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Die extreme Mitte
Notizen zum politischen Charakter von Jörg Haider
Jörg Haider? Was war das? Jener ist zwar tot,
aber das Staunen findet noch immer kein Ende. Vor allem das Begräbnis
zeigte deutlich, wie sehr ihm dieses Land verbunden gewesen ist,
und damit ist Österreich gemeint und nicht bloß das sonderbare
Kärnten. Den Fall auf den Begriff zu bringen, das scheint nicht
so richtig gelingen zu wollen.
Wird über Haider gesprochen, dann betonen die
allermeisten stets den Dissens mit ihm und nicht den Konsens. Das
ist schon etwas eigenartig, wenn man bedenkt, dass die Leitwerte,
also die Bekenntnisse zu Privateigentum, Eigeninitiative, Arbeit,
Leistung, Abendland und Marktwirtschaft, doch von Haider und all
seinen Kontrahenten geteilt werden. Das ganze Arsenal der politische
Mitte war also auch seines. Was ihn unterschied, war die rabiate
Konsequenz, mit der er manches einforderte und vorantrieb.
Jörg Haider hatte den gemeinen Menschenverstand
und die Leitwerte der Marktwirtschaft zu einem anschlussfähigen
und scharfen Mix verrührt und logisch zugespitzt. Aus erfolgreich,
tüchtig, arbeitsam, sauber, patriotisch wurde gerissen, trickreich,
rücksichtslos, gesäubert, nationalistisch. Das volksgemeinschaftliche
Wir-Gefühl korrespondierte mit der Ausgrenzung der anderen
(Ausländer, Sozialschmarotzer, Bürokraten, Bonzen). Gut
und böse sind in diesem dualistischen Weltbild stets zu finden
und auszumachen. Auf dieser Klaviatur spielte Haider. Er verstand
es ganz ausgezeichnet, Angst und Hilflosigkeit, Unwissen und Vorurteil
zusammenzuführen. Das Zu-Kurz-Gedachte fand Sprachrohr und
Verstärker.
Fassen wir einige typische Merkmale zusammen, die
für Haider und die Freiheitlichen charakteristisch (gewesen)
sind:
Erstens: Eine stramme abendländische
Ausgrenzungspolitik, die zwischen rabiatem Regionalismus,
renoviertem Nationalismus und modernem Eurochauvinismus changiert:
Ja zum Standort und zur Festung Europa, Grenzen dicht, Ausländer
raus.
Zweitens: Ein Antikapitalismus
des dummen Kerls: alle Verwerfungen werden personifiziert
und bestimmten Gruppen (“Sündenböcken“) angelastet:
Politiker, Bürokraten, Sozialschmarotzer, Spekulanten, Banken,
Gauner, Gratisflieger etc.
Drittens: Ein fanatischer, klassenübergreifender
Glaube an die produktive und wertschaffende Arbeit: In diesem
Kult des kleinen Mannes darf der fleißige Inländer nicht
um seinen Ertrag geprellt werden.
Aber in all diesen Punkten herrscht eine graduelle
Differenz, die eine substanzielle Identität nicht zudecken
sollte. Schwarz-blau war kein Betriebsunfall und rot-blau wäre
es ebenso wenig. Man sollte sich nichts vorlügen: Insgeheim
bewunderten viele, nicht nur Freunde, sondern auch Gegner, dass
es da einen gibt, der ausspricht, was sich viele korrekte Demokraten
nie trauen. Das Spiel mit der gezielten Provokation beherrschte
keiner so wie Jörg Haider. Und das Publikum honorierte solch
Verhalten. Es war dankbar für diese Art von Klartext, der da
gesprochen wurde.
Die meisten Wähler wählen FPÖ und BZÖ
nicht, weil sie auf die faschistischen Akzente setzen. Andererseits
ist es ihnen auch egal, dass diese dort unzweifelhaft gepflegt werden.
Sie sind weder Faschisten noch Antifaschisten, sie sind von der
indifferenten Sorte, reichlich fragmentierte und diffuse Wesen,
die auf kulturindustrielle Reflexe trainiert sind, somit gerne Stars
anhimmeln und Fans abgeben. Jörg war der ihre. Er showmasterte
sie.
