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»Die Tendenzen der Zeit begünstigen die Idee der
Selbstverwaltung«
Ralph Waldo Emerson, »Essays, Representative
Men etc. and Poems«
Das Ganze und die
Teile
Der Geschichte ist es bisher selten gelungen, ein
fruchtbares Gleichgewicht zwischen dem Gemeinschaftlichen und dem
Partikulären herzustellen; sie hat grundsätzlich dazu
tendiert, einem der beiden Prinzipien auf Kosten des anderen den
Vorrang zu geben. Das Primat des Allgemeinen hat zum Entstehen mehr
oder weniger totalitärer Gesellschaftsmodelle geführt,
während die Vorherrschaft des Besonderen früher oder später
in sozialer Desintegration und Zusammenhanglosigkeit endet. Der
real existierende Sozialismus und die spätkapitalistische Ordnung
sind die letzten Beispiele dieser uralten, sich immer wiederholenden
historischen Entwicklung. Es muß aber ein System geben können,
das beide Grundprinzipien gleichermaßen berücksichtigt
und aus ihnen eine kohärente Einheit macht.
Der Mensch ist nicht nur in eine gesellschaftliche
Totalität eingebettet, er ist selbst eine Totalität, ein
Mikrokosmos im Makrokosmos. Das gesellschaftliche Ganze wird erst
sinnvoll, wenn der einzelne sich darin als freies Individuum entfalten
kann. Es ist die konkrete Stellung der Teile, was dem Ganzen seinen
Sinn verleiht, nicht umgekehrt. Man muß allerdings gleich
hinzufügen, daß dies nur innerhalb eines sinnvollen Ganzen
möglich ist. Nicht Hegel hat mit seiner Behauptung recht, daß
das Ganze das Wahre ist, aber auch nicht Adorno mit seiner Entgegnung,
daß das Ganze das Unwahre sei. Das Reich des Humanen kann
nur auf einer Synthese zwischen dem Ganzen und den Teilen begründet
sein, alles andere ist abstrakter und einseitiger Doktrinarismus,
wie uns schon Kant lehrt: "Vernunft ist das Vermögen,
die Verknüpfung des Allgemeinen mit dem Besonderen einzusehen."(1)
Eine Totalität, die identisch mit sich selbst
wäre und sich dem Prinzip der Partikularität entledigen
wollte, wäre etwas Totes und Statisches, ein rein abstrakter
Begriff. Deshalb hat Marx das Konkrete als die "Einheit des
Mannigfaltigen" und die konkrete Gesellschaft als "eine
reiche Totalität von vielen Bestimmungen und Beziehungen"
definiert.(2) Die Aufgabe des Denkens wäre sehr bequem, wenn
man bei der Suche nach einer idealen Ordnung eines der beiden konstitutiven
Momente der Wahrheit streichen würde, sei es das Singulare
oder das Plurale. Das dialektische Denken kann sich solch theoretische
Amputationen nicht leisten, ohne sich selbst zu verleugnen.
Das dringlichste Gebot der Stunde besteht darin, Abschied
von der Absolutheit des eigenen Ichs zu nehmen, die die Erbsünde
der bürgerlichen Weltanschauung ist. Der bürgerlichen,
heute überall verbreiteten Bejahung des Ichs als supremster
Wert liegt eine verzerrte Auffassung vom Subjekt und von seinem
Verhältnis zum Objekt zugrunde. Die ganze Philosophie der Moderne
über die Freiheit des Menschen beruht überhaupt auf einem
unkritischen und romantischen Individualismus, der in seiner schwärmerischen
Euphorie blind für die Schranken und Gefahren der Egozentrik
ist. Der Wille zur absoluten Selbstherrlichkeit des einzelnen wird
vom modernen Denken als Freiheit begriffen, und das trifft auch
in dem Maße zu, in dem sich dieser Wille als Widerstand gegen
Willkür und Bevormundung artikuliert. Aber die Selbstbestimmung
des einzelnen tritt heute vorwiegend nicht als Wille zum Widerstand
in Erscheinung, sondern als ungehemmter Wille zur Macht, verfolgt
das Ziel, sich durch eine maximale Potenzierung des eigenen Ichs
die anderen Untertan zu machen. Was am Anfang ein Fortschritt war
- die bürgerliche Subjektivität im Kampf gegen den feudalen
Absolutismus -, hat sich in eine regressive, fortschrittshemmende
Kategorie verwandelt.
Von der solipsistischen Lehre des Liberalismus geblendet,
bildet sich der spätkapitalistische Mensch ein, daß er
in der Lage ist, ohne Rücksicht auf seine Mitmenschen sich
ganz toll im Leben einzurichten. Er merkt in seiner Überheblichkeit
nicht, daß seine Verachtung für das Ganze ihn nicht davor
bewahrt, ein Gefangener des Systems zu bleiben. Er bleibt ein Gefangener
des Systems, weil dieses keine kohärente Totalität bildet
und nur als die Summe des Daseinskampfes der verschiedenen einzelnen
existiert. Der Mitmensch, den man gerade eliminieren will und den
man als Partner nicht anerkennt, meldet sich immer wieder als Konkurrent,
Rivale und Feind, ein Phänomen, das die irrationale Grundausrichtung
der bürgerlichen Ich-Ideologie immer wieder belegt. Es gibt
in der Tat nichts Absurderes als die Vorstellung, daß der
Mensch ein absolut freies Wesen sein kann. Das Gegenteil ist wahr.
