XXVIII. Jahrgang, Heft 151
Mai - Aug 2009/2
 
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Letzte Änderung:
4.05.2009

 
 

 

 
 

 

 

GEGENWART DER GESCHICHTE

Der Schriftsteller Aharon Appelfeld
Die Stimme der ermordeten Juden
Von Erich Rückleben

   
 
 


Der „Shoa-Dichter“ wie Aharon Appelfeld häufig bezeichnet wird, den aber weist er weit von sich, eine Etikettierung die angesichts der Schrecken des 20. Jahrhunderts keinen Bestand haben wird, wie der Schriftsteller bemerkt. Er, der als Kind die Hölle des Holocaust hautnah miterlebte und als Neunjähriger Mutter und Vater verlor, für ihn wurde dies Erleben zu einem unauslöschlichen Trauma seines Lebens und ebenso zum Thema seiner Bücher. Fasst durchgängig befasst sich Appelfeld mit dieser Thematik und konstatiert: „Ich bin die Stimme der ermordeten Juden.“ Er bezeichnet sich als den einzigen Schriftsteller in Israel, welcher sich schreibend mit jüdischem Leben befasst. Die untergegangene Welt des europäischen Judentums ist und bleibt das Thema des Schriftstellers, der bisher 30 Bücher veröffentlichte, die in 32 Sprachen übersetzt wurden, davon sind 12 in deutschen Verlagen erschienen. International wird man auf Appelfeld 1980 aufmerksam, nachdem sein Roman „Badenheim“ in englischer Übersetzung heraus kam. Eine Auszeichnung mit dem „National Jewish Book Award“ für seinen Roman „Der eiserne Pfad“ konnte der Schriftsteller 1999 entgegen nehmen. Und 2005 erhält er in Deutschland den hoch dotierten und renommierten Nelly-Sachs-Preis zugesprochen. Der ehemalige Präsident des Zentralrates der Juden Paul Spiegel verglich in seiner Rede zur Preisverleihung Appelfelds Werk mit einem Mosaik, in dem jeder einzelne Stein eine Kostbarkeit darstellt, die zusammengenommen als ein Beispiel erschütternder Erinnerungsliteratur gesehen werden muss. In Deutschland aber blieb Aharon Appelfeld trotzdem ein weithin Unbekannter und dies obgleich in der Bundesrepublik eine stattliche Anzahl seiner Bücher veröffentlicht wurden.

Aharon Appelfeld schreibt seit Ende der 1950er Jahre. Grundlage seiner ersten literarischen Gehversuche waren Tagebuchaufzeichnungen. Seine Manuskripte aber stießen bei den Verlagen bzw. den jeweiligen Lektoren nun nicht gerade auf Beifall. Namentlich mit der Thematik tat man sich schwer aber auch, dass er den Holocaust fiktiv darstellte, damit wollte und konnte man sich nicht anfreunden. Appelfeld hatte mit Erzählungen begonnen, in denen er sich mit der Problematik der Überlebenden des Holocaust befasst und seine verlorene Kindheit zum Thema macht. Damals aber kein Thema in Israel. Appelfeld jedoch gelang es trotz mancher Schwierigkeiten seinen ersten Erzählband „Rauch“ zu veröffentlichen. Damit nun begann der Prozess eines Schreibens, der angeregt durch Gershom Scholem, welcher ihn mit den Worten ermunterte: „Appelfeld, Sie sind ein Schriftsteller“, sich fortsetzte und geradezu befreiend auf ihn wirkte. Verdrängtes kehrte ins Gedächtnis zurück und Erinnerungen nahmen vermehrt Konturen an. Wobei Appelfeld genau weiß: „Unsere Erinnerung ist flüchtig und selektiv, was sie behalten will. Das heißt nicht, dass sie nur das Gute und Angenehme behält.“ Und weiter offenbart der Schriftsteller: „Viele Jahre war meine Erinnerung wie betäubt… . Nicht ohne Grund hatte ich den Eindruck, dass die Mächte des Dunkels, die dort wimmelten immer mehr erstarkten und eines Tages wenn es ihnen zu eng geworden wäre, durchbrechen und herauskommen würden.“ Appelfeld aber entfesselte diese Mächte und verhalf ihnen zum Durchbruch, indem er sich ihnen stellte und mutig ins Auge sah.

