XXVI. Jahrgang, Heft 145
Jul - Aug - Sep 2007/3

 
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Letzte Änderung:
18.07.2007

 
 

 

 
 

 

 

KULTUR – ATELIER




   
 
 


Kleine Museumsinsel

Von Henner Reitmeier

Manche Leute begreifen ihre eigenen Verknüpfungen nicht. Im Berliner Technikmuseum am Gleisdreieck läßt sich eine gewaltige blitzende Dampfmaschine bewundern, die einmal in England eine Kornmühle antrieb. Hier jedoch ist sie über etliche Treibräder und -riemen mit allerlei Zahnradmaschinen verbunden, so mit einer Drehbank gleichen Baujahrs (1860), die aus der Drechselbank hervorging. Ein Schild klärt uns auf: „Nun konnten Metallteile für Maschinen, Lokomotiven und andere Zwecke genauer, schneller und billiger als zuvor bearbeitet werden.“

Genauer und schneller gewiß - aber niemals billiger. Bereits die Dampfmaschine besteht aus zahlreichen Metallteilen, die erst einmal hergestellt sein wollen. Welcher Aufwand, solche Schwungräder, Zylinder, Flansche haargenau zu gießen, schmieden, fräsen, feilen! Und diese Metallteile finden sich nun in den benachbarten Dreh-, Bohr- oder Stanzmaschinen, von denen sie hergestellt werden können, wieder. Angesichts dieses komplexen Verzehrwerks wird die naheliegende Frage, ob das Huhn oder das Ei eher da war, ziemlich unerheblich. Dabei habe ich noch nicht von dem Aufwand gesprochen, mit dem der Rohstoff all dieser Maschinenteile gewonnen wird. Ein Erzbergwerk ist weder ein Sandkasten noch ein vergilbtes Kalenderblatt. In jeder automatischen Tür, die sich heute wie Sesam vor uns öffnet, stecken die Verluste, die in den Bergwerken des 18. Jahrhunderts gemacht wurden. Neben viel Energie und einigen beträchtlichen Laubwäldern zählen dazu die Schinderei, das Hungern und eine Menge Tote. Diese fallen in China noch heute Monat für Monat an. Zögen wir allein die Verbrennungen zusammen, die Menschen bei der Stahlgewinnung erlitten, kämen wir auf die Wüste Sahara. Die Opfer unserer „Mobilität“ Fuß an Kopf gereiht, könnten wir sämtliche Verkehrsadern dieses Planeten nachzeichnen - rot. Wir sollten auch die Schlachtfelder aller Zeiten abwandern, denn nach Lewis Mumford (DER MYTHOS DER MASCHINE) verdanken wir den Löwenanteil unserer technischen Errungenschaften dem Krieg.

Wer arbeitslos ist, vergibt sich trotzdem nichts, wenn er sich einmal für 1,50 Euro im Berliner Technikmuseum umsieht. Bei Zuses erstem Rechner (von 1941) könnte ihm zum Beispiel aufgehen, warum er arbeitslos ist. Daß ihm dieser Zustand wenig Freude bereitet, liegt allerdings nicht an Konrad Zuse, vielmehr an dem rotgrünen Regierungspack und dessen untadeligen Brechstangenträger Peter Hartz. Könnte Angelika Merkel nicht, statt neue Staffeln von Jagdflugzeugen anzuschaffen, ein paar tausend kostenlos besuchbare Malschulen einrichten lassen? In einem anderen Winkel des Technikmuseums sind 24 „technische“ Ansichten aus Textilfabriken zu sehen, die Erwin Bindewald um 1930 schuf. Diese packenden Bleistiftarbeiten, teils sparsam koloriert, sind allein den Eintritt wert. Sie wirken trotz ihrer filigranen Ausgestaltung niemals naturalistisch - echte Schöpfungen.

