USA
auf die Idee religiöser Toleranz gegründet sind, schränkte
aber ein, dass jene, die glauben, Religion spiele keine Rolle im
öffentlichen Leben, Unrecht haben. „Freiheit erfordert
Religion, wie Religion Freiheit erfordert.“ Er wies auf die
eindrucksvollen Kathedralen Europas hin, die heute leer ständen,
und lehnte die europäische „Religion des Säkularismus“,
Agnostizismus und Atheismus ab.
Einer der gravierendsten Unterschiede zwischen Europa
und Amerika besteht darin, dass die von der Aufklärung eingeleitete
antiklerikale Tradition Europas, die in der Religion ein Feind von
Freiheit und Fortschritt sah, in Amerika nie Fuß gefasst hat.
Hier ist es der calvinistischen Ethik gelungen, sich von Anfang
an mit religiöser Freiheit, Wissenschaft und materiellem Fortschritt
zu verbünden. Wahrend die Autoren der Verfassung auch keine
leidenschaftlichen Christen waren, sondern eher Deisten, und sich
bemühten, die Verfassung religionsneutral zu formulieren, blieb
Religion immer ein bestimmender Faktor im amerikanischen Selbstverständnis,
wenn auch die Trennung von Staat und Kirche eine Richtlinie war,
die bis in die letzten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts generell
akzeptiert war. Waren für Kennedy die von der Verfassung postulierte
Trennung von Staat und Kirche eine Selbstverständlichkeit,
bedeuten Huckebees und Romneys Aussagen die offene Absage an diesen
Grundsatz. Aber nicht nur die republikanischen Kandidaten setzten
ihre christliche Gesinnung im Wahlkampf ein, auch die demokratischen
bemühten sich - wenn auch etwas dezenter - der Öffentlichkeit
von sich das Bild eines guten Christen zu vermitteln. So setzte
sich z.B. Barak Obama für einen Werbespot mit Frau und Kindern
unter einen Weihnachtsbaum, wünschte Frohe Weihnachten und
hoffte damit wohl auch, alle Spekulationen beendet zu haben, die
ihn wegen seines Mittelnamens „Hussein“ als heimlichen
Muslim verdächtigten.
Dies ist die Fortsetzung einer Tendenz, die George
W. Bush eingeleitet hat mit seinen Andeutungen einer göttlichen
Führung in seinen politischen Entscheidungen, etwa die Entscheidung
für den Irak-Krieg, bei der er nicht seinen leiblichen Vater
konsultierten musste, weil er sich Rat bei seinem „höheren
Vater“ holte.
Bezeichnend auch die Interpretation, die zwei der
einflussreichsten Wortführer der christlich-fundamentalistischen
Bewegung, Jerry Falwell und Pat Robertson, der Zerstörung des
World Trade Centers am 9. November 2001 zwei Tage nach dem Ereignis
gaben. Im Fernsehen deklarierten sie die terroristische Attacke
als göttliche Strafe für Amerikas moralische Verderbtheit.
Heiden, Abtreibungsbefürworter, Feministen, Homosexuelle und
alle Kräfte, die „versucht haben Amerika zu säkularisieren“,
hätten zu dieser Attacke beigetragen. Später relativierten
sie diese Behauptungen, auf laute Proteste hin, die es immerhin
gab. Dennoch haben sie eine Ansicht ausgesprochen, vor der sie annehmen
durften, dass viele sie in dieser oder etwas moderaterer Form teilen.
Bush, Huckebee, Romney - drei Politiker mit unverhohlen
religiösem Eifer, in dieser Hinsicht aber auch gleichzeitig
Repräsentanten eines sich verstärkenden kollektiven Bewusstseins.