Fragmentiert war auch das Chamäleon selbst. Die
Vorschläge waren oft kunterbunter Natur. Von allem etwas und
für alle etwas, das ist das Erfolgsrezept der Haiderei. Laut
Eigendefinition sah er die FPÖ als eine “christlich-sozial-demokratisch-liberale
Kraft“. Das ist nicht so falsch, so obskur es auch auf den
ersten Blick erscheint. Es war Häme, nicht Demagogie, wenn
Haider davon sprach, dass sozialdemokratische und christdemokratische
Parteien immer wieder Inhalte der Freiheitlichen übernehmen.
Das, was Haider wollte, war gesellschaftlich nie isoliert, es reichte
weit über das freiheitliche Potenzial hinaus.
Virtuos und rigoros
Die Zuordnung zum Rechtspopulismus ist zwar nicht
falsch, aber sie ist unscharf. Denn populistisch ist die Politik
sowieso, ohne den kulturindustriellen Klamauk kann sie in der Medien-
und Eventgesellschaft gar nicht existieren. Die Scheidung in gute
Demokraten und böse Populisten ist daher eine wunderliche,
vor allem wenn man bedenkt, dass beide Begriffe (einmal griechisch
und einmal lateinisch) das Gleiche ausdrücken. Haider hat diese
populistische Politik nur sehr virtuos gehandhabt und rigoros ausgelebt.
Der Rechtsextremsimsbegriff hingegen, der führt,
abgesehen davon, dass er aus der unseligen Totalitarismustheorie
rührt, in die Irre. Er suggeriert die Gefährlichkeit von
Rändern, von linken und rechten Extremismen, während die
politische Mitte sozusagen als gemäßigte und extremismusfreie
Zone durchgeht. Diese krude Betrachtung ist in ihrem systemkonformen
Credo zutiefst ideologisch. Es schließt in seiner (links)liberalen
Sichtweise gerade jene aus dem System aus, die es am radikalsten
verkörpern.
Dürftige Analysen versteifen sich in Analogien
auf bestimmte Sequenzen und meinen daraus ein Charakteristikum ableiten
zu können. Belege für dies und jenes lassen sich immer
finden. Haider wurde so zumeist in obsessiver Manier als Wiedergänger
des Nazismus und nicht als gesellschaftlicher Exponent der aktuellen
Entwicklungen diskutiert. Indes, der Faschismus fiel in die Aufstiegsgeschichte
des Kapitalismus, der sogenannte Rechtspopulismus ist Folge seines
Niedergangs. Seine Aggressivität ist mehr defensiv als offensiv,
sie will exkludieren, nicht inkludieren. Nicht einmarschieren, sondern
ausweisen, ja gar nicht erst reinlassen.
Analogiebildung ersetzt keine inhaltliche Untersuchung.
Jene Sicht fragte weniger nach der praktizierten Politik, sondern
nach den Sagern des Unsäglichen. Da fündig zu werden,
war nicht schwer. Derweil war es gerade die etablierte Politik in
Österreich und Europa, die Haiders Forderungen ohne dessen
Getöse umsetzte. Vergessen wir nicht, dass die Brüsseler
Demokraten an den europäischen Südküsten Menschen
im Meer versenken. Dazu braucht man gar keine Rechtsextremisten.
Die FPÖ dient als Projektionsfläche, um von den obligaten
Wahnsinnigkeiten des bürgerlich-demokratischen Betriebs ablenken
zu können. Das Ungustiöse will sich partout nicht in seinem
Konzentrat erkennen.
Haider ist mit der Bezeichnung Nazi nicht erfasst,
was nicht meint, dass da nichts Nazistisches oder Antisemitisches
an ihm gewesen wäre. Die Freiheitlichen sind aber kein faschistisches
Projekt, auch wenn unzweifelhaft faschistisches Potenzial dort Eingang
findet und sich betätigt. Doch das ist nicht ausschlaggebend,
wäre es dominant, wäre die FPÖ bedeutungslos. Haiders
Rückgriffe auf den Rechtsextremismus genannten Faschismus waren
selektiver Natur, gehörten zu einem bunten Ensemble verschiedener
Referenzen, er arbeitete mit Versatzstücken, plante etwas Neues,
keine Neuauflage. Haiders Rolle war nicht die des revitalisierten
Nazis, sondern die des durchgeknallten Bürgers.
