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Der „Shoa-Dichter“ wie Aharon Appelfeld häufig
bezeichnet wird, den aber weist er weit von sich, eine Etikettierung
die angesichts der Schrecken des 20. Jahrhunderts keinen Bestand
haben wird, wie der Schriftsteller bemerkt. Er, der als Kind die
Hölle des Holocaust hautnah miterlebte und als Neunjähriger
Mutter und Vater verlor, für ihn wurde dies Erleben zu einem
unauslöschlichen Trauma seines Lebens und ebenso zum Thema
seiner Bücher. Fasst durchgängig befasst sich Appelfeld
mit dieser Thematik und konstatiert: „Ich bin die Stimme der
ermordeten Juden.“ Er bezeichnet sich als den einzigen Schriftsteller
in Israel, welcher sich schreibend mit jüdischem Leben befasst.
Die untergegangene Welt des europäischen Judentums ist und
bleibt das Thema des Schriftstellers, der bisher 30 Bücher
veröffentlichte, die in 32 Sprachen übersetzt wurden,
davon sind 12 in deutschen Verlagen erschienen. International wird
man auf Appelfeld 1980 aufmerksam, nachdem sein Roman „Badenheim“
in englischer Übersetzung heraus kam. Eine Auszeichnung mit
dem „National Jewish Book Award“ für seinen Roman
„Der eiserne Pfad“ konnte der Schriftsteller 1999 entgegen
nehmen. Und 2005 erhält er in Deutschland den hoch dotierten
und renommierten Nelly-Sachs-Preis zugesprochen. Der ehemalige Präsident
des Zentralrates der Juden Paul Spiegel verglich in seiner Rede
zur Preisverleihung Appelfelds Werk mit einem Mosaik, in dem jeder
einzelne Stein eine Kostbarkeit darstellt, die zusammengenommen
als ein Beispiel erschütternder Erinnerungsliteratur gesehen
werden muss. In Deutschland aber blieb Aharon Appelfeld trotzdem
ein weithin Unbekannter und dies obgleich in der Bundesrepublik
eine stattliche Anzahl seiner Bücher veröffentlicht wurden.
Aharon Appelfeld schreibt seit Ende der 1950er Jahre.
Grundlage seiner ersten literarischen Gehversuche waren Tagebuchaufzeichnungen.
Seine Manuskripte aber stießen bei den Verlagen bzw. den jeweiligen
Lektoren nun nicht gerade auf Beifall. Namentlich mit der Thematik
tat man sich schwer aber auch, dass er den Holocaust fiktiv darstellte,
damit wollte und konnte man sich nicht anfreunden. Appelfeld hatte
mit Erzählungen begonnen, in denen er sich mit der Problematik
der Überlebenden des Holocaust befasst und seine verlorene
Kindheit zum Thema macht. Damals aber kein Thema in Israel. Appelfeld
jedoch gelang es trotz mancher Schwierigkeiten seinen ersten Erzählband
„Rauch“ zu veröffentlichen. Damit nun begann der
Prozess eines Schreibens, der angeregt durch Gershom Scholem, welcher
ihn mit den Worten ermunterte: „Appelfeld, Sie sind ein Schriftsteller“,
sich fortsetzte und geradezu befreiend auf ihn wirkte. Verdrängtes
kehrte ins Gedächtnis zurück und Erinnerungen nahmen vermehrt
Konturen an. Wobei Appelfeld genau weiß: „Unsere Erinnerung
ist flüchtig und selektiv, was sie behalten will. Das heißt
nicht, dass sie nur das Gute und Angenehme behält.“ Und
weiter offenbart der Schriftsteller: „Viele Jahre war meine
Erinnerung wie betäubt… . Nicht ohne Grund hatte ich
den Eindruck, dass die Mächte des Dunkels, die dort wimmelten
immer mehr erstarkten und eines Tages wenn es ihnen zu eng geworden
wäre, durchbrechen und herauskommen würden.“ Appelfeld
aber entfesselte diese Mächte und verhalf ihnen zum Durchbruch,
indem er sich ihnen stellte und mutig ins Auge sah.