Auch der freieste und unabhängigste Mensch bleibt zeitlebens
und unabänderlich auf seine Mitmenschen angewiesen. Das Gemeinwesen
ist nur die institutionalisierte Objektivierung der gegenseitigen
Abhängigkeit der einzelnen. Die Menschen suchen sich und bleiben
zusammen, weil sie wissen, daß sie sich gegenseitig brauchen
- wie Rousseau klar sah: "Es ist die Schwäche des Menschen,
die ihn gesellig macht. Es sind unsere gemeinsamen Unzulänglichkeiten,
die uns dazu bewegen, das Herz der Menschheit zu suchen.. . Jede
Zuneigung ist ein Zeichen der Abhängigkeit: Wenn jeder von
uns die anderen gar nicht brauchen würde, würde er kaum
ihre Nähe suchen."(3) Ähnlich Thomas Paine: "Ohne
die Hilfe der Gesellschaft ist kein Mensch in der Lage, seine eigenen
Bedürfnisse zu befriedigen."(4)
Der Mensch kann tatsächlich nur überleben
und sich verwirklichen im Schöße der Gemeinschaft, wie
Marx unterstreicht: "Erst in der Gemeinschaft mit Ändern
hat jedes Individuum die Mittel, seine Anlagen nach allen Seiten
hin auszubilden. Erst in der Gemeinschaft wird also die persönliche
Freiheit möglich."(5) Diese primäre Bindung an eine
überpersonale Instanz beinhaltet, daß die bürgerliche
Auffassung vom Individuum blanke Makulatur ist. Das Ich als eine
autarke Kategorie zu begreifen, wie es die solipsistische Philosophie
seit Demokrit getan hat, ist eine "contradictio in subjecto".
Feuerbach, die Du-Ich-Philosophie Martin Bubers vorwegnehmend, sagt
zu Recht: "Was wahr ist, ist weder mein noch dein ausschließlich,
sondern allgemein."(6)
Dieses Angewiesensein auf die anderen ist nicht nur
gesellschaftspolitischer Natur, es gilt schon im unmittelbaren Bereich
der zwischenmenschlichen Beziehungen, in der einfachen Sphäre
der Intersubjektivität. So kann der Mensch seinen tiefsten
Trieb - die Liebe - ohne seine Mitmenschen nicht befriedigen. Gerade
in dieser Hinsicht erweist sich der Mensch als eine äußerst
bedürftige, abhängige Kreatur, manchmal als ein armseliger,
einsamer Bettler, der um ein bißchen Zuneigung ringen muß.
Obwohl dieses grundsätzliche Angewiesensein auf die anderen
ein unumkehrbares Prinzip des menschlichen Daseins darstellt, neigt
der einzelne in seinem Eigendünkel dazu, sich vorzumachen,
daß er sein absolut eigener Herr ist und auf den Beistand
seiner Mitmenschen verzichten kann. Deshalb versucht er instinktiv,
sich emporzuheben und mächtiger als seine Mitmenschen zu werden.
Von seinem Drang nach schrankenloser Selbstherrlichkeit getrieben,
fängt er an, zu kommandieren und sich über die anderen
zu stellen, sie als Ding zu behandeln. Und da diese Herabsetzung
des Mitmenschen zum bloßen Objekt das eigene Machtstreben
allgemein ist, führt sie unvermeidlich zu einer Verdinglichung
aller interpersonalen und gesellschaftlichen Beziehungen. Damit
wird das Ganze nicht mehr vom Menschlichen, sondern vom Dinglichen
bestimmt.
Die persönliche Freiheit oder Individualität,
die das große Fanal des bürgerlichen Wertesystems darstellt,
ist heute zu einer Fiktion geworden, ist gerade von dem irrationalen
Ganzen kaputtgemacht, das die Bourgeoisie selbst errichtet hat.
Denn die häufigste Erfahrung des Menschen innerhalb der westlichen
Demokratien ist eben der Druck, den das Ganze auf ihn ausübt.
Seine formale Selbstbestimmung wird in tausenderlei Hinsicht von
der fremdbestimmenden Macht des Ganzen ad absurdum geführt.
Und je mehr das Ganze durchorganisiert ist, desto stärker der
Druck des Äußeren auf das Innere. Freiheit verkümmert
unter diesen Umständen zur selbstrepressiven Innerlichkeit.
Das Ganze wird nicht vom Willen des einzelnen bestimmt, sondern
umgekehrt. Das absolute Ich von Fichte ist zur absoluten Null geworden,
und so ist es mit allen Ich-Philosophien geschehen, die sich einbildeten,
aus dem bürgerlichen Ego einen allmächtigen Gott machen
zu können. Die Bourgeoisie ist nicht nur der Schöpfer
des modernen Freiheitsbegriffs, sie ist auch sein Totengräber.
Der in der bürgerlichen Gesellschaft tiefverankerte
Wille zur Macht führt früher oder später zum Entstehen
eines kohärenzlosen, irrationalen und chaotischen Gesellschaftszustands,
mündet im Hobbesschen Krieg aller gegen alle. Diese durch die
Herrschaft einer einseitigen und unreflektierten Subjektivität
oder Ich-Philosophie verursachte Zusammenhanglosigkeit begünstigt
andererseits die Herausbildung von Theorien und Gesellschaftsmodellen,
die durch die Überbetonung des Ganzen (Staat, Diktatur, Bürokratismus,
Militarismus) versuchen, der herrschenden Desintegration mittels
der altbewährten Praxis des "law and order" entgegenzutreten,
eine Tradition, die sich von der griechischen Tyrannis über
die absoluten Monarchien bis hin zum Faschismus und Stalinismus
erstreckt. Daß der Totalitarismus, gleich welcher Art, auf
Dauer auch Opfer seiner eigenen Irrationalität wird, haben
wir zuletzt beim real existierenden Sozialismus feststellen können.
