XXVII. Jahrgang, Heft 148
Mai - Aug 2008/2
 
  Inhalt  
  Editorial  
  Meinungen - Karawanserei  
  In den Kulissen der Teutozentrale  
  Gegenwart der Geschichte  
  Kultur-Atelier  
  Medien-Kultur-Schau  
  Lyrik  
     
  Wir über uns  
  Der Verein  
  Archiv  
  Impressum  
     
 

Letzte Änderung:
14.6.2008

 
 

 

 
 

 

 

Meinungen–Karawanserei

Mindesthohn


   
 
 


Kabarettist Kittner erfreut uns durch die Botschaft, die Bundesregierung habe sich endlich zur Einführung eines gesetzlichen Mindestlohns für Spitzenmanager durchgerungen. Sie denke an acht Millionen Euro jährlich. Führungskräfte bei Volkswagen, Siemens, Deutscher Bank drohten allerdings schon mit Streik; sie möchten mindestens 60 Millionen. So weit der altkommunistische Haudegen - und ich bin nicht sicher, ob er nicht zu weit schlug. Denn durch seine Erläuterungen macht er ja im Grunde auch die sattsam bekannten gewerkschaftlichen Raufereien des Arbeiters um einen größeren Anteil vom kapitalistischen Kuchen lächerlich. Zumindest wirft er die Begierden beider Seiten in einen Topf - und da gehören sie auch hin. Des Kapitalisten Mahnung, wir säßen alle in einem Boot, war immer richtig. Wir fahren auf dem Mehr und denken ausschließlich in Seemeilen. Jeder im Boot will mehr Geld, um mehr von dem lebensgefährlichen Schund und Schrott genießen zu können, den man gemeinsam produziert. Die Aktien steigen und die Gletscher schmelzen.

Legionen von Reformisten müßten schon deshalb auf den Mond geschossen werden, weil sie sich nicht mehr an der Rüstungsproduktion stoßen, die unsere Weltwirtschaft prägt. Jammern sie aber über die Schließung einer Fabrik für Autos oder Airbusse, Mobiltelefone oder Überwachungskameras; trachten sie - plötzlich mit staatlicher Kohle - Großbäckereien und Gänsemastfarmen zu retten; preisen sie einen Kahlschlag namens Golfplatz, weil er neue Arbeitsplätze für beinahe kugelförmige RasenmähtraktorenfahrerInnen schafft - ist das etwa weniger schlimm? Auch hier wird nur aufgerüstet. Wie sich der Dicke gegen sein Verschwinden wappnet, so der golfende Porschefahrer gegen den Streß des Konkurrenzkampfes. Beide steuern absolut überflüssige Dreckschleudern. Wenn jener ungleich weniger Geld verdient als dieser, rüttelt es nicht am Wesen der kapitalistischen Warenproduktion. Ausschließlich am Profit orientiert, ist sie außerstande, für etwas anderes als Entwertung zu sorgen - der Rohstoffe, der Arbeitszeit, der Natur, des Menschen, ja sogar des Geldes. Die immer wiederkehrenden Inflationen zeigen, daß es dem Kapital um nichts geht. Es betreibt Vernichtung.

Selbst George Orwell wäre auf dem Mond gelandet, hätte er nur nicht viel zu früh ins Gras beißen müssen (1950 mit 46). In WIGAN PIER verherrlicht er die Schufterei des Bergmanns, die unser aller Alltag trage. Im Essay LEVIATHAN verkündet er, die Überwindung der Armut und die Befreiung der Arbeiterklasse erfordere nicht weniger, sondern immer mehr Industrialisierung - mit schönen Grüßen von Lenin, Trotzki, Stalin. Politik nennt er die Wahl zwischen zwei Übeln - für das kleinere hätten wir uns zu entscheiden. In seiner Schrift vom EINHORN schlägt er für die nächstbessere britische Gesellschaft neben der Verstaatlichung von Schwerindustrie und Boden vor, die Einkommensdifferenz zwischen Reich und Arm auf maximal 10:1 zu begrenzen. Er schließt mit einem Lob (der Tradition) des Kompromisses. Mit seiner Lebensfrist schloß er wohl auch einen, starb doch Eileen 0´Shaugnessy, seine erste Frau, schon mit 39.

Sind demnächst Lafontaine oder Wagenknecht auf dem Kanzlerthron zu bewundern, werde ich ihnen als treuer Orwell-Schüler vorschlagen, für ihre Legislaturperiode nur noch 30 statt 80 Prozent Rassismus zuzulassen. Kurz, das reformistische Bestreben ist hoffnungslos dem quantitativen Denken verhaftet. In wirtschaftlichen Fragen drückt sich dieses gleichermaßen in der Haben-Mentalität wie im Schachern oder Schlagen um den Preis aus - die Ware Arbeitskraft eingeschlossen. Nebenbei sind diese gebetsmühlenartigen „Kämpfe“ nicht nur ungemein kostspielig, sondern auch - für mein Empfinden - ungemein entwürdigend. Man feilscht um längst Absehbares; veranstaltet Possen um nichts. Alle humanen Fragen - etwa nach dem Sinn von Produkten, Einrichtungen, Lebensweisen - werden aus dem Verhandlungssaal verbannt. Dafür sind umso mehr Stühle für Presse und Fernsehen frei.

Verheißen uns die Reformisten - nach Schema des obigen Beispiels - statt 80 nur noch 50 Prozent Fortschritt, dann 30, 20 und so weiter, handelt es sich gleichfalls nur um Augenwischerei. Dynamische Einrichtungen lassen sich durch quantitative Korrekturen weder begrenzen noch aufhalten. Sie bleiben ihrer Dynamik treu. Sie finden jede Umgehungsstraße, jede Hintertür, jeden Steuertrick. Sie unterlaufen jeden Schlagbaum. Haben sich Öl und Erdgas erschöpft, werden sie sämtliche deutsche Bodenwellen mit Windrädern spicken und jede neue Autobahn gleich mit Solarzellen pflastern. Versiegt das Wasser, tränken sie ihre Mastbullen mit Bio-Sprit. Jeder Mensch ahnt inzwischen, daß wir mit unserer Lebensweise den Planeten verderben - doch kein Schwein sieht sich veranlaßt, sie zu ändern. Diese Lösung wäre gar zu radikal und damit unbequem. Im DALI-Essay bemerkt Orwell, Verbote seien immer fragwürdig. Völlig richtig, Mister! Ob Tempolimit, Reichtumsbremse 10:1 oder Nagelfeilenverbot auf Schulhöfen - es geht an Kern und Wurzel des Problems vorbei. Man muß an den Bedingungen rütteln, damit sich die Haltungen ändern.

Der von Orwell gepriesene Kompromiß läuft im Zeichen des quantitativen Denkens leider auf endlosen Kuhhandel hinaus. Ob mit oder ohne Abstimmung, der Stärkere setzt sich durch, allerdings immer nur vorübergehend. Wegen der unvermeidlichen „Zugeständnisse“ fühlt man sich stets zu kurz gekommen - und da Gewalt salonfähig ist, verschafft man sich eben neue Mehrheiten. Die dazu erforderlichen ÜberredungskünstlerInnen, GutachterInnen, Lobbyisten sind natürlich nicht umsonst zu haben. Das quantitative Denken setzt auf Bestechung = Kampf. Es ist keineswegs zu simpel, Kapitalismus und Krieg als Synonyme aufzufassen. Wünschen Herr Lula oder Frau Pau, jenen zu „humanisieren“, machen sie uns weis, ein Pitbull ließe sich in ein Teddybärchen verwandeln.

Die Alternative wären aufrichtige und geduldige Erörterungen, wie sie etwa in unseren wenigen anarchistischen Kommunen versucht werden. Niemand verhehlt seine Wünsche, Zweifel, Ängste. Alle gemeinschaftlichen Vorgänge sind durch- und überschaubar. Jeder bemüht sich um eine Vereinbarung, die von allen getragen werden kann. So manche verblüffende Lösung hat bereits gezeigt, daß sich die Zufriedenheit aller Beteiligten herstellen läßt, wenn sie sich nur genügend Spielraum geben. Bei der herrschenden Unrast der Profit- und Kaufsüchtigen ist daran natürlich nicht zu denken. Sie haben alle Hände voll zu tun, ihren Geschäfts- und Geschlechtspartnern über Mobiltelefon mitzuteilen, wo sie sich gerade befinden. Dadurch schaffen sie immerhin Platz in ihrer Birne: für den nächstgrößeren Gehirntumor.

Henner Reitmeier


***


Kapitalsucht

Glaubt man kapitalistischen Ideologen, ist die Diktatur des Proletariats längstens unrühmliche Geschichte und nur die des Kapitals hat noch uneingeschränkt Zukunft.

Nun habe ich weder vor, eine wirtschafts- oder finanzwissenschaftliche Abhandlung zu schreiben, noch werde ich historische Beweise anführen oder absolut haltbare politische oder gar politikwissenschaftliche Thesen aufstellen. Die Haltbarkeit politischer Thesen liegt ohnehin selten über der von ungekühlter Frischmilch.

Mir geht es allein um die Folgen der alltäglichen Diktatur des Geldes und um jene vielen, deren Finanzen trotz oder gar wegen des Konjunkturaufschwungs ständig schrumpfen, um auf den Konten der wenigen zu landen, deren Reichtümer ohnehin unaufhaltsam wachsen.

Die kleine Zahl Ultrareicher, derzeitig noch Milliardäre und in Zukunft vielleicht sogar Billionäre, schafften und schaffen offensichtlich ein System, mit dem sich Reiche in immer kürzeren Zeiträumen immer mehr bereichern konnten und können. Ungehindert wächst ihnen Machtfülle zu, da sich mit Geld alle Machtmittel kaufen lassen: Grund, Boden und Immobilien, Waffen, Bodyguards, Überwachungskameras, Angestellte, Politiker, Frauen, Männer, Verwaltungsangehörige, willige Spekulanten und nicht weniger willige Geschäftemacher aller Art sowie vor allem weitere Finanzen.

Superreiche sowie deren Anhänger und Helfer, die auch immer reicher zu werden hoffen, finden stets die einsichtigsten Antworten auf die entscheidende Frage, warum gerade sie wohlhabender werden müssen.

Moralisch entrüstet unterstellen sie Armen, eine unbotmäßige und deswegen verwerfliche Neiddebatte zu führen. Kurzerhand erklären sie die Umverteilung von oben nach unten zu einer in jeder Hinsicht unmodernen politischen Richtung. Wirtschafts- und Finanzpolitik, die ihnen und ihren Konten hingegen nützt, preisen sie und die ihnen nahestehenden wissenschaftlichen Experten als einzig notwendige an, da allein sie die Konjunktur steigere. Und Konjunktursteigerung kommt selbstverständlich wiederum allen zu gute, die ohnehin schon die größeren Guthaben besitzen und am meisten denen, die besonders rasant wachsende Vermögen ihr Eigen nennen. Auch das ist natürlich Umverteilungspolitik - nur eben die zweifelsfrei höchst zeitgemäße von unten nach oben.

Jene Geldadeligen wollen übrigens auch allen Mitgliedern der so genannten Gesellschaft weismachen, es herrsche Chancengerechtigkeit. Doch diese hat weder mit Gerechtigkeit noch Chancengleichheit zu tun. Vielmehr stellen Politiker und Wirtschaftsexperten mit diesem missverständlichen Begriff allen - also Armen und Reichen die gleichen Chancen gegenüber. Nur die Armen verfügen nicht über die (Finanz-)Mittel, die Chancen wahrzunehmen. Für sie bleibt, mit dem Geld, über das sie nicht verfügen und auch nicht verfügen werden, in trügerischer Hoffnung auf Reichtum angestrengt für den Reichtum der Reichen zu arbeiten.

Konsequent wie sie sind, lassen Gutbegüterte zum Beispiel Bedingungen zu, die nur Wohlhabenden Bildungschancen ermöglichen. Sie loben die Sparsamkeit der Politiker, wenn sie Studiengelder einfordern und die Lernmittelfreiheit einschränken. Schließlich benötigen allein sie, die es sich selbstverständlich leisten können, umfangreiches Wissen und Können, um einfache Bereicherungsmodelle so zu verkomplizieren, dass einer ohne ihr Wissen und Können diese Modelle für zu kompliziert hält, um sie (als weniger Wohlhabender) durchschauen und beeinflussen zu können.

Ihr gesellschaftspolitisches Credo für jene, die sie nicht zu den Ihren zählen, lautet schlicht: Ihr habt keine Chance, aber nützt sie, wir nützen doch auch Chancen (die ihr nicht habt). Und das mit allergrößtem Erfolg.

Nun wissen selbstverständlich längst alle, die nicht zu jenen Wohlhabenden gehören, dass gerade Reiche sie daran hindern, zu deren Reichtum und dessen Zuwächsen zu kommen.

Dafür steht das gewohnheitsrechtliche und von Juristen und Legislative formulierte Gesetz der Besitzstandswahrung, aber auch das Strafgesetzbuch. Es belegt gerade Eigentumsdelikte mit umso empfindlicheren Strafen, je mehr gestohlen oder geraubt wurde. Besitz ist damit gesetzlich umso mehr geschützt, je umfangreicher er ist.

Darüber hinaus bemüht sich konservative Politik (Und welche Regierungspolitik ist nicht konservativ?) immer darum, mit nahezu allen ihren Mitteln Macht und damit Geld zu beschaffen und zu konservieren.

Doch es ist nicht allein ihr Bestreben, ihre großen Vermögen einfach nur zu erhalten. Damit wäre das Guthaben kaum mehr als eine wertvolle sorgfältig einbalsamierte Mumie - also totes Kapital ohne Geld- und Machtzuwachs.

Nein, der vielbesitzende Mensch, suchtgefährdet wie er ist, will grundsätzlich immer mehr als er ohnehin schon hat. Die Droge Geld ist offenbar die legalste aller legalen Suchtmittel. Konsumenten anderer legaler Drogen - etwa Alkohol - werden im fortgeschrittenen Suchtstadium gesellschaftlich geächtet. Ungebremster Alkoholismus führt in der Regel nämlich zu Geld- und Besitzverlust. Der Geldsüchtige hingegen gewinnt mit der Steigerung seiner Sucht weiter an Ansehen.

Unerbittlich neigen Süchtige dazu, ihr Leben und das ihrer Angehörigen und aller ihnen Nahestehenden in die Sucht hineinzuziehen. Keiner soll der Sucht entgehen. Konsequenter Weise werden alle Einflussbereiche der Geldmachthaber der Abhängigkeit von Geld unterworfen: die Politik, die öffentliche Verwaltung, Kunst und Kultur, Freizeit, Familie, Kindererziehung, selbst Freund- und Liebschaften. Überall wird zunächst gefragt, „Und was kostet mich das?“

Die Entscheidung für ein Kind fällt erst, wenn klar ist, ob das junge Paar sich auch ein Kind leisten kann. Geheiratet wird wegen zu erwartender Steuervergünstigungen. Im Krankenhaus haben Krankenschwestern keine Zeit dafür, sich ihren Patienten menschlich zuzuwenden. Dafür zahlen Krankenkasse und Krankenhausverwaltung nicht. Wer als Privatpatient allerdings ausreichend Geld einsetzen kann, für den ist auch Zeit vorhanden. Und dann macht Reichtum auch noch sexy….

Mit zunehmender Maßlosigkeit vernichtet Sucht bekanntlich irgendwann Existenzen und zuletzt Leben. Jeder trockene Alkoholiker, der kurz vor dem endgültigen Absturz noch die Kurve gekriegt hat, weiß das. Sucht ist erbarmungslos und kann selbst Unbeteiligte mit in den Abgrund reißen.

Karl Marx war sicherlich kein Suchtexperte, aber er hat aufgrund seiner scheinbar altmodischen machtpolitischen Erkenntnisse vor dem Selbstvernichtungspotential des Kapitalismus gewarnt.

Wer Euro- und Dollarzeichen in den Augen hat, dessen Sehkraft bleibt eingeschränkt, selbst wenn er sich die teuersten Augenärzte leisten könnte.

Karl Feldkamp


***


Skandal und Skandalisierung
Über die seltsame Anatomie gesellschaftlicher Affären

Fad werden soll einem nicht. So torkeln wir von einer Affäre in die nächste. Auch die übernächste Enthüllung wird nicht lange auf sich warten lassen. Doch wissen wir eigentlich, was das ist, was wir da so selbstverständlich als Skandal wahrnehmen? Vielleicht ist seine Funktion, doch eine andere als seine Darstellung uns immer wieder zu vermitteln vorgibt.

Via Aufdeckung und Konstruktion von Affären demonstriert das System nicht seine Instabilität, sondern im Gegenteil seine Stabilität. Gerade Skandale stärken die bürgerlichen Werte und Normen, weil die Skandalisierung deren Zustimmung voraussetzt wie einfordert. Die Skandalisierung dient zur Selbstversicherung der Ideale, zur Selbstverständigung des Selbstverständlichen. Es ist eine Art Crash-Kurs in Sachen Staatsbürgerkunde. Mit Affären immunisiert sich ein politisches System gegen substanzielle Angriffe, indem es regelmäßig Säuberungen und Opferungen veranstaltet. Esoterisch ist es ein quasi religiöses Ritual der Reinigung, exoterisch ein Räuber- und Gendarmspiel für Erwachsene.

Auf ideologischer Ebene haben die Skandalierer leichtes Spiel, weil die Skandalisierten immer defensiv, nie offensiv agieren, eben weil sie selbst der gleichen Moral aufsitzen wie ihre moralischen Richter. Zumeist wollen sie es nicht getan haben. Wenn das nicht geht, ist es ihnen passiert und sie versprechen Besserung. Niemand hingegen sagt: „Ja zur Steuerhinterziehung!“ „Hoch die Schmiergeldzahlung!“ „Es lebe die Vetternwirtschaft!“ - Das ist eigentlich schade.

Was das Empirische betrifft, ist der Skandal oft wirklich so, wie ihn sich der kleine Maxi vorstellt, nur komparativer. Das ist darauf zurückzuführen, dass der kleine Maxi im Kleinen nichts anderes tut als die großen Maxln in Politik und Wirtschaft. Aber das sagt man nicht. Maxi weiß, was er Max vorwirft, weil er sich, obwohl er sich verleugnet, kennt. Ihn entsetzt, was er tut - bei den andern, die nichts anderes tun. Gemeinhin kommt das Publikum über „unproduktive Empörung“ (Karl Kraus) nicht hinaus. Erregung herrscht und Entsetzen, doch zum Schluss dominieren Ermattung und Indifferenz.

Der Skandal bedroht nicht den gesellschaftlichen Zweck, Geld zu machen, sondern erfüllt ihn mit Mitteln, die sitten- oder rechtswidrig sind. Aber das ist ein Detail. Was sind schon die Mittel gegen das Ziel, das kaum jemandem als fragwürdig erscheint? Skandale sind primär als Folgen und Funktionen der Geldwirtschaft dechiffrieren. Und zwar als solche, die zwar den Zweck teilen, aber die Regeln flexibel bestimmen möchten und das auch tun. Im schier ewigen Spiel der Geldmacherei ist der Skandal nicht Bedrohung, sondern Stachel. Keine Regel soll aufhalten und behindern. Illegal gewesen ist nicht das, was illegal gewesen ist, sondern nur das, was der Illegalität überführt werden konnte.

Kein Skandal ohne Skandalisierung! Gibt es letztere nicht, hat es ersteren nie gegeben, egal nun, wie hoch die kriminellen Ingredienzien der jeweiligen Geschäfte und Politiken zu veranschlagen gewesen wären. Die Voraussetzung einer Affäre mag ein krimineller Sachverhalt sein, ihre Bedingung ist aber ihre Inszenierung. Der Skandal kann ohne öffentliche Kenntnisnahme nicht gedacht werden. Letztlich verschleiert die Skandalisierung mehr als sie aufdeckt, eben weil sie sich beharrlich weigert, Misstände und Zustände als Einheit zu denken, sondern deren immanente Diskrepanz immer zur kontrafaktischen, aber kategorischen Zweiheit aufbauscht.

Skandalisierung und Skandal verhalten sich wie die Verlogenheit zur Lüge. Erscheint letztere offensichtlich, bleibt erstere aufgrund der Beleuchtung im Dunkeln. Viele Fragen bleiben offen: Wer beliefert die Aufdecker? Was unterscheidet die Bestechung von der Aufdeckung? Wer bezahlt die Lieferanten? Wo werden solche Waren gehandelt? Wie hoch sind die Summen? Abgehörte Telefonate, bespitzelte Personen, umgeleitete E-Mails veröffentlichte Steuerbescheide, weitergereichte Prüfberichte, gestohlene Akten, Erpressungen - das alles, obwohl tatsächlich, ist kaum präsent. Nichts ist transparent, aber alles undicht. Der Skandal, so zeichnet es sich ab, ist nur auf skandalöse Art und Weise zu bekämpfen. Aufdeckung erfordert gerade die Methoden, gegen die sie auftritt. Indes, Thema ist die Enthüllung der zu Enthüllenden nicht die Enthüllung der Enthüller. Wer sollte die auch einbringen? Die nichtbeobachteten Beobachter, also die Aufdecker? Sie können absolut kein Interesse an solchen Geschäftsstörungen haben.

Die deutsche Postbankaffäre um Herrn Zumwinkel offenbart da mehr als allen Aufdeckern Recht sein kann. Der offiziell bekannt gewordene Ankauf von Daten über Steuersünder mag ein Novum sein. Dass mit solchen Sachen gehandelt wird, liegt aber auf der Hand. Wer Informationen sammelt und besitzt, der will und darf sie doch auch verkaufen. Da mag die Beschaffung auch selbst nicht ganz legal sein. Egal. Rein formal wird ein Angebot gelegt, das auf Nachfrage hofft. Hätte der BND nicht gekauft, hätte er sich zahlreiche große Fische durch die Lappen gehen lassen. Zumwinkel wäre nichts nachzuweisen gewesen.

Er war ein großer Mann, eine Stütze der Gesellschaft. Schon 2001 erhielt Klaus Zumwinkel das Große Bundesverdienstkreuz. 2003 wurde er zum „Manager des Jahres“ gewählt. Auch der erfolgreiche Gang der Postbank an die Börse fällt in seine Ära. Erst unlängst, vor einigen Monaten wurde ihm der Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen nachgereicht. Dass das alles Fehlentscheidungen gewesen sind, wollen wir aber in keiner Weise behaupten. Er hat es sich verdient, jene passen gut in das System von Erfolg und Karriere, Leistung und Konkurrenz. Es hatte alles seine Richtigkeit wie Rücksichtslosigkeit. Ohne gewisse Zutaten wären Aufstieg und Macht solcher Typen gar nicht bewerkstelligbar. Leistungsträger sind so! Man soll sich doch nicht in den Sack lügen. Hartz, Ackermann, Kleinfeld, man könnte die Liste fortsetzen oder besser, sie wird sich selbst fortsetzen.

Es ist halt blöd gelaufen. Hätte sich ein liechtensteinischer Informationshehler nicht erdreistet, mit dem BND ein Geschäft zu machen wie dieser mit ihm, Zumwinkel wäre geachtet und geschätzt wie ehedem, weitere Ehrungen eingeschlossen. Hätte er also vielleicht selbst ein paar Mille für diesen Spitzel springen lassen, wäre Zumwinkel hochdekoriert in Rente gegangen, und die Politiker, die ihn heute als Steuersünder verurteilen und meiden, hätten ihn gelobt und gepriesen und sich von ihm beraten lassen. Wetten, dass...

Besonders gefährlich sind Leute, die prophylaktisch (oft ohne konkrete Absicht und Hintergrund) Daten sammeln, Dateien speichern, Dossiers anlegen. Denn diese sind oft unauffällige und unverdächtige Elemente, die unmittelbar gar nicht als Gefahrenquelle angenommen werden können. Keine Spionageabwehr rechnet mit ihnen. Jene sind also unberechenbar. Wer weiß, was passiert, wenn sie übergangen oder gemobbt, degradiert, gedemütigt oder arbeitslos werden? Wenn sie meinen, sie kämen zu kurz oder auch einmal mächtig erscheinen möchten? Wenn sie jemanden eins auswischen wollen? Oder einfach nur geldgierig sind? Soll vorkommen. Da können aus biederen Sammlern gierige Jäger werden, wahre Denunziationsbomben. Sie brauchen sich nur zu entsichern, also bei Redaktionen oder Behörden vorstellig werden und andeuten, dass sie unter Umständen was hätten, wenn....