Appelfeds Biographie, und dies insbesondere was die
Zeit des Krieges betrifft, mutet schier unglaublich an. Wie war
es möglich, dass ein Kind ohne den Schutz seiner Eltern, ohne
deren Fürsorge und Obhut, allein überleben konnte? Ein
jüdisches Kind, das seinen Häschern entkam und allein
auf sich gestellt, einzig seinen Instinkten folgend, Gefahren witternd
und den Willen zum Überleben aus kaum nachvollziehbaren Kräften
schöpfte. Vergleichbar einem flugunfähigen Jungvogel,
der jäh aus seinem Nest geworfen wird und in feindlicher Umgebung
schutzlos jedweder Gefahr ausgesetzt ist und es dennoch bewältigt
zu überleben, dies grenzt schon an ein Wunder. In einen Interview
äußerte Appelfeld: „( Meine Geschichte) ist zu
groß und unglaublich. Wie können andere Menschen dir
so etwas glauben? … Ich war ein Kind und lebte viele Tage
alleine im Wald. Wie konnte es geschehen, dass ein kleines Kind,
das aus einem sehr kulturellen wohlhabenden Haus stammt, sich nun
von Blättern ernähren musste?“ Eine Frage indes,
die uns verstummen lässt und auch mit keiner auf die Zeit gezielte
Antwort zu befriedigen ist, in der alle Regeln der Menschlichkeit
außer Kraft gesetzt waren und die auch gegenüber Kindern
kein Erbarmen kannte. Ob sie nun Kinder, Erwachsene, Alte oder Greise
waren, mordlüstige Antisemiten und Judenhasser machten vor
keinem und niemandem halt.
Aharon Appelfeld, der unter dem Namen Erwin am 16.
Februar 1932 in Czernowitz geboren wurde und das einzige Kind der
Appelfelds war, entstammt einer wohlhabenden Familie aus der Mittelschicht,
die mit Blick auf den Volksgarten ein Doppelhaus in Czernowitz bewohnte.
Sein Vater Michael war ein kleiner Industrieller, der mit Beginn
der 30er Jahre Kornmühlen motorisierte. Seine Mutter Bunja,
die zwar nur Hausfrau war, bewegte sich jedoch auf einem Bildungsniveau,
das dem ihres Mannes in nichts nachstand. Eine assimilierte jüdische
Familie, die ihre Verbindung zum Judentum weitgehend aufgegeben
hatte. Dafür aber war umso mehr die deutsche Kultur in den
Vordergrund gerückte, wie Sprache, Kunst, Literatur und Musik.
„Deutsch bedeutete für die assimilierten Juden“,
so Appelfeld, „mehr als nur eine Frage der Kommunikation.