Appelfeds Biographie, und dies insbesondere was die Zeit des Krieges betrifft, mutet schier unglaublich an. Wie war es möglich, dass ein Kind ohne den Schutz seiner Eltern, ohne deren Fürsorge und Obhut, allein überleben konnte? Ein jüdisches Kind, das seinen Häschern entkam und allein auf sich gestellt, einzig seinen Instinkten folgend, Gefahren witternd und den Willen zum Überleben aus kaum nachvollziehbaren Kräften schöpfte. Vergleichbar einem flugunfähigen Jungvogel, der jäh aus seinem Nest geworfen wird und in feindlicher Umgebung schutzlos jedweder Gefahr ausgesetzt ist und es dennoch bewältigt zu überleben, dies grenzt schon an ein Wunder. In einen Interview äußerte Appelfeld: „( Meine Geschichte) ist zu groß und unglaublich. Wie können andere Menschen dir so etwas glauben? … Ich war ein Kind und lebte viele Tage alleine im Wald. Wie konnte es geschehen, dass ein kleines Kind, das aus einem sehr kulturellen wohlhabenden Haus stammt, sich nun von Blättern ernähren musste?“ Eine Frage indes, die uns verstummen lässt und auch mit keiner auf die Zeit gezielte Antwort zu befriedigen ist, in der alle Regeln der Menschlichkeit außer Kraft gesetzt waren und die auch gegenüber Kindern kein Erbarmen kannte. Ob sie nun Kinder, Erwachsene, Alte oder Greise waren, mordlüstige Antisemiten und Judenhasser machten vor keinem und niemandem halt.

Aharon Appelfeld, der unter dem Namen Erwin am 16. Februar 1932 in Czernowitz geboren wurde und das einzige Kind der Appelfelds war, entstammt einer wohlhabenden Familie aus der Mittelschicht, die mit Blick auf den Volksgarten ein Doppelhaus in Czernowitz bewohnte. Sein Vater Michael war ein kleiner Industrieller, der mit Beginn der 30er Jahre Kornmühlen motorisierte. Seine Mutter Bunja, die zwar nur Hausfrau war, bewegte sich jedoch auf einem Bildungsniveau, das dem ihres Mannes in nichts nachstand. Eine assimilierte jüdische Familie, die ihre Verbindung zum Judentum weitgehend aufgegeben hatte. Dafür aber war umso mehr die deutsche Kultur in den Vordergrund gerückte, wie Sprache, Kunst, Literatur und Musik. „Deutsch bedeutete für die assimilierten Juden“, so Appelfeld, „mehr als nur eine Frage der Kommunikation. Die deutsche Sprache war eine Kultur, ja (s)eine neue Religion.“ Erwin indes lebte Kinderjahre, die ihm nichts vorenthielten, er war behütet, fühlte sich wohlig eingebettet in die Großfamilie Appelfeld, zu der die Großeltern auf dem Lande, Onkel und Tante auf ihrem Gut gehörten. Die Großeltern lebten im Gegensatz zu Erwins Eltern ihren jüdischen Glauben, sprachen Jiddisch und verfügten auf ihrem Anwesen über eine kleine private Synagoge. Hier verbrachte er mit seinen Eltern glückliche Tage, Tage, die er nie vergessen sollte und unauslöschlich in seiner Erinnerung verwurzelt blieben. Aber weniger glücklich fühlte er sich in der Schule, man sah in ihm einen Außenseiter, der aufgrund seiner gepflegten Kleidung und dass seine Mutter ihn stets zur Schule begleitete, hier nicht her zu passen schien, und so zog er permanent Spott auf sich, musste Tritte, Schläge und Anfeindungen über sich ergehen lassen und war stetigen Ängsten ausgesetzt. Hinzu kam, dass es unter den vierzig Schülern seiner Klasse nur zwei jüdische gab. Während es dem anderen gelang sich schon nach kurzer Zeit anzupassen, sollte dies Erwin Appelfeld nie gelingen. Wäre es nach seiner Mutter gegangen, die hätte ihn sofort von seinem Martyrium befreit und auf eine andere Schule geschickt, jedoch sein Vater plädierte für Durchhalten. Erwins Eltern, welche die politische Entwicklung dieser Jahre mit Sorge verfolgten, glaubten aber dennoch nicht an eine ernsthafte Bedrohung, vielmehr gaben sie sich der Hoffnung hin, dass das Hitlerregime eine temporäre Erscheinung war. Ein Irrtum und Trugschluss dem viele aufgesessen waren, denn keiner konnte bzw. wollte daran glauben, hier in der Bukowina mit Leib und Leben in Gefahr zu geraten.

