XXVIII. Jahrgang, Heft 151
Mai - Aug 2009/2
 
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Letzte Änderung:
4.05.2009

 
 

 

 
 

 

 

WEITLÄUFIGE WELTBILDER

Das Reich des Humanen
Von Heleno Saña

   
 
 


»Die Tendenzen der Zeit begünstigen die Idee der
Selbstverwaltung«
Ralph Waldo Emerson, »Essays, Representative
Men etc. and Poems«

Das Ganze und die Teile

Der Geschichte ist es bisher selten gelungen, ein fruchtbares Gleichgewicht zwischen dem Gemeinschaftlichen und dem Partikulären herzustellen; sie hat grundsätzlich dazu tendiert, einem der beiden Prinzipien auf Kosten des anderen den Vorrang zu geben. Das Primat des Allgemeinen hat zum Entstehen mehr oder weniger totalitärer Gesellschaftsmodelle geführt, während die Vorherrschaft des Besonderen früher oder später in sozialer Desintegration und Zusammenhanglosigkeit endet. Der real existierende Sozialismus und die spätkapitalistische Ordnung sind die letzten Beispiele dieser uralten, sich immer wiederholenden historischen Entwicklung. Es muß aber ein System geben können, das beide Grundprinzipien gleichermaßen berücksichtigt und aus ihnen eine kohärente Einheit macht.

Der Mensch ist nicht nur in eine gesellschaftliche Totalität eingebettet, er ist selbst eine Totalität, ein Mikrokosmos im Makrokosmos. Das gesellschaftliche Ganze wird erst sinnvoll, wenn der einzelne sich darin als freies Individuum entfalten kann. Es ist die konkrete Stellung der Teile, was dem Ganzen seinen Sinn verleiht, nicht umgekehrt. Man muß allerdings gleich hinzufügen, daß dies nur innerhalb eines sinnvollen Ganzen möglich ist. Nicht Hegel hat mit seiner Behauptung recht, daß das Ganze das Wahre ist, aber auch nicht Adorno mit seiner Entgegnung, daß das Ganze das Unwahre sei. Das Reich des Humanen kann nur auf einer Synthese zwischen dem Ganzen und den Teilen begründet sein, alles andere ist abstrakter und einseitiger Doktrinarismus, wie uns schon Kant lehrt: "Vernunft ist das Vermögen, die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen einzusehen."(1)

Eine Totalität, die identisch mit sich selbst wäre und sich dem Prinzip der Partikularität entledigen wollte, wäre etwas Totes und Statisches, ein rein abstrakter Begriff. Deshalb hat Marx das Konkrete als die "Einheit des Mannigfaltigen" und die konkrete Gesellschaft als "eine reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen" definiert.(2) Die Aufgabe des Denkens wäre sehr bequem, wenn man bei der Suche nach einer idealen Ordnung eines der beiden konstitutiven Momente der Wahrheit streichen würde, sei es das Singulare oder das Plurale. Das dialektische Denken kann sich solch theoretische Amputationen nicht leisten, ohne sich selbst zu verleugnen.

Das dringlichste Gebot der Stunde besteht darin, Abschied von der Absolutheit des eigenen Ichs zu nehmen, die die Erbsünde der bürgerlichen Weltanschauung ist. Der bürgerlichen, heute überall verbreiteten Bejahung des Ichs als supremster Wert liegt eine verzerrte Auffassung vom Subjekt und von seinem Verhältnis zum Objekt zugrunde. Die ganze Philosophie der Moderne über die Freiheit des Menschen beruht überhaupt auf einem unkritischen und romantischen Individualismus, der in seiner schwärmerischen Euphorie blind für die Schranken und Gefahren der Egozentrik ist. Der Wille zur absoluten Selbstherrlichkeit des einzelnen wird vom modernen Denken als Freiheit begriffen, und das trifft auch in dem Maße zu, in dem sich dieser Wille als Widerstand gegen Willkür und Bevormundung artikuliert. Aber die Selbstbestimmung des einzelnen tritt heute vorwiegend nicht als Wille zum Widerstand in Erscheinung, sondern als ungehemmter Wille zur Macht, verfolgt das Ziel, sich durch eine maximale Potenzierung des eigenen Ichs die anderen Untertan zu machen. Was am Anfang ein Fortschritt war - die bürgerliche Subjektivität im Kampf gegen den feudalen Absolutismus -, hat sich in eine regressive, fortschrittshemmende Kategorie verwandelt.

Von der solipsistischen Lehre des Liberalismus geblendet, bildet sich der spätkapitalistische Mensch ein, daß er in der Lage ist, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen sich ganz toll im Leben einzurichten. Er merkt in seiner Überheblichkeit nicht, daß seine Verachtung für das Ganze ihn nicht davor bewahrt, ein Gefangener des Systems zu bleiben. Er bleibt ein Gefangener des Systems, weil dieses keine kohärente Totalität bildet und nur als die Summe des Daseinskampfes der verschiedenen einzelnen existiert. Der Mitmensch, den man gerade eliminieren will und den man als Partner nicht anerkennt, meldet sich immer wieder als Konkurrent, Rivale und Feind, ein Phänomen, das die irrationale Grundausrichtung der bürgerlichen Ich-Ideologie immer wieder belegt. Es gibt in der Tat nichts Absurderes als die Vorstellung, daß der Mensch ein absolut freies Wesen sein kann. Das Gegenteil ist wahr. Auch der freieste und unabhängigste Mensch bleibt zeitlebens und unabänderlich auf seine Mitmenschen angewiesen. Das Gemeinwesen ist nur die institutionalisierte Objektivierung der gegenseitigen Abhängigkeit der einzelnen. Die Menschen suchen sich und bleiben zusammen, weil sie wissen, daß sie sich gegenseitig brauchen - wie Rousseau klar sah: "Es ist die Schwäche des Menschen, die ihn gesellig macht. Es sind unsere gemeinsamen Unzulänglichkeiten, die uns dazu bewegen, das Herz der Menschheit zu suchen.. . Jede Zuneigung ist ein Zeichen der Abhängigkeit: Wenn jeder von uns die anderen gar nicht brauchen würde, würde er kaum ihre Nähe suchen."(3) Ähnlich Thomas Paine: "Ohne die Hilfe der Gesellschaft ist kein Mensch in der Lage, seine eigenen Bedürfnisse zu befriedigen."(4)

