Hochburg des Verbrechens
Von Michael Kiesen
Wenn man jemand Macht gibt, neigt er dazu, sie zu
missbrauchen.
Stuttgart, Ende Januar. Ich war bei meiner charmanten
türkischen Friseuse, einer Könnerin. Der Salon befindet
sich im ersten Stock des Wilhelmsbaus. Ich saß am Fenster
und sah auf den Rotebühlplatz hinab. Während der starken
Stunde, die ich mich in dem Salon aufhielt, fuhren mindestens 10
Polizeiautos vorbei, meist Kleinbusse, aber auch PKWs in Grün
und Weiß. Man könnte glauben, dass Stuttgart eine Hochburg
des Verbrechens ist und sogar Chicago hierbei übertrumpft.
Auf der oberen Königstraße habe ich manchmal
schon vier Doppelstreifen angetroffen. Fast täglich patrouillieren
Polizistenpaare auf der Königstraße und halten junge
Ausländer oder schlampig angezogene junge Deutsche an. Ich
bummle sehr oft auf der Königstraße, habe dort jedoch
noch nie etwas Bedrohliches erlebt. Trotzdem ist die Polizei in
dieser Fußgängerzone auffällig präsent.
Im letzten Sommer saßen sechs Punks auf den
Stufen der Jubiläumssäule, errichtet zu Ehren König
Wilhelms I. von Württemberg. Diese Jungen und Mädchen
waren nicht verwahrlost, schienen eher Modepunks zu sein. Vier Polizistinnen
und Polizisten befassten sich mindesten eine halbe Stunde mit den
jungen Leuten, durchsuchten deren Rucksäcke, hoben die T-Shirts
an, ließen sich das, was in den Jeanstaschen war, zeigen.
Dann führten sie ein Mädchen und einen Jungen ab. Man
fragt sich, auf welcher Rechtsgrundlage diese Aktion stattfand.
Im Herbst parkte ein Polizeikleinbus in einer Seitenstraße
der unteren Königstraße. Vier Polizisten überprüften
Ausweise einer Gruppe junger Leute südländischer Herkunft,
vielleicht schon deutsche Staatsbürger. Die jungen Typen konnten
dann alle weitergehen. Sie fühlten sich gedemütigt und
die Staatsseite konnte keinen Erfolg verbuchen. Ein gelungener Beitrag
zur Integration.
Auch auf dem Volksfest wandern immer wieder Polizisten
zu zweit in entschlossener Haltung umher. Sicher, es gibt dort Betrunkene
und Schlägereien. Aber wenn dann zwei Polizisten einen schmächtigen
jungen Mann in Handschellen über den Platz bei der Fruchtsäule
führen, fragt man sich doch, ob der Jüngling ein solches
Ungeheuer sein kann, dass man ihn so anpacken muss.
Dann gibt es Selim, ein Roma aus dem Kosovo, der auf
Duldungsbasis in Stuttgart lebt. Ich habe ihn vor Jahren über
einen Freund kennen gelernt und treffe ihn immer mal wieder, wenn
ich vom Mineralbad oder Volksfest kommend an der Haltestelle Staatsgalerie
umsteigen will und noch ein bisschen im Schlossgarten herumwandere,
bis die U-Bahn nach Botnang eintrifft. Selim hält sich in dieser
Zone auf, weil er ab und zu mit Männern oder Frauen mitgeht,
um seine Einkünfte aufzubessern. Er wurde schon wiederholt
von Polizisten angehalten, die ihn dann in eine öffentliche
Toilettenanlage, die sich oberhalb des U-Bahnschachts befindet,
mitnahmen und ihn aufforderten, sich ganz auszuziehen, um zu prüfen,
ob er Drogen bei sich habe.
Anfang Februar stand ein durchaus gutaussehender junger
Polizist auf der unteren Königstraße bei zwei punkhaft
gestylten Jugendlichen; seine Kollegin, die mir den Rücken
zuwandte, telefonierte mit dem Handy. Ich sah den Polizisten fragend
an; er schien dies zum bemerken, und ich betrat die St. Eberhardskirche,
in der ich öfter gerne verweile, den Alltagswidrigkeiten enthoben.