Immerhin glauben 91 Prozent der Amerikaner an Gott und 82 Prozent
bezeichnen sich als Christen, aber vor allem die lautstarken und
einflussreichen fundamentalistischen Evangelikalen ignorieren Artikel
VI der Verfassung, der einen „religiösen Test“
für Bewerber eines öffentlichen Amts verbietet, und verlangen
offen, dass politische Kandidaten sich zu ihrem religiösen
Glauben bekennen. Ob es den Fundamentalisten gelingt, den Wahlausgang
entscheidend zu beeinflussen oder ob sich jene Kräfte durchsetzen,
die auch heute noch für die von der Verfassung postulierte
Trennung von Staat und Kirche eintreten, ist die Frage, deren Beantwortung
die künftige Entwicklung der USA mitbestimmen wird.
Wer sind diese Fundamentalisten, wofür stehen
sie? Angewendet auf den Islam wird der Begriff gern als Synonym
für Fanatiker, Radikale, Terroristen gebraucht. Sicherlich
ist auch der christliche Fundamentalismus nicht frei von Fanatismus
und Radikalismus. Doch trägt er wie jeder Fundamentalismus
durchaus das Potential zum Terrorismus in sich, insbesondere dann,
wenn er antidemokratische Tendenzen einleitet mit dem Ziel, eine
theokratische Gesellschaft auf Basis der biblischen Gesetze zu etablieren.
Der christliche Fundamentalismus ist die mächtigste
religiöse, politische und kulturelle Bewegung im Amerika der
letzten Jahrzehnte. Die Bezeichnung ‘Fundamentalismus’
leitet sich her aus einer Schriftenreihe (The Fundamentals: A Testamony
to the Truth), die zwischen 1910 und 1915 von konservativen protestantischen
Theologen veröffentlicht wurde als kompromisslose Ablehnung
jeglicher Art von historischer Bibelkritik. Ihre Doktrin postuliert
fünf Glaubenssätze, an denen unverrückbar festzuhalten
sei:
1. die wörtliche Unfehlbarkeit der Bibel;
2. die Jungfrauengeburt und Göttlichkeit Jesu;
3. sein Sühneopfer und die Errettung des Menschen
durch den Glauben und die Gnade Gottes;
4. die körperliche Auferstehung Jesu;
5. die Authentizität der Wunder Jesu und seine
bevorstehende Wiederkehr anlässlich seiner tausendjährigen
Regierung auf Erden.
Der Begriff ‘Fundamentalismus’ vereinigt
unterschiedliche evangelikale Gruppierungen, von denen sich jedoch
zwei Hauptgruppen in einer Hinsicht prinzipiell unterscheiden: die
„Pre-Millenialists“ und die „Post-Millenialists.“
Die meisten Evangelikalen bekennen sich als Pre-Millenialisten,
d.h. sie sind Christen, die glauben, dass sich diese Welt nicht
vor Jesu zweiter Wiederkehr reformieren lässt. Tim LaHaye,
dessen „Left Behind“ Bücher sich millionenfach
verkaufen, gehört zu ihnen. Erst nach Jesu Wiederkehr wird
eine tausendjährige Regierungszeit von Jesus und den Christen
anbrechen. Aus diesem Glauben ergibt sich der Drang zum persönlichen
Jesuserlebnis, der den Menschen „wiedergeboren“ sein
lässt, jedoch eine passivere Haltung im Hinblick auf politisches
Engagement zur Folge hat. Anders die Post- Millienalisten, die der
Überzeugung sind, dass das Reich Gottes heute und hier geschaffen
werden müsse, weil Jesus erst dann zurückkehre, wenn die
Welt wahrhaft christlich geworden sei. Ihre Eschatologie verlangt
von den Gläubigen das aktive politische Engagement, da politische
Aktionen nötig sind, um die säkulare Gesellschaft in eine
christliche zu transformieren. ‘Reconstructionism’ ist
die Theologie der Post-Millenialisten. Einer 1982 gegründete
Dachorganisation, der „Coalition on Revival“ (COR) ist
es gelungen durch Ausarbeitung einiger theologischer Kompromisse
die unterschiedlichen Gruppen zu vereinen, wobei aber eine rekonstruktionistische
Tendenz dominierend blieb.