Die deutsche Sprache war eine Kultur, ja (s)eine neue Religion.“
Erwin indes lebte Kinderjahre, die ihm nichts vorenthielten, er
war behütet, fühlte sich wohlig eingebettet in die Großfamilie
Appelfeld, zu der die Großeltern auf dem Lande, Onkel und
Tante auf ihrem Gut gehörten. Die Großeltern lebten im
Gegensatz zu Erwins Eltern ihren jüdischen Glauben, sprachen
Jiddisch und verfügten auf ihrem Anwesen über eine kleine
private Synagoge. Hier verbrachte er mit seinen Eltern glückliche
Tage, Tage, die er nie vergessen sollte und unauslöschlich
in seiner Erinnerung verwurzelt blieben. Aber weniger glücklich
fühlte er sich in der Schule, man sah in ihm einen Außenseiter,
der aufgrund seiner gepflegten Kleidung und dass seine Mutter ihn
stets zur Schule begleitete, hier nicht her zu passen schien, und
so zog er permanent Spott auf sich, musste Tritte, Schläge
und Anfeindungen über sich ergehen lassen und war stetigen
Ängsten ausgesetzt. Hinzu kam, dass es unter den vierzig Schülern
seiner Klasse nur zwei jüdische gab. Während es dem anderen
gelang sich schon nach kurzer Zeit anzupassen, sollte dies Erwin
Appelfeld nie gelingen. Wäre es nach seiner Mutter gegangen,
die hätte ihn sofort von seinem Martyrium befreit und auf eine
andere Schule geschickt, jedoch sein Vater plädierte für
Durchhalten. Erwins Eltern, welche die politische Entwicklung dieser
Jahre mit Sorge verfolgten, glaubten aber dennoch nicht an eine
ernsthafte Bedrohung, vielmehr gaben sie sich der Hoffnung hin,
dass das Hitlerregime eine temporäre Erscheinung war. Ein Irrtum
und Trugschluss dem viele aufgesessen waren, denn keiner konnte
bzw. wollte daran glauben, hier in der Bukowina mit Leib und Leben
in Gefahr zu geraten.
1938 aber – Erwin war jetzt sechs Jahre alt
– verdichteten sich Gerüchte über kommendes Unheil,
der Antisemitismus verstärkte sich, die Kommunikation zwischen
Juden und Christen hatte einen Riss bekommen, Freunde und Bekannte
gingen sich aus dem Weg und überall lauerte insgeheim eine
merkwürdige Stimmung. Auch die Appelfelds blieben davon nicht
verschont und spürten das Herannahen von Ereignissen, die sie
zwar noch nicht deutlich zu beschreiben wussten, aber das Gefühl
nährten, dass hier des Bleibens nicht mehr war. Und so versuchte
Erwins Vater Einreisevisen nach den USA bzw. Chile oder Uruguay
zu bekommen. Jedoch alles Mühen war vergeblich und damit jene
Hoffnung gestorben, die bekanntlich als letzte stirbt. „Wir
waren gefangen“, schreibt Appelfeld. Was hinsichtlich des
späteren Ghettoaufenthaltes vorausschauend und richtig beschrieben
ist. Das Unheil begann, als sich die Familie Appelfeld bei Erwins
Großeltern im Sommer 1941 in den Karpaten aufhielt. Zu dieser
Zeit waren rumänisch-deutsche Mörder-und Schlägerbanden
unterwegs und erschlugen seine Mutter, die sich hinter dem Haus,
auf dem Hof aufgehalten hatte. Erwin, der sich im Haus aufhielt,
hatte das Sterben seiner Mutter zwar nicht beobachtet, aber er hatte
ihren einzigen letzten Schrei gehört, sich danach aus dem Haus
geschlichen und zwei Tage in einem Kornfeld versteckt gehalten.
Hier fand ihn sein Vater, der sich während des grausamen Geschehens
in der Nachbarschaft aufgehalten hatte und so dem sicheren Tod entgangen
war. In welcher Verfassung Vater und Sohn waren, als sie nach Czernowitz
in ihr Haus zurückkehrten, wird man sich kaum vorstellen können.
In ihrer häuslichen Umgebung verweilten sie nur kurz, um dann
wie 60 000 andere Juden ins Ghetto überführt zu werden.
Drei Monate Ghetto und danach begann von unsäglichen Qualen
begleitet, der Todesmarsch für Vater und Sohn durch die ukrainische
Steppe in die Lager Transnistriens. „Schon viele Tage wateten
wir durch tiefen Schlamm“; schreibt Appelfeld, „ein
langer Zug bewacht von rumänischen Soldaten und ukrainischen
Schlägern, die prügeln und herumschießen. Vater
hält mich fest an der Hand. Meine kurzen Beine erreichen wieder
nicht den Boden unter dem Schlamm, die nasse Kälte schneidet
mir in die Schenkel, in die Hüften. Alles um mich herum ist
dunkel, ich spüre nichts, nur Vaters Hand…“ Zwei
Monate dauerte der Marsch, den die meisten nicht überlebten
und so gelangten nur „wenige in jenes verfluchte Lager“,
wie Appelfeld schreibt“, in dem er und sein Vater untergebracht
wurden. Aber schon nach einigen Tagen wurden Vater und Sohn getrennt.