Der Mensch kann tatsächlich nur überleben und sich verwirklichen im Schöße der Gemeinschaft, wie Marx unterstreicht: "Erst in der Gemeinschaft mit Ändern hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten hin auszubilden. Erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche Freiheit möglich."(5) Diese primäre Bindung an eine überpersonale Instanz beinhaltet, daß die bürgerliche Auffassung vom Individuum blanke Makulatur ist. Das Ich als eine autarke Kategorie zu begreifen, wie es die solipsistische Philosophie seit Demokrit getan hat, ist eine "contradictio in subjecto". Feuerbach, die Du-Ich-Philosophie Martin Bubers vorwegnehmend, sagt zu Recht: "Was wahr ist, ist weder mein noch dein ausschließlich, sondern allgemein."(6)

Dieses Angewiesensein auf die anderen ist nicht nur gesellschaftspolitischer Natur, es gilt schon im unmittelbaren Bereich der zwischenmenschlichen Beziehungen, in der einfachen Sphäre der Intersubjektivität. So kann der Mensch seinen tiefsten Trieb - die Liebe - ohne seine Mitmenschen nicht befriedigen. Gerade in dieser Hinsicht erweist sich der Mensch als eine äußerst bedürftige, abhängige Kreatur, manchmal als ein armseliger, einsamer Bettler, der um ein bißchen Zuneigung ringen muß. Obwohl dieses grundsätzliche Angewiesensein auf die anderen ein unumkehrbares Prinzip des menschlichen Daseins darstellt, neigt der einzelne in seinem Eigendünkel dazu, sich vorzumachen, daß er sein absolut eigener Herr ist und auf den Beistand seiner Mitmenschen verzichten kann. Deshalb versucht er instinktiv, sich emporzuheben und mächtiger als seine Mitmenschen zu werden. Von seinem Drang nach schrankenloser Selbstherrlichkeit getrieben, fängt er an, zu kommandieren und sich über die anderen zu stellen, sie als Ding zu behandeln. Und da diese Herabsetzung des Mitmenschen zum bloßen Objekt das eigene Machtstreben allgemein ist, führt sie unvermeidlich zu einer Verdinglichung aller interpersonalen und gesellschaftlichen Beziehungen. Damit wird das Ganze nicht mehr vom Menschlichen, sondern vom Dinglichen bestimmt.

Die persönliche Freiheit oder Individualität, die das große Fanal des bürgerlichen Wertesystems darstellt, ist heute zu einer Fiktion geworden, ist gerade von dem irrationalen Ganzen kaputtgemacht, das die Bourgeoisie selbst errichtet hat. Denn die häufigste Erfahrung des Menschen innerhalb der westlichen Demokratien ist eben der Druck, den das Ganze auf ihn ausübt. Seine formale Selbstbestimmung wird in tausenderlei Hinsicht von der fremdbestimmenden Macht des Ganzen ad absurdum geführt. Und je mehr das Ganze durchorganisiert ist, desto stärker der Druck des Äußeren auf das Innere. Freiheit verkümmert unter diesen Umständen zur selbstrepressiven Innerlichkeit. Das Ganze wird nicht vom Willen des einzelnen bestimmt, sondern umgekehrt. Das absolute Ich von Fichte ist zur absoluten Null geworden, und so ist es mit allen Ich-Philosophien geschehen, die sich einbildeten, aus dem bürgerlichen Ego einen allmächtigen Gott machen zu können. Die Bourgeoisie ist nicht nur der Schöpfer des modernen Freiheitsbegriffs, sie ist auch sein Totengräber.

Der in der bürgerlichen Gesellschaft tiefverankerte Wille zur Macht führt früher oder später zum Entstehen eines kohärenzlosen, irrationalen und chaotischen Gesellschaftszustands, mündet im Hobbesschen Krieg aller gegen alle. Diese durch die Herrschaft einer einseitigen und unreflektierten Subjektivität oder Ich-Philosophie verursachte Zusammenhanglosigkeit begünstigt andererseits die Herausbildung von Theorien und Gesellschaftsmodellen, die durch die Überbetonung des Ganzen (Staat, Diktatur, Bürokratismus, Militarismus) versuchen, der herrschenden Desintegration mittels der altbewährten Praxis des "law and order" entgegenzutreten, eine Tradition, die sich von der griechischen Tyrannis über die absoluten Monarchien bis hin zum Faschismus und Stalinismus erstreckt. Daß der Totalitarismus, gleich welcher Art, auf Dauer auch Opfer seiner eigenen Irrationalität wird, haben wir zuletzt beim real existierenden Sozialismus feststellen können.