Was alle Evangelikalen eint, ist die Einhaltung der
fünf Glaubenssätze, ihr jauchzendes Halleluja, das Reden
in Zungen, das Zeugnisablegen und die Berichte von wunderbaren Heilungen
durch die Kraft des Gebets. Religiöse Innerlichkeit und Gottesfurcht
sind kein neues Phänomen. Ihr Strom durchzieht die amerikanische
Geschichte seit die puritanischen Pilgerväter in der neuen
Welt landeten, um in der Wildnis die „Stadt Gottes“
zu bauen, die „City upon the Hill“, von der John Winthrop,
der erste Gouverneur vom kolonialen Massachussetts, als erster sprach.
Religiös motiviertes Streben nach politischer Einflussnahme
auf die Gestaltung der Gesellschaft ist eine Konstante in der Geschichte
des Landes. Immer wieder gab es Perioden, in denen religiöse
Leidenschaft die Massen der Menschen erfasste. Besonders bekannt
ist die Erweckungsbewegung (‘Great Awakening’), in der
Jonathan Edwards 1734 zahllose Menschen mit seinen Predigten vom
Höllenfeuer in panische Angst trieb, so dass sie sich hysterisch
zitternd und schreiend auf der Stelle bekehrten, um dem Zorn Gottes
zu entgehen. Die heutigen, oft exaltiert anmutenden Formen religiöser
Ergriffenheit der Evangelikalen und Charismatikern, haben ihre Wurzeln
in dieser Erweckungsbewegung des frühen 18. Jahrhunderts.
Die radikalste Version des Fundamentalismus ist der
sogenannte ‘Reconstructionism’, der sich die Wiederherstellung
Amerikas als christliche Nation zum Ziel gesetzt hat. Vor allem
bei seinen Kritikern ist er auch bekannt unter dem Namen ‘Dominionism’,
von seinen Anhängern aber lieber als ‘Theonomy’
bezeichnet. Der Unterschied zwischen diesen Begriffen ist vorwiegend
rhetorisch und reflektiert mehr die Perspektive, aus der heraus
sie gebraucht werden. Auch der Begriff ‘Theokratie’,
verstanden als Herrschaft Gottes durch seine Priester, wird eher
von den Gegnern angewandt, wahrend die Anhänger den Begriff
‘Theonomie’ bevorzugen, verstanden als Herrschaft von
Gottes ‘Gesetz’. Während in der ‘Theokratie’
die Trennung von Staat und Kirche völlig aufgehoben ist, ist
die ‘Theonomie’ durchaus bestrebt, eine Unterscheidung
zu treffen zwischen den Einflusssphären von Familie, Kirche
und Staat. So ist die Fest- und Durchsetzung moralischer Sanktionen
ausschließlich Sache von Familie und Kirche, während
die Autorität des Staates auf Verfolgung von Kriminalität
und nationale Verteidigung beschränkt ist.
Die Bedeutung dieser Bewegung liegt nicht in der Zahl
von Anhängern, sondern in der Kraft ihrer Ideen, die schnell
Akzeptanz in den meisten christlich-füdamentalistischen Kirchen
gefunden haben, ohne dass diese sich immer selbst bewusst sind,
rekonstruktionistische Ideen zu vertreten. Der Grund dafür
liegt darin, dass man unter bewussten Rekonstruktionisten erkannt
hat, in welch hohem Maß ihre Lehre kontrovers ist und man
daher gern auf die klare Bezeichnung verzichtet. Kennt man die Forderungen
des Rekonstruktionismus, dann erscheinen sie einem so abwegig, dass
schwer vorstellbar ist, dass sie Anhänger finden könnten.
Dennoch sind sie zur intellektuellen Basis für das Denken und
den politischen Aktivismus der religiösen Rechten geworden.