Der Kapitalismus hat den Begriff der Subjektivität
völlig verzerrt, aber das heißt nicht, daß die
Alternative in einer subjektfeindlichen Ordnung liegen muß,
wie alle autoritär ausgerichteten Systeme immer wieder befürwortet
haben. Ohne eine freie, sich selbst bestimmende Subjektivität
kann es kein Reich des Humanen geben, schon deshalb nicht, weil
der Drang zum Selbstwerden ein Grundbedürfnis der menschlichen
Natur ist. Die Entwicklung des Ichs als "ens individuatum"
entspricht in der Tat dem Streben, sich als selbstbewußte
Individualität zu konstituieren. Und dieser Prozeß vollzieht
sich als ein ständiges Sich-Absondern und Sich-Differenzieren
von den anderen. Selbstsein ist zugleich Anderssein. Der qualitative
Umschlag vom abstrakt-unbestimmten zum konkret-bestimmten Ich findet
durch eine "diakrisis" statt, wie Anaxagoras als erster
erkannte. Aber dieser Selbstdifferenzierungsprozeß ist wiederum
ohne das Vorhandensein einer Gemeinschaft undenkbar, wie Marx in
seinen Thesen über Feuerbach bemerkt: "Aber das menschliche
Wesen ist kein dem einzelnen Individuum inwohnendes Abstraktum.
In seiner Wirklichkeit ist es das Ensemble der gesellschaftlichen
Verhältnisse."(7) Ich kann die Würde und den Wert
meines Nächsten erst anerkennen, wenn ich darauf verzichte,
mein Selbst als absoluten Zweck zu setzen, und nicht versuche, die
anderen als Material oder Feld für meinen subjektiven Willen
zur Macht zu instrumentalisieren. Dies ist wiederum nur möglich,
wenn wir akzeptieren, daß das Recht auf SelbstVerwirklichung
ein unveräußerliches Recht eines jeden ist. Das Reich
des Humanen besteht entsprechend darin, keinen Menschen von diesem
Recht auszuschließen. Deshalb sprach schon Descartes von dem
Gesetz, "das uns zwingt... das allgemeine Wohl aller Menschen
anzustreben".(8)
Die selbstverwaltete Gesellschaft
Das klägliche Scheitern des real existierenden
Sozialismus und die Krise der westlichen Linksparteien und der Gewerkschaften
bedeuten keineswegs, daß die Möglichkeit für die
Schaffung einer humanen und gerechten Gesellschaftsordnung für
immer vertan worden ist. Sie bedeuten lediglich, daß die herkömmlichen
Befreiungsentwürfe nicht funktioniert haben und revisionsbedürftig
sind. Wir stehen am Ende eines Zeitalters, nicht jedoch am Ende
der Weltgeschichte, und solange das Leben auf dem Planeten nicht
ausgelöscht ist, wird die aufklärerische Vernunft nicht
umhin können, Alternativlösungen für die Probleme
der Menschheit zu suchen.
Wir können uns hierbei auf einen fruchtbaren
emanzipatorischen Hintergrund stützen. Wenn wir auf die Geschichte
der Arbeiter- und sozialistischen Bewegung zurückblicken, werden
wir ohne Mühe auf eine große Reihe von wertvollen Erfahrungen
stoßen - theoretischer wie praktischer Art -, die uns äußerst
nützlich für die Gestaltung des Reichs des Humanen sein
können.
In erster Linie steht uns das Selbstverwaltungsprinzip
zur Verfügung, das immer eine Grundtendenz aller echten Befreiungsbewegungen
war. Wir wissen, daß sich die revolutionären Bewegungen
immer auf das Prinzip der direkten Demokratie berufen haben. Das
zeichnete sich schon während der Französischen Revolution
ab, als die den Sansculotten nahestehenden "Sociétés
populaires" das Prinzip der Repräsentation als Verfälschung
des allgemeinen Willens ablehnten und die Einführung der direkten
Demokratie verlangten. Auch die Pariser Kommune organisierte sich
auf der Basis der Selbstverwaltung, und obwohl sie bald von der
Reaktion zerschlagen wurde, ist sie in die Geschichte der Revolution
als der Inbegriff eines selbstverwalteten Gemeinwesens eingegangen.
Auch die während der Russischen Revolution gebildeten Sowjets
(Räte) gingen vom Prinzip der Selbstverwaltung aus. Dasselbe
gilt für die im Zuge der November-Revolution in Deutschland
entstandenen Arbeiter- und Soldaten-Räte und insbesondere für
die bayerische Räterepublik und die Räterepublik Ungarns.
Die Idee der Selbstverwaltung erlebte einen neuen Schwung während
des Spanischen Bürgerkriegs, als die Anarchosyndikalisten und
die Linkssozialisten die Wirtschaft kollektivierten und sie unter
die direkte Kontrolle der Gewerkschaften und der Arbeiter und Bauern
stellten. Der Beschluß Titos, die Arbeiter-Selbstverwaltung
in Jugoslawien einzuführen, war weitgehend vom Beispiel der
spanischen "Colectividades" beeinflußt. Auch die
israelischen Kibbuzim berufen sich auf das Prinzip der Selbstverwaltung.
Es war ebenso das Losungswort des Prager Frühlings und der
antiautoritären Studentenbewegung der sechziger Jahre im Westen.
Das einzig Neue an der Idee der Selbstverwaltung (Autogestion,
selfgovernment) ist im Grunde der Name, denn ihre Wurzeln sind bereits
erkennbar in allen großen sozialen Theorien des 18. und 19.
Jahrhunderts, um von früheren Tendenzen nicht zu sprechen.
Ich betrachte als Vorläufer der Selbstverwaltung alle Ideensysteme
und historischen Bewegungen, die die Freiheit des Menschen und die
soziale Gerechtigkeit als unverzichtbare Elemente einer humanen
Gesellschaft gesehen haben. Wenn ich einige Namen nennen sollte,
dann vor allem Godwin, Fourier, Owen, Proudhon, Bakunin, Kropotkin
und den antiautoritären Räte-Sozialismus. Marx und Engels
befürworteten auch eine selbstverwaltete Gesellschaft, aber
was sie darüber sagten, war eher spärlich.