1938 aber – Erwin war jetzt sechs Jahre alt – verdichteten sich Gerüchte über kommendes Unheil, der Antisemitismus verstärkte sich, die Kommunikation zwischen Juden und Christen hatte einen Riss bekommen, Freunde und Bekannte gingen sich aus dem Weg und überall lauerte insgeheim eine merkwürdige Stimmung. Auch die Appelfelds blieben davon nicht verschont und spürten das Herannahen von Ereignissen, die sie zwar noch nicht deutlich zu beschreiben wussten, aber das Gefühl nährten, dass hier des Bleibens nicht mehr war. Und so versuchte Erwins Vater Einreisevisen nach den USA bzw. Chile oder Uruguay zu bekommen. Jedoch alles Mühen war vergeblich und damit jene Hoffnung gestorben, die bekanntlich als letzte stirbt. „Wir waren gefangen“, schreibt Appelfeld. Was hinsichtlich des späteren Ghettoaufenthaltes vorausschauend und richtig beschrieben ist. Das Unheil begann, als sich die Familie Appelfeld bei Erwins Großeltern im Sommer 1941 in den Karpaten aufhielt. Zu dieser Zeit waren rumänisch-deutsche Mörder-und Schlägerbanden unterwegs und erschlugen seine Mutter, die sich hinter dem Haus, auf dem Hof aufgehalten hatte. Erwin, der sich im Haus aufhielt, hatte das Sterben seiner Mutter zwar nicht beobachtet, aber er hatte ihren einzigen letzten Schrei gehört, sich danach aus dem Haus geschlichen und zwei Tage in einem Kornfeld versteckt gehalten. Hier fand ihn sein Vater, der sich während des grausamen Geschehens in der Nachbarschaft aufgehalten hatte und so dem sicheren Tod entgangen war. In welcher Verfassung Vater und Sohn waren, als sie nach Czernowitz in ihr Haus zurückkehrten, wird man sich kaum vorstellen können. In ihrer häuslichen Umgebung verweilten sie nur kurz, um dann wie 60 000 andere Juden ins Ghetto überführt zu werden. Drei Monate Ghetto und danach begann von unsäglichen Qualen begleitet, der Todesmarsch für Vater und Sohn durch die ukrainische Steppe in die Lager Transnistriens. „Schon viele Tage wateten wir durch tiefen Schlamm“; schreibt Appelfeld, „ein langer Zug bewacht von rumänischen Soldaten und ukrainischen Schlägern, die prügeln und herumschießen. Vater hält mich fest an der Hand. Meine kurzen Beine erreichen wieder nicht den Boden unter dem Schlamm, die nasse Kälte schneidet mir in die Schenkel, in die Hüften. Alles um mich herum ist dunkel, ich spüre nichts, nur Vaters Hand…“ Zwei Monate dauerte der Marsch, den die meisten nicht überlebten und so gelangten nur „wenige in jenes verfluchte Lager“, wie Appelfeld schreibt“, in dem er und sein Vater untergebracht wurden. Aber schon nach einigen Tagen wurden Vater und Sohn getrennt. Erwin indes gelingt die Flucht aus dem Lager, ohne freilich zu wissen, wohin sie ihn führen wird und was ihm bevorstehen sollte. Und das war nicht wenig was den 9-jährigen Erwin erwartete. Zunächst hielt er sich im Schutz der Wälder auf, ernährte sich tagelang von Blättern, Kräutern und alles was ihm essbar erschien. Und er glaubte daran, eines Tages Mutter und Vater wieder in die Arme schließen zu dürfen. Auch dieser Glaube gab ihm die Kraft und den Willen zum Überleben. Obgleich er wusste, dass seine Mutter nicht mehr lebte und sein Vater verschollen war, gab er sich dennoch der Vorstellung hin, eines Tages wären sie alle wieder vereint und lebten wie früher. Er wusste aber auch, dass er alleine im Wald nicht überleben konnte und so suchte er mit größter Vorsicht nach einer Bleibe, nach einem Unterschlupf, nach einem Dach über dem Kopf. Er fand für längere Zeit bei einer Prostituierten Aufnahme, lebte bei einem Bauern, half Kriminellen und Pferdedieben bei ihren Raubzügen und war in stetiger Angst, dass seine jüdische Identität entdeckt werden könnte. Appelfeld erinnerte sich später über die Zeit als er allein im Wald war, seinen Gedanken nachging und sich fragte: „Was ist böse an mir? Rieche ich schlecht, sehe ich hässlich aus? Bin ich frech? Warum gehen die Kinder dort im Dorf zur Schule und ich nicht? Damals habe ich gemerkt, das Schlimmste ist an mir, dass ich Jude bin. Jeder der mich hier antrifft, kann mich ermorden…“