Erwin indes gelingt die Flucht aus dem Lager, ohne freilich zu wissen,
wohin sie ihn führen wird und was ihm bevorstehen sollte. Und
das war nicht wenig was den 9-jährigen Erwin erwartete. Zunächst
hielt er sich im Schutz der Wälder auf, ernährte sich
tagelang von Blättern, Kräutern und alles was ihm essbar
erschien. Und er glaubte daran, eines Tages Mutter und Vater wieder
in die Arme schließen zu dürfen. Auch dieser Glaube gab
ihm die Kraft und den Willen zum Überleben. Obgleich er wusste,
dass seine Mutter nicht mehr lebte und sein Vater verschollen war,
gab er sich dennoch der Vorstellung hin, eines Tages wären
sie alle wieder vereint und lebten wie früher. Er wusste aber
auch, dass er alleine im Wald nicht überleben konnte und so
suchte er mit größter Vorsicht nach einer Bleibe, nach
einem Unterschlupf, nach einem Dach über dem Kopf. Er fand
für längere Zeit bei einer Prostituierten Aufnahme, lebte
bei einem Bauern, half Kriminellen und Pferdedieben bei ihren Raubzügen
und war in stetiger Angst, dass seine jüdische Identität
entdeckt werden könnte. Appelfeld erinnerte sich später
über die Zeit als er allein im Wald war, seinen Gedanken nachging
und sich fragte: „Was ist böse an mir? Rieche ich schlecht,
sehe ich hässlich aus? Bin ich frech? Warum gehen die Kinder
dort im Dorf zur Schule und ich nicht? Damals habe ich gemerkt,
das Schlimmste ist an mir, dass ich Jude bin. Jeder der mich hier
antrifft, kann mich ermorden…“
Als die Sowjets 1944 die Bukowina zurückeroberten,
arbeitete Erwin bei der Roten Armee als Küchenjunge, kam mit
der Truppe in seine Heimat zurück und schlug sich mit Beendigung
des Krieges nach Italien durch. Er lebte für längere Zeit
in Flüchtlingslagern und traf als dreizehneinhalb-jähriger
1946 in Palästina ein. Hier erwartete ihn eine fremde Welt
deren Sprache er nicht verstand, eine Umgebung, die weit entfernt
von allem lag was er gekannt und geliebt hatte. Aus Erwin wurde
Aharon, ein hebräischer Name, den man ihm mit Hinblick auf
seine Zukunft gab, die sich für ihn, wie man ihm nahe legte,
mit der neuen Namensgebung aus vielerlei Gründen günstiger
gestalten würde. Appelfeld musste nicht, aber man übte
merklichen Druck auf ihn aus. Mit dem Appell: „Du lebst hier,
bist hierher gekommen. Du hast dich zu ändern. Du hast zu vergessen.
Du bist ein neuer Jude.“ Und mit dem wiederholten Slogan:
Vergiss! hämmerte man ihm ein, was man von ihm erwartete und
er zu akzeptieren hatte. Nach Appelfelds Eindruck spielten damals
offensichtlich kommunistisch sozialistische Ideologien eine große
Rolle.
Ein einziges Jahr hatte Aharon Appelfeld in Czernowitz
die Schule besucht, was bedeutete er hatte viel, sehr viel nachzuholen.