Aber genauso, wie sich in revolutionären Zeiten
die Arbeiter für Basisdemokratie und Selbstverwaltung eingesetzt
haben, sind sie immer nicht nur auf den Haß der Klassenfeinde,
sondern auch auf die Ablehnung der autoritär und zentralistisch
gesinnten Strömungen innerhalb des Sozialismus gestoßen.
So hat entweder die Konterrevolution oder die Pseudorevolution es
immer fertiggebracht, die Schaffung einer selbstverwalteten Gesellschaft
zu vereiteln. Die von Voline geprägte Formel der "verratenen
Revolution" gilt nicht nur für die russische, sondern
für alle anderen. Die Politisierung der Arbeiterbewegung, die
Unterordnung des Klassenkampfes unter den Parlamentarismus und den
daraus hervorgegangenen Reformismus schwächten die Idee der
Selbstverwaltung, die mit dem Sieg des Faschismus und des Stalinismus
aus dem Bewußtsein der Arbeiter ausgelöscht wurde.
Was bedeutet eigentlich Selbstverwaltung ? Sie ist
der Versuch, das Leben des Menschen auf die Grundlage der Selbstbestimmung,
der Freiheit und der freiwilligen Teilnahme jedes Bürgers an
der "res publica" zu stellen. Sie verkörpert die
entschiedene Ablehnung des Autoritätsprinzips, das in mehr
oder weniger großem Ausmaß in allen bisherigen Gesellschaften
geherrscht hat. Für die Herbeiführung einer selbstverwalteten
Ordnung zu kämpfen, bedeutet, gegen jede Form von Despotismus,
Repression und Bevormundung Partei zu ergreifen. Die Selbstverwaltung
ist ein integrales Befreiungsideal, das an die großen emanzipatorischen
Träume der Menschheit anknüpft. Und wie alle universalen
Ideen ist sie ein Anliegen, das der Seele des Volkes entspringt,
das sich auf das Volk stützt und das nur durch das Volk verwirklicht
werden kann. In der Terminologie Markovic´s: "Selbstverwaltung
heißt, daß die Verwaltungsfunktionen durch keinerlei
Gewalt außerhalb der Gesellschaft ausgeübt werden, sondern
durch die Produzenten selbst, die das gesellschaftliche Leben in
allen seinen Formen schaffen. Selbstverwaltung bedeutet die Überwindung
der dauernden und fixierten Teilung der Gesellschaft in historische
Subjekte und Objekte, in Lenkende und Ausführende."(9)
Selbstverwaltung bedeutet im wesentlichen die Entbürokratisierung
des gesellschaftlichen Organismus, die Deprofessionalisierung der
politischen Funktionen, die Dezentralisierung der Verwaltung, die
Vergesellschaftung der Produktion und die Abschaffung jeder Möglichkeit
von Machtmißbrauch, Despotie und Ausbeutung. Ihr Ziel wäre
demnach das, was Luden Goldmann "die Demokratisierung der Verantwortung",
"la démocratisation des responsabilités"
genannt hat,(10) ein Gedanke im übrigen, der schon von Erich
Mühsam formuliert wurde: "Selbstverwaltung ist nichts
anderes als Selbstverantwortung Gleicher auf Gegenseitigkeit."(11)
Sie ist also als die direkte Negation dessen zu verstehen, was heute
alle Staaten der Erde ausnahmslos praktizieren. Sie ist, kurz, ein
anderes Wort für den Abbau des Staates und seiner gewaltigen
Machtkonzentration. Stojanovic´: "Das Absterben des Staates
wäre vollkommen unbegreiflich, würde es nicht Errichtung
echter Demokratie und damit Selbstverwaltung der Gesellschaft bedeuten."(12)
Erst unter diesen Voraussetzungen wird Selbstverwaltung das, was
der Begriff auch semantisch ausdrückt: eine Gesellschaft, die
ihre Angelegenheiten ohne Zwang und auf der Grundlage der gegenseitigen
Hilfe regelt, in der, wie es Marx formulierte, "die freie Entwicklung
eines jeden die Bedingung für die freie Entwicklung aller ist".(13)
Oder auch Adam Schaff: "Es geht darum, allseitig die Selbstverwaltung
der Produzenten zu entwickeln... Das Postulat der Selbstverwaltung
sollte in enger Verknüpfung mit dem Problem der Demokratie
gesehen werden: es ist nämlich eine spezifische, höhere
Form der Demokratie im Vergleich zur parlamentarischen Demokratie,
weil sie auf besondere Art und Weise Funktionen der Volksvertretung
und der Vollzugsgewalt in sich vereinigt."(14)
Das Endziel einer selbstverwalteten Gesellschaft ist,
die Herrschaft über die Menschen abzuschaffen und an ihre Stelle
die Verwaltung der Dinge zu setzen, wie es Saint-Simon vorschwebte:
"Was die Nation bei dem heutigen Zustand braucht, ist nicht
regiert, sondern verwaltet zu sein."(15) Nur unter diesen Bedingungen
kann der Dualismus zwischen Herrschern und Beherrschten aufgehoben
und ein Sozialismus mit "menschlichem Antlitz" eingeführt
werden. Dazu gehört freilich auch die Beseitigung materieller
Privilegien aller Art, die immer die Folge politischer, gesellschaftlicher,
beruflicher oder sonstiger Vorrechte sind. Also keine neuen Klassen,
keine neuen Eliten, keine Nomenklatura, keine neuen Herren und damit
auch keine neuen Knechte. Jede berufliche Tätigkeit erfüllt
eine für die Gesellschaft sinnvolle Aufgabe, deshalb ist die
Hierarchisierung der verschiedenen Arbeitsfunktionen unvereinbar
mit einer selbstverwalteten Gesellschaft, die diesen Namen verdient
und sich das Ziel setzt, jede künstliche (also machtpolitisch
bedingte) Form von Ungleichheit und Benachteiligung zu überwinden.