Faschingsferien. Unzählige junge Leute, die nicht
in der Berufsschule oder im achtjährigen Gymnasium festgehalten
werden, streiften auf der Königstraße umher. Zwei schmächtige
Jünglinge saßen auf einer Bank aus Drahtgeflecht, die
den Stamm einer Platane an der Grenze zwischen Königstraße
und Kronenstraße umgibt. Ein athletischer Polizist stand vor
ihnen und sagte ab und zu ein paar Sätze in vorwurfsvollem
Ton. Sein Kollege stand breitbeinig einige Meter entfernt da und
telefonierte mit einer Miene, die ausdrückte, was für
einen wichtigen Staatsakt er vollzog. Der eine der beiden jungen
Typen hatte hellbraune Stoppelhaare, der andere war dunkelhaarig,
wirkte aber nicht unbedingt wie ein Südländer. Er stand
zwischendurch auf, setzte sich wieder und in seinen Zügen spiegelte
sich etwas wie Verzweiflung. Was hatte er wohl angestellt? Den Ausweis
nicht mitgenommen? Oder war er mal mit Drogen erwischt worden, und
die Polizisten hofften, wieder welche bei ihm zu finden? Der zweite
Polizist beendete sein Telefonat und trat auf seinen Kollegen zu,
redete mit ihm, dann mit dem dunkelhaarigen Jüngling. Ich ging
weiter, wollte noch Gemüse einkaufen. Ich betrat dann das Reformhaus,
wo ab und zu eine Plauderei entsteht, wenn wenige Kunden da sind;
ich beklagte mich über die polizeistaatsähnliche Situation
in der Innenstadt. Eine der beiden Damen, die das Geschäft
betreuen, erzählte, sie sei neulich mit ihrem Sohn zur Staatsgalerie
gegangen; da habe es im Mittleren Schlossgarten eine Razzia gegeben;
die Strecke zwischen Klett-Passage und Planetarium sei grün
gewesen vor Uniformen. In dieser Gegend hängen einige Stricher
herum, von denen ein paar vielleicht auch Drogen nehmen. Da reinzuschlagen
ist für das Gemeinwohl natürlich von äußerster
Wichtigkeit.
Am Samstag, 26. Februar, war mein Ziel der Saunabereich
des Hallenbads Heslach. Ich stieg an der Haltestelle Stadtmitte
in die Linie 14 um. Eine Station danach, am Österreichischen
Platz, kamen eine Polizistin und ein Polizist in meinen Waggon und
nahmen Platz. Weiter vorn stand ein Schwarzer und sah die Uniformierten
sorgenvoll an. Am Marienplatz stieg ich aus, auch die Polizisten
und der Schwarze verließen die U-Bahn. Der Afrikaner bewegte
sich auf die Rolltreppe zu, erreichte sie, die Polizistin beeilte
sich, überholte den Typ auf der Rolltreppe, wohl um sich ihm
auf der oberen Ebene entgegenzustellen. Ihr Kollege lief unterdessen
die Steintreppe hinauf. Ich selbst kam nun auch an die Rolltreppe
und wurde nach oben getragen. Ich gelangte in eine Vorhalle. Dort
standen die Polizistin und ihr Kollege nicht bei dem Schwarzen,
sondern einem ordentlich gekleideten, gutaussehenden dunkelhaarigen
jungen Typ. Die Polizistin hielt einen Ausweis und telefonierte
mit dem Handy. Ihr Kollege war blond, hatte kantige Züge, aus
denen Aggressivität sprach. Der junge Südländer sah
geradeaus, ins Ungewisse. Ein widerliches Schauspiel.