Der Kapitalismus hat den Begriff der Subjektivität völlig verzerrt, aber das heißt nicht, daß die Alternative in einer subjektfeindlichen Ordnung liegen muß, wie alle autoritär ausgerichteten Systeme immer wieder befürwortet haben. Ohne eine freie, sich selbst bestimmende Subjektivität kann es kein Reich des Humanen geben, schon deshalb nicht, weil der Drang zum Selbstwerden ein Grundbedürfnis der menschlichen Natur ist. Die Entwicklung des Ichs als "ens individuatum" entspricht in der Tat dem Streben, sich als selbstbewußte Individualität zu konstituieren. Und dieser Prozeß vollzieht sich als ein ständiges Sich-Absondern und Sich-Differenzieren von den anderen. Selbstsein ist zugleich Anderssein. Der qualitative Umschlag vom abstrakt-unbestimmten zum konkret-bestimmten Ich findet durch eine "diakrisis" statt, wie Anaxagoras als erster erkannte. Aber dieser Selbstdifferenzierungsprozeß ist wiederum ohne das Vorhandensein einer Gemeinschaft undenkbar, wie Marx in seinen Thesen über Feuerbach bemerkt: "Aber das menschliche Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum. In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse."(7) Ich kann die Würde und den Wert meines Nächsten erst anerkennen, wenn ich darauf verzichte, mein Selbst als absoluten Zweck zu setzen, und nicht versuche, die anderen als Material oder Feld für meinen subjektiven Willen zur Macht zu instrumentalisieren. Dies ist wiederum nur möglich, wenn wir akzeptieren, daß das Recht auf SelbstVerwirklichung ein unveräußerliches Recht eines jeden ist. Das Reich des Humanen besteht entsprechend darin, keinen Menschen von diesem Recht auszuschließen. Deshalb sprach schon Descartes von dem Gesetz, "das uns zwingt... das allgemeine Wohl aller Menschen anzustreben".(8)

Die selbstverwaltete Gesellschaft

Das klägliche Scheitern des real existierenden Sozialismus und die Krise der westlichen Linksparteien und der Gewerkschaften bedeuten keineswegs, daß die Möglichkeit für die Schaffung einer humanen und gerechten Gesellschaftsordnung für immer vertan worden ist. Sie bedeuten lediglich, daß die herkömmlichen Befreiungsentwürfe nicht funktioniert haben und revisionsbedürftig sind. Wir stehen am Ende eines Zeitalters, nicht jedoch am Ende der Weltgeschichte, und solange das Leben auf dem Planeten nicht ausgelöscht ist, wird die aufklärerische Vernunft nicht umhin können, Alternativlösungen für die Probleme der Menschheit zu suchen.

Wir können uns hierbei auf einen fruchtbaren emanzipatorischen Hintergrund stützen. Wenn wir auf die Geschichte der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung zurückblicken, werden wir ohne Mühe auf eine große Reihe von wertvollen Erfahrungen stoßen - theoretischer wie praktischer Art -, die uns äußerst nützlich für die Gestaltung des Reichs des Humanen sein können.

In erster Linie steht uns das Selbstverwaltungsprinzip zur Verfügung, das immer eine Grundtendenz aller echten Befreiungsbewegungen war. Wir wissen, daß sich die revolutionären Bewegungen immer auf das Prinzip der direkten Demokratie berufen haben. Das zeichnete sich schon während der Französischen Revolution ab, als die den Sansculotten nahestehenden "Sociétés populaires" das Prinzip der Repräsentation als Verfälschung des allgemeinen Willens ablehnten und die Einführung der direkten Demokratie verlangten. Auch die Pariser Kommune organisierte sich auf der Basis der Selbstverwaltung, und obwohl sie bald von der Reaktion zerschlagen wurde, ist sie in die Geschichte der Revolution als der Inbegriff eines selbstverwalteten Gemeinwesens eingegangen. Auch die während der Russischen Revolution gebildeten Sowjets (Räte) gingen vom Prinzip der Selbstverwaltung aus. Dasselbe gilt für die im Zuge der November-Revolution in Deutschland entstandenen Arbeiter- und Soldaten-Räte und insbesondere für die bayerische Räterepublik und die Räterepublik Ungarns. Die Idee der Selbstverwaltung erlebte einen neuen Schwung während des Spanischen Bürgerkriegs, als die Anarchosyndikalisten und die Linkssozialisten die Wirtschaft kollektivierten und sie unter die direkte Kontrolle der Gewerkschaften und der Arbeiter und Bauern stellten. Der Beschluß Titos, die Arbeiter-Selbstverwaltung in Jugoslawien einzuführen, war weitgehend vom Beispiel der spanischen "Colectividades" beeinflußt. Auch die israelischen Kibbuzim berufen sich auf das Prinzip der Selbstverwaltung. Es war ebenso das Losungswort des Prager Frühlings und der antiautoritären Studentenbewegung der sechziger Jahre im Westen.

Das einzig Neue an der Idee der Selbstverwaltung (Autogestion, selfgovernment) ist im Grunde der Name, denn ihre Wurzeln sind bereits erkennbar in allen großen sozialen Theorien des 18. und 19. Jahrhunderts, um von früheren Tendenzen nicht zu sprechen. Ich betrachte als Vorläufer der Selbstverwaltung alle Ideensysteme und historischen Bewegungen, die die Freiheit des Menschen und die soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Elemente einer humanen Gesellschaft gesehen haben. Wenn ich einige Namen nennen sollte, dann vor allem Godwin, Fourier, Owen, Proudhon, Bakunin, Kropotkin und den antiautoritären Räte-Sozialismus. Marx und Engels befürworteten auch eine selbstverwaltete Gesellschaft, aber was sie darüber sagten, war eher spärlich.