Die selbst unter Sozialisten weitverbreitete Vorstellung, daß
bestimmte "höhere" Tätigkeiten mit besonderen
materiellen Vorteilen belohnt werden müssen, entspricht einer
kleinbürgerlichen und pseudosozialistischen Auffassung von
einer emanzipierten und gerechten Gesellschaft. Diese fundamentale
materielle Gleichstellung ist nicht nur kein Hindernis, sondern
vielmehr die "conditio sine qua non" für die Verwirklichung
einer wahren selbstverwalteten Gesellschaft, deren oberstes Gebot
darin besteht, den Rechten, Bedürfnissen und Entfaltungsmöglichkeiten
jedes einzelnen soviel Freiraum wie nur möglich zu gewähren.
Diese von uns postulierte Gleichstellung aller Mitglieder des Gemeinwesens
ist nicht mit der engstirnigen Gleichmacherei zu verwechseln, die
die Feinde des Sozialismus immer wieder an die Wand malen, um die
Menschen zu schrecken. Gleichmacherei herrscht vielmehr dort, wo
die Menschen - oder die meisten von ihnen - von Geburt an Gefangene
der Wirtschaftsverhältnisse sind, also dort, wo die Gesellschaft
eine Klassengesellschaft ist wie die bürgerliche. Die vielgerühmte
Chancengleichheit, die angeblich im Kapitalismus herrscht, ist pures,
unverschämtes Gerede. Echte, unverfälschte Gleichberechtigung
setzt die Abschaffung jeder sozioökonomischen Ungleichheit
und die Einführung einer egalitären Gesellschaftsordnung
voraus. Alles andere ist Selbstbetrug und Augenwischerei.
Die Idee der Selbstverwaltung wird Wirklichkeit, wenn
niemand in der Lage ist, andere zu kommandieren, und niemand gezwungen
ist zu gehorchen und trotzdem das Gemeinwesen wirksam und ohne große
Erschütterungen funktioniert. Wenn diese Stunde kommt, wird
sich der Gedanke Montesquieus vollziehen: "In einem freien
Staat muß jeder Mensch, der eine freie Seele hat, sich selbst
regie ren."(16)
Die freiheitliche Tradition
Die Idee der Selbstverwaltung ist von Grund auf eine
freiheitliche, undogmatische Idee, die einen breiten Raum für
die verschiedensten Denkströmungen bietet. Sie ist unvereinbar
mit jeglichem Sektierertum oder jeder hermetischen Doktrin, die
immer ein Zeichen von Engstirnigkeit und uneingestandener Unsicherheit
ist. Große Ideen müssen großzügig sein, sonst
werden sie unvermeidlich zur Ersatzreligion entarten. Ich möchte
in diesem Zusammenhang den Brief in Erinnerung bringen, den Proudhon
an Marx schrieb: "Geben wir uns nicht als Apostel einer neuen
Religion, auch dann nicht, wenn es die Religion der Logik und der
Vernunft wäre. Empfangen und ermuntern wir jeden Protest; geißeln
wir jede Ausschließlichkeit, jeden Mystizismus. Betrachten
wir niemals eine Frage für erschöpft, und wenn wir unseren
letzten Beweisgrund verbraucht haben, laßt uns, wenn es nötig
ist, mit Beredsamkeit und Ironie von neuem beginnen. Unter dieser
Bedingung werde ich mich Ihrer Vereinigung mit Vergnügen anschließen.
Wenn nicht, nicht."(17)
In diesem Sinne kann der freiheitliche, antiautoritäre
Fundus der Menschheit von eminenter Bedeutung sein. Diese niemals
ganz abhanden gekommene Tradition ist vornehmlich bei den angelsächsischen
und lateinischen Völkern zu finden, viel weniger bei den germanischen
und slawischen. England ist die Wiege des Liberalismus, die Vereinigten
Staaten die der Demokratie. Es ist sicher kein Zufall, daß
sich beide Völker bisher vom Virus des Totalitarismus freigehalten
und Europa zweimal gegen den germanischen Imperialismus, Militarismus
und Faschismus gerettet haben, wobei der Grundimpuls für die
Verteidigung der Freiheit vor allem aus England kam. Voltaire wußte
nicht, wie prophetisch seine Worte über England waren: "Dieses
Volk hängt nicht nur an seiner Freiheit, sondern an der Freiheit
der anderen."(18) Das Mißtrauen gegenüber dem Staat,
der zivile Ungehorsam als Kampfmethode gegen staatliche Willkür
und der Sinn für "self-government" haben die kulturgeschichtliche
Entwicklung beider Länder tief geprägt, auch wenn der
verheerende Geist des Kapitalismus - wie sonst überall in der
westlichen Welt - die Durchsetzung dieser freiheitlichen Eigenschaften
immer wieder blockiert hat. Aber Namen wie John Locke, William Godwin,
Thomas Paine, William Morris, Shelly, Lord Byron, Walt Whitman,
David Henry Thoreau, Ralph Waldo Emerson, Bernard Shaw, Bertrand
Russell, Huxley oder Orwell bleiben als Beispiele eines unbestechlichen
Freiheits- und Demokratieverständnisses.
Der angelsächsische Antiautoritarismus ist tief
verwandt mit der libertären Tradition der romanischen Völker,
die in ihrer radikalsten und konsequentesten Form ihren Niederschlag
im revolutionären Syndikalismus findet. Albert Camus sah in
dieser libertären Tradition den Gegenpol zur autoritären
Tradition Deutschlands und die Grundlage eines freiheitlichen Sozialismus:
"Die Geschichte der Ersten Internationale, in der der deutsche
Sozialismus unaufhörlich gegen das freiheitliche Denken der
Franzosen, Spanier und Italiener ankämpft, ist die Geschichte
des Kampfes zwischen der deutschen Ideologie und dem mediterranen
Geist."(19) Diese libertäre Gesinnung, die in Frankreich
und Italien nach dem Ersten Weltkrieg zusehends schwächer wurde,
zeigte zum letzten Mal ihre Größe und ihre Kraft während
des Spanischen Bürgerkrieges im Kampf gegen die spanischen
Kapitalisten, gegen Francos Armee und gegen den deutsch-italienischen
Faschismus. Ilja Ehrenburg: "Als die großen, führenden,
gut organisierten Völker sich eines nach dem anderen anschickten,
vor dem Faschismus zu kapitulieren, da nahm das spanische Volk den
ungleichen Kampf auf. Don Quijote hielt sich selbst und der Menschenwürde
die Treue."(20)
Die deutsche antiautoritäre Tradition ist viel
ärmer als die der meisten europäischen Nationen, und noch
heute gilt, was Edgar Quinet vor sehr langer Zeit schrieb: "Wenn
der deutsche Geist sich nicht in den Wolken befindet, kriecht er."(21)
Auch Kant wußte über seine Landsleute Bescheid: "Der
Deutsche fügt sich, unter allen zivilisierten Völkern
am leichtesten und dauerhaftesten, der Regierung, unter der er ist,
und ist am meisten von Neuerungssucht und Widersetzlichkeit gegen
die eingeführte Ordnung entfernt."(22) Bakunin dachte
genauso, bezeichnete die Deutschen als "das resignierteste
und gehorsamste Volk der Erde".(23)
Aber auch in Deutschland hat nie eine freiheitliche
Tradition gefehlt, nicht nur in der Zeit Thomas Münzers und
der Bauernrevolution. Kant, Hölderlin, Goethe, Schiller, Lessing,
Herder, der frühe Fichte und andere deutsche Aufklärer
waren freiheitlich eingestellt wie ihre europäischen Zeitgenossen.
Der Staatsfetischismus von Hegel blieb unter den deutschen Klassikern
die Ausnahme, war nicht das dominierende Element. Selbst der konservative
Schelling hatte nichts übrig für den Staat: "Wir
müssen also auch über den Staat hinaus! Denn jeder Staat
muß freie Menschen als mechanisches Räderwerk behandeln;
und das soll er nicht; also soll er aufhören."(24) Und
ein paar Zeilen weiter spricht er von "dem ganzen elenden Menschenwerk
von Staat, Verfassung, Regierung, Gesetzgebung".(25)
Hier ist schon der ganze Anti-Etatismus vorweggenommen,
der eine der Grundpositionen des freiheitlichen Sozialismus bildet.
Und dasselbe gilt für Nietzsche, der nicht zufällig um
die Jahrhundertwende von vielen Anarchisten gelesen wurde: "Dort,
wo der Staat aufhört, da beginnt erst der Mensch."(26)
Aber wie ich in meinen Büchern über Deutschland versucht
habe darzulegen, konnte sich der deutsche antiautoritäre Geist
nur in Ansätzen entfalten. Gestalten wie Marx oder Engels,
Heinrich Heine, Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht, Erich Mühsam,
Tucholsky, Heinrich Mann, Carl von Ossietzky oder Hugo Ball waren
immer unterlegen, mußten ins Exil gehen oder wurden ermordet
wie viele andere freigesinnte Publizisten, Revolutionäre und
Sozialkämpfer.
Aber nicht nur Deutschland hat in dieser Hinsicht
Enormes nachzuholen, denn der freiheitliche Geist ist fast überall
auf der Welt auf dem Rückzug. Wir sind tatsächlich seit
langem Zeugen einer allgemeinen Rückkehr zu allen möglichen
Formen der Intoleranz, des Fundamentalismus, des Klerikalismus,
des Bürokratismus und des Etatismus. Selbst die staatsbürgerlichen
Freiheiten und Rechte, auf die die Bourgeoisie einst so stolz war,
werden durch die zunehmende Einmischung des Staates in die Belange
des Bürgers und durch den Einfluß der Interessenverbände
und Institutionen auf das öffentliche Leben immer mehr eingeengt.
Nicht der Liberalismus hat sich durchgesetzt, sondern sein Todfeind,
der Bürokratismus. Zu Recht erkannte Marcuse die Notwendigkeit
einer neuen bürgerlichen Revolution: "Ich meine, überspitzt
formuliert, was notwendig erscheint, ist eine zweite bürgerliche
Revolution, weil die Bourgeoisie unter dem Regiment des Großkapitals
ihre eigenen Errungenschaften angetastet oder preiszugeben begonnen
hat und weil die Arbeiterklasse in zunehmendem Maße bürgerlich
geworden ist."(27)
Es gibt nichts Menschliches ohne Freiheit, die der
höchste und zugleich gefährdetste Wert des Lebens ist.
Deshalb die Notwendigkeit, sie immer wieder gegen jede Form des
Zwangs und der Fremdbestimmung zu schützen. Die Natur hat uns
frei gemacht, aber die Gesellschaft tendiert immer dazu, uns zu
versklaven, auch in einem angeblich so freien Zeitalter wie dem
unseren. Die Menschen sind tatsächlich immer unfreier eingestellt,
lassen sich zunehmend vom Staat und anderen Machtinstanzen gängeln
und bevormunden. Camus bemerkte zu Recht, daß die wahre Berufung
des Jahrhunderts die Unterwerfung gewesen ist. Deshalb war der Faschismus
möglich, deshalb konnten die stalinistischen Gulags entstehen,
deshalb die weltweite Ausdehnung des Autoritarismus als Grundlage
der "res publica". Was ist geschehen? Geschehen ist, was
Erich Mühsam 1932 feststellte: "Es ist ohne weiteres klar,
daß Macht nicht ertragen würde, wäre der menschliche
Geist nicht zuvor der Einwirkung der Autorität zugänglich
gemacht worden. Wo Autorität Eingang hat, kann sich Macht festsetzen,
wo Macht waltet, schafft sie der Autorität immer neue Zugänge."(28)
Das ist auch heute der Fall. Die gegenwärtige
Weltordnung basiert wie eh und je auf der Herrschaft einer Minderheit
von privilegierten Klassen und Nationen, und solange dieser Zustand
nicht aufgehoben ist, wird es auf der Erde keine Freiheit in umfassendem,
unverfälschtem Sinn geben. Die Kapitalisten und ihre Helfershelfer
preisen ihr System als das freieste der Weltgeschichte an, aber
die Freiheit, die sie meinen, erschöpft sich darin, die Schwachen
auszubeuten und ihnen das Blut auszusaugen. Eine Welt als frei zu
bezeichnen, in der tagtäglich unzählige Menschen in Elend
und an Hunger sterben, ist nicht nur ein Akt des Zynismus, sondern
eine beispiellose Provokation, die sich das emanzipatorische Lager
nicht länger gefallen lassen darf, es sei denn, es hätte
beschlossen, ehrlos und für immer das Schlachtfeld zu räumen
und seine Pensionierung zu beantragen.
1 Kant, "Werke", a.a.O., 12. Band, S. 730
2 Marx, "Grundrisse", a.a.O., S. 21
3 Rousseau, "Emile", a.a.O., S. 287-288
4 Thomas Paine, "Rights of Man", Middlessex 1976, S. 185
5 MEW, 3. Band, S. 74
6 Feuerbach, a.a.O., S. 37
7 MEW, 3. Band, S. 6
8 Descartes, a.a.O., VI.
9 Mihailo Markovic´, "Dialektik der Praxis", Frankfurt
1968, S. 105
10 Luden Goldmann, "Sciences humaines et philosophie",
Paris 1966, S. 16
11 Erich Mühsam, "Die Befreiung der Gesellschaft vom Staat",
Berlin 1978, S. 31
12 Stojanovic´, a.a.O., S. 121
13 MEW, 3. Band, S. 74
14 Adam Schaff, "Entfremdung als soziales Phänomen",
Wien 1977, S. 302-303
15 Saint-Simon, "Du Systeme industriel", in "CEuvres",
3. Band, Paris 1869, S. 251
16 Montesquieu, a.a.O., Buch XI., Kap. VI.
17 Brief vom 17. Mai 1846
18 Voltaire, "Lettres philosophiques", Paris 1964, S.
55
19 Camus, "L'homme révolté", a.a.O., S.
369
20 Ilja Ehrenburg, a.a.O., 2. Band, S. 244
21 Edgar Quinet, a.a.O., 1. Band, S. 132
22 Kant, "Werke", a.a.O., 12. Band, S. 667
23 Bakunin, a.a.O., 3. Band, S. 245
24 Schelling, "Texte zur Philosophie und Kunst", Stuttg.
1982, S. 97
25 Ebd., S. 97
26 Nietzsche, "Also sprach Zarathustra", München
1958, S. 40
27 Jürgen Habermas, Silvia Bovenschen u.a., "Gespräche
mit Marcuse", Frankfurt 1978, S. 54
28 Erich Mühsam, a.a.O., S. 39
Aus: »Das Ende der Gemütlichkeit. Eine
Bilanz der Krise unserer Zeit«. Rasch und Röhring, Hamburg
1992
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Brückengedanken
Von Peter Frömmig
Leben ist Brückenschlägen
über Ströme, die vergehn...
Gottfried. Bonn
Wäre ich Ingenieur geworden, hätte ich mich
am liebsten dem Bau von Brücken gewidmet. Brücken und
Stege, die einen Wasserlauf oder eine Kluft überwinden, Ufer
und Menschen verbinden. Da ich nur mit Sprache etwas erstellen kann,
sage ich: Erinnerungen stehen als Brückenpfeiler im Strom der
Zeit, über die sich unser Leben als ein Brückenbogen spannt.
Übers Geländer gelehnt
Eisenbahn- und Autobahnbrücken sind nur eine
Fortsetzung der Straße oder der Schiene mit anderen Mitteln.
Hohe Geschwindigkeit vermindert das eigentliche Brückenerlebnis.
Der Zweck alleine heiligt nicht immer die Mittel.
Ich bevorzuge Brücken, über die man ohne
Beeinträchtigung gehen kann, die zum Verweilen einladen. Solche
Brücken können ein Gefühl von Leichtigkeit vermitteln
und Inspiration hervorrufen. Luftig über dem Wasser, das kraftvoll
oder gemächlich dahinfließt, dabei einen festen Halt
haben, übers Geländer gelehnt, die Gedanken dem Strom
überlassen.
Brücken ziehen seit jeher sowohl Liebespaare
als auch Lebensmüde an. Unter Brücken suchen Obdachlose
Schutz.