In der Innenstadt schleichen völlig heruntergekommene
ältere Männer herum, Bierflasche oder Weinflasche in der
Hand, bedauernswerte Gestalten; trotzdem könnte man ihr Verhalten
als Störung der öffentlichen Ordnung auffassen. Doch ich
habe noch nie bemerkt, dass sich Polizisten mit diesen „dirty
old men“ befasst hätten. Immer scheinen sie ihre Aufmerksamkeit
auf junge Leute zu richten. Es sind nicht nur junge Ausländer.
Was für ein Eindruck macht dieses Staatswesen auf Jugendliche,
die sich dauernd von der Polizei verfolgt fühlen? Es sind natürlich
nicht die Sprösslinge aus der Oberschicht; die feiern ihre
Partys mit Joints und Koks in den Villen ihrer Eltern, unbehelligt
von der Polizei.
Die „Stuttgarter Zeitung“ berichtete,
die Regierung wolle 600 Polizistenstellen streichen. Widerspruch
kam von der SPD; wegen steigender Jugendkriminalität müsse
der Kontrolldruck auf junge Leute durch Polizeipräsenz aufrechterhalten
werden. Was für absurde Zustände! Diese Partei, die die
Belange der einfachen Leute vertreten will, setzt sich dafür
ein, dass Abkömmlinge ihrer Anhänger von Polizisten aufgegriffen
und kriminalisiert werden. Sie merken nicht, dass sie die Konservativen
rechts überholen. Mit Repression löst man kein soziales
Problem.
Vorfall auf der Marienstraße, Ende März.
Ich traf mich mit einer guten Freundin in einem Café,
das am Beginn der Marienstraße liegt. Wir unterhielten uns
eine Weile und traten dann auf die Straße. Mildes Frühlingslicht
umfloss uns. Eine Polizistin und ein Polizist gingen mit festem
Tritt vor uns.
„Deine besonderen Freunde“, spöttelte
meine Bekannte, eine Albanerin, der ich nach längerem Kampf
die deutsche Staatsangehörigkeit verschafft habe.
„Ich ärgere mich jedesmal, wenn ich denen
begegne. Sie streifen durch die Stadt und greifen sich irgendwelche
jungen Leute. Natürlich wünschen sie sich, bei denen Drogen
zu finden. Sie suchen geradezu nach Arbeit. Man könnte meinen,
es gäbe in diesem Staat kein größeres Problem als
Drogen. Dabei geht es einfach um Prohibition. Alkohol war in Amerika
auch mal verboten.“
Dann erklärte ich meiner Bekannten, wie das Betäubungsmittelgesetz
entstanden sei. Wir überquerten die Sophienstraße. Der
nun folgende Teil der Marienstraße ist keine Fußgängerzone
mehr. Ich bemerkte, dass neben mir auf dem Gehweg ein Mann ging,
um vierzig wohl, schlank, drahtig, Glatze. Ich sprach weiter über
Hippies und Drogen. Der Typ überholte nicht, er blieb neben
mir. Da hielt ich meine Begleiterin am Ärmel fest und murmelte,
sie solle stehen bleiben. Der Mann machte noch einige Schritte,
dann kehrte er um und ging an uns vorbei. Meine Bekannte lächelte
zweifelnd. „Wirst du verfolgt?“ „Was macht er
jetzt?“, fragte ich. Ich wollte mich nicht umdrehen, sie jedoch
hatte sich mir zugewandt und konnte die Straße in beiden Richtungen
beobachten. „Er steht am Schaufenster einer Buchhandlung und
tut so, als ob er die Bücher ansieht.“ „Sehr seltsam.“
Wir gingen weiter und ich berichtete über die Drogengesetzgebung
des deutschen Parlaments. „Folgt er uns?“, wollte ich
wissen. Sie drehte den Kopf. „Nein, jetzt geht er in die andere
Richtung.“ „Wahrscheinlich ein verdeckter Ermittler,
der das Stichwort ‚Drogen‘ aufgeschnappt hat. Er hat
wohl gehofft, ich würde dir gleich eine Prise Kokain anbieten.“
In den zahllosen ungeschickt konstruierten Fernsehkrimis,
jedenfalls den deutschen, sind Polizisten und besonders Kriminalbeamte
Lichtgestalten, die das Böse bekämpfen und in unerforschlicher
Weisheit furchtbare Verbrechen aufklären. Ich bin ein liederlicher
Mensch und verehre diese Leute nicht. Ich fühle mich nicht
sicherer, wenn ich ihnen begegne, sondern ich komme mir gegängelt
vor. Sie sind Symbole des Überwachungsstaats, der immer gieriger
wird.