Aber genauso, wie sich in revolutionären Zeiten die Arbeiter für Basisdemokratie und Selbstverwaltung eingesetzt haben, sind sie immer nicht nur auf den Haß der Klassenfeinde, sondern auch auf die Ablehnung der autoritär und zentralistisch gesinnten Strömungen innerhalb des Sozialismus gestoßen. So hat entweder die Konterrevolution oder die Pseudorevolution es immer fertiggebracht, die Schaffung einer selbstverwalteten Gesellschaft zu vereiteln. Die von Voline geprägte Formel der "verratenen Revolution" gilt nicht nur für die russische, sondern für alle anderen. Die Politisierung der Arbeiterbewegung, die Unterordnung des Klassenkampfes unter den Parlamentarismus und den daraus hervorgegangenen Reformismus schwächten die Idee der Selbstverwaltung, die mit dem Sieg des Faschismus und des Stalinismus aus dem Bewußtsein der Arbeiter ausgelöscht wurde.

Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung ? Sie ist der Versuch, das Leben des Menschen auf die Grundlage der Selbstbestimmung, der Freiheit und der freiwilligen Teilnahme jedes Bürgers an der "res publica" zu stellen. Sie verkörpert die entschiedene Ablehnung des Autoritätsprinzips, das in mehr oder weniger großem Ausmaß in allen bisherigen Gesellschaften geherrscht hat. Für die Herbeiführung einer selbstverwalteten Ordnung zu kämpfen, bedeutet, gegen jede Form von Despotismus, Repression und Bevormundung Partei zu ergreifen. Die Selbstverwaltung ist ein integrales Befreiungsideal, das an die großen emanzipatorischen Träume der Menschheit anknüpft. Und wie alle universalen Ideen ist sie ein Anliegen, das der Seele des Volkes entspringt, das sich auf das Volk stützt und das nur durch das Volk verwirklicht werden kann. In der Terminologie Markovic´s: "Selbstverwaltung heißt, daß die Verwaltungsfunktionen durch keinerlei Gewalt außerhalb der Gesellschaft ausgeübt werden, sondern durch die Produzenten selbst, die das gesellschaftliche Leben in allen seinen Formen schaffen. Selbstverwaltung bedeutet die Überwindung der dauernden und fixierten Teilung der Gesellschaft in historische Subjekte und Objekte, in Lenkende und Ausführende."(9)

Selbstverwaltung bedeutet im wesentlichen die Entbürokratisierung des gesellschaftlichen Organismus, die Deprofessionalisierung der politischen Funktionen, die Dezentralisierung der Verwaltung, die Vergesellschaftung der Produktion und die Abschaffung jeder Möglichkeit von Machtmißbrauch, Despotie und Ausbeutung. Ihr Ziel wäre demnach das, was Luden Goldmann "die Demokratisierung der Verantwortung", "la démocratisation des responsabilités" genannt hat,(10) ein Gedanke im übrigen, der schon von Erich Mühsam formuliert wurde: "Selbstverwaltung ist nichts anderes als Selbstverantwortung Gleicher auf Gegenseitigkeit."(11) Sie ist also als die direkte Negation dessen zu verstehen, was heute alle Staaten der Erde ausnahmslos praktizieren. Sie ist, kurz, ein anderes Wort für den Abbau des Staates und seiner gewaltigen Machtkonzentration. Stojanovic´: "Das Absterben des Staates wäre vollkommen unbegreiflich, würde es nicht Errichtung echter Demokratie und damit Selbstverwaltung der Gesellschaft bedeuten."(12) Erst unter diesen Voraussetzungen wird Selbstverwaltung das, was der Begriff auch semantisch ausdrückt: eine Gesellschaft, die ihre Angelegenheiten ohne Zwang und auf der Grundlage der gegenseitigen Hilfe regelt, in der, wie es Marx formulierte, "die freie Entwicklung eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".(13) Oder auch Adam Schaff: "Es geht darum, allseitig die Selbstverwaltung der Produzenten zu entwickeln... Das Postulat der Selbstverwaltung sollte in enger Verknüpfung mit dem Problem der Demokratie gesehen werden: es ist nämlich eine spezifische, höhere Form der Demokratie im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie, weil sie auf besondere Art und Weise Funktionen der Volksvertretung und der Vollzugsgewalt in sich vereinigt."(14)