Als die Sowjets 1944 die Bukowina zurückeroberten, arbeitete Erwin bei der Roten Armee als Küchenjunge, kam mit der Truppe in seine Heimat zurück und schlug sich mit Beendigung des Krieges nach Italien durch. Er lebte für längere Zeit in Flüchtlingslagern und traf als dreizehneinhalb-jähriger 1946 in Palästina ein. Hier erwartete ihn eine fremde Welt deren Sprache er nicht verstand, eine Umgebung, die weit entfernt von allem lag was er gekannt und geliebt hatte. Aus Erwin wurde Aharon, ein hebräischer Name, den man ihm mit Hinblick auf seine Zukunft gab, die sich für ihn, wie man ihm nahe legte, mit der neuen Namensgebung aus vielerlei Gründen günstiger gestalten würde. Appelfeld musste nicht, aber man übte merklichen Druck auf ihn aus. Mit dem Appell: „Du lebst hier, bist hierher gekommen. Du hast dich zu ändern. Du hast zu vergessen. Du bist ein neuer Jude.“ Und mit dem wiederholten Slogan: Vergiss! hämmerte man ihm ein, was man von ihm erwartete und er zu akzeptieren hatte. Nach Appelfelds Eindruck spielten damals offensichtlich kommunistisch sozialistische Ideologien eine große Rolle.

Ein einziges Jahr hatte Aharon Appelfeld in Czernowitz die Schule besucht, was bedeutete er hatte viel, sehr viel nachzuholen. Am meisten stand ihm dabei das Erlernen der neuen Sprache im Weg, eine Sprache die ihm tot erschien und keinerlei Bezug zur Sprache seiner Mutter erkennen ließ. Er wusste, wenn ihr Deutsch sterben würde, würde auch sie ein zweites Mal sterben. Hebräisch war Stiefmutter für ihn und es sollte Jahre dauern bis Appelfeld mit diesem Ersatz leben konnte. Wenn es ihm auch leicht gefallen war, die Sprache zu erlernen, aber Freude hatte er dabei nie empfunden. Die Sprache seiner Mutter, die Muttersprache, aber war für alle Zeit verloren und wie ein fernes Relikt marginal an den Rand seiner Erinnerung verschoben. Aber „ich war mir sicher“, so Appelfeld, „wenn ich meine Mutter wiederfände, würde ich mit ihr in der Sprache weiterreden, in der wir miteinander gesprochen hatten.“