***
It de Mutti da
Von Reinhard Bernhof
Früher wurde Ulf von seiner Mutter mit einem Kuß geweckt,
bekam noch einen Kakao gekocht, bevor er in die Schule ging. Jetzt
schläft sie den ganzen Vormittag hindurch, weil sie nachts
nicht zu Hause ist. Kauf dir einen Riegel, stand gestern auf dem
Zettel in der Küche, ein Zwei-Euro-Stück lag daneben.
Ulf denkt: Statt geweckt zu werden mit einem Kuß
wie früher, klingelt nur noch der komische Wecker mit der Elektronik-Anzeige;
dudelt nur noch die blöde Musik mit den Affenstimmen; dabei
pellt er sich langsam aus den warmen Federn, gähnt und streckt
sich und verschwindet im Badezimmer. - Überall hängen
Mutters neue Klamotten herum, fallt ihm auf, und diese komische
Unterwäsche in ihrem Schlafzimmer: rote und schwarze Büstenhalter,
Slips so dünn wie Schnürsenkel... Früher hatte sie
doch alles in Weiß. - Auf der Spiegelkonsole nehmen die Cremetuben
und -dosen zu - und es riecht nach so einem verrückten Parfüm.
Ja, sie donnert sich auf, als hätte sie es nötig. Mutti
sieht doch gut aus und hat eine schöne Haut...
Neulich fragte ihn die Mutter, ob sie was mitbringen
solle. Er habe noch ein paar Wünsche offen ... Kaugummi, antwortete
Ulf und fügte hinzu: Am liebsten auf dem Brot. Da sah ihn die
Mutter an und sagte: Du bist ja so ein verrückter Kaugummicowboy,
ohne sich über Ulfs Gereiztheit Gedanken zu machen.
Einmal brachte die Mutter eine Schachtel Pralinen
mit und sagte zu Ulf: Für dich.
Erzürnt antwortete er: Haste von irgendeinem
Macker bekommen.
Auch nach den Schularbeiten fragt ihn die Mutter nicht
mehr. Früher ließ sie sich alles zeigen. Nun interessiert
sie sich nicht mehr dafür. Zwischendurch musiziert immer wieder
das Telefon und leuchtet phosphorgelb auf. Die Mutter stürmt
dann jedes Mal wie ein Wirbelwind an ihr Handy: Ja, um acht also,
sagt sie ... Welch eine aufgekratzte Stimme sie hat, denkt Ulf.
- Wahrscheinlich wieder dieser Kerl: It de Mutti da? Die vielen
Anrufe in den letzten Tagen.
Kein Tag vergeht, ohne daß Ulf nicht von der
Mutter gelobt wird, weil er so furchtbar tüchtig ist und sich
ganz allein versorgen kann. Und wenn sie abends losgeht, schimpft
Ulf nicht mehr. Ist auch nicht mehr traurig. Er steigt aus dem Bett,
geht ins Wohnzimmer, schaltet den Fernseher ein und probiert alle
Kanäle aus, bis er einen spannenden Krimi findet. Ein Auto
fliegt einem Abgrund entgegen - dann eine Explosion. Der Fahrer
flieht brennend wie eine Fackel und stürzt sich ins Meer. Oben
am Hang schießen Männer aus Maschinenpistolen. Der Verunglückte
versteckt sich hinter den Klippen. Plötzlich ist im Wasser
eine rote Lache zu sehen ... Spät, aber nicht müde, schleicht
Ulf in sein Bett zurück, streichelt vorher noch einmal seinen
Goldhamster und denkt: Hoffentlich taucht „It de Mutti da“
nicht in der Wohnung auf. Er fürchtet sich davor. Natürlich
kann es auch schön sein, einen Vater zu bekommen, der mit einem
Ringkämpfe veranstaltet und baden geht. Aber man weiß
ja, wie solche Geschichten oft enden.
