XXVII. Jahrgang, Heft 148
Mai - Aug 2008/2
 
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Letzte Änderung:
14.6.2008

 
 

 

 
 

 

 

LYRIK




   
 
 


radiokultur
das ist eine melodie
frankfurt in hessen

es klingen akkorde
klare information
unbegrente offenheit

dieser sound
der herüber reicht
von jungen wilden

durch freies denken
das alte krawatten beschneidet
hoheitsvolle gesten

sie streift durch unterweiten
afrikanische waisen
verendende greise

durch wahlanalysen
und sportliche kämpfe
um schöpferische macht

ich lausche der melodie
belcanto und entfesselung
entwerfe neuen klang

Wilhelm Riedel

***

der staat ist ein meister
der betäubung

der tötungsakt des soldaten
ist nur schwer zu ertragen
für den täter das opfer stirbt
unbekannterweise verschieden

er steht im sold des staates
der ihm das leben erleichtert
dem opfer mehr als dem täter
die schuld zerrt an den nerven

hilft eine droge zu verabreichen
den druck auf den knopf nehmen
nicht die verantwortung des todes
ein staat meistert die betäubung

aus der mördergrube ein herz
macht er für seinen heeresstab
überhaupt das militär schützt
vor jeder gefahr im inneren hirn

Manfred Pricha

***

Hanka Cyganka

ruft das Dorf geht sie
vorbei die alten Häuser
sagen es die Bäume ja
selbst die Hühner geht sie
schneller die alte Frau
trippelt das Mädchen
an ihrer Hand wie damals
Hanka Cyganka als wären
die Deutschen wieder da

Norbert Büttner

***

Ethik des Lebens

Wenn der Morgen kommt
MUSS ich mich anklagen
Um tiefe Erkenntnis ringen
Orientierung suchen
Seelenverwandtschaften töten
Zwei Stationen meines Lebens
Zerfetzen den Körper
Beschreiben die Vorstellung
Und überzeugende ethische Haltung
Das Jahr geht vorbei
Und die Feindschaft
Liest meine empfindsamen Worte
Wahre Schönheit und göttliche Kunst
Wie das vernachlässigte Äußere

Jasmina Segrt

***

Der Parallelismus – parabol

der Strukturalismus
strukturlos

lilablassblaue
Goldkreuze
an der Wand

der geklonte Mann
braucht die Frau
nicht mehr

Deckel zu
es stinkt
und blutet

die existentielle
Trauer
der müden
Akteure

mein Elefant ohne
Stoßzahn
schau mich bitte
nicht so an

Magna Charta
Declaration of Independence
Margaret Thatcher

Hast du versucht
unter Wasser
Rikscha zu fahren?

Der einsame Esel
auf dem
Motorboot

Die zerbrochene
Lupe
die Scherben
des Messbechers
so klar die Splitter
kennst du das
Dunkel
eines
geöffneten Mundes

die schwimmende
Schildkröte
ins Licht
hinein

Die Raben
sind zahm
geworden
sie fressen
mir aus
der Hand

strömendes Lava
scheues Reh
hexenhafte Wolken
6- eckige Eidotter

die Fischschwärme
diagonal
in eine Richtung
blickend

metallene Steinsäge
rast durch den Felsen
auf Holzblöcke gelagert
Wasser kühlt dich

hängende Lilie
im Schlachthaus
aufgespießte
Hühnerköpfe

abgehackter Daumen
paarende Schmetterlinge

dekonstruiere die Strukturen

Sara Ehsan

***

Sich selbst verwertender Wert

Sieh, wie der verselbständigte Tauschwert
Natur- & Menschenmaterial an sich reißt,
sich einbrennt in neuronale Netzwerke
("Wer nicht an mir hängt, ist schon
Konkursmasse!"),
jeden dazu aufruft, sich ihm anzuähneln:
nämlich sich selbst zu verwerten
& Warenschein nachzuäffen,
hörig den Selbstdarstellungsdiktaten
von Charaktermasken für Charaktermasken –
"Komm zu dir, indem du dich
gleich mir vergleichgültigst!"

Wer noch das alte Schlagwort von der
"Großen Verweigerung" bemüht,
wird herzlich ausgelacht, ist nicht angekommen
im globalisierten Hier & Jetzt...
Man zerredet den Klimawandel, begipfelt sich,
um weiter dem Wachstumszwang zu frönen,
hat "Spass" an der Konkurrenz der Egos
Noch ist jede durchgebrannte Lampe ersetzbar
"Wer hat, dem wird gegeben"
(Sankt-Matthäus-Syndrom)
& "Wer nicht will, der hat schon"
(verspielt)
Weltkapitalismus als Leitkultur...

Was das Proletariat nicht schaffte,
schafft vielleicht die Natur:
auszuhebeln die strukturgesetzlich
verordnete "maßlose Verwertung" –
Natur als hoffnungsloser Fall:
Der Wirt entzieht sich dem Virus
& schlägt die Tür zu.
Ist die Flexibilität des Großen Signifikanten
mehr als nur Waren-Diversifikation?
Die Möglichkeiten der Schadensverwertung sind begrenzt,
doch noch funktioniert die Allianz der Bosse & Spießer...
Mensch, trink das Meer aus –
Hörst du die gepressten Rufe?
Das ist deine "andere Seite",
so weit sie noch nicht verschütt ging; sie fragt dich:
Wie wäre es denn wenigstens mit
einer aus sich selbst heraus reicher
werdenden Serie kleiner Verweigerungen?
Als Ersatz einer vielleicht
nicht mehr realisierbaren Menschenwürde?

Thomas Collmer

***

polytopisch

neon röhrt zum knisternden kaminrauschen
in zahlenkolonnaden und zickzackkurven
plus minus spielt man tennis mit al-khowarizm
zu zweit trennt sich die doppelt brüchige helix.

gelöst spricht die gleichung selbst und renkt
glieder wieder ein, wenn eine zeile verrutscht:
denn dies ist mein leib und hasloche gehabt:
beendet einmal nach unzähligen schritten.

optimiert im schwarm, such das rezept die symbole
zu mischen und die tiefe der menge zu messen,
das omrikon im roten himmel erkennen, die pfeile
immer wieder von einem anderen ort verschießen.

die gewichtung vernichten, nach dem schnelleren weg
fragen und an den polytopos verwiesen werden
gleicht ihren graphospastischen bewegungen: sie
schaukeln die worte durch den tag entlang einer linie.

Swantje Lichtenstein

***

Die Letzten, die mit den ausgeblasenen
Köpfen
und transparenten Bäuchen werden
Atompilze sammeln in den
Wäldern kokiger Stummel.
Sie werden nichts mehr wissen.
Wo Buchstaben waren, sind
die Pergamente durchlöchert.
Strahlenzeichnungen an Mauerresten
reden von der Steinzeit.
Deuten können sie das nicht.
Wer Kinder kriegt, nur mit ausgebla-
senen Köpfen, 500 000 Jahre zurück.
Der Nachbar ist fünf Stunden weit.
Einige Würmer geben Hoffnung.
Einige Flechten Nahrung.
Erst in 100 000 Jahren wird man
fragen, ob früher in den ausgebla-
senen Köpfen etwas war.

Jaime Salas

***


Der Stern des Schicksals

   Für Anna, Köln 26.7.2007

Wem sollen wir mehr glauben?
Dem Stern des Schicksals
der aufgeht
am Himmel irgendeines Lebens
oder dem Engel
dessen Schatten auf uns fällt
wenn er uns zusammen bringt
wie Orpheus und Euridike
Du warst mir so nah
dass ich spürte, wie ich mich verbarg
in einem deiner Wünsche oder Gedanken
die Nacht nahm uns auf
Wann hatte Köln jemals zwei
engelsgleiche Sonnen gehabt
das Glück ließ mich schweben
hoch über den Kölner Dom hin
aber du konntest mich mit deinem Wesen
wieder einfangen
dafür brauchten wir keine anderen Zeugen
als unseren gemeinsamen Gott
sogar mit einem Quentchen Zweifel
dass auf irgendeine Seite der Bibel
die Strahlen unseres Leitsterns fielen
jede Begegnung mit dir war mir
wie eine heilige Wallfahrt

Savo Kostadinovski

***

Steck meine Sorgen in Brand

   Für Bilge

Die Nacht hat sich mit Schnee bedeckt,
Den Bauch der Dunkelheit reißt du ab,
fließt in mein kaltes Zimmer,
erleuchtest und erwärmst mich

Mit Eis bedeckte Telefonseile
und weiße Vordächer (Fransen),
   „Ich erfriere fast „,als ich einen Brief
                   von dir bekomme,
Doch diese Zeilen erleuchten mich
und wärmen mein Herz

Du zeichnest Katzen, ich fotografiere,
in ihren Augen suche ich die deinen,
                    die so lachen,
und vor Lebensfreude nur so strahlen,
Ich schaue in diese Augen,
auf den Bildern,
sie erleuchten und erwärmen mich.

In dieser Nacht sind meine Augen sehr müde,
alles Licht ist ausgeschaltet,
habe im Himmel deine Augen gesucht,
und im Wind deinen Duft nach Thymian.
Deine Augen glänzen wie die Kristalle am Himmel,
sie vertreiben die dunklen Wolken,
erleuchten und erwärmen mich

In dieser mit Schnee bedeckten
Nacht spricht meine Liebe
nur mit dem fließendem Fluss
und mit den leuchtenden Sternen am Himmel,

Die Zeilen die du mir schickst,
sind zu rechten Zeit gekommen,
haben meine Sorgen verbrannt.
Jeden Tag siehst du im Fernseher
                unsere jungen Frauen,
sie klatschen auf der Straße,
verschnüren ihre Freiheit mit dem Kopftuch
und dem schwarzen Sack.

Mein Land, meine Welt,
liegt in Krieg.
und Blut.
Nur du beleuchtest und erwärmst mich.

Molla Demirel

***

GÖÖGLMÖÖSCH & = 11

51
Mit ihm besprach ich die ultimati-
   ve methode Matn zu bosnien
Tackern? zu schnell haut abziehn? wohin
   mit der haut? ein bißjen bauchschosßnien?
Ich kann nicht kacken! das war der hund
   mensch bitte räum mir den darin aus!
Amor in Jauche! pfählen! das ist 's
   und räumt ihn nicht ohne charme aus

52
Ihr leute vergeßt bitte eines nicht
   wir langten noch nicht um die kante
Schon wußten wir nicht mehr wie viele wir sind
   noch ob männlein weiblein verwandte
Nur Anniedreigroschen hatte ne maus
   Wenn Clicker's Corner jetzt abstürzt
dann haben wir Witzwaff City im sack
   Ich logge mich ein wo's sich abkürzt

53
Yann trieb uns alle zum rampenrand
   Ihr braucht nicht so ville zu quasseln
Wenn ihr im bild wärt ihr erdferkelfreaks
   ihr könntet's gar nicht vermasseln
Matari ihr zwei spielt nicht mehr mit
   Ihr wart nicht gerade ein traumpaar
Wer mehr als die drei Wörter text nich kann
   verhänge sich in dem baum da

54
Der rest kommt mit in die Stadt hinaus
   Wir furzen ne transrapidfahrt
Wir müssen weg aus der schrillgegend hier
   Posi du kriegst deinen mietbart
Beeilung! wir warten nicht ewig am schluf
   auf das ungeheuer von Pots Ness
Ich sag es nicht zweimal: in zweierreihn an-
   eh daß ich wasser und rotz freß

55
Ein knie geht nie mehr um die weit
   dieweil es ist ein Spreeknie
Es hat nicht hut es hat nicht geld
   Es fürchtet sich vorm seevieh
Es hat wohl just ein zweites knie
   auch das steht unter wasser
so wie auch wir bis an die nie
   und werden immer nasser

ToussainT

***

Reifezeugnis

Leistungen in den einzelnen Fächern:

Sehr gut
   für die Beflissenheit
   bei den Käufen jeglicher Art.

Gut
   für den Wahn, daß er hortet und spart.

Sehr gut
   für die blinde Gläubigkeit
   gegenüber Medien und Obrigkeit.

Sehr gut
   für den Beischlaf als Sport,
   für die Abtreibung, denn fort
   lasse der Mensch die Nachkommen machen;
   für das getötete Kind,
   weil die Güter wichtiger sind.

Gut
   für die Liebe zu toten Sachen,
   für die Kunst, aus Menschen Maschinen zu machen.