Vor allem spielen sie eine Rolle in Massenorganisationen wie die
von dem Baptistenprediger Jerry Falwell 1979 gegründete ‘Moral
Majority’, die Reagan zum Sieg verhalf. Das gleiche gilt für
die von Pat Robertson gegründete ‘Christian Coalition’,
die sich im Internet selbst definiert als „Amerika’s
führende ‘Grassroots’- Organisation, die unser
frommes Erbe verteidigt und darauf hinarbeitet, christliche Werte
in der Regierung auf lokaler, staatlicher und nationaler Ebene zu
fördern.“ Es trifft: auch zu auf das kürzlich wegen
des Todes seines Gründers James Kennedy aufgelöste ‘Center
for Reclaiming America’ und James Dobsons ‘Focus on
the Family’. Bei allen handelt es sich um Organisationen,
die ihre Hauptaufgabe darin sehen, Amerika als christliche Nation
zu rekonstruieren, indem sie sich bemühen, fundamentalistische
Christen in führende politische Positionen zu bringen. Auch
wenn nicht alle Führer der fundamentalistischen Bewegung sich
als offene Anhänger des Rekonstruktionismus bekennen und auch
teilweise ihre Differenzen mit ihm haben, machen sie doch gemeinsame
Sache mit ihren Führern in Organisationen wie die ‘National
Coalition for RevivaT und dem ‘Family Research Council’,
so dass der Rekonstruktionismus als solcher in der Öffentlichkeit
nicht in Erscheinung treten muss.
Die Wurzeln des christlichen Rekonstruktionismus gehen
über den Puritanismus zurück bis auf die Lehren Johann
Calvins. Im 19. Jahrhundert wurden sie zur Zeit des Bürgerkriegs
wiederbelebt durch Bestrebungen protestantischer Pfarrer, die in
dem Krieg die Strafe Gottes sahen für Amerikas religiöse
Indifferenz, wie sie durch die säkulare Verfassung zum Ausdruck
kommt, deren „atheistischer Irrtum“ darin bestände,
Gott nicht zu erwähnen und Politik von Religion zu trennen.
Unter Führung des Theologen Horace Bushnell stimmten sie ein
in den Ruf nach Korrektur der Verfassung. 1863 wurde die ‘National
Association forme Amendment ofthe Constitution’ gegründet,
die sich kurz darauf verkürzt ‘National Reform Association’
(NRA) nannte. Ihr Anliegen: ein Zusatz zur Verfassung, der „die
Herrschaft Jesu Christi und das Supremat des göttlichen Gesetzes“
anerkennt. Delegierte unterbreiteten Präsident Lincoln ihren
Vorschlag. Dieser äußerte Sympathie für ihre Überzeugungen,
meinte aber, eine Verfassungserweiterung sollte nicht vorschnell
vorgenommen werden, und er brauche noch Zeit zur Überlegung.
Vierzehn Monate später wurde er ermordet, ohne dass er vorher
irgendetwas in dieser Sache gesagt oder getan hatte. In den folgenden
Jahrzehnten gab es mehrere Versuche, der Verfassung ein Bekenntnis
zum christlichen Gott beizufügen, die jedoch alle abgewehrt
wurden mit der Begründung, dass dann die Angehörigen anderer
Religionen von der Verfassung ausgeschlossen würden. 1947 und
1954 nahm die ‘National Association of Evangelicals’
das Anliegen der NRA auf, aber auch diese Kampagnen waren nicht
erfolgreich. Seitdem ist die Strategie der Evangelikalen, die Nichterwähnung
Gottes in der Verfassung umzufunktionieren, indem sie den ersten
Satz des Artikel I der ‘Bill ofRights’ („Der Kongress
darf kein Gesetz erlassen bezüglich der Etablierung einer Religion,
oder der freien Ausübung einer solchen.“) auf ihre Weise
deuten. Dieser Satz, so James Kennedy in seinem Buch Reclaiming
the Lost Legacy (2001). sei eine „Einbahnstraße“,
die dem Schutz der Kirche diene, insofern sie die Rechte und Einflussmöglichkeiten
der Regierung beschneide, jedoch nicht die der Kirche. Dagegen sei
Jeffersons Formulierung von der „Trennungsmauer“ zwischen
Staat und Kirche eine „Zweibahnstraße“, die beide
Seiten in ihren Rechten beschneide. Obwohl nur aus einem inoffiziellen
Brief stammend, habe sich diese Auffassung unglücklicherweise
in den letzten Jahrzehnten im öffentlichen Bewusstsein durchgesetzt.