Ulf kann noch immer nicht einschlafen. Er steht auf.
Essen? Nein, er hat keinen Hunger. Oder doch? Er geht in die Küche
und schmiert sich Butter auf den Zwieback. Er denkt an Hagen, seinen
Vater. Klettert mit ihm mühsam einen steinigen Weg hinauf.
Hört die Mutter sagen: Ulf hat noch zu kleine Beinchen für
einen so hohen Berg. Aber er hat eigensinnig darauf bestanden, bis
auf die Spitze zu gelangen. Jetzt kann er nicht mehr. Vater hebt
ihn rittlings auf die Schultern, ohne stehenzubleiben. Du bist ein
König! Du bist ein König! ruft er zu Ulf. Blätter
streicheln sein Gesicht. Auf Vaters Schultern sieht er deutlich,
wie sich der Weg am Bergbach hervorwindet. Jeder der gleichmäßigen
Schritte des Vaters teilt sich seinem Körper mit, versetzt
ihn in ein gleichmäßiges Schaukeln. Ulfs Hände greifen
in das schwarze Haar des Vaters, der ihn fest an seinen Knöcheln
hält, während er sich über einen Absturz beugt und
sagt: Jetzt fliegen wir hinunter. Jetzt fliegen wir hinunter. -
Ulf singt ein Lied für sich allein. Er denkt an die Bäume,
Schluchten und Berge. - Ach wäre doch Vater wieder da...
Aber alles um ihn herum ist still. Langsam kommt der
Schlaf, die Augen werden ihm schwer - da hört er plötzlich
Schritte die Treppe heraufkommen. Ob das Herr Baumert ist, der über
ihm wohnt? Mutter kann es nicht sein; ihre Schritte klingen leiser.
Doch die Schritte hören gerade vor der Wohnungstür auf.
Wer das wohl sein mag? Ulf hört das Knarren des
Holzbodens. Schlüssel klirren, es ist, als suche eine Hand
an der Flurtür herum. Das Licht verlischt. Sofort geht es wieder
an. Eine Tür klappt zu. Es war wohl jemand aus der Nachbarwohnung
...
Ulf will wieder einschlafen, aber er hat vergessen,
die Tür seines Zimmers zu schließen. Plötzlich hört
er wieder Geräusche im Hausflur. Gleich laut klingt es immer
überein: Tap - tapp - tapp - tapp... Schon wieder jemand. Wer
mag das sein? - Oh, er ist kein Feigling!
Vorsichtig schleicht er, so leise er kann, zur Korridortür.
Ist da jemand! ruft er. Ulf erschrickt vor seiner eigenen Stimme.
Er öffnet die Korridortür. Aber da ist niemand. Das Licht
geht wieder aus. Plötzlich merkt er, daß die Küche
beleuchtet ist. Bestimmt ist Mutter gekommen mit ihrem „Itt
de ... da“. Ulf schwitzt vor Aufregung, nun diesem „It
de da“ - die Hand geben zu müssen wie neulich, als plötzlich
dieser dicke Kerl an sein Bett trat, im Hintergrund seine Mutter.
Ich bin Figurd, hatte er gesagt. Gold blitzte aus seinen Zähnen.
Ulf verkriecht sich wieder im Bett. Plötzlich
spricht eine andere Stimme zu Ulf: Junge, warum verkriechst du dich
denn so unter die Federn?
Oh! Oh! - Du bist es ja, Vater. Mein lieber Papi.
- Ulf kann sich gar nicht so rasch besinnen. Die Angst ist wie weggepustet.
Aber er kann vor Weinen und Schluchzen nicht antworten.