Am meisten stand ihm dabei das Erlernen der neuen Sprache im Weg,
eine Sprache die ihm tot erschien und keinerlei Bezug zur Sprache
seiner Mutter erkennen ließ. Er wusste, wenn ihr Deutsch sterben
würde, würde auch sie ein zweites Mal sterben. Hebräisch
war Stiefmutter für ihn und es sollte Jahre dauern bis Appelfeld
mit diesem Ersatz leben konnte. Wenn es ihm auch leicht gefallen
war, die Sprache zu erlernen, aber Freude hatte er dabei nie empfunden.
Die Sprache seiner Mutter, die Muttersprache, aber war für
alle Zeit verloren und wie ein fernes Relikt marginal an den Rand
seiner Erinnerung verschoben. Aber „ich war mir sicher“,
so Appelfeld, „wenn ich meine Mutter wiederfände, würde
ich mit ihr in der Sprache weiterreden, in der wir miteinander gesprochen
hatten.“
Aharon Appelfeld lebte zunächst mit eingewanderten
Gleichaltrigen auf einer Jugendfarm in der Nähe von Jerusalem,
machte hier eine landwirtschaftliche Lehre und holte den Stoff der
Grund-und Hauptschule nach, was dringend nötig war, wenn er
überhaupt zur Matura zugelassen werden wollte. Freilich ein
schwieriges Unterfangen in kürzester Zeit das nachzuholen,
wofür es eigentlich Jahre gebraucht hätte. Am liebsten
wäre er bei all den Anstrengungen wieder in das ruhige Fahrwasser
landwirtschaftlicher Tätigkeit zurückgekehrt. Seine Absicht,
nach der Matura Agrarwirtschaft zu studieren zerschlug sich indes,
weil es ihm an dem nötigen Wissen mangelte. Appelfeld wählte
jetzt kurz entschlossen den Studiengang Jiddisch. Jiddisch auch
darum, weil er annahm, wenn er sich mit dieser Sprache befasste,
würde er auch wieder eine Verbindung zu seinen Großeltern
herstellen und zu jenem Judentum vorstoßen, das sie gelebt
und verinnerlicht hatten. In Erweiterung seines Studiums wählte
er die Fächer jiddische und hebräische Literatur, eine
Disziplin, die ihn schließlich zur Professur führen sollte.
Während seines Studiums begann Appelfeld Gedichte zu schreiben,
von denen er in seinem Buch „Geschichte eines Lebens“
sagt: „Sie glichen dem Heulen eines ausgesetzten Tieres, das
jahrelang den Weg nach Hause sucht. Mutter, Mutter, Vater, Vater
wo seid ihr? Wo versteckt ihr euch? Warum kommt ihr nicht, rettet
mich aus meiner Not? Wo ist unser Haus, die Straße und das
Land, das uns rausgeworfen hat? Das war der ganze Inhalt dieses
Heulens.“ Appelfeld aber erkannte sehr bald, dass er mit sentimentaler
Lyrik literarisch nicht weiter kommen würde, aber auch die
Versuche in Prosa wollten zunächst nicht gelingen, denn Appelfeld
glaubte, er müsse sich den jungen Schriftstellern anpassen,
die optimistisch ohne im Gestern zu verweilen auf Gegenwart und
Zukunft setzten. Verdrängen hieß die Parole, vergessen
und auf den Trümmern der Vergangenheit neues schaffen. Und
es sollten viele Jahre vergehen bis Appelfeld erkannte, dass sein
literarischer Weg nicht von ihm weg, sondern zu ihm hin führen
müsse, hin in das Zentrum seiner Vergangenheit, seiner Erfahrung
und seiner Leiden. Damit aber schwamm er gegen den Strom der damaligen
literarischen Kultur Israels, die sich ganz auf das Jetzt und Hier
konzentrierte und von Themen wie die eines Appelfeld nichts wissen
wollte. Gestriges aus einer anderen Welt, damit wollte und konnte
man nichts anfangen, die Gegenwart, das Heute in der Literatur war
gefragt. „Wir aber“, so Appelfeld, „ kamen aus
einer Welt des Leidens, der Verfolgung, des Schmerzes und der Trauer.