Die Folge sei, dass der Staat seitdem Gesetze erließe, die
gegen religiöse Glaubenssätze verstießen (wie z.B.
die Legalisierung von Abtreibung und Homosexuellenehe) und die dominierenden
säkularen Kräfte die freie Religionsausübung in der
Öffentlichkeit verhinderten (wie z.B. das Gebet in öffentlichen
Schulen). Rousas John Rushdony behauptet in seinem Buch The Nature
ofthe American System (1963) : „Die Verfassung wurde entworfen,
um eine christliche Ordnung zu verewigen.“ Das Fehlen einer
Erwähnung des Christentums entschuldigt auch er mit der Standardbegründung,
sie solle Religion vor dem Eingriff der Regierung schützen.
Dies ist Ausdruck der revisionistischen Haltung gegenüber der
amerikanischen Geschichte, die bezeichnend ist für die gesamte
rekonstruktionistische Bewegung.
Viele Mietglieder der National Reform Association
sind Nachfolger von Rousas John Rushdony (1916-2001), einem in New
York geborenen Sohn armenischer Immigranten. Nach pädagogischem
und theologischem Studium wurde er presbyterianischer Pastor und
arbeitete einige Jahre als Missionar in einer Indianer-Reservation
in Nevada. Sein erstes Buch By What Standard? erschien 1959. In
ihm plädierte er für ein calvinistisches Gedankensystem
und behandelte die Grundlagen von Religion und Prädestination,
wobei er sich auf die Ideen von Cornelius van Til (1895-1987) bezog,
der, zwar in Holland geboren, aber ebenfalls als Kind nach Amerika
kam und sich zu einem Philosophen in der Nachfolge Calvins entwickelte
und damit die philosophische Grundlage für den Rekonstruktionismus
legte, ohne jedoch dessen späteren politischen Aktivismus zu
fordern. Sowohl für van Til als auch für Rushdony ist
die grundsätzliche Voraussetzung ihres Denkens die Annahme,
dass die Bibel das unverfälschte Wort Gottes ist. Von dieser
Basis ausgehend kritisierte Rushdony in seinen weiteren Schriften
die Aspekte des „säkularen Humanismus,“ attackierte
progressive Reformpädagogen, wie z.B. John Dewey, und plädierte
gegen den Einfluss des Staats auf die Erziehung. In den sechziger
Jahren wurde er zum Wortführer in der „Homeschooling“-Bewegung,
die sich die Förderung der Erziehung und Ausbildung der Kinder
in den heimischen Wänden zum Ziel gesetzt hat, was in Deutschland
illegal ist, aber vor allem in englischsprachigen Ländern legal
praktiziert wird. Meist sind es religiöse Gründe, die
Eltern bewegen, die Erziehung ihrer Kinder nicht einem säkularen
Staat zu überlassen.
In seinem dreibändigen Hauptwerk The Institutes
of Biblical Law (1973) fordert er, dass in der modernen Gesellschaft
die Konzeption der Theonomie realisiert werden müsse, d.h.
dass das alttestamentarische Gesetz, das von Gott gegebene Gesetz,
angewendet werden solle. Er ging soweit, die Wiedereinsetzung des
mosaischen Strafen-Kodex zu befürworten. Nach dieser Rechtsprechung
würden mit dem Tod bestraft u.a.: Homosexualität, Inzest,
Ehebruch, weibliche Unkeuschheit vor der Ehe, Sodomie, Zauberei,
Götzendienst, Gotteslästerung, falsche Prophezeiung, falsche
Zeugenaussage vor Gericht, Vergewaltigung, Entführung, unkorrigierbare
jugendliche Kriminalität. Aus theonomischer Perspektive erscheinen
Rushdony Demokratie und Christentum als absolut unvermeidbar: „Christentum
ist völlig und radikal antidemokratisch; es ist gebunden an
eine spirituelle Aristokratie.“ Demokratische Institutionen
wie Gewerkschaften, bürgerliches Recht und öffentliche
Schulen gäbe es in dieser theonomischen Gesellschaft nicht.