Das Endziel einer selbstverwalteten Gesellschaft ist, die Herrschaft über die Menschen abzuschaffen und an ihre Stelle die Verwaltung der Dinge zu setzen, wie es Saint-Simon vorschwebte: "Was die Nation bei dem heutigen Zustand braucht, ist nicht regiert, sondern verwaltet zu sein."(15) Nur unter diesen Bedingungen kann der Dualismus zwischen Herrschern und Beherrschten aufgehoben und ein Sozialismus mit "menschlichem Antlitz" eingeführt werden. Dazu gehört freilich auch die Beseitigung materieller Privilegien aller Art, die immer die Folge politischer, gesellschaftlicher, beruflicher oder sonstiger Vorrechte sind. Also keine neuen Klassen, keine neuen Eliten, keine Nomenklatura, keine neuen Herren und damit auch keine neuen Knechte. Jede berufliche Tätigkeit erfüllt eine für die Gesellschaft sinnvolle Aufgabe, deshalb ist die Hierarchisierung der verschiedenen Arbeitsfunktionen unvereinbar mit einer selbstverwalteten Gesellschaft, die diesen Namen verdient und sich das Ziel setzt, jede künstliche (also machtpolitisch bedingte) Form von Ungleichheit und Benachteiligung zu überwinden. Die selbst unter Sozialisten weitverbreitete Vorstellung, daß bestimmte "höhere" Tätigkeiten mit besonderen materiellen Vorteilen belohnt werden müssen, entspricht einer kleinbürgerlichen und pseudosozialistischen Auffassung von einer emanzipierten und gerechten Gesellschaft. Diese fundamentale materielle Gleichstellung ist nicht nur kein Hindernis, sondern vielmehr die "conditio sine qua non" für die Verwirklichung einer wahren selbstverwalteten Gesellschaft, deren oberstes Gebot darin besteht, den Rechten, Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten jedes einzelnen soviel Freiraum wie nur möglich zu gewähren. Diese von uns postulierte Gleichstellung aller Mitglieder des Gemeinwesens ist nicht mit der engstirnigen Gleichmacherei zu verwechseln, die die Feinde des Sozialismus immer wieder an die Wand malen, um die Menschen zu schrecken. Gleichmacherei herrscht vielmehr dort, wo die Menschen - oder die meisten von ihnen - von Geburt an Gefangene der Wirtschaftsverhältnisse sind, also dort, wo die Gesellschaft eine Klassengesellschaft ist wie die bürgerliche. Die vielgerühmte Chancengleichheit, die angeblich im Kapitalismus herrscht, ist pures, unverschämtes Gerede. Echte, unverfälschte Gleichberechtigung setzt die Abschaffung jeder sozioökonomischen Ungleichheit und die Einführung einer egalitären Gesellschaftsordnung voraus. Alles andere ist Selbstbetrug und Augenwischerei.

Die Idee der Selbstverwaltung wird Wirklichkeit, wenn niemand in der Lage ist, andere zu kommandieren, und niemand gezwungen ist zu gehorchen und trotzdem das Gemeinwesen wirksam und ohne große Erschütterungen funktioniert. Wenn diese Stunde kommt, wird sich der Gedanke Montesquieus vollziehen: "In einem freien Staat muß jeder Mensch, der eine freie Seele hat, sich selbst regie ren."(16)

Die freiheitliche Tradition

Die Idee der Selbstverwaltung ist von Grund auf eine freiheitliche, undogmatische Idee, die einen breiten Raum für die verschiedensten Denkströmungen bietet. Sie ist unvereinbar mit jeglichem Sektierertum oder jeder hermetischen Doktrin, die immer ein Zeichen von Engstirnigkeit und uneingestandener Unsicherheit ist. Große Ideen müssen großzügig sein, sonst werden sie unvermeidlich zur Ersatzreligion entarten. Ich möchte in diesem Zusammenhang den Brief in Erinnerung bringen, den Proudhon an Marx schrieb: "Geben wir uns nicht als Apostel einer neuen Religion, auch dann nicht, wenn es die Religion der Logik und der Vernunft wäre. Empfangen und ermuntern wir jeden Protest; geißeln wir jede Ausschließlichkeit, jeden Mystizismus. Betrachten wir niemals eine Frage für erschöpft, und wenn wir unseren letzten Beweisgrund verbraucht haben, laßt uns, wenn es nötig ist, mit Beredsamkeit und Ironie von neuem beginnen. Unter dieser Bedingung werde ich mich Ihrer Vereinigung mit Vergnügen anschließen. Wenn nicht, nicht."(17)

In diesem Sinne kann der freiheitliche, antiautoritäre Fundus der Menschheit von eminenter Bedeutung sein. Diese niemals ganz abhanden gekommene Tradition ist vornehmlich bei den angelsächsischen und lateinischen Völkern zu finden, viel weniger bei den germanischen und slawischen. England ist die Wiege des Liberalismus, die Vereinigten Staaten die der Demokratie. Es ist sicher kein Zufall, daß sich beide Völker bisher vom Virus des Totalitarismus freigehalten und Europa zweimal gegen den germanischen Imperialismus, Militarismus und Faschismus gerettet haben, wobei der Grundimpuls für die Verteidigung der Freiheit vor allem aus England kam. Voltaire wußte nicht, wie prophetisch seine Worte über England waren: "Dieses Volk hängt nicht nur an seiner Freiheit, sondern an der Freiheit der anderen."(18) Das Mißtrauen gegenüber dem Staat, der zivile Ungehorsam als Kampfmethode gegen staatliche Willkür und der Sinn für "self-government" haben die kulturgeschichtliche Entwicklung beider Länder tief geprägt, auch wenn der verheerende Geist des Kapitalismus - wie sonst überall in der westlichen Welt - die Durchsetzung dieser freiheitlichen Eigenschaften immer wieder blockiert hat. Aber Namen wie John Locke, William Godwin, Thomas Paine, William Morris, Shelly, Lord Byron, Walt Whitman, David Henry Thoreau, Ralph Waldo Emerson, Bernard Shaw, Bertrand Russell, Huxley oder Orwell bleiben als Beispiele eines unbestechlichen Freiheits- und Demokratieverständnisses.