Wir (sollten) wollten „normal“ sein. Aber das war nicht
einfach.“ Dies auf die Anfänge von Appelfelds Schreibens
bezogen, das rückwärts gewandt die Themen aus dem Erleben
des Holocaust bezog, aus der grauenhaften kindlichen Erfahrung jenseits
aller Vorstellungen, die von unermesslichem Leid, unsäglichen
Qualen und Verlust geprägt war, konnte doch eigentlich für
den Schriftsteller Appelfeld nur bedeuten, sich schreibend von dem
zu befreien, was unter der Oberfläche der Normalität verborgen,
sich endlich einen Weg in die Öffentlichkeit erkämpfte.
Freilich ein langer Weg, den er womöglich ohne Begleitung und
Mentorenschaft einiger ihm Nahestehenden und Wohlgesonnenen nicht
bewältigt hätte. Namentlich aber war es der Schriftsteller
Agnon, zu dem Appelfeld eine engere Bindung besaß, der ihm
richtungweisend den Weg zu sich selbst aufzeigte und der letztlich
auch als Vorbild für seine literarische Arbeit von größter
Bedeutung war.
Von großer Bedeutung ist für Appelfeld
aber auch seine jüdische Identität, denn sie ist die eigentliche
Quelle seines Schreibens. Schon als Kind und insbesondere als er
sich aufs Schlimmste bedroht sah, wusste er: „Ich kann aus
dieser Identität nicht heraus.“ Dabei hat ihn die hebräische
Sprache mit dem jüdischen Glauben mehr verbunden und ist für
seine Identität wichtiger als Israel. Aber dennoch „ich
liebe Israel“, sagt Aharon Appelfeld, „aber ich weiß
auch, dass meine Heimat keine glückliche Gesellschaft ist.
Man lebt unter andauernder Bedrohung in einem Ghetto, aus dem man
fliehen wollte. Man kann nirgendwo hin, nicht nach Ägypten,
Jordanien, Libanon oder Syrien, nur ans Meer.“ Appelfeld sagt
von sich, dass er kein politischer Mensch sei, der sich in die Politik
Israels einmischt, was jedoch nicht heißen will, er hätte
keine Meinung zur Lage der israelischen Gesellschaft. „Die
Länder rund um uns wollen uns nicht. Für die muslimische
Welt sind die Juden dämonische Wesen. Das wird so bleiben,
solange nicht auch der Islam von einer grundlegenden Aufklärung
und Säkularisierung erfasst wird. Wir waren in Europa nicht
beliebt, und in der arabischen Welt sind wir es ebenso wenig.“
Appelfeld ist der Überzeugung, dass die Juden nicht wegen ihres
Glaubens so unbeliebt sind, sondern schlichtweg und einfach, weil
sie Juden sind.
Das Werk des jüdischen Schriftstellers bewirkte
ausnahmslos sowohl bei den Lesern als auch bei seinen Rezensenten
ein durchgängig positives Echo. Seit Appelfelds Bücher
im deutschsprachigem Raum bekannt wurden, begleiten seine Neuerscheinungen
eine Vielzahl von Kritiken, Rezensionen und biographischen Texten,
als auch Einladungen zu Lesungen, zur Buchmesse, unzähligen
Interviews und persönlichen Gesprächen mit dem Schriftsteller.
Neben Amos Oz, mit dem er seit langem befreundet ist, zählt
Appelfeld zu den bedeutendste Schriftstellern Israels. Diesen Durchbruch
in Deutschland als auch die Auszeichnung mit dem Literaturnobelpreis,
wie er von einer Reihe von Befürwortern gefordert wird, wäre
nicht nur zu wünschen, sondern auch dringend geboten. „Mit
seinem Bemühen, Worte für das Unbeschreibliche zu finden“,
wie Paul Spiegel in der genannten Rede zur Preisverleihung formulierte,
„hilft Aharon Appelfeld nicht nur sich selbst, um die zuweilen
übermächtige Erinnerung zu zähmen, sondern gibt Millionen
namenloser Opfer der nationalistischen Judenvernichtung und insbesondere
den Kindern unter ihnen eine Stimme.“ Er ist die Stimme der
ermordeten Juden, die uns gegen das Vergessen aufrüttelt und
die uns daran erinnert, was der nationalistische Terror, die Schreckensherrschaft
der braunen Barbaren für unermessliches Leid über jüdische
Menschen gebracht hat.