Junge, was ist denn nur los? Was fehlt dir? fragt
Vater besorgt und beugt sich über Ulf. Er schlingt schnell
beide Arme um Vaters Hals und kann nicht sprechen. Da nimmt der
Vater ihn auf den Arm und trägt ihn in die helle Stube.
Da erzählt Ulf alles über die Mutter, erzählt
ihm auch, welche Angst er im Bett ausgestanden hat.
Mutter ist nachts immer weg, sitzt nicht mehr bei
ROSSMANN an der Kasse ... Fährt inzwischen ein BMW-Cabrio.
Ich verstehe, sagt der Vater. Mutter sieht gut aus.
Alle wollen mit ihr zu tun haben. - Ich verdiene kaum noch einen
Pfennig mit meiner Firma. Melde mich jetzt ab beim Gewerbeamt. Deswegen
haben wir uns getrennt. Ich habe auch jemanden kennengelernt. Sie
wohnt nicht weit von dir entfernt. Mutter hat ja nichts dagegen,
daß ich ab und zu mal komme. Im Gegenteil. Deswegen durfte
ich die Schlüssel behalten. Mutter hat mich angerufen. Sie
hat mir gesagt, daß sie nur noch nachts arbeitet; ich könnte
dich jetzt so oft wie ich will besuchen. Deswegen bin ich heute
auf etwas geheimnisvolle Weise zu dir gekommen.
Ulf drückt sich an den Vater. Langsam trägt
er ihn ins Bett zurück und hält ihn noch an den Händen,
bis Ulf endgültig eingeschlafen ist.
Am nächsten Morgen, als Ulf erwacht, steht plötzlich
Mutter an seinem Bett. Unwirklich kommt sie ihm vor. So geschminkt
und etwas verschmiert. Und das rechte Auge angeschwollen und blau
angelaufen.
Was ist mit deinem Auge? fragt Ulf.
Ist nichts weiter, sagt die Mutter.
Willst du nicht aufstehen?
Will nicht, sagt Ulf.
Was ist mit dir?
Nichts. - Nichts.
Hast du nicht gut geschlafen?
Nein - nicht. Die Sterne stachen ...
Die Sterne stachen? - Wie meinst du das?
Ulf streckt seine Arme und Beine von sich, legt die
Stirn in Falten und vergräbt die untere Gesichtshälfte
im Kissen. Dann ruft er:
Das Bett ist mein Planet, das Zimmer meine Welt; sie
kreist.
Die Mutter wird nachdenklich. Dann sagt sie: Rede
nicht so wirres Zeug. - War Hagen gestern noch da.
Ja, er war da!
Was hat er gesagt?
Er weiß, was du nachts machst. - Und der fette
Kerl wäre dein Zuhälter. - Was ist das, ein Zuhälter?
Das verstehst du noch nicht, sagt die Mutter.
Warst du wieder mit diesem Kerl zusammen?
Kerl?
It de Mutti da. - Der?
Wie du sprichst, Ulf.
Der die Zigarettenasche fallen läßt. Klingelt
dein Handy, saust du wie eine Verrückte los. Der ist doch nicht
so schön und jung wie Hagen. Hagen sagt, der beherrscht alle
Bordelle der Stadt. Hat noch ein Bordell in Prag. Du arbeitest für
ihn. - Was ist das eigentlich, ein Bordell? Was mußt du da
machen? Hagen sagte, die Menschen verwandeln sich darin zu Tieren.
Dafür würden manche Männer viel Geld bezahlen. Er
gibt dir Geld. - Nicht wahr? Deswegen hast du so ein Cabrio vor
der Tür. Ich will darin nicht fahren. In Vaters altem Mazda
bin ich viel glücklicher als im Cabrio. Ich will Hagen. Hagen
bekommt bestimmt bald wieder eine Arbeit. Und ich will noch einen
Bruder.
Die Mutter drückt Ulf ganz fest an die Brust.
Nach einer Weile steht sie am Fenster und sieht lange
nach draußen. Auf einmal sagt sie: Sinnlos dieses Leben...