Aharon Appelfeld lebte zunächst mit eingewanderten Gleichaltrigen auf einer Jugendfarm in der Nähe von Jerusalem, machte hier eine landwirtschaftliche Lehre und holte den Stoff der Grund-und Hauptschule nach, was dringend nötig war, wenn er überhaupt zur Matura zugelassen werden wollte. Freilich ein schwieriges Unterfangen in kürzester Zeit das nachzuholen, wofür es eigentlich Jahre gebraucht hätte. Am liebsten wäre er bei all den Anstrengungen wieder in das ruhige Fahrwasser landwirtschaftlicher Tätigkeit zurückgekehrt. Seine Absicht, nach der Matura Agrarwirtschaft zu studieren zerschlug sich indes, weil es ihm an dem nötigen Wissen mangelte. Appelfeld wählte jetzt kurz entschlossen den Studiengang Jiddisch. Jiddisch auch darum, weil er annahm, wenn er sich mit dieser Sprache befasste, würde er auch wieder eine Verbindung zu seinen Großeltern herstellen und zu jenem Judentum vorstoßen, das sie gelebt und verinnerlicht hatten. In Erweiterung seines Studiums wählte er die Fächer jiddische und hebräische Literatur, eine Disziplin, die ihn schließlich zur Professur führen sollte. Während seines Studiums begann Appelfeld Gedichte zu schreiben, von denen er in seinem Buch „Geschichte eines Lebens“ sagt: „Sie glichen dem Heulen eines ausgesetzten Tieres, das jahrelang den Weg nach Hause sucht. Mutter, Mutter, Vater, Vater wo seid ihr? Wo versteckt ihr euch? Warum kommt ihr nicht, rettet mich aus meiner Not? Wo ist unser Haus, die Straße und das Land, das uns rausgeworfen hat? Das war der ganze Inhalt dieses Heulens.“ Appelfeld aber erkannte sehr bald, dass er mit sentimentaler Lyrik literarisch nicht weiter kommen würde, aber auch die Versuche in Prosa wollten zunächst nicht gelingen, denn Appelfeld glaubte, er müsse sich den jungen Schriftstellern anpassen, die optimistisch ohne im Gestern zu verweilen auf Gegenwart und Zukunft setzten. Verdrängen hieß die Parole, vergessen und auf den Trümmern der Vergangenheit neues schaffen. Und es sollten viele Jahre vergehen bis Appelfeld erkannte, dass sein literarischer Weg nicht von ihm weg, sondern zu ihm hin führen müsse, hin in das Zentrum seiner Vergangenheit, seiner Erfahrung und seiner Leiden. Damit aber schwamm er gegen den Strom der damaligen literarischen Kultur Israels, die sich ganz auf das Jetzt und Hier konzentrierte und von Themen wie die eines Appelfeld nichts wissen wollte. Gestriges aus einer anderen Welt, damit wollte und konnte man nichts anfangen, die Gegenwart, das Heute in der Literatur war gefragt. „Wir aber“, so Appelfeld, „ kamen aus einer Welt des Leidens, der Verfolgung, des Schmerzes und der Trauer. Wir (sollten) wollten „normal“ sein. Aber das war nicht einfach.“ Dies auf die Anfänge von Appelfelds Schreibens bezogen, das rückwärts gewandt die Themen aus dem Erleben des Holocaust bezog, aus der grauenhaften kindlichen Erfahrung jenseits aller Vorstellungen, die von unermesslichem Leid, unsäglichen Qualen und Verlust geprägt war, konnte doch eigentlich für den Schriftsteller Appelfeld nur bedeuten, sich schreibend von dem zu befreien, was unter der Oberfläche der Normalität verborgen, sich endlich einen Weg in die Öffentlichkeit erkämpfte. Freilich ein langer Weg, den er womöglich ohne Begleitung und Mentorenschaft einiger ihm Nahestehenden und Wohlgesonnenen nicht bewältigt hätte. Namentlich aber war es der Schriftsteller Agnon, zu dem Appelfeld eine engere Bindung besaß, der ihm richtungweisend den Weg zu sich selbst aufzeigte und der letztlich auch als Vorbild für seine literarische Arbeit von größter Bedeutung war.

Von großer Bedeutung ist für Appelfeld aber auch seine jüdische Identität, denn sie ist die eigentliche Quelle seines Schreibens. Schon als Kind und insbesondere als er sich aufs Schlimmste bedroht sah, wusste er: „Ich kann aus dieser Identität nicht heraus.“ Dabei hat ihn die hebräische Sprache mit dem jüdischen Glauben mehr verbunden und ist für seine Identität wichtiger als Israel. Aber dennoch „ich liebe Israel“, sagt Aharon Appelfeld, „aber ich weiß auch, dass meine Heimat keine glückliche Gesellschaft ist. Man lebt unter andauernder Bedrohung in einem Ghetto, aus dem man fliehen wollte. Man kann nirgendwo hin, nicht nach Ägypten, Jordanien, Libanon oder Syrien, nur ans Meer.“ Appelfeld sagt von sich, dass er kein politischer Mensch sei, der sich in die Politik Israels einmischt, was jedoch nicht heißen will, er hätte keine Meinung zur Lage der israelischen Gesellschaft. „Die Länder rund um uns wollen uns nicht. Für die muslimische Welt sind die Juden dämonische Wesen. Das wird so bleiben, solange nicht auch der Islam von einer grundlegenden Aufklärung und Säkularisierung erfasst wird. Wir waren in Europa nicht beliebt, und in der arabischen Welt sind wir es ebenso wenig.“ Appelfeld ist der Überzeugung, dass die Juden nicht wegen ihres Glaubens so unbeliebt sind, sondern schlichtweg und einfach, weil sie Juden sind.