Demokratie ist für ihn „die große Liebe der Versager
und Lebensfeiglinge“. Die Vision einer Rekonstruktion der
Gesellschaft auf christlichen Prinzipien ließ ihn 1965 die
„Chaicedon Foundation“ gründen, deren monatlich
erscheinende Zeitschrift sich für diese Vision einsetzt.
Gary Norm, Rushdonys Schwiegersohn und einer der heutigen
Wortführer des christlichen Rekonstruktionismus, schrieb in
einem Anhang zu Rushdonys ‘Institutes’ über die
Anwendung biblischer Prinzipien auf eine „christliche Ökonomie“.
Er ist sich des revolutionären Charakters der rekonstruktionistischen
Ideen wohl bewusst, warnt aber vor der voreiligen Schaffung einer
„revolutionären Situation“ bevor nicht die Öffentlichkeit
bereit ist, „die rechtlich verpflichtenden Präzedenzfälle
des Alten Testaments“ zu akzeptieren. Erst dann könne
man die rechtlichen Institutionen, die noch auf dem „Naturrecht
oder einer allgemeinen Ethik basieren (dabei denke ich an die US-Verfassung),“
zerstören. Deswegen steht strategisch im Vordergrund die Behauptung,
dass es von Gott und Jesus gewollt sei, dass Christen die Gesellschaft
regieren - eine Forderung, die populärer ist als das blutdürstige
und rachsüchtige Rechtssystem, das sogar als Strafe wieder
das Steinigen einführen möchte. Diese Strafe ist die logische
Folgerung aus der Annahme, dass das Alte Testament das von Gott
inspirierte Wort ist: „Wenn Gott sein unfehlbares Wort im
Alten Testament gesprochen hat, und wenn dieses Wort spezifisch
über Dinge spricht, die den Staat direkt betreffen, folgt dann
daraus nicht, dass das Alte Testament die Autorität über
die Organisation des Staats besitzt?“ fragt William Einwechter,
Vizepräsident der National Reform Association und Herausgeber
seines Organs „The Christian Statesman.“ Seine Antwort:
„Wir glauben dies; und wir glauben auch, dass das Alte Testament
dem Staat den einzigen objektiven und verlässlichen Maßstab
für bürgerliche Rechte und bürgerliches Gesetz bietet.
- Es ist Gottes Wille, dass der Staat für Gerechtigkeit sorgt
und das Böse durch Bestrafung der Übeltäter eindämmt.
Der Staat ist nicht bevollmächtigt, Mitleid oder Nächstenliebe
zu praktizieren, sondern ist das Instrument für Gottes Vergeltung
gegen jene, die den öffentlichen Frieden stören durch
Diebstahl, Gewalt oder Pflichtvergessenheit. Dem Staat gehört
die Macht des Schwertes, die in dem Recht besteht, jene hinzurichten,
die den Tod verdienen, körperliche Züchtigung vorzunehmen
und Opfern von Raub und Körperverletzung zu Wiedergutmachung
zu verhelfen.“ Kein „Mitleid oder Nächstenliebe“
- das bedeutet die Absage an alle sozialen Aufgaben des Staates.
Hauptaufgabe des Staates ist einzig die Wahrung der gottgewollten
Ordnung. In ihr gibt es - wie schon erwähnt - keinen Platz
für moderne Errungenschaften wie z.B. die im pluralistischen
Staat verankerte Idee der Toleranz, Gewerkschaften, staatliche Schulen
oder Sozialversicherungen aller Art. Unbiblisch ist auch die Gleichberechtigung
von Frauen. Sie sowohl wie die Kinder haben sich nach dem Willen
Gottvaters dem Mann zu unterwerfen.
Der Rekonstruktionismus ist nicht an eine bestimmte
Institution oder Kirche gebunden, wenn auch seine „Vertreter
häufig der orthodoxen Presbyterianischen Kirche nahe stehen
und auch Beziehungen haben zur John Birch Society, einer ultra-konservativen,
anti-sozialistischen und nationalistischen Vereinigung. Vielmehr
ist er ein Ideenkomplex, der von einer kleinen Gruppe von Theologen
und Philosophen via Zeitschriften und Konferenzen propagiert wird.