Ulf hopst aus dem Bett und sagt: Heute mache ich mal
das Frühstück. - Ich gehe erst später in die Schule.
- Heute bestimme ich.
Plötzlich klingelt wieder das Handy. Ulf drückt
und schreit: It de Mutti da? It de Mutti da? Schmeißt das
Handy auf den Sessel.
Beim Frühstück sagt die Mutter: Ob mich
Hagen noch will?
Ich kann das schon hinbiegen, sagt Ulf.
***
Die Naiven
Von Johannes Bettisch
„Heute kommen zehn schwarze Studenten zu uns, um den Sommer
zu verbringen.“ Das neben einem Gebirgskurort groß angelegte
Gebäude einer vorherigen Offiziersschule war dem Unterrichtsministerium
zugeteilt worden, um dort in den Schulferien Fortbildungskurse zu
organisieren. Das war auch die Periode, als zahlreiche junge Leute
aus Afrika in größerer Zahl auf eigene Kosten im Ausland
zu studieren begannen, und die Zehn, die eben einen einjährigen
Sprachkurs in der Hauptstadt absolviert hatten, um die Vorlesungen
im folgenden Jahr verstehen zu können, fuhren über die
Sommerferien für die Paar Wochen nicht mehr nach Hause, nach
Afrika, sondern verbrachten die Zeit auf Kosten des Staates im Gebirge.
Zufällig dort, wo auch wir waren.
Bis dann hatten wir nur in Filmen Neger gesehen, keine
in Fleisch und Blut, und wir gafften alle sehr fasziniert, als die
zehn Studenten aus dem Bus stiegen. Sie waren gut aussehend, groß,
schlank und sehr elegant, trugen schöne, moderne Krokodilkoffer,
wie es sich für Söhne von Öl- und anderen Königen
ziemt.
Sie warteten in einer Gruppe mit ihren Koffern neben
dem Eingang, bis ihr Leiter mit der Verwaltung alles geregelt hatte
und sie auf ihre zugewiesenen Zimmer gehen konnten.
Ein Kollege von unserer Gruppe mit mehr Initiative
hat sie angesprochen, und freundliche Antwort bekommen. Dann fasste
er Mut, und er begann sein Opfer so richtig zu verhören: Von
wo sie kämen, was sie studieren, wie es bei ihnen zu Hause
ist, ob es dort auch Häuser gibt so wie hier, ob sie auch Fleisch
essen so wie da, ob es bei ihnen Kuchen gibt so wie bei uns, wie
viele Frauen sie haben dürfen, ob es Asphaltstraßen und
Autos, Flugzeuge gibt und vieles andere, worauf der Gefragte mit
einer Geduld, die jedem Engel Ehre gemacht hätte, ausführliche
Antworten gab. In unserer eigenen Landessprache. Als dem Kollegen
irgendwann keine weitere Fragen mehr einfallen wollten, gab er seinem
Staunen Ausdruck:
„Aber, wirklich, Herr Kamarra - sie hatten sich
am Anfang ihrer Konversation vorgestgellt -wie gut Sie unsere Sprache
sprechen! In wie viel Zeit haben Sie sie erlernt?“
„Heuer. Wir hatten einen neunmonatigen Kurs
in der Hauptstadt.“
„Phantastisch ! Ich könnte Ihre Sprache
nicht einmal in zehn Jahren erlernen !“
„Na ja, das hängt doch nur von Ihnen allein
ab, nicht wahr?“ grinste der schwarze Student ihn an, und
wandte sich abrupt seinen eigenen Kollegen zu. Unser Kollege verstand
leider die Geste nicht, und es ging ihm auch nicht durch den Kopf,
dass er sich und uns zugleich zu Affen gemacht hatte.
Später haben wir uns befreundet. Das war der
sympathische Herr Kamara Seku aus Kamerun, jetzt vermutlich Doktor
Ingenieur für Erdölwesen in Ruhestand.
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