Sehr gut
   für den täglichen Kniefall vonn Herrn,
   der ihn wegen seiner Arbeitskraft hat sehr gem.

Gut
   für das unselbständige Denken,
   das verbürgt, daß andre ihn lenken.

Mangelhaft
   für jedwede Neigung zu Menschlichkeit,
   Lebensfreude, Natürlichkeit,
   Wärme und Güte, Barmherzigkeit.

Bemerkungen:
Der Prüfling sollte in menschlichen Fächern
die Leistungen mehr noch verschlechtem,
sonst kommt er in der Gesellschaft nicht weiter;
zudem ist er, trotz guter Noten, manchmal auch heiter.
Der Vorsitzende                        Der Leiter
des Prüfungsausschusses:     der Schule:
Wilhelm Kommerz                      Karl Gestorben von Herz

Gottfried Weger

***

Vom Semiolus Silvanus (Waldaffen)
zum Semiolus Domesticus (Hausaffen) –

Ein Evolutionsgedicht

Einst haben die Kerls noch auf Bäumen gehockt,
behaart und mit blöder Visage.
Dann hat es sie in die Stadt gelockt,
nach Berlin, asphaltiert und aufgebockt
bis zur dreißigsten Etage.

Da kauern sie nun, den Flöhen zum Hohn,
in mit Gas beheizten Räumen.
Da blöken sie nun ins Telefon,
und es herrscht noch genau derselbe Ton
wie seinerzeit auf den Bäumen.

Sie hören nichts. Sie studieren fern.
Sie sind mit der Klapse in Fühlung.
Sie putzen das Bad nicht. Sie kratzen sich gern.
Berlin ist heute ein Halbaffenstern
voll Schuppen und Schauma-Spülung.

Sie stinken aus Mund, sie stinken aus Ohr,
sie fangen oft an zu toben
und nennen das „Party“. Sie drängeln gern vor.
Sie verstehen nichts von humanem Komfort,
sie ham nicht mal Garderoben.

Was ihre Verdauung übrig läßt,
verfüttern sie an die Ratten.
Sie verzapfen dir Schnee über Buddha und Brest,
sie sind gern „kraß drauf, ey“
und mehr noch „gestreßt“
und lieben sinnfreie Debatten.

Sie glauben, sie hätten mit Kopf und Mund
einen Fortschritt der Menschheit geschaffen.
Doch wissen wir, das ist alles Schund.
Ob Wald- oder Stadtaffen, sie bleiben im Grund
immer noch wesentlich – Affen.

Ní Gudix

Umgedichtet Kästners »Entwicklung der Menschheit«

***

Entgleistes Leben
Im Graben
der Erinnerung
leidend
und ausharrend
nach frischer Luft
ringend
um Hilfe
schluchzend
und die Laute
gehen unter
im Lärm der Zeit
und manchmal
ein Ton
am richtigen Ohr
zur rechten Zeit
hilft aus der Ohnmacht

Friederike Weichselbaumer

***

Welt

Im Sonnnenaufgang
silbert die Ahnung
von ihrem Untergang
über den
horizontalen Brücken.

Den Verschiedenheiten
der Leben
im Grave esempre molto.

Ein Mandala
in der Hast
der Zeit.

Betti Fichtl

***

Kollwitzstraße

Hinterhofkühle
Von der küche
die mein zimmer war
sah ich auf die brandmauer
zugedeckt mit wildem wein
und spatzengeschwätz

Kohlen gab mir die wirtin
sparsame wärme
Auf einem stuhl über dem herd
saß ich und lernte
Der alte schrank an der wand
knarrte mir durch die träume

   Eine etage tiefer
   wohnte die junge frau
   Ich sehe ihre schreie
   blutspuren
   Später hat ihr mann sie
   umgebracht

Nach fünf Jahrzehnten
zurückgekehrt
Ich laufe langsamer
Gaststätten
werfen namen
in die nacht

Nur wenige schritte entfernt
von den platanen
ein kleines lokal
Spielkartenbilder an den wänden
schmal die bänke
Küche mit hausgemachtem

Gehe ich hinein
bleibt eile draußen
Ein Du wärmt
abends lesung
preisgegebener gefühle
Lyrik-Café in der Kollwitzstraße

Marlies Schmidl

   

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