Der angelsächsische Antiautoritarismus ist tief verwandt mit der libertären Tradition der romanischen Völker, die in ihrer radikalsten und konsequentesten Form ihren Niederschlag im revolutionären Syndikalismus findet. Albert Camus sah in dieser libertären Tradition den Gegenpol zur autoritären Tradition Deutschlands und die Grundlage eines freiheitlichen Sozialismus: "Die Geschichte der Ersten Internationale, in der der deutsche Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mediterranen Geist."(19) Diese libertäre Gesinnung, die in Frankreich und Italien nach dem Ersten Weltkrieg zusehends schwächer wurde, zeigte zum letzten Mal ihre Größe und ihre Kraft während des Spanischen Bürgerkrieges im Kampf gegen die spanischen Kapitalisten, gegen Francos Armee und gegen den deutsch-italienischen Faschismus. Ilja Ehrenburg: "Als die großen, führenden, gut organisierten Völker sich eines nach dem anderen anschickten, vor dem Faschismus zu kapitulieren, da nahm das spanische Volk den ungleichen Kampf auf. Don Quijote hielt sich selbst und der Menschenwürde die Treue."(20)

Die deutsche antiautoritäre Tradition ist viel ärmer als die der meisten europäischen Nationen, und noch heute gilt, was Edgar Quinet vor sehr langer Zeit schrieb: "Wenn der deutsche Geist sich nicht in den Wolken befindet, kriecht er."(21) Auch Kant wußte über seine Landsleute Bescheid: "Der Deutsche fügt sich, unter allen zivilisierten Völkern am leichtesten und dauerhaftesten, der Regierung, unter der er ist, und ist am meisten von Neuerungssucht und Widersetzlichkeit gegen die eingeführte Ordnung entfernt."(22) Bakunin dachte genauso, bezeichnete die Deutschen als "das resignierteste und gehorsamste Volk der Erde".(23)

Aber auch in Deutschland hat nie eine freiheitliche Tradition gefehlt, nicht nur in der Zeit Thomas Münzers und der Bauernrevolution. Kant, Hölderlin, Goethe, Schiller, Lessing, Herder, der frühe Fichte und andere deutsche Aufklärer waren freiheitlich eingestellt wie ihre europäischen Zeitgenossen. Der Staatsfetischismus von Hegel blieb unter den deutschen Klassikern die Ausnahme, war nicht das dominierende Element. Selbst der konservative Schelling hatte nichts übrig für den Staat: "Wir müssen also auch über den Staat hinaus! Denn jeder Staat muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln; und das soll er nicht; also soll er aufhören."(24) Und ein paar Zeilen weiter spricht er von "dem ganzen elenden Menschenwerk von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung".(25)

Hier ist schon der ganze Anti-Etatismus vorweggenommen, der eine der Grundpositionen des freiheitlichen Sozialismus bildet. Und dasselbe gilt für Nietzsche, der nicht zufällig um die Jahrhundertwende von vielen Anarchisten gelesen wurde: "Dort, wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch."(26) Aber wie ich in meinen Büchern über Deutschland versucht habe darzulegen, konnte sich der deutsche antiautoritäre Geist nur in Ansätzen entfalten. Gestalten wie Marx oder Engels, Heinrich Heine, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Erich Mühsam, Tucholsky, Heinrich Mann, Carl von Ossietzky oder Hugo Ball waren immer unterlegen, mußten ins Exil gehen oder wurden ermordet wie viele andere freigesinnte Publizisten, Revolutionäre und Sozialkämpfer.

Aber nicht nur Deutschland hat in dieser Hinsicht Enormes nachzuholen, denn der freiheitliche Geist ist fast überall auf der Welt auf dem Rückzug. Wir sind tatsächlich seit langem Zeugen einer allgemeinen Rückkehr zu allen möglichen Formen der Intoleranz, des Fundamentalismus, des Klerikalismus, des Bürokratismus und des Etatismus. Selbst die staatsbürgerlichen Freiheiten und Rechte, auf die die Bourgeoisie einst so stolz war, werden durch die zunehmende Einmischung des Staates in die Belange des Bürgers und durch den Einfluß der Interessenverbände und Institutionen auf das öffentliche Leben immer mehr eingeengt. Nicht der Liberalismus hat sich durchgesetzt, sondern sein Todfeind, der Bürokratismus. Zu Recht erkannte Marcuse die Notwendigkeit einer neuen bürgerlichen Revolution: "Ich meine, überspitzt formuliert, was notwendig erscheint, ist eine zweite bürgerliche Revolution, weil die Bourgeoisie unter dem Regiment des Großkapitals ihre eigenen Errungenschaften angetastet oder preiszugeben begonnen hat und weil die Arbeiterklasse in zunehmendem Maße bürgerlich geworden ist."(27)

Es gibt nichts Menschliches ohne Freiheit, die der höchste und zugleich gefährdetste Wert des Lebens ist. Deshalb die Notwendigkeit, sie immer wieder gegen jede Form des Zwangs und der Fremdbestimmung zu schützen. Die Natur hat uns frei gemacht, aber die Gesellschaft tendiert immer dazu, uns zu versklaven, auch in einem angeblich so freien Zeitalter wie dem unseren. Die Menschen sind tatsächlich immer unfreier eingestellt, lassen sich zunehmend vom Staat und anderen Machtinstanzen gängeln und bevormunden. Camus bemerkte zu Recht, daß die wahre Berufung des Jahrhunderts die Unterwerfung gewesen ist. Deshalb war der Faschismus möglich, deshalb konnten die stalinistischen Gulags entstehen, deshalb die weltweite Ausdehnung des Autoritarismus als Grundlage der "res publica". Was ist geschehen? Geschehen ist, was Erich Mühsam 1932 feststellte: "Es ist ohne weiteres klar, daß Macht nicht ertragen würde, wäre der menschliche Geist nicht zuvor der Einwirkung der Autorität zugänglich gemacht worden. Wo Autorität Eingang hat, kann sich Macht festsetzen, wo Macht waltet, schafft sie der Autorität immer neue Zugänge."(28)