Einweihung einer Brücke
Etwa ein Jahrzehnt nach dem 2. Weltkrieg durfte ich
einmal bei der Einweihung einer neuen Brücke dabei sein. Sie
führte über den Rhein bei Speyer, wo ich aufwuchs, um
das pfälzische mit dem badischen Ufer zu verbinden. Im Krieg
war die frühere Brücke aus strategischen Gründen
zerstört worden, eine Fähre hatte danach die Brücke
ersetzt. Mit ändern Schulkindern sah ich, wie Verkehrsminister
Seebohm 1956 das Band zur Freigabe der Brücke durchschnitt,
und ich klatschte und jubelte mit. Bald darauf erfuhr ich durch
meinen Vater, Elektroschweißer von Beruf, dass die Sprengung
dieser Brücke schon in ihrer Konstruktion eingeplant sei. "Für
den Ernstfall", wie er sagte. Meine Enttäuschung war groß.
Noch heute, wenn ich die Rheinbrücke bei Speyer
überquere, denke ich manchmal daran, dass sie vielleicht nur
auf Widerruf steht. Dennoch habe ich mir die Lust, über Brücken
oder Stege zu gehen und mich auf ihnen aufzuhalten, nicht nehmen
lassen.
Verbindung oder Trennung
Nach der deutschen Grenzöffnung von 1989 besuchte
ich erstmals wieder meine Geburtsstadt Eilenburg, nahe Leipzig.
Ich überquerte die Mulde auf der gleichen Brücke, über
die ich als Kind jeden Monat an der Hand der Mutter gegangen bin.
Der Weg führte von der Arbeitersiedlung jenseits der Mulde
zum Eilenburger Rathaus, wo die Mutter das Kindergeld abholte. Jahrelang
ging das so, in schöner Regelmäßigkeit, nichts lieben
Kinder mehr als das. Es war immer eine Freude, über diese Brücke
zu gehen, die den neueren Stadtteil, in dem wir wohnten, mit der
Altstadt verband.
Nach dem Krieg war die Mulde vorübergehend zur
Demarkationslinie zwischen von Amerikanern und Russen besetzten
Gebieten erklärt worden. Die Brücke wurde für die
Zivilbevölkerung militärisch gesperrt. Wer es dennoch
wagte, riskierte sein Leben. Mein Vater, nach langem Fußmarsch
aus der Kriegsfangenschaft kommeRd, hielt es nicht aus, nun so nah
bei seiner Familie und doch von ihr getrennt zu sein. Bei Nacht
gelang es ihm, unentdeckt über den Fluss, der Hochwasser führte,
zu schwimmen. An den Posten, die auf der Brücke und an den
Ufern aufgestellt waren, vorbei. Etwa neun Monate später kam
ich zur Weit.
Brücken im Krieg
Die Brücke am Kwai, die Brücke von Remagen,
die Brücke von Sarajewo. Und viele andere Brücken, in
Kriegen hart umkämpft, zerstört. Wie in Bernhard Wickis
Film “Die Brücke", der die letzten Tage des zweiten
Weltkriegs schildert. Eine Gruppe Jugendlicher wird in einer kleinen
deutschen Stadt eingezogen zur militärisch bereits sinnlosen
Verteigung einer Brücke. Wie sich auf den begeisterten, romantisch
erhellten Gesichter allmählich das Entsetzen abzeichnet, der
Schrecken des Todes, vergißt keiner, der den Film gesehen
hat.
Als während des “Balkan-Krieges" die
Staatengemeinschaft des ehemaligen Jugoslawiens zunehmend zerfiel,
wurde überdeutlich daran erinnert, dass das Zerstören
von Brücken strategische Maßnahmen zur Schwächung
des Feindes, zur gewaltsamen Trennung von Menschen sind. Selten
sind soviele Brücken in einem Krieg zerstört worden.
Ein Bild von damals: Eine hohe Brücke, von Bomben
getroffen, als sich gerade ein mit Flüchtlingen überfüllter
Omnibus auf ihr befindet. Das Bild des Fahrzeugs, wie es das Geländer
durchbricht, vornüber kippt und in die Tiefe stürzt. Ein
anderes Bild: Menschen haben sich in Belgrad während der nächtlichen
Bombardements auf den alten Brücken im Zentrum der Stadt versammelt
und harren aus. Die Brücken stehen heute noch. Auch diese Aufnahmen
von meist jungen Menschen, denen die Standhaftigkeit im Gesicht
geschrieben steht, haben sich eingeprägt.
Brücke der Erinnerung
Begegnungen auf Brücken sind oft bedeutsam und
symbolträchtig. Auf der Brücke von Torgau, teilweise während
der vorangegangen Kampfhandlungen beschädigt, trafen am 25.
April 1945 erstmals Soldaten der amerikanischen und sowjetischen
Streitkräfte zusammen. Ein Zeitungsphoto vom Mai 1994, fast
fünf ig Jahre später, dokumentiert den sehr umstrittenen
Abriss der Brücke. Die einen plädierten für den Erhalt
der Brücke zum Gedenken, die ändern hatten genug vom Gedenken
und pragmatische Gründe, sie ganz zu entfernen.
Der Name Torgau fiel in meiner Familie oft. Verwandte
der Mutter lebten dort. Als ich die Stadt Torgau dann vor Jahren
wieder besuchte, bin ich zuerst zur Elbe hinunter gegangen und fand
den immerhin noch verbliebenen Brückenkopf der legendären
Brücke von Torgau und eine Gedenktafel.
Jeder Abriss, wenn auch aus triftigen Gründen,
leistet dem Gedächtnisschwund Vorschub. Wo die Furie des Verschwindens
regiert, feiert auch das Vergessen seine schwarzen Messen. Durch
Abriss und Neubau glaubte man nach dem 2. Weltkrieg ein neues, befreites
Leben beginnen zu können. Doch die Gespenster der Vergangenheit
wird man damit nicht los, sie folgen als Schatten auf Schritt und
Tritt. So war es, so ist es, und so wirds immer bleiben.
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