Das Werk des jüdischen Schriftstellers bewirkte ausnahmslos sowohl bei den Lesern als auch bei seinen Rezensenten ein durchgängig positives Echo. Seit Appelfelds Bücher im deutschsprachigem Raum bekannt wurden, begleiten seine Neuerscheinungen eine Vielzahl von Kritiken, Rezensionen und biographischen Texten, als auch Einladungen zu Lesungen, zur Buchmesse, unzähligen Interviews und persönlichen Gesprächen mit dem Schriftsteller. Neben Amos Oz, mit dem er seit langem befreundet ist, zählt Appelfeld zu den bedeutendste Schriftstellern Israels. Diesen Durchbruch in Deutschland als auch die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis, wie er von einer Reihe von Befürwortern gefordert wird, wäre nicht nur zu wünschen, sondern auch dringend geboten. „Mit seinem Bemühen, Worte für das Unbeschreibliche zu finden“, wie Paul Spiegel in der genannten Rede zur Preisverleihung formulierte, „hilft Aharon Appelfeld nicht nur sich selbst, um die zuweilen übermächtige Erinnerung zu zähmen, sondern gibt Millionen namenloser Opfer der nationalistischen Judenvernichtung und insbesondere den Kindern unter ihnen eine Stimme.“ Er ist die Stimme der ermordeten Juden, die uns gegen das Vergessen aufrüttelt und die uns daran erinnert, was der nationalistische Terror, die Schreckensherrschaft der braunen Barbaren für unermessliches Leid über jüdische Menschen gebracht hat.

Appelfelds in deutscher Übersetzung vorliegendes Werk umfasst zurzeit 12 Bücher. Vier davon, Alles was ich liebte, Blumen der Finsternis, Tzili und Zeit der Wunder sind Romane, in denen der Schriftsteller die Biographie seiner Kindheit fiktiv verarbeitet und sein Erlebtes auf die Protagonisten seiner Romane überträgt. Immer wieder steht ein Kind im Mittelpunkt, das uns an den neunjährigen Erwin erinnert, wenn es auch Hugo, Paul, Tzili oder Bruno heißt. Sie alle sind in der Summe das Erlebnispotential und die Gefühlswelt eines Kindes, das nachempfunden von dem erwachsenen Aharon Appelfeld, Wort und Stimme erhält. Wer sein autobiographisches Werk die „Geschichte eines Lebens“ gelesen hat wird nur zu schnell Parallelen zu seinen Romanfiguren entdecken, die wie einst er, unter der Judenverfolgung leiden und insbesondere das Schicksal jüdischer Kinder im Umfeld einer aus allen Fugen geratenen Welt des Nazi-Terrors, in berührender und erschütternder Weise vermittelt. Zu Appelfelds Roman „Blumen der Finsternis“ schreibt Marianne Neubert in der „Berliner Morgenost: „Wie immer bei Appelfeld wird die Geschichte aus der Perspektive des Jungen erzählt, der das Unbegreifliche – Hass und Jagd auf die Juden – desto weniger verstehen kann, je stärker und intensiver er es empfindet.“ Doch letztendlich steht nicht die Originalität des Motivs bei Appelfeld im Vordergrund, sondern der Ausdruck der Menschlichkeit. Die Möglichkeit zu zeigen, dass sie selbst in unmenschlichen Zeiten und unter unmenschlichen Bedingungen eine Überlebenschance hat.“ Eine weitere Variante zu Appelfelds Kindheitsbiographie ist das Mädchen „Tzili“ in dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers. Erzählt wird die Geschichte eines jüdischen Mädchens, das mit Eltern und Geschwistern auf einem Bauernhof lebt und das mit dem Heranrücken der Front im Winter 1941 von der Familie allein zurückgelassen wird. Sie als Jüngste und Dümmste soll den Hof bewachen. Unbegreiflich für das zehnjährige Mädchen, aber dadurch wird sie, obgleich jahrelang in Gefahr und bedrohlichen Lebensumständen ausgesetzt, überleben. Sie schafft es gar, sich bis nach Italien durchzuschlagen, um schließlich, wie sie sich vorgenommen hat, mit dem Schiff Palästina zu erreichen. „Tzili“ ist ein wunderbares Stück Prosa“, schreibt die virtuelle Literaturzeitschrift Sandammeer, „das trotz allem Schrecken und Unsagbaren, das es beschreibt und manchmal auch nur umschreibt, soviel Hoffnung und Lebenswillen ausstrahlt…“ In zwei weiteren Romanen unter den Titeln „Zeit der Wunder“ und „Alles was ich liebte“ schildert Appelfeld das Schicksal der Kinder Bruno und Paul, deren Leben zwar von großen Unterschieden geprägt ist, aber dadurch, dass beide in zeitlicher Verwandtschaft, in einem von Antisemismus und Judenverfolgung bedrohten Umfeld leben, verbindet sie viel Gemeinsames, die Erfahrung einer Welt des Unheil, die sie ertragen und durchleben mussten. Ein Leben in einer vom Untergang gezeichneten Welt, die ihre Kindheit zerstörte und alles das vernichtete, was Kindheit lebenswert macht.