Die FPÖ ist auch kein drittes Lager mehr. Noch
vor dem sozialdemokratischen und dem christlichsozialen Block erodierte
hierzulande der deutschnationale, bemisst man dies nicht vornehmlich
an stereotypen Aussagen einiger rechter Kämpen. Die Lager sind
weitgehend einem Wanderzirkus der Wechselwähler gewichen. So
wenig die FPÖ als Lagerpartei zu fassen ist, so wenig darf
sie auch als Klassenpartei angesehen werden. Die Freiheitlichen
(FPÖ wie BZÖ-Kärnten) sind eine Volksbewegung postmodernen
Zuschnitts.
Aufhetzen statt verhetzen
Die wahre Sendung des Jörg Haider war die Soap
Opera, inklusive theatralischem Abgang. In den von allen Medien
abgespulten freiheitlichen Reklameblöcken hatte gar vieles
Platz: der Musikantenstadel, die Disko, Hollywood, das Abendland,
Saddam Hussein, die Kriegsteilnehmer, alle Anständigen und
Fleißigen, die Nazis, österreichische Schirennläufer,
das Bundesheer ohne Abfangjäger, die Kronen Zeitung, der Standort,
Bungel jumping, Schnellfahren, der Alpinismus, der Fitnesskult,
die Seitenblicke, u.v.m. Die Nähe zu Starmania ist bestechend.
Das Johlen, Stampfen, Kreischen, der Fans basiert auf einer ganz
spezifischen mentalen Grundkonstitution, und ist kein gewöhnliches
Interesse. Die Anhänger fragten auch nie “Warum?“,
sondern stets “Gegen wen?“ Vergessen wir daher auch
jene elementare Differenz nicht: Haider verführte nicht, er
führte auf. Haider verhetzte nicht, er hetzte auf.
Es verging kaum ein Monat, in dem Haider nicht irgendetwas
einfiel, das er einem genügsamen Publikum servierte. Diese
Steilvorlagen rutschten als PR-Matrizen in diverse Vervielfältigungsmaschinen.
Haider bediente gerade ob seiner überaffirmativen Schärfe
die quotengeilen Medien am besten. Diese funktionierten wie verfolgende
Gefolgschaften. Kaum rief der Meister, waren die Multiplikatoren
zur Stelle. Selbst wenn sie ihn nicht mochten, (be)achteten sie
doch niemanden so wie ihn. Es war eine populistische Symbiose zu
beiderseitigem Nutzen: Er steigerte ihre Auflagen, sie steigerten
seine Stimmen.
Der Kärntner Landeshauptmann war lange Zeit jener
(Post)Politiker, der dem kulturindustriellen Anforderungsprofil
am besten entsprochen hat. Er glich einer Sirene. Haider in Frage
zu stellen, hieße allerdings den gesamten kulturindustriellen
Komplex aus Medien, Politik und Entertainment einer kritischen Analyse
zu unterziehen. Aber über dieses synchronisierte Parallelprogramm,
wird nicht geredet, da ginge es nämlich wirklich ums eingemachte.
Ästhetisierung der Politik ist nämlich kein ausschließlich
faschistisches Kriterium, sondern ein durch und durch bürgerliches
Merkmal, das immer deutlicher zu Tage tritt und Politik zusehends
als großes Simulationstheater ausweist.
Franz Schandl
A – Wien
LITERATUR:
Franz Schandl, Das Haider-Phänomen, krisis 23 (2000), S. 23-46.
Infos unter: www.krisis.org
Franz Schandl, Unpopuläres zum Populismus. 1.
Teil, Streifzüge, Nummer 40, Juli 2007, S. 21-25; 2. Teil 41,
November 2007, S. 30-32; und 3. Teil, Nummer 42, März 2008,
S. 10-13. Infos unter: www.streifzuege.org
***
Neue Hürde bei der Einbürgerung
Deutschland-TÜV für Einbürgerungswillige
Seit 1. September 2008 gibt es auch in Deutschland
einen so genannten Einbürgerungstest, den alle bestehen müssen,
die künftig deutsche Staatsbürger werden wollen. Aus einem
Fragenkatalog von 310 Fragen werden den AnwärterInnen auf die
deutsche Staatsbürgerschaft künftig 33 Fragen vorgelegt,
von denen 17 richtig beantwortet werden müssen. Nur werde diese
Hürde nimmt, kann auf einen deutschen Pass hoffen. Ausnahmen:
Kinder und Jugendliche unter 16, Behinderte, altersbedingt Beeinträchtigte
und Besitzer eines deutschen Schulabschlusses sind von dem Test
befreit. Absolviert werden wollen die Kurs an den Volkshochschulen,
dabei fallen Kosten von 25€ an.
Obwohl die Testfragen bereits mehrfach nachgebessert
wurden, gibt es immer noch zahlreiche Kritikpunkte.
Die migrationspolitische Sprecherin der Fraktion der
Linken Sevim Dagdelen bemängelte, dass die Tests die vorhandenen
Defizite nicht beheben würden, vielmehr brauche man einen Maßnahmenkatalog,
der dem Querschnittscharakter der Integration Rechnung trage.
Der SPD-Politiker Sebastian Edathy erstellte eine
Liste von 72 Mängeln und forderte eine Überarbeitung des
Tests. Viele Fragen seien irreführend und sachlich falsch.
Harte Kritik kam auch vor allem vom UN-Komitee zur
Beseitigung von Rassismus, die die Testfragen prüfte und feststellte,
dass die Fragen teilweise diskriminierend formuliert seien. Mehr
als 20 Kritikpunkte führte das Komitee in seinem Länderbericht
für Deutschland auf und forderte, dass problematische Inhalte
in den Prüfungsbögen gestrichen werden sollen.
Auch die Zentralräte von Muslimen und Juden üben
vehemente Kritik an dem Test, da auch der Islam und das Judentum
die europäische und deutsche Kultur geprägt hätten,
nicht nur die christliche Religion. Der Deutsche Mieterbund moniert
Fehler bei den Fragen zu Mietangelegenheiten.
Vielfach werden auch die missverständlichen und
komplizierten Formulierungen kritisiert, die manchen Bewerber überfordern.
Nach Meinung von Experten liegt der Schwierigkeitsgrad des Tests
eindeutig über dem Hauptschulniveau, was eine beabsichtigte
Selektion nach Bildungsniveau der Bewerber nahe legt.
Spätestens seit Pisa weiß man ja, dass
es um die Allgemeinbildung der Deutschen nicht besonders gut bestellt
ist. Fraglich ist es daher auch, von Einbürgerungswilligen
Wissen zu verlangen, das Deutsche selbst nicht haben.
Nach Angaben des statistischen Bundesamtes wurden
in Deutschland im Jahre 2007 rund 113.000 Menschen eingebürgert,
in Berlin 7.700. Das waren bundesweit 11.800 Einbürgerungen
weniger als im Vorjahr (d. h. - 9,5 %). Die Zahl der Einbürgerungen
geht in den letzten 10 Jahren kontinuierlich zurück.
Die Gründe sind vielfältig: Mangelnde Motivation,
fehlende Attraktivität, restriktivere Einwanderungspolitik,
Misstrauen, steigender Druck durch Politik und Gesellschaft und
nicht zuletzt die immer höheren Hürden.
Die deutsche Einwanderungspolitik ist gekennzeichnet
durch Repressalien und Forderungen, durch Ungleichbehandlung und
Diskriminierung, Fördern und gesellschaftliche und politische
Akzeptanz blieben dabei immer auf der Strecke. Mit dem Einbürgerungstest
wird die alte traditionelle Methode fortgesetzt: Friss oder stirb!
Auswahlverfahren dieser Art sind geprägt von tiefem Misstrauen
und Abschottungswillen. Das beeinträchtigt die Integration
und das Zusammenleben in unserer Gesellschaft.
So mancher fragt sich, was kommt als nächstes?
Die Unterteilung in praktische und theoretische Prüfung? Der
Phantasie sind keine Grenzen gesetzt.
Jedoch ist es nun allmählich an der Zeit - nachdem
der Forderungskatalog immer größere Ausmaße angenommen
hat -, dass die Politiker das Augenmerk auf den Bereich „Fördern“
richten und auch ihre Bringschuld einlösen.
Einbürgerung oder Integration bedeutet für
einen Migranten nicht gleichzeitig gleiche Bildungschancen, gleiche
Chancen im Berufsleben und gesellschaftliche Anerkennung.
Auch gut integrierte, perfekt Deutsch sprechende,
eingebürgerte Zuwanderer werden bei Behörden oft als lästige
Bittsteller behandelt. Dies zeigte sich erst jüngst als die
Behandlung der MigrantInnen in den Jobcentern an die Öffentlichkeit
gelangte. Auch bei der Wohnungs- oder Arbeitssuche werden MigrantInnen
benachteiligt.
Hier sind die Politiker und die Mehrheitsgesellschaft
gefragt, eine Atmosphäre zu schaffen, in der die MigrantInnen,
ob eingebürgert oder nicht, sich willkommen und anerkannt fühlen,
eine Gesellschaft, in der niemand aufgrund von Vorurteilen oder
aufgrund seiner Herkunft ausgegrenzt oder benachteiligt wird und
in der alle die gleichen Chancen haben. Eine zukunftsorientierte
Einwanderungspolitik muss außerdem zwingend die Möglichkeit
der Doppelstaatsbürgerschaft und auch das Wahlrecht unabhängig
von der Staatszugehörigkeit beinhalten.
Arslan Yilmaz
Berlin
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Hitlers Helfershelfer
Im Partei-Pressedienst der CDU stellte der Abgeordnete
Alois Mertes die Behauptung auf, für den zweiten Weltkrieg
sei auch die totalitäre Herrschaft in Rußland und nicht
nur die von seinen seinerzeitigen Gesinnungsgenossen in den Sattel
gehobene Hitlerdiktatur verantwortlich.
Herr Mertes macht es sich aus reichlich durchsichtigen
Gründen etwas zu leicht, wenn er in Nachahmung Goebbelsscher
Alibiausflüchte den angegriffenen und, wie sich zeigen sollte,
noch 1941 unverantwortlicherweise völlig unvorbereiteten Osten
zum Mitschuldigen zu machen versucht. Bewußt versäumt
er es, die entscheidende und verhängnisvolle Rolle der westlichen
Demokratien, Englands und Frankreichs, unserer derzeitigen Verbündeten,
zu erwähnen. Sie waren es, die nur zu gerne Hitlers Drohungen
überhörten (Vernichtung der Hegemoniebestrebungen Frankreichs),
seine Überraschungsschläge duldeten (Wiederaufrüstung,
Rheinlandbesetzung, Einmarsch in Österreich, Westwallbau, Sudeteneinverleibung,
Einzug in Prag) und ihm seine Wortbrüche verziehen („letzte
territoriale Forderung in Europa!“, „Ich will gar keine
Tschechen!“). Auch seine mehrfachen öffentlichen Ankündigungen
der geplanten Vernichtung des europäischen Judentums nahmen
sie gelassen, wenn nicht gar mit einem geheimen Wohlwollen auf.
Und so unterließen sie es in verbrecherischer Verblendung,
gegen unmißverständliche Kriegsvorbereitungen Stellung
zu nehmen. Noch im September 1938 hätte dem braunen Spuk ein
rasches Ende bereitet werden können - und zwar mit Hilfe eines
Teils des deutschen Generalstabs. Statt dessen sanktionierten Staatsangestellte,
sogenannte Staatsmänner, die brutale Gewalt und krochen vor
ihr zu Kreuz, in der Erwartung, daß der Führer seine
Rolle als ein „ Bollwerk gegen den Bolschewismus“ wie
versprochen zu Ende spielen und damit auch den Interessen seiner
internationalen Helfershelfer dienen werde.
Kein Wunder, daß der Kreml, den man in „München“
ebenso verraten hatte wie die Tschechoslowakei, die Gefahr erkannte
und aus reinen Selbsterhaltungsgründen einen Pakt selbst mit
dem Teufel, mit Adolf Hitler, abzuschließen bereit war.
Nein, wenn von einer Mitschuld die Rede ist, dann
nur von derjenerwestliehen Demokratien, die sich weigerten, der
drohenden Weltgefahr rechtzeitig entgegenzutreten, und es versäumt
hatten, den - wie sie hofften nur auf den Osten beschränkten
Vernichtungsfeldzug zu verhindern. (September 1979)
Frederic W. Nielsen
Aus: »Gedanken eines Unbequemen«. Meinungen
und Mahnungen, Appelle und Proteste aus fünfzig Jahren. Ein
politisches Lesebuch. Toleranz Verlag, Freiburg 1988
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