In puppenfertigungslosen Gebieten dürften die Augeneinsetzer ziemlich unbekannt sein. Sie waren nicht etwa Assistenten der obduzierenden Ärzte am Waltershäuser Amtsgericht gewesen, sondern die wichtigsten Zulieferer der hiesigen Puppenproduktion. Für sie bestanden alle ernstzunehmenden Lebewesen nur aus einem kugelförmigen Hohlkörper mit drei Löchern; zwei für die Augen und unten eines mit Schraubgewinde für den Anschluß des Schlundes. In ihrer gesichtsbildenden Rolle wähnten sich die AugeneinsetzerInnen als Elite des Proletariats, obwohl sie oft zu Hause schafften. Kommerzienrat Franz Reinhardt bestach sie mit Pfennigbeträgen. Nach einer Broschüre des VEB „biggi“ Waltershausen von 1986 stützten sich auch Kämmer & Reinhardt - Herzstück des späteren Kombinats - noch um 1910 beträchtlich „auf die Zulieferungen aus der Heimindustrie. Viele Frauen und Kinder tressierten, nähten und formten bis tief in die Nacht.“

Kinderarbeit also - für Puppen. Heute ist dies zumindest am Thüringer Wald Vergangenheit. In die entkernte „biggi“-Hauptfabrik ist eine mehr oder weniger anarchistisch orientierte Kommune gezogen. Heute sind es vielleicht Turnschuhe mit Streifen, Schwarzwälder Kuckucksuhren oder hauchdünne Fähnchen mit eingewirkten Schrumpfungskomponenten für die magersüchtigen „models“ dieser Welt, die Kinder in Übersee zu fertigen haben. Nach jüngstem Jahresbericht des UN-Kinderhilfswerks arbeiten weltweit mindestens 70 Millionen Kinder unter 10 Jahren für Lohn. In gewissen deutschen linken Kommunen ist es nicht ganz so schlimm; dort tragen die Kinder fleißig Gebühren in die Eisenacher oder Schweriner Waldorfschulen. Aber ich muß mich hüten persönlich zu werden. Deshalb darf ich auch nicht mehr viel zum Waltershäuser Puppenmuseum sagen, denn ich bin mit seinem Leiter Thomas Reinecke leicht befreundet. Es wurde über der Stadt sehr hübsch im Schloß untergebracht. Dort können wir den Augeneinsetzern, der weltberühmten „biggi“-Puppe sowie Frau Käthe Kruse begegnen. Den Knüller jedoch hat Reinecke in eine Vitrine unweit des Empfangstresens im Vorraum verbannt, wo man eher belegte Brötchen erwarten würde: Kellners Steckfiguren.

Kürzlich platzte ich in einen Ausflug, der Schützlinge des Kindergartens Schönrasen ins Schloß geführt hatte. Kaum hatte ich sie auf die Steckfiguren aufmerksam gemacht, ließen sämtliche Puppen sie kalt. Reinecke stellte uns eine Schachtel mit den beiden lustigen Gesellen „ruck & zuck“ zur Verfügung. Ausgekippt, kullern allerlei buntlackierte Klötzchen, Stäbe, Kugeln und Kegel über das erlauchte Schloßparkett. Durch ausgefräste kreisrunde Fugen und passende hülsenförmige blaue Gummimuffen lassen sich die aus Buchenholz gefertigten Teile nahezu beliebig kombinieren. Zwar sind ruck & zuck im Beiheft einmal als sitzendes Paar mit einer Art Papageienstange zwischen sich und einmal übereinander als Akrobaten abgebildet, doch Gesine, Johanna und Louis, sämtlich um 5, wissen intuitiv, daß Köpfe nicht unbedingt oben und Füße nicht unbedingt unten sitzen müssen. Kaum haben sie die Stecktechnik heraus, kommt der Einfallsreichtum der Kinder ins Rollen. Während Gesine lauter Brücken baut (Ehescheidungstrauma?), stattet Louis einen hochkant genommenen Klotz mit einem bald bleistiftlangen Bauchnabel aus, den er hinterlistig Staubsauger nennt. Auf die Spitze steckte er eine zweite blaue Gummimuffe. Johanna setzt zwei buntkarierte Pappscheiben ein, die auf der Abbildung als Sonnen- oder Regenschirm fungieren. Sie nimmt sie als Becken, indem sie mit einem überzähligen Stäbchen auf die aufgepflockte Scheibe einschlägt. Prompt versieht Louis einen flachen orangefarbenen Klotz mit einer Art Linse nach vorn, um die begabte Schlagzeugerin zu fotografieren. Gefragt, ob er Agfa oder Orwo eingelegt habe, belehrt er mich altklug, es sei doch digital.

Diese angedeuteten Steckbausätze - derzeit rund 30 von verschiedenem Umfang, die selbstverständlich auch untereinander wieder kombiniert werden können - stellt der gelernte Werkzeugmacher und studierte Holzgestalter Hans-Georg Kellner mit Hilfe weniger MitarbeiterInnen im nahen Kurort Tabarz seit knapp 10 Jahren her. Allerdings griff er damit auf eine bewährte Familientradition zurück, die um 1930 mit Patenten seines in Leipzig produzierenden Großvaters Georg begann. Nach dem 2.Weltkrieg waren die Kellner-Steckfiguren im ganzen „Ostblock“ beliebt. Unter dem Dach des „biggi“-Kombinats wurden sie zuletzt überwiegend aus Kunststoff hergestellt. Heute verkauft Holzliebhaber Kellner, der auch im Freien gelegene Spielplätze entwirft und errichtet, schon nach Frankreich und Japan. Verständlicherweise sind seine zuweilen umwerfend komischen, mit viel Handarbeit gefertigten Figuren vergleichsweise teuer. Sie wurden inzwischen mit etlichen Qualitätssiegeln und Designpreisen ausgezeichnet. In oberhalb von Hartz IV angesiedelten Kreisen sollen sie sich bereits zu Kultfiguren mausern.

Welche Schönheit hat doch diese Szene! Das hohe eicherne Bett der jungen Frau und die Kleider der um sie gruppierten fünf Personen sind in eine milde Düsternis getaucht, die feinste Abstufungen zuläßt. Auch die spannungsreiche Ausgewogenheit besticht. So korrespondiert der vom Bett abgewandte Mann im linken Vordergrund, der seine Hand vors Gesicht geschlagen hat, mit dem Kruzifix, das über dem Kopfteil des Bettes an der Wand hängt. Die junge Frau lächelt leise, obwohl sie sehr erschöpft wirkt. Sie liegt im Sterben.

Das eindringliche Ölgemälde, 1928 von Jules Alfred Giess geschaffen, ist in Deutschlands einzigem Museum für Sepulkralkultur zu sehen, das geografisch - und eigentlich auch historisch angemessen in Kassel steht. Da es sich ausschließlich den Themen Tod und Gedenken widmet, zeigt es verständlicherweise eine Menge von Grabmalen und Andenken aller Art. Hölzerne Leichenwagen und Bestattungslimousinen, Fotos aus Krematorien, Werkzeuge zum Einbalsamieren kommen hinzu. Bücher und Kunstwerke, die sich mit den „letzten Dingen“ befassen, bezeugen nebenbei, wie der Mensch zu anderen Zeiten mit dem Tod umgegangen ist; desgleichen Totenhemden, Todesanzeigen, Partituren von Totenmessen. Beethoven wurde allein dreimal bestattet, doch berücksichtigt das Museum auch weniger berühmte Leichen. Überragend Georg Pöhleins Fotoserie von 1980/81, die „Bilder aus dem Leben meines Großvaters“ zeigt - was heißen will, vor allem aus dessen letzten Tagen, bis der Großvater auf der Totenbahre liegt. Er könnte Melker oder Schuster gewesen sein. Diese Schwarzweißfotos haben nichts Obszönes. Unkommentiert, ergreifen sie durch ihre Nüchternheit. Der Großvater, wie er sich da in sein ärmliches Schicksal fügt, spricht selber.

Auf einer hübsch bemalten Schnupftabaksdose (um 1820/ 50) sitzen sich der Tod und Napoleon gegenüber. Dieses Ausstellungsstück verweist ungewollt auf einen Mangel des Museums. Die Verantwortlichen wirken an der Verbreitung der Legende mit, beim Sterben handle es sich stets um eine persönliche und dazu noch natürliche Angelegenheit. In Wahrheit kommen unzählige Menschen durch Gewaltverbrechen, Rassismus, Imperialismus, Hunger - kurz durch kriminelle gesellschaftliche Verhältnisse um. Man könnte hier bei der Firma Gebrüder Kain & Abel anfangen, um vermittels der Feldzüge Napoleons und der US-britischen Ölscheichs beim rotgrünen Duo Scharping/Fischer zu landen, das „Vernichtungslager“ zu verhindern trachtete, indem es ganze Staaten beseitigte. Diesen Bogen schlägt das Museum mit seinen vielen Toren oder Portalen so gut wie nicht.

Es könnte natürlich einwenden, irgendwo müsse man Grenzen ziehen, sonst spräche man nicht mehr über die letzten, sondern über alle Dinge. Dem jedoch halte ich den Sitz des Museums entgegen. Der Weinberg, der sich unweit des Rathauses über der Karlsaue erhebt, ist beste Kasseler Wohnlage. Umgeben von einem hübschen Park, stand hier bis 1932 die Villa Henschel. Die Henschels ließen sie abreißen, weil ihnen die Besteuerung zu hoch war. Für die Remise galt dies offenbar nicht. Eigentlich nur Kutschenhaus, ähnelt diese Remise selber einer Villa aus der Gründerzeit. Gekonnt um einen Neubau erweitert, ließ sich hier das Museum für Sepulkralkultur nieder.

Wie durch ein Wunder, war die Remise der Villa Henschel am 22.Oktober 1943 verschont geblieben. Damals flogen britische Jäger einen massiven Angriff, der Kassel zu fast 80 Prozent in Schutt und Asche legte. 418.000 Bomben gingen auf die Stadt nieder. Wie Zeitzeuge Willi Belz in seinen Erinnerungen erwähnt, stand selbst der Asfalt der Straßen in Flammen, was etliche Schutzsuchende in Fackeln verwandelte. Im Ergebnis waren knapp 10.000 EinwohnerInnen tot, gut 10.000 verwundet, rund 150.000 (von 230.000) obdachlos. Die Stadt glich einer Steinwüste. Auf einem Foto unternimmt ein offener PKW eine Besichtigungsfahrt durch die Ruinen. Neben dem Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck und Pyrmont, der im nahen Barockstädtchen Arolsen noch heute ein hohes Ansehen genießt, ist Herr Dr. Joseph Goebbels, Reichsminister für „Volksaufklärung“, zu sehen. Doch aufgeklärt hatten eher die Briten. Seit Monaten war durch Noten an die Hitlerregierung und durch abgeworfene Flugblätter bekannt gewesen, welche Städte von den Briten als zum Kampfgebiet gehörig betrachtet wurden.

Wenn Kassel Haß und Bomber auf sich zog, war die Familie Henschel nicht gerade unbeteiligt daran. Neben einem Militärflugplatz in Rothwesten und den Waldauer Fieseler-Werken, die mit über 5.000 Beschäftigten Flugzeuge bauten, barg Kassel das traditionsreiche Unternehmen Henschel & Sohn. 1777 als Geschütz- und Glockengießerei gegründet, mauserte sich das Unternehmen bis zum Oktober 1943 zu einer großangelegten Panzerschmiede mit rund 3.000 Beschäftigten. 1976 war es noch wertvoll genug, um vom Thyssen-Konzern geschluckt zu werden, der sich ja ebenfalls traditionell der Förderung der Sepulkralkultur verpflichtet fühlt. Doch im Museum von Henschel und der Bombennacht keine Spur. Der Lyriker Paul Celan erlaubte sich wegen der Krupps, Henschels, Thyssens die Idee, den Tod einen Meister aus Deutschland zu nennen. Das öffentlich subventionierte Museum tut das lieber nicht.

Angeblich flossen die Reden und Gesänge des Pfälzers Ambrosius wie Honig aus seinem Mund. Er hatte es 374 zum Bischof von Mailand gebracht. Doch weder unsere ÜberredungskünstlerInnen im Reichstag noch die ZugansagerInnen des neuen Erfurter Hauptbahnhofs erkoren ihn zu ihrem Schutzheiligen; es waren die deutschen ImkerInnen. Von denen gibt es rund 100.000, davon nur fünf Prozent hauptberufliche. Mit ihren zahlreichen Völkern (1 Million) erbringen sie einen Jahresertrag von 1,4 kg Honig pro Kopf. Damit kann sich Deutschland - nach der Erstürmung des globalen Exportmarktes, des Vatikans sowie zum dritten Mal in nur 60 Jahren auch Serbiens - eines weiteren Weltmeistertitels rühmen.

Deutschland hat außerdem mehrere Bienenmuseen zu bieten. Das älteste, 1907 von Pfarrer Ferdinand Gerstung gegründet, liegt in Weimar nur einen Steinwurf von Goethes Gartenhaus entfernt am Ufer der Ilm. Von Kräuterbeeten, Bienenständen, einem wuchtigen eichernen Wachshammer von ca. 1637 und leider auch der aufblühenden Weimarer Waldorfschule umgeben, kann die Ausstellung im ehemaligen Landgasthof „Goldener Schwan“ vor allem mit oft mannshohen sogenannten Figurenbeuten glänzen. Diese ungewöhnlichen Bienenwohnungen sind für Europa seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar. In der Regel aus ausgehöhlten Baumstammhälften geschnitzt und bunt bemalt, dienten sie wohl mehr dem Ausdruckswillen ihrer SchöpferInnen als dem Abwehrzauber gegen allerlei Bienenfeinde und Honigdiebe. Neben Vögeln und Bären ist hier an eine Kröte zu denken, die in D.H. Lawrences funkelnder Erzählung „Die Jungfrau und der Zigeuner“ vorm Strohkorb hockt, um die ausfliegenden Bienen wie von der Wäscheleine zu pflücken. Wilhelm Buschs Knabe Eugen mit dem gestohlenen Honigtopf hätte sich mühelos in einer Figurenbeute versteckt. Das Flugloch befindet sich oft an Stelle des Nabels. Einen jüngsten Goethe von 1999 gibt es auch. Wer sich die rund 50.000 Bienen eines Volkes in Goethes Bauch denkt, wird gut nachvollziehen können, warum er Bettina von Arnim eines Tages wutschnaubend Hausverbot erteilte. Sie hatte seine blutjunge geliebte Christiane als „tollgewordene Blutwurst“ beschimpft.

Mag es im Herzogtum unseres Geheimrats schon prima gewesen sein - für Aristoteles hatten die Bienen den vorbildlichsten Staat. 99,9 Prozent der erwähnten 50.000 dürfen sechs Sommerwochen lang schuften, bevor sie Ambrosius ins Reich der Unsterblichkeit holt. Die einzig eierlegende Weichsel oder Königin bringt es bis zu fünf Jahren, hat aber mitunter erbitterte und tödliche Kämpfe mit Konkurrentinnen auszutragen. Der im Museum noch unbekannte Georg Rendl verherrlicht und verniedlicht dieses Geschehen in seinem BIENENROMAN, wo uns auf 200 Druckseiten weder ein Imker noch sonst ein Mensch begegnet. Verfolgt man jedoch, wie Rendl jede einzelne Biene im Volksganzen auf- und untergehen läßt, weiß man, woher um 1930 in Salzburg der Wind wehte. Zur Vorwarnung habe ich mein antiquarisches Exemplar nach Weimar verschenkt.


***


Triebe und Ansprüche

Von Kurt May

Der Bundesbürger, also ein Mensch, hat Triebe, große und kleine, Nahrungstriebe, Besitztriebe, Fortpflanzungstriebe, heute Sexualtriebe genannt. Aber wer pflanzt sich schon ohne Geld und Arbeit fort? Und so sagen manche Affenmenschenforscher, der Mensch hat auch einen Aggressionstrieb. Dieses sei ein Trieb wie jeder andere, ergo haben wir Kriege oder Haustürgeschäftemacher, sich angeifernde Politiker und Ausländerunfreundlichkeit. Allein, wo steckt dieses Biest, dieser Aggressionstrieb? Der Nahrungstrieb oder der Sexualtrieb haust…Denkste! Das Kerlchen steckt ganz woanders. Denn sie wissen, was sie tun. Wer? Die Bundesdeutschen? Nein, die Tiere. Hauen sich die Geweihe und Rüssel und Hauer um die blöden Schädel und, das ist erstaunlich, am Ende leben die Rabauken noch. Da sind wir Menschen höchst anders. Da lebt am Ende niemand mehr. Wer weiß überhaupt noch, was er will und verrichtet? Es ist alles Instinkt. Das aggressive Verhalten ist bei uns Menschen, folglich dem Bundesbürger, nein, bei den Tieren niemals Selbstzweck, sondern nur ein Mittel, um die zwischentierischen, ich meine menschlichen Beziehungen zwischen Bundesbürgern, verdammt, mich lenkt immerzu etwas ab, sagen wir zwischen Artgenossen zu regeln. Also der Mensch… Halt, ich bleibe vorerst bei Verhaltensmechanismen der Tiere. Wir stellen doch alle unsere Europaansprüche, zum Beispiel den Anspruch auf Raum, kurz Raumtriebe genannt. Wir brauchen halt ein Plätzchen, wo man lebt und lacht und liebt und dem fiesen Nachbarn gelegentlich eins auf das Maul schlagen kann. Denn wo ich bin, kann kein anderer Bundesbürger, kein Ausländer sein. Bitte jetzt nicht an Betten denken. Ich stehe hier erst an der Gartentür der Psychologie. Ich Dussel, was will ich hier? Hier ist mein Raum, hier spule ich meine bundesdeutschen Lebensvorgänge ab. Hm, was gibt es da zu spulen, zu spülen? Also bei Toilette und Bett da mag ich keinen Vertreter, keinen Bundesnachrichtendienst. Jetzt kommen wir zu den Zeitansprüchen, Zeit für Stoffwechsel, Zeit für Behörden, Zeit für Formulare und Zeit für Wahlen. Für irgendwas braucht man doch auch noch Zeit? Ach ja, Zeit um sich diesen wissenschaftlichen Vortrag anzuhören. Aber nicht allein Radaubrüder und Fußballspieler sind Zeitgenossen, Artgenossen, Raumgenossen. Zum Kuckuck, wo kommen die vielen Genossen her? Ja, auch das Kind ist Genosse, Zeitgenosse, Sexualgenosse. Nicht? Dann lesen Sie mal gründlich die Zeitung. Ja, die Zeitung, um sich zu informieren. Informationsansprüche. Und woher haben Sie diese Sucht nach Informationen? Aus dem Reklamefernsehen, dem Toilettenfernsehen. Was das ist? Da kommt in jedem dritten Satz das Wort Schei… Schein mag der Bundesbürger sehr, vor. Ja, sich satt fernsehen ist die Voraussetzung für einen Informationsanspruch, für Körperbeherrschung, für das Orientieren in Raum und Zeit, für Danksagungen bei Fußtritten einer Behörde. Denn wenn Sie nicht informiert sind, wie wollen Sie richtig wählen oder ohne Aids davon kommen? Also, die Biokommunikation ist… Nämlich, wenn ich Sie jetzt küsse oder in den Hintern trete oder Sie nach dem Gehalt eines Ministers frage, treiben wir beide Biokommunikation. Da gibt es zum Beispiel noch die Stoffwechselansprüche. Ich habe zurzeit eine böse Mangelkrankheit, das Vieh heißt Arbeitslosigkeit, auch Kontoleere genannt. Gut, das fördert die kollektive Leistung in einer biosozialen Gruppe. Was biosozial ist? Sind sie etwa politisch geschädigt? Mein Frau und ich sind die kleinste biosoziale Gruppe im Staat. Moment, ein Besoffener, ein nicht verwendbarer Bundesbürger ist eigentlich auch nicht ganz allein. Ja, das sind Ansprüche, oder was? Jetzt kommen wir zum Schutzanspruch, fast ein Umweltanspruch. Mein Leib, mein Auto, meine digitale Meinung müssen geschützt werden. Was digitale Meinung ist? Ich weiß es nicht. Man kann nicht alles wissen Oder wissen Sie, was so ein Manager in seine eigene Tasche fließen lässt? Na bitte! Tiere zum Beispiel haben es im Allgemeinen leichter. Die haben Posten, Schimpfwörter, Titel, Scheckkarten… Rechtsanspruch… Aber doch nicht die Tiere. Sie haben Krallen, Rüssel, Buckel. Sie spießen, stechen, hauen in die Pfanne, hintertieren sich eben. Ich handle nur menschlich. Dem blöden Meyer von nebenan knalle ich ein Ding an die Kacheln, dass er bei Nebel die Alpen sieht. Und das erhöht nicht einmal den Spiegel meiner Sexualhormone. Ich bin kein brünftiger Hirsch. Ich habe doch die Bundeswehr und unsere bundesdeutschen Hirsche, die Platzhirsche. Sie kennen keine Platzhirsche? Gehen Sie mal ins Parlament. Ja, die Genannten halten den gesamten Verhaltensvollzug in unserem Ökosystem störfrei und schützen meine Biosozialeinheit als Ganzes. Ich bin halt nur Mensch, ich habe gar keinen Aggressionstrieb, finde ihn nicht. Meine Frau auch nicht. Und wo die schon überall suchte. Jetzt kommen wir zum schönsten aller Triebe, zum Partneranspruch. Das ist so bei den Tieren, oder waren wir soeben bei den Menschen, den Bundesbürgern? Ich glaube, in diesem Land hier weiß niemand, welcher Trieb und Anspruch zuerst kommt, der Lohnanspruch, der Arbeitsanspruch, der Parkplatzanspruch, der Subkulturanspruch? Jetzt weiß ich wieder weiter. Ein Partner ist einer, der anders rum ist als man selbst. Ja, Arbeitgeber und Arbeitnehmen sind ganz schön anders rum in Sachen Lohn, Urlaub, Auto. Woran dachten Sie denn? An Arm und Reich, an Ossi und Wessi? Der Partneranspruch schützt meine physische Existenz und Rente, oder etwa nicht? Der Keiler verteidigt die Bache, die Ