XXVII. Jahrgang, Heft 148
Mai - Aug 2008/2
 
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Letzte Änderung:
14.6.2008

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER




   
 
 


Hochburg des Verbrechens

Von Michael Kiesen

Wenn man jemand Macht gibt, neigt er dazu, sie zu missbrauchen.

Stuttgart, Ende Januar. Ich war bei meiner charmanten türkischen Friseuse, einer Könnerin. Der Salon befindet sich im ersten Stock des Wilhelmsbaus. Ich saß am Fenster und sah auf den Rotebühlplatz hinab. Während der starken Stunde, die ich mich in dem Salon aufhielt, fuhren mindestens 10 Polizeiautos vorbei, meist Kleinbusse, aber auch PKWs in Grün und Weiß. Man könnte glauben, dass Stuttgart eine Hochburg des Verbrechens ist und sogar Chicago hierbei übertrumpft.

Auf der oberen Königstraße habe ich manchmal schon vier Doppelstreifen angetroffen. Fast täglich patrouillieren Polizistenpaare auf der Königstraße und halten junge Ausländer oder schlampig angezogene junge Deutsche an. Ich bummle sehr oft auf der Königstraße, habe dort jedoch noch nie etwas Bedrohliches erlebt. Trotzdem ist die Polizei in dieser Fußgängerzone auffällig präsent.

Im letzten Sommer saßen sechs Punks auf den Stufen der Jubiläumssäule, errichtet zu Ehren König Wilhelms I. von Württemberg. Diese Jungen und Mädchen waren nicht verwahrlost, schienen eher Modepunks zu sein. Vier Polizistinnen und Polizisten befassten sich mindesten eine halbe Stunde mit den jungen Leuten, durchsuchten deren Rucksäcke, hoben die T-Shirts an, ließen sich das, was in den Jeanstaschen war, zeigen. Dann führten sie ein Mädchen und einen Jungen ab. Man fragt sich, auf welcher Rechtsgrundlage diese Aktion stattfand.

Im Herbst parkte ein Polizeikleinbus in einer Seitenstraße der unteren Königstraße. Vier Polizisten überprüften Ausweise einer Gruppe junger Leute südländischer Herkunft, vielleicht schon deutsche Staatsbürger. Die jungen Typen konnten dann alle weitergehen. Sie fühlten sich gedemütigt und die Staatsseite konnte keinen Erfolg verbuchen. Ein gelungener Beitrag zur Integration.

Auch auf dem Volksfest wandern immer wieder Polizisten zu zweit in entschlossener Haltung umher. Sicher, es gibt dort Betrunkene und Schlägereien. Aber wenn dann zwei Polizisten einen schmächtigen jungen Mann in Handschellen über den Platz bei der Fruchtsäule führen, fragt man sich doch, ob der Jüngling ein solches Ungeheuer sein kann, dass man ihn so anpacken muss.

Dann gibt es Selim, ein Roma aus dem Kosovo, der auf Duldungsbasis in Stuttgart lebt. Ich habe ihn vor Jahren über einen Freund kennen gelernt und treffe ihn immer mal wieder, wenn ich vom Mineralbad oder Volksfest kommend an der Haltestelle Staatsgalerie umsteigen will und noch ein bisschen im Schlossgarten herumwandere, bis die U-Bahn nach Botnang eintrifft. Selim hält sich in dieser Zone auf, weil er ab und zu mit Männern oder Frauen mitgeht, um seine Einkünfte aufzubessern. Er wurde schon wiederholt von Polizisten angehalten, die ihn dann in eine öffentliche Toilettenanlage, die sich oberhalb des U-Bahnschachts befindet, mitnahmen und ihn aufforderten, sich ganz auszuziehen, um zu prüfen, ob er Drogen bei sich habe.

Anfang Februar stand ein durchaus gutaussehender junger Polizist auf der unteren Königstraße bei zwei punkhaft gestylten Jugendlichen; seine Kollegin, die mir den Rücken zuwandte, telefonierte mit dem Handy. Ich sah den Polizisten fragend an; er schien dies zum bemerken, und ich betrat die St. Eberhardskirche, in der ich öfter gerne verweile, den Alltagswidrigkeiten enthoben.

Faschingsferien. Unzählige junge Leute, die nicht in der Berufsschule oder im achtjährigen Gymnasium festgehalten werden, streiften auf der Königstraße umher. Zwei schmächtige Jünglinge saßen auf einer Bank aus Drahtgeflecht, die den Stamm einer Platane an der Grenze zwischen Königstraße und Kronenstraße umgibt. Ein athletischer Polizist stand vor ihnen und sagte ab und zu ein paar Sätze in vorwurfsvollem Ton. Sein Kollege stand breitbeinig einige Meter entfernt da und telefonierte mit einer Miene, die ausdrückte, was für einen wichtigen Staatsakt er vollzog. Der eine der beiden jungen Typen hatte hellbraune Stoppelhaare, der andere war dunkelhaarig, wirkte aber nicht unbedingt wie ein Südländer. Er stand zwischendurch auf, setzte sich wieder und in seinen Zügen spiegelte sich etwas wie Verzweiflung. Was hatte er wohl angestellt? Den Ausweis nicht mitgenommen? Oder war er mal mit Drogen erwischt worden, und die Polizisten hofften, wieder welche bei ihm zu finden? Der zweite Polizist beendete sein Telefonat und trat auf seinen Kollegen zu, redete mit ihm, dann mit dem dunkelhaarigen Jüngling. Ich ging weiter, wollte noch Gemüse einkaufen. Ich betrat dann das Reformhaus, wo ab und zu eine Plauderei entsteht, wenn wenige Kunden da sind; ich beklagte mich über die polizeistaatsähnliche Situation in der Innenstadt. Eine der beiden Damen, die das Geschäft betreuen, erzählte, sie sei neulich mit ihrem Sohn zur Staatsgalerie gegangen; da habe es im Mittleren Schlossgarten eine Razzia gegeben; die Strecke zwischen Klett-Passage und Planetarium sei grün gewesen vor Uniformen. In dieser Gegend hängen einige Stricher herum, von denen ein paar vielleicht auch Drogen nehmen. Da reinzuschlagen ist für das Gemeinwohl natürlich von äußerster Wichtigkeit.

Am Samstag, 26. Februar, war mein Ziel der Saunabereich des Hallenbads Heslach. Ich stieg an der Haltestelle Stadtmitte in die Linie 14 um. Eine Station danach, am Österreichischen Platz, kamen eine Polizistin und ein Polizist in meinen Waggon und nahmen Platz. Weiter vorn stand ein Schwarzer und sah die Uniformierten sorgenvoll an. Am Marienplatz stieg ich aus, auch die Polizisten und der Schwarze verließen die U-Bahn. Der Afrikaner bewegte sich auf die Rolltreppe zu, erreichte sie, die Polizistin beeilte sich, überholte den Typ auf der Rolltreppe, wohl um sich ihm auf der oberen Ebene entgegenzustellen. Ihr Kollege lief unterdessen die Steintreppe hinauf. Ich selbst kam nun auch an die Rolltreppe und wurde nach oben getragen. Ich gelangte in eine Vorhalle. Dort standen die Polizistin und ihr Kollege nicht bei dem Schwarzen, sondern einem ordentlich gekleideten, gutaussehenden dunkelhaarigen jungen Typ. Die Polizistin hielt einen Ausweis und telefonierte mit dem Handy. Ihr Kollege war blond, hatte kantige Züge, aus denen Aggressivität sprach. Der junge Südländer sah geradeaus, ins Ungewisse. Ein widerliches Schauspiel.

In der Innenstadt schleichen völlig heruntergekommene ältere Männer herum, Bierflasche oder Weinflasche in der Hand, bedauernswerte Gestalten; trotzdem könnte man ihr Verhalten als Störung der öffentlichen Ordnung auffassen. Doch ich habe noch nie bemerkt, dass sich Polizisten mit diesen „dirty old men“ befasst hätten. Immer scheinen sie ihre Aufmerksamkeit auf junge Leute zu richten. Es sind nicht nur junge Ausländer. Was für ein Eindruck macht dieses Staatswesen auf Jugendliche, die sich dauernd von der Polizei verfolgt fühlen? Es sind natürlich nicht die Sprösslinge aus der Oberschicht; die feiern ihre Partys mit Joints und Koks in den Villen ihrer Eltern, unbehelligt von der Polizei.

Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtete, die Regierung wolle 600 Polizistenstellen streichen. Widerspruch kam von der SPD; wegen steigender Jugendkriminalität müsse der Kontrolldruck auf junge Leute durch Polizeipräsenz aufrechterhalten werden. Was für absurde Zustände! Diese Partei, die die Belange der einfachen Leute vertreten will, setzt sich dafür ein, dass Abkömmlinge ihrer Anhänger von Polizisten aufgegriffen und kriminalisiert werden. Sie merken nicht, dass sie die Konservativen rechts überholen. Mit Repression löst man kein soziales Problem.

Vorfall auf der Marienstraße, Ende März.

Ich traf mich mit einer guten Freundin in einem Café, das am Beginn der Marienstraße liegt. Wir unterhielten uns eine Weile und traten dann auf die Straße. Mildes Frühlingslicht umfloss uns. Eine Polizistin und ein Polizist gingen mit festem Tritt vor uns.

„Deine besonderen Freunde“, spöttelte meine Bekannte, eine Albanerin, der ich nach längerem Kampf die deutsche Staatsangehörigkeit verschafft habe.

„Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich denen begegne. Sie streifen durch die Stadt und greifen sich irgendwelche jungen Leute. Natürlich wünschen sie sich, bei denen Drogen zu finden. Sie suchen geradezu nach Arbeit. Man könnte meinen, es gäbe in diesem Staat kein größeres Problem als Drogen. Dabei geht es einfach um Prohibition. Alkohol war in Amerika auch mal verboten.“

Dann erklärte ich meiner Bekannten, wie das Betäubungsmittelgesetz entstanden sei. Wir überquerten die Sophienstraße. Der nun folgende Teil der Marienstraße ist keine Fußgängerzone mehr. Ich bemerkte, dass neben mir auf dem Gehweg ein Mann ging, um vierzig wohl, schlank, drahtig, Glatze. Ich sprach weiter über Hippies und Drogen. Der Typ überholte nicht, er blieb neben mir. Da hielt ich meine Begleiterin am Ärmel fest und murmelte, sie solle stehen bleiben. Der Mann machte noch einige Schritte, dann kehrte er um und ging an uns vorbei. Meine Bekannte lächelte zweifelnd. „Wirst du verfolgt?“ „Was macht er jetzt?“, fragte ich. Ich wollte mich nicht umdrehen, sie jedoch hatte sich mir zugewandt und konnte die Straße in beiden Richtungen beobachten. „Er steht am Schaufenster einer Buchhandlung und tut so, als ob er die Bücher ansieht.“ „Sehr seltsam.“ Wir gingen weiter und ich berichtete über die Drogengesetzgebung des deutschen Parlaments. „Folgt er uns?“, wollte ich wissen. Sie drehte den Kopf. „Nein, jetzt geht er in die andere Richtung.“ „Wahrscheinlich ein verdeckter Ermittler, der das Stichwort ‚Drogen‘ aufgeschnappt hat. Er hat wohl gehofft, ich würde dir gleich eine Prise Kokain anbieten.“

In den zahllosen ungeschickt konstruierten Fernsehkrimis, jedenfalls den deutschen, sind Polizisten und besonders Kriminalbeamte Lichtgestalten, die das Böse bekämpfen und in unerforschlicher Weisheit furchtbare Verbrechen aufklären. Ich bin ein liederlicher Mensch und verehre diese Leute nicht. Ich fühle mich nicht sicherer, wenn ich ihnen begegne, sondern ich komme mir gegängelt vor. Sie sind Symbole des Überwachungsstaats, der immer gieriger wird.


***


It de Mutti da

Von Reinhard Bernhof


Früher wurde Ulf von seiner Mutter mit einem Kuß geweckt, bekam noch einen Kakao gekocht, bevor er in die Schule ging. Jetzt schläft sie den ganzen Vormittag hindurch, weil sie nachts nicht zu Hause ist. Kauf dir einen Riegel, stand gestern auf dem Zettel in der Küche, ein Zwei-Euro-Stück lag daneben.

Ulf denkt: Statt geweckt zu werden mit einem Kuß wie früher, klingelt nur noch der komische Wecker mit der Elektronik-Anzeige; dudelt nur noch die blöde Musik mit den Affenstimmen; dabei pellt er sich langsam aus den warmen Federn, gähnt und streckt sich und verschwindet im Badezimmer. - Überall hängen Mutters neue Klamotten herum, fallt ihm auf, und diese komische Unterwäsche in ihrem Schlafzimmer: rote und schwarze Büstenhalter, Slips so dünn wie Schnürsenkel... Früher hatte sie doch alles in Weiß. - Auf der Spiegelkonsole nehmen die Cremetuben und -dosen zu - und es riecht nach so einem verrückten Parfüm. Ja, sie donnert sich auf, als hätte sie es nötig. Mutti sieht doch gut aus und hat eine schöne Haut...

Neulich fragte ihn die Mutter, ob sie was mitbringen solle. Er habe noch ein paar Wünsche offen ... Kaugummi, antwortete Ulf und fügte hinzu: Am liebsten auf dem Brot. Da sah ihn die Mutter an und sagte: Du bist ja so ein verrückter Kaugummicowboy, ohne sich über Ulfs Gereiztheit Gedanken zu machen.

Einmal brachte die Mutter eine Schachtel Pralinen mit und sagte zu Ulf: Für dich.

Erzürnt antwortete er: Haste von irgendeinem Macker bekommen.

Auch nach den Schularbeiten fragt ihn die Mutter nicht mehr. Früher ließ sie sich alles zeigen. Nun interessiert sie sich nicht mehr dafür. Zwischendurch musiziert immer wieder das Telefon und leuchtet phosphorgelb auf. Die Mutter stürmt dann jedes Mal wie ein Wirbelwind an ihr Handy: Ja, um acht also, sagt sie ... Welch eine aufgekratzte Stimme sie hat, denkt Ulf. - Wahrscheinlich wieder dieser Kerl: It de Mutti da? Die vielen Anrufe in den letzten Tagen.

Kein Tag vergeht, ohne daß Ulf nicht von der Mutter gelobt wird, weil er so furchtbar tüchtig ist und sich ganz allein versorgen kann. Und wenn sie abends losgeht, schimpft Ulf nicht mehr. Ist auch nicht mehr traurig. Er steigt aus dem Bett, geht ins Wohnzimmer, schaltet den Fernseher ein und probiert alle Kanäle aus, bis er einen spannenden Krimi findet. Ein Auto fliegt einem Abgrund entgegen - dann eine Explosion. Der Fahrer flieht brennend wie eine Fackel und stürzt sich ins Meer. Oben am Hang schießen Männer aus Maschinenpistolen. Der Verunglückte versteckt sich hinter den Klippen. Plötzlich ist im Wasser eine rote Lache zu sehen ... Spät, aber nicht müde, schleicht Ulf in sein Bett zurück, streichelt vorher noch einmal seinen Goldhamster und denkt: Hoffentlich taucht „It de Mutti da“ nicht in der Wohnung auf. Er fürchtet sich davor. Natürlich kann es auch schön sein, einen Vater zu bekommen, der mit einem Ringkämpfe veranstaltet und baden geht. Aber man weiß ja, wie solche Geschichten oft enden.

Ulf kann noch immer nicht einschlafen. Er steht auf. Essen? Nein, er hat keinen Hunger. Oder doch? Er geht in die Küche und schmiert sich Butter auf den Zwieback. Er denkt an Hagen, seinen Vater. Klettert mit ihm mühsam einen steinigen Weg hinauf. Hört die Mutter sagen: Ulf hat noch zu kleine Beinchen für einen so hohen Berg. Aber er hat eigensinnig darauf bestanden, bis auf die Spitze zu gelangen. Jetzt kann er nicht mehr. Vater hebt ihn rittlings auf die Schultern, ohne stehenzubleiben. Du bist ein König! Du bist ein König! ruft er zu Ulf. Blätter streicheln sein Gesicht. Auf Vaters Schultern sieht er deutlich, wie sich der Weg am Bergbach hervorwindet. Jeder der gleichmäßigen Schritte des Vaters teilt sich seinem Körper mit, versetzt ihn in ein gleichmäßiges Schaukeln. Ulfs Hände greifen in das schwarze Haar des Vaters, der ihn fest an seinen Knöcheln hält, während er sich über einen Absturz beugt und sagt: Jetzt fliegen wir hinunter. Jetzt fliegen wir hinunter. - Ulf singt ein Lied für sich allein. Er denkt an die Bäume, Schluchten und Berge. - Ach wäre doch Vater wieder da...

Aber alles um ihn herum ist still. Langsam kommt der Schlaf, die Augen werden ihm schwer - da hört er plötzlich Schritte die Treppe heraufkommen. Ob das Herr Baumert ist, der über ihm wohnt? Mutter kann es nicht sein; ihre Schritte klingen leiser. Doch die Schritte hören gerade vor der Wohnungstür auf.

Wer das wohl sein mag? Ulf hört das Knarren des Holzbodens. Schlüssel klirren, es ist, als suche eine Hand an der Flurtür herum. Das Licht verlischt. Sofort geht es wieder an. Eine Tür klappt zu. Es war wohl jemand aus der Nachbarwohnung ...

Ulf will wieder einschlafen, aber er hat vergessen, die Tür seines Zimmers zu schließen. Plötzlich hört er wieder Geräusche im Hausflur. Gleich laut klingt es immer überein: Tap - tapp - tapp - tapp... Schon wieder jemand. Wer mag das sein? - Oh, er ist kein Feigling!

Vorsichtig schleicht er, so leise er kann, zur Korridortür. Ist da jemand! ruft er. Ulf erschrickt vor seiner eigenen Stimme. Er öffnet die Korridortür. Aber da ist niemand. Das Licht geht wieder aus. Plötzlich merkt er, daß die Küche beleuchtet ist. Bestimmt ist Mutter gekommen mit ihrem „Itt de ... da“. Ulf schwitzt vor Aufregung, nun diesem „It de da“ - die Hand geben zu müssen wie neulich, als plötzlich dieser dicke Kerl an sein Bett trat, im Hintergrund seine Mutter. Ich bin Figurd, hatte er gesagt. Gold blitzte aus seinen Zähnen.

Ulf verkriecht sich wieder im Bett. Plötzlich spricht eine andere Stimme zu Ulf: Junge, warum verkriechst du dich denn so unter die Federn?

Oh! Oh! - Du bist es ja, Vater. Mein lieber Papi. - Ulf kann sich gar nicht so rasch besinnen. Die Angst ist wie weggepustet. Aber er kann vor Weinen und Schluchzen nicht antworten.