Wo die Integrität sinkt, häufen sich auch noch die Intrigen. Es muss ja nicht gleich der Bundesnachrichtendienst sein, auch auf privater Ebene können vertrauliche Informationen zu einem lukrativen Geschäft werden. Was heißt werden? Sie sind es wohl schon lange, nur weiß man eben nicht so genau, welche investigativen Leistungen diverser Medienprodukte mithilfe welcher Transaktionen erzielt wurden. Dafür sorgt auch das Geschäftsgeheimnis, das nur durch gezieltes Enthüllen diverser Intimfeinde oder Abstauber in Leidenschaft gezogen wird. Faktum ist: Dem kriminellen Handeln erster Ordnung folgt unweigerlich eines zweiter Ordnung.

Anstand ist ein menschliches, kein ökonomisches Kriterium. Wer sich am Markt auf den Anstand beruft, ist in einem wirtschaftlichen Notstand. Wer anständig Geschäfte machen will, kann keine anständigen machen. Böse Zungen wie glaubhafte Sachverständige im großen Wiener BAWAG-Prozess behaupten gar, dass man in letzter Konsequenz nur jenen Bilanzen vertrauen dürfe, die man selber gefälscht hat: „Letztlich ist jede Bilanz objektiv unrichtig“, sagte der Gutachter Thomas Keppert, der es wissen muss. Nun, wir wollen’s nicht übertreiben, aber verantwortungsvoll im Sinne eines Unternehmens zu agieren, heißt nicht, nicht zu lügen. Es heißt, zu lügen. Zwar nicht notorisch, aber kalkulierend und proportioniert. Gerade in der Welt von Geschäft und Politik gilt: Wenn eine Wahrheit schlecht ist, ist sie schlecht und daher zu unterdrücken; wenn eine Lüge gut ist, ist sie gut und daher zu verbreiten.

Erkannt (nicht zu verwechseln mit anerkannt!) werden sollte, dass Korruption erfolgreichen Handlungen wie Verhandlungen nicht abträglich ist, sondern zumeist ungemein förderlich. Das sagt man zwar nicht, aber alle Praktizierenden wissen es. Nicht zu Unrecht spricht man davon, dass Geschäfte wie geschmiert laufen. Korruption, richtig dosiert, ist zweifellos ein wichtiges Schmier-, ja Treibmittel: Beschleuniger, Abkürzer, Erleichterer. Das, was hochkommt, ist ein Bruchteil dessen, was skandalträchtig sein könnte. Wobei der Prozentsatz, der auffliegt, nicht unbedingt steigt, denn der ist abhängig von der begrenzten Aufnahmekapazität des Publikums, hingegen der Prozentsatz, der auffliegen könnte, im Steigen begriffen ist, weil die Informationskanäle sich immer vielfältiger gestalten und Geheimhaltung schwieriger wird. Wir wissen alle nicht, was von uns alles gewusst wird oder gegebenenfalls in Erfahrung gebracht werden könnte.

Seriös oder unseriös, das war bei Geschäften nie die entscheidende, aber doch eine wichtige Frage. Nun ist aber auch der Kurs der Seriosität im Sinken begriffen. Zuschlag hat Handschlag ersetzt. Man muss zuschlagen können. Mit dem Risiko steigt auch die Korruption. Erfolgreiche Businessmenschen sind dann Leute, die sich etwas trauen, aber auf nichts mehr vertauen können, weil sie in ihren Konkurrenten zu Recht Spiegelbilder ihrer selbst vermuten. Gute Geschäfte haben immer etwas Verwegenes, ja Mafioses an sich.

Aufgabe von Politik und Justiz ist es auch nie, die Korruption zu beseitigen, sondern sie entsprechend zu verwalten, ein bestimmtes Verhalten als Schuld zu definieren, und unentwegt von Fehlern und Schwächen einzelner Täter zu schwätzen. Das ist zwar auch nicht ganz falsch, aber es ist nur ein untergeordneter, wenn auch offensichtlicher Aspekt, vorausgesetzt er erblickt überhaupt das Licht der Welt. Jeder Skandal gerät so zur Beschau des Personals unter Ausblendung der es bedingenden Struktur. Wölfe sagen, dass es unter ihnen auch schwarze Schafe gibt. Was alle Schafe sofort glauben.

Franz Schandl

   

Netzbrücke:

• Necati Merts Kolumne

• Mehr lesenswertes   Textmaterial

• Wider den Schwarzen   Winter

• Porträt des   Periodikums