Wenn Kinder ihre Geschichten erzählen „das ist für den Autor eine schwierige Kunst, denn er muss genau abwägen, was sein kleiner Erzähler eigentlich wissen kann, was er wahrnimmt, ohne es zu verstehen, was ihn beeinflußt ohne daß er merkt, wie. Wenn das gelingt, kann es eine sehr erhellende Studie über das Erwachsenenverhalten werden“, schreibt die „Jüdische Allgemeine“ zu Appelfelds Roman „Alles was ich liebte“. Kindliche Sinneserfahrung über Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen und Riechen ruft Erinnerungen ab, visualisiert Erlebtes, stellt Zusammenhänge her und projektiert Bilder vergessener Ereignisse ins Gegenwartbewusstsein. Wenn Aharon Appelfeld heute einen Baum mit roten Äpfeln sieht, stellt sich bei ihm sofort die Erinnerung nach seiner Flucht aus dem Lager ein. Ein Baum mit den roten Äpfeln verbindet ihn augenblicklich mit den Geschehnissen und der Situation in der er sich damals befand. Indes ist das Erzählen aus der Kindersperspektive bei so manchem Kritiker unbeliebt, weil der Autor, so ihre Argumentation, sich nur zu leicht hinter dem Kind verstecken kann. Appelfeld aber hat diesen Kritikern eine Lehre erteilt und insbesondere dem deutschen Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki den Wind aus den Segeln genommen.

Appelfelds Schreiben ist der permanente Versuch, das in Worte zu fassen, was ein verfolgtes und in Todesangst lebendes Kind zu ertragen, zu durchleiden und zu bestehen hatte. Sein Werk befasst sich mit der Vergangenheit nicht um historische Fakten sichtbar zu machen, sondern er schaut auf das individuelle Schicksal jener Menschen und namentlich von Kindern, die sich während der Judenverfolgung in Situationen befanden, von denen Appelfeld sagt, dass sie weder glaubhaft erscheinen, noch überzeugend zu vermitteln sind. „Wenn ich die Fakten der Wahrheit entsprechend beschrieben hätte“, so Appelfeld, „würde niemand mir glauben.“ Der Schriftsteller Appelfeld ist nicht als Augenzeuge zu sehen, welcher über eine intellektuelle Erinnerung verfügt, sondern er bringt wie er sagt, aus der Tiefe seines Körpers „Empfindungen und Gefühle heraus“, die er „blind in sich aufgenommen hat.“ Erinnerungsliteratur aus dem Bauch heraus? In gewisser Weise ja, wenn Appelfeld sagt: „Meiner ganzen Generation steckt die Erinnerung in Bauch…, wo ein Keller eingerichtet wurde. In diesem Keller wurden die Eltern, die Großeltern, die Verwandten, die Muttersprache, das Zuhause weggesperrt, und damit alles was man im Krieg durchgemacht hatte.“ Die Erfahrung des Grauens, wie Appelfeld weiß, könne aber dennoch nicht die Schönheit seiner Kindheitserinnerung auslöschen.

Nach der Veröffentlichung der „Geschichte eines Lebens“ hat das Interesse an Appelfeld deutlich zugenommen. Möge die Schar seiner Leser stetig wachsen und viele die ihn noch nicht kennen, hinzu kommen.

   

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