Junge, was ist denn nur los? Was fehlt dir? fragt Vater besorgt und beugt sich über Ulf. Er schlingt schnell beide Arme um Vaters Hals und kann nicht sprechen. Da nimmt der Vater ihn auf den Arm und trägt ihn in die helle Stube.

Da erzählt Ulf alles über die Mutter, erzählt ihm auch, welche Angst er im Bett ausgestanden hat.

Mutter ist nachts immer weg, sitzt nicht mehr bei ROSSMANN an der Kasse ... Fährt inzwischen ein BMW-Cabrio.

Ich verstehe, sagt der Vater. Mutter sieht gut aus. Alle wollen mit ihr zu tun haben. - Ich verdiene kaum noch einen Pfennig mit meiner Firma. Melde mich jetzt ab beim Gewerbeamt. Deswegen haben wir uns getrennt. Ich habe auch jemanden kennengelernt. Sie wohnt nicht weit von dir entfernt. Mutter hat ja nichts dagegen, daß ich ab und zu mal komme. Im Gegenteil. Deswegen durfte ich die Schlüssel behalten. Mutter hat mich angerufen. Sie hat mir gesagt, daß sie nur noch nachts arbeitet; ich könnte dich jetzt so oft wie ich will besuchen. Deswegen bin ich heute auf etwas geheimnisvolle Weise zu dir gekommen.

Ulf drückt sich an den Vater. Langsam trägt er ihn ins Bett zurück und hält ihn noch an den Händen, bis Ulf endgültig eingeschlafen ist.

Am nächsten Morgen, als Ulf erwacht, steht plötzlich Mutter an seinem Bett. Unwirklich kommt sie ihm vor. So geschminkt und etwas verschmiert. Und das rechte Auge angeschwollen und blau angelaufen.

Was ist mit deinem Auge? fragt Ulf.

Ist nichts weiter, sagt die Mutter.

Willst du nicht aufstehen?

Will nicht, sagt Ulf.

Was ist mit dir?

Nichts. - Nichts.

Hast du nicht gut geschlafen?

Nein - nicht. Die Sterne stachen ...

Die Sterne stachen? - Wie meinst du das?

Ulf streckt seine Arme und Beine von sich, legt die Stirn in Falten und vergräbt die untere Gesichtshälfte im Kissen. Dann ruft er:

Das Bett ist mein Planet, das Zimmer meine Welt; sie kreist.

Die Mutter wird nachdenklich. Dann sagt sie: Rede nicht so wirres Zeug. - War Hagen gestern noch da.

Ja, er war da!

Was hat er gesagt?

Er weiß, was du nachts machst. - Und der fette Kerl wäre dein Zuhälter. - Was ist das, ein Zuhälter?

Das verstehst du noch nicht, sagt die Mutter.

Warst du wieder mit diesem Kerl zusammen?

Kerl?

It de Mutti da. - Der?

Wie du sprichst, Ulf.

Der die Zigarettenasche fallen läßt. Klingelt dein Handy, saust du wie eine Verrückte los. Der ist doch nicht so schön und jung wie Hagen. Hagen sagt, der beherrscht alle Bordelle der Stadt. Hat noch ein Bordell in Prag. Du arbeitest für ihn. - Was ist das eigentlich, ein Bordell? Was mußt du da machen? Hagen sagte, die Menschen verwandeln sich darin zu Tieren. Dafür würden manche Männer viel Geld bezahlen. Er gibt dir Geld. - Nicht wahr? Deswegen hast du so ein Cabrio vor der Tür. Ich will darin nicht fahren. In Vaters altem Mazda bin ich viel glücklicher als im Cabrio. Ich will Hagen. Hagen bekommt bestimmt bald wieder eine Arbeit. Und ich will noch einen Bruder.

Die Mutter drückt Ulf ganz fest an die Brust.

Nach einer Weile steht sie am Fenster und sieht lange nach draußen. Auf einmal sagt sie: Sinnlos dieses Leben...

Ulf hopst aus dem Bett und sagt: Heute mache ich mal das Frühstück. - Ich gehe erst später in die Schule. - Heute bestimme ich.

Plötzlich klingelt wieder das Handy. Ulf drückt und schreit: It de Mutti da? It de Mutti da? Schmeißt das Handy auf den Sessel.

Beim Frühstück sagt die Mutter: Ob mich Hagen noch will?

Ich kann das schon hinbiegen, sagt Ulf.


***


Die Naiven

Von Johannes Bettisch


„Heute kommen zehn schwarze Studenten zu uns, um den Sommer zu verbringen.“ Das neben einem Gebirgskurort groß angelegte Gebäude einer vorherigen Offiziersschule war dem Unterrichtsministerium zugeteilt worden, um dort in den Schulferien Fortbildungskurse zu organisieren. Das war auch die Periode, als zahlreiche junge Leute aus Afrika in größerer Zahl auf eigene Kosten im Ausland zu studieren begannen, und die Zehn, die eben einen einjährigen Sprachkurs in der Hauptstadt absolviert hatten, um die Vorlesungen im folgenden Jahr verstehen zu können, fuhren über die Sommerferien für die Paar Wochen nicht mehr nach Hause, nach Afrika, sondern verbrachten die Zeit auf Kosten des Staates im Gebirge. Zufällig dort, wo auch wir waren.

Bis dann hatten wir nur in Filmen Neger gesehen, keine in Fleisch und Blut, und wir gafften alle sehr fasziniert, als die zehn Studenten aus dem Bus stiegen. Sie waren gut aussehend, groß, schlank und sehr elegant, trugen schöne, moderne Krokodilkoffer, wie es sich für Söhne von Öl- und anderen Königen ziemt.

Sie warteten in einer Gruppe mit ihren Koffern neben dem Eingang, bis ihr Leiter mit der Verwaltung alles geregelt hatte und sie auf ihre zugewiesenen Zimmer gehen konnten.

Ein Kollege von unserer Gruppe mit mehr Initiative hat sie angesprochen, und freundliche Antwort bekommen. Dann fasste er Mut, und er begann sein Opfer so richtig zu verhören: Von wo sie kämen, was sie studieren, wie es bei ihnen zu Hause ist, ob es dort auch Häuser gibt so wie hier, ob sie auch Fleisch essen so wie da, ob es bei ihnen Kuchen gibt so wie bei uns, wie viele Frauen sie haben dürfen, ob es Asphaltstraßen und Autos, Flugzeuge gibt und vieles andere, worauf der Gefragte mit einer Geduld, die jedem Engel Ehre gemacht hätte, ausführliche Antworten gab. In unserer eigenen Landessprache. Als dem Kollegen irgendwann keine weitere Fragen mehr einfallen wollten, gab er seinem Staunen Ausdruck:

„Aber, wirklich, Herr Kamarra - sie hatten sich am Anfang ihrer Konversation vorgestgellt -wie gut Sie unsere Sprache sprechen! In wie viel Zeit haben Sie sie erlernt?“

„Heuer. Wir hatten einen neunmonatigen Kurs in der Hauptstadt.“

„Phantastisch ! Ich könnte Ihre Sprache nicht einmal in zehn Jahren erlernen !“

„Na ja, das hängt doch nur von Ihnen allein ab, nicht wahr?“ grinste der schwarze Student ihn an, und wandte sich abrupt seinen eigenen Kollegen zu. Unser Kollege verstand leider die Geste nicht, und es ging ihm auch nicht durch den Kopf, dass er sich und uns zugleich zu Affen gemacht hatte.

Später haben wir uns befreundet. Das war der sympathische Herr Kamara Seku aus Kamerun, jetzt vermutlich Doktor Ingenieur für Erdölwesen in Ruhestand.

   

Netzbrücke:

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