Appelfelds in deutscher Übersetzung vorliegendes
Werk umfasst zurzeit 12 Bücher. Vier davon, Alles was ich liebte,
Blumen der Finsternis, Tzili und Zeit der Wunder sind Romane, in
denen der Schriftsteller die Biographie seiner Kindheit fiktiv verarbeitet
und sein Erlebtes auf die Protagonisten seiner Romane überträgt.
Immer wieder steht ein Kind im Mittelpunkt, das uns an den neunjährigen
Erwin erinnert, wenn es auch Hugo, Paul, Tzili oder Bruno heißt.
Sie alle sind in der Summe das Erlebnispotential und die Gefühlswelt
eines Kindes, das nachempfunden von dem erwachsenen Aharon Appelfeld,
Wort und Stimme erhält. Wer sein autobiographisches Werk die
„Geschichte eines Lebens“ gelesen hat wird nur zu schnell
Parallelen zu seinen Romanfiguren entdecken, die wie einst er, unter
der Judenverfolgung leiden und insbesondere das Schicksal jüdischer
Kinder im Umfeld einer aus allen Fugen geratenen Welt des Nazi-Terrors,
in berührender und erschütternder Weise vermittelt. Zu
Appelfelds Roman „Blumen der Finsternis“ schreibt Marianne
Neubert in der „Berliner Morgenost: „Wie immer bei Appelfeld
wird die Geschichte aus der Perspektive des Jungen erzählt,
der das Unbegreifliche – Hass und Jagd auf die Juden –
desto weniger verstehen kann, je stärker und intensiver er
es empfindet.“ Doch letztendlich steht nicht die Originalität
des Motivs bei Appelfeld im Vordergrund, sondern der Ausdruck der
Menschlichkeit. Die Möglichkeit zu zeigen, dass sie selbst
in unmenschlichen Zeiten und unter unmenschlichen Bedingungen eine
Überlebenschance hat.“ Eine weitere Variante zu Appelfelds
Kindheitsbiographie ist das Mädchen „Tzili“ in
dem gleichnamigen Roman des Schriftstellers. Erzählt wird die
Geschichte eines jüdischen Mädchens, das mit Eltern und
Geschwistern auf einem Bauernhof lebt und das mit dem Heranrücken
der Front im Winter 1941 von der Familie allein zurückgelassen
wird. Sie als Jüngste und Dümmste soll den Hof bewachen.
Unbegreiflich für das zehnjährige Mädchen, aber dadurch
wird sie, obgleich jahrelang in Gefahr und bedrohlichen Lebensumständen
ausgesetzt, überleben. Sie schafft es gar, sich bis nach Italien
durchzuschlagen, um schließlich, wie sie sich vorgenommen
hat, mit dem Schiff Palästina zu erreichen. „Tzili“
ist ein wunderbares Stück Prosa“, schreibt die virtuelle
Literaturzeitschrift Sandammeer, „das trotz allem Schrecken
und Unsagbaren, das es beschreibt und manchmal auch nur umschreibt,
soviel Hoffnung und Lebenswillen ausstrahlt…“ In zwei
weiteren Romanen unter den Titeln „Zeit der Wunder“
und „Alles was ich liebte“ schildert Appelfeld das Schicksal
der Kinder Bruno und Paul, deren Leben zwar von großen Unterschieden
geprägt ist, aber dadurch, dass beide in zeitlicher Verwandtschaft,
in einem von Antisemismus und Judenverfolgung bedrohten Umfeld leben,
verbindet sie viel Gemeinsames, die Erfahrung einer Welt des Unheil,
die sie ertragen und durchleben mussten. Ein Leben in einer vom
Untergang gezeichneten Welt, die ihre Kindheit zerstörte und
alles das vernichtete, was Kindheit lebenswert macht.
Wenn Kinder ihre Geschichten erzählen „das
ist für den Autor eine schwierige Kunst, denn er muss genau
abwägen, was sein kleiner Erzähler eigentlich wissen kann,
was er wahrnimmt, ohne es zu verstehen, was ihn beeinflußt
ohne daß er merkt, wie. Wenn das gelingt, kann es eine sehr
erhellende Studie über das Erwachsenenverhalten werden“,
schreibt die „Jüdische Allgemeine“ zu Appelfelds
Roman „Alles was ich liebte“. Kindliche Sinneserfahrung
über Sehen, Hören, Schmecken, Fühlen und Riechen
ruft Erinnerungen ab, visualisiert Erlebtes, stellt Zusammenhänge
her und projektiert Bilder vergessener Ereignisse ins Gegenwartbewusstsein.
Wenn Aharon Appelfeld heute einen Baum mit roten Äpfeln sieht,
stellt sich bei ihm sofort die Erinnerung nach seiner Flucht aus
dem Lager ein. Ein Baum mit den roten Äpfeln verbindet ihn
augenblicklich mit den Geschehnissen und der Situation in der er
sich damals befand. Indes ist das Erzählen aus der Kindersperspektive
bei so manchem Kritiker unbeliebt, weil der Autor, so ihre Argumentation,
sich nur zu leicht hinter dem Kind verstecken kann. Appelfeld aber
hat diesen Kritikern eine Lehre erteilt und insbesondere dem deutschen
Literaturpapst Marcel Reich-Ranicki den Wind aus den Segeln genommen.
Appelfelds Schreiben ist der permanente Versuch, das
in Worte zu fassen, was ein verfolgtes und in Todesangst lebendes
Kind zu ertragen, zu durchleiden und zu bestehen hatte. Sein Werk
befasst sich mit der Vergangenheit nicht um historische Fakten sichtbar
zu machen, sondern er schaut auf das individuelle Schicksal jener
Menschen und namentlich von Kindern, die sich während der Judenverfolgung
in Situationen befanden, von denen Appelfeld sagt, dass sie weder
glaubhaft erscheinen, noch überzeugend zu vermitteln sind.
„Wenn ich die Fakten der Wahrheit entsprechend beschrieben
hätte“, so Appelfeld, „würde niemand mir glauben.“
Der Schriftsteller Appelfeld ist nicht als Augenzeuge zu sehen,
welcher über eine intellektuelle Erinnerung verfügt, sondern
er bringt wie er sagt, aus der Tiefe seines Körpers „Empfindungen
und Gefühle heraus“, die er „blind in sich aufgenommen
hat.“ Erinnerungsliteratur aus dem Bauch heraus? In gewisser
Weise ja, wenn Appelfeld sagt: „Meiner ganzen Generation steckt
die Erinnerung in Bauch…, wo ein Keller eingerichtet wurde.
In diesem Keller wurden die Eltern, die Großeltern, die Verwandten,
die Muttersprache, das Zuhause weggesperrt, und damit alles was
man im Krieg durchgemacht hatte.“ Die Erfahrung des Grauens,
wie Appelfeld weiß, könne aber dennoch nicht die Schönheit
seiner Kindheitserinnerung auslöschen.
Nach der Veröffentlichung der „Geschichte
eines Lebens“ hat das Interesse an Appelfeld deutlich zugenommen.
Möge die Schar seiner Leser stetig wachsen und viele die ihn
noch nicht kennen, hinzu kommen.
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