Als Theologie ist der Rekonstruktionismus selbst unter Evangelikalen
kontrovers und einige, wie z.B. Falwell haben einige Aspekte sogar
als „erschreckend“ gefunden. Die implizierte Ideologie
aber liefert ein umfassendes Programm für die Rechtfertigung
der politischen Positionen der konservativen fundamentalistischen
Christen, die darauf bestehen, dass christliche Werte die höchste
Priorität im Staat einnehmen und dass Politiker sich daher
in erster Linie als gläubige Christen definieren und profilieren
sollten. Im Rekonstruktionismus finden die weit rechts stehenden
christlichen Wortführer eine Theologie, die dem Kampf für
die Herrschaft Gottes über alle Aspekte der Gesellschaft den
intellektuellen Rahmen bietet und gleichzeitig die Rechtfertigung
der Vermischung von Religion und Politik.
In diesem Zusammenhang ist interessant, dass Mike
Huckebee, einer der diesjährigen Präsidentschaftskandidaten
der Republikanischen Partei, in Daniel Lance Herrick einen engen
Berater hat, der im Organ der NRA eine einfache Erklärung dafür
bietet, warum die in der Bibel genannten Verbrechen mit dem Tod
bestraft werden müssen: „Gott sagt es uns so in seinem
geschriebenen Gesetz.“ Was die Ausführung der Todesstrafe
anbetrifft, so hält er jenen, die das Steinigen für ein
barbarisches Verfahren halten, entgegen, dass die „Bibel dieser
Betrachtungsweise offenbar nicht viel Bedeutung beizulegen scheint....
Die Menschen sollen sich vor den Stadttoren mit dem Verurteilten
versammeln. Die Zeugen der Anklage sollen die ersten Steine werfen
und die anderen Mitglieder der Gemeinde dann den Verurteilten steinigen
bis er tot ist. - Die Bibel verdammt diese Praktiken nicht als barbarisch.
Sie befiehlt sie.“ (The Christian Statesman, „Why Execute
Murderers?“, Mai 2000). Aber die Bibel kennt auch andere Strafen:
Hängen, Verbrennen, Auspeitschen und Versklavung. Gary North,
der Ökonom der Rekonstruktionisten, zieht Steinigen als Methode
vor, denn sie sei billig, weil es Steine überall gäbe.
Steinigen würde auch das Problem von Eltern lösen, deren
Kinder sich gegen ihre Autorität auflehnen. Diese in der Bibel
(Moses, 5. Buch, 21, 18-21) geforderte Strafe sollte laut Pastor
William Einwechter aus Ephrata in Pennsylvania auch heute noch angewendet
werden:
„Richtig verstanden, zeigt sie die Weisheit
und Gnade Gottes, indem sie die Bosheit in Schranken hält,
auf dass der Rechtschaffene in Frieden leben möge. Jene aber,
die diese Strafe ablehnen, sollten sich schämen, denn sie haben
Gott und sein Gesetz kritisiert, haben Christi Zeugenaussage ignoriert
und haben das gesegnete Wort Gottes durch ihre eigene Imagination
ersetzt.“ (Chalcedon Report, 1999)
Präsident Bush hat seinen rekonstruktionistisch
beeinflussten Berater Marvin Olasky den führenden Denker des
sogenannten „mitfühlenden Konservatismus“ genannt.
Auf seinen Rat hin hat er das Amt für „Faith-Based Initiatives“
geschaffen, das staatlich finanzierte Wohltätigkeitsarbeiten
an kirchliche Organisationen delegiert. An diesen Beispielen wird
deutlich, wie erfolgreich die graduelle Unterwanderung der Trennung
von Staat und Religion in den letzten Jahren war. Der Ausgang der
kommenden Präsidentschaftswahlen wird zeigen, ob sich diese
Entwicklung fortsetzt oder ob der religionsneutrale Geist der amerikanischen
Verfassung wieder größeres Gewicht erhalten wird.
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