Das ist auch heute der Fall. Die gegenwärtige Weltordnung basiert wie eh und je auf der Herrschaft einer Minderheit von privilegierten Klassen und Nationen, und solange dieser Zustand nicht aufgehoben ist, wird es auf der Erde keine Freiheit in umfassendem, unverfälschtem Sinn geben. Die Kapitalisten und ihre Helfershelfer preisen ihr System als das freieste der Weltgeschichte an, aber die Freiheit, die sie meinen, erschöpft sich darin, die Schwachen auszubeuten und ihnen das Blut auszusaugen. Eine Welt als frei zu bezeichnen, in der tagtäglich unzählige Menschen in Elend und an Hunger sterben, ist nicht nur ein Akt des Zynismus, sondern eine beispiellose Provokation, die sich das emanzipatorische Lager nicht länger gefallen lassen darf, es sei denn, es hätte beschlossen, ehrlos und für immer das Schlachtfeld zu räumen und seine Pensionierung zu beantragen.

1 Kant, "Werke", a.a.O., 12. Band, S. 730
2 Marx, "Grundrisse", a.a.O., S. 21
3 Rousseau, "Emile", a.a.O., S. 287-288
4 Thomas Paine, "Rights of Man", Middlessex 1976, S. 185
5 MEW, 3. Band, S. 74
6 Feuerbach, a.a.O., S. 37
7 MEW, 3. Band, S. 6
8 Descartes, a.a.O., VI.
9 Mihailo Markovic´, "Dialektik der Praxis", Frankfurt 1968, S. 105
10 Luden Goldmann, "Sciences humaines et philosophie", Paris 1966, S. 16
11 Erich Mühsam, "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat", Berlin 1978, S. 31
12 Stojanovic´, a.a.O., S. 121
13 MEW, 3. Band, S. 74
14 Adam Schaff, "Entfremdung als soziales Phänomen", Wien 1977, S. 302-303
15 Saint-Simon, "Du Systeme industriel", in "CEuvres", 3. Band, Paris 1869, S. 251
16 Montesquieu, a.a.O., Buch XI., Kap. VI.
17 Brief vom 17. Mai 1846
18 Voltaire, "Lettres philosophiques", Paris 1964, S. 55
19 Camus, "L'homme révolté", a.a.O., S. 369
20 Ilja Ehrenburg, a.a.O., 2. Band, S. 244
21 Edgar Quinet, a.a.O., 1. Band, S. 132
22 Kant, "Werke", a.a.O., 12. Band, S. 667
23 Bakunin, a.a.O., 3. Band, S. 245
24 Schelling, "Texte zur Philosophie und Kunst", Stuttg. 1982, S. 97
25 Ebd., S. 97
26 Nietzsche, "Also sprach Zarathustra", München 1958, S. 40
27 Jürgen Habermas, Silvia Bovenschen u.a., "Gespräche mit Marcuse", Frankfurt 1978, S. 54
28 Erich Mühsam, a.a.O., S. 39

Aus: »Das Ende der Gemütlichkeit. Eine Bilanz der Krise unserer Zeit«. Rasch und Röhring, Hamburg 1992

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Brückengedanken

Von Peter Frömmig

Leben ist Brückenschlägen
über Ströme, die vergehn...
Gottfried. Bonn

Wäre ich Ingenieur geworden, hätte ich mich am liebsten dem Bau von Brücken gewidmet. Brücken und Stege, die einen Wasserlauf oder eine Kluft überwinden, Ufer und Menschen verbinden. Da ich nur mit Sprache etwas erstellen kann, sage ich: Erinnerungen stehen als Brückenpfeiler im Strom der Zeit, über die sich unser Leben als ein Brückenbogen spannt.

Übers Geländer gelehnt

Eisenbahn- und Autobahnbrücken sind nur eine Fortsetzung der Straße oder der Schiene mit anderen Mitteln. Hohe Geschwindigkeit vermindert das eigentliche Brückenerlebnis. Der Zweck alleine heiligt nicht immer die Mittel.

Ich bevorzuge Brücken, über die man ohne Beeinträchtigung gehen kann, die zum Verweilen einladen. Solche Brücken können ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln und Inspiration hervorrufen. Luftig über dem Wasser, das kraftvoll oder gemächlich dahinfließt, dabei einen festen Halt haben, übers Geländer gelehnt, die Gedanken dem Strom überlassen.

Brücken ziehen seit jeher sowohl Liebespaare als auch Lebensmüde an. Unter Brücken suchen Obdachlose Schutz.

Einweihung einer Brücke

Etwa ein Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg durfte ich einmal bei der Einweihung einer neuen Brücke dabei sein. Sie führte über den Rhein bei Speyer, wo ich aufwuchs, um das pfälzische mit dem badischen Ufer zu verbinden. Im Krieg war die frühere Brücke aus strategischen Gründen zerstört worden, eine Fähre hatte danach die Brücke ersetzt. Mit ändern Schulkindern sah ich, wie Verkehrsminister Seebohm 1956 das Band zur Freigabe der Brücke durchschnitt, und ich klatschte und jubelte mit. Bald darauf erfuhr ich durch meinen Vater, Elektroschweißer von Beruf, dass die Sprengung dieser Brücke schon in ihrer Konstruktion eingeplant sei. "Für den Ernstfall", wie er sagte. Meine Enttäuschung war groß.

Noch heute, wenn ich die Rheinbrücke bei Speyer überquere, denke ich manchmal daran, dass sie vielleicht nur auf Widerruf steht. Dennoch habe ich mir die Lust, über Brücken oder Stege zu gehen und mich auf ihnen aufzuhalten, nicht nehmen lassen.

Verbindung oder Trennung

Nach der deutschen Grenzöffnung von 1989 besuchte ich erstmals wieder meine Geburtsstadt Eilenburg, nahe Leipzig. Ich überquerte die Mulde auf der gleichen Brücke, über die ich als Kind jeden Monat an der Hand der Mutter gegangen bin. Der Weg führte von der Arbeitersiedlung jenseits der Mulde zum Eilenburger Rathaus, wo die Mutter das Kindergeld abholte. Jahrelang ging das so, in schöner Regelmäßigkeit, nichts lieben Kinder mehr als das. Es war immer eine Freude, über diese Brücke zu gehen, die den neueren Stadtteil, in dem wir wohnten, mit der Altstadt verband.

Nach dem Krieg war die Mulde vorübergehend zur Demarkationslinie zwischen von Amerikanern und Russen besetzten Gebieten erklärt worden. Die Brücke wurde für die Zivilbevölkerung militärisch gesperrt. Wer es dennoch wagte, riskierte sein Leben. Mein Vater, nach langem Fußmarsch aus der Kriegsfangenschaft kommeRd, hielt es nicht aus, nun so nah bei seiner Familie und doch von ihr getrennt zu sein. Bei Nacht gelang es ihm, unentdeckt über den Fluss, der Hochwasser führte, zu schwimmen. An den Posten, die auf der Brücke und an den Ufern aufgestellt waren, vorbei. Etwa neun Monate später kam ich zur Weit.

Brücken im Krieg

Die Brücke am Kwai, die Brücke von Remagen, die Brücke von Sarajewo. Und viele andere Brücken, in Kriegen hart umkämpft, zerstört. Wie in Bernhard Wickis Film “Die Brücke", der die letzten Tage des zweiten Weltkriegs schildert. Eine Gruppe Jugendlicher wird in einer kleinen deutschen Stadt eingezogen zur militärisch bereits sinnlosen Verteigung einer Brücke. Wie sich auf den begeisterten, romantisch erhellten Gesichter allmählich das Entsetzen abzeichnet, der Schrecken des Todes, vergißt keiner, der den Film gesehen hat.

Als während des “Balkan-Krieges" die Staatengemeinschaft des ehemaligen Jugoslawiens zunehmend zerfiel, wurde überdeutlich daran erinnert, dass das Zerstören von Brücken strategische Maßnahmen zur Schwächung des Feindes, zur gewaltsamen Trennung von Menschen sind. Selten sind soviele Brücken in einem Krieg zerstört worden.

Ein Bild von damals: Eine hohe Brücke, von Bomben getroffen, als sich gerade ein mit Flüchtlingen überfüllter Omnibus auf ihr befindet. Das Bild des Fahrzeugs, wie es das Geländer durchbricht, vornüber kippt und in die Tiefe stürzt. Ein anderes Bild: Menschen haben sich in Belgrad während der nächtlichen Bombardements auf den alten Brücken im Zentrum der Stadt versammelt und harren aus. Die Brücken stehen heute noch. Auch diese Aufnahmen von meist jungen Menschen, denen die Standhaftigkeit im Gesicht geschrieben steht, haben sich eingeprägt.

Brücke der Erinnerung

Begegnungen auf Brücken sind oft bedeutsam und symbolträchtig. Auf der Brücke von Torgau, teilweise während der vorangegangen Kampfhandlungen beschädigt, trafen am 25. April 1945 erstmals Soldaten der amerikanischen und sowjetischen Streitkräfte zusammen. Ein Zeitungsphoto vom Mai 1994, fast fünf ig Jahre später, dokumentiert den sehr umstrittenen Abriss der Brücke. Die einen plädierten für den Erhalt der Brücke zum Gedenken, die ändern hatten genug vom Gedenken und pragmatische Gründe, sie ganz zu entfernen.

Der Name Torgau fiel in meiner Familie oft. Verwandte der Mutter lebten dort. Als ich die Stadt Torgau dann vor Jahren wieder besuchte, bin ich zuerst zur Elbe hinunter gegangen und fand den immerhin noch verbliebenen Brückenkopf der legendären Brücke von Torgau und eine Gedenktafel.

Jeder Abriss, wenn auch aus triftigen Gründen, leistet dem Gedächtnisschwund Vorschub. Wo die Furie des Verschwindens regiert, feiert auch das Vergessen seine schwarzen Messen. Durch Abriss und Neubau glaubte man nach dem 2. Weltkrieg ein neues, befreites Leben beginnen zu können. Doch die Gespenster der Vergangenheit wird man damit nicht los, sie folgen als Schatten auf Schritt und Tritt. So war es, so ist es, und so wirds immer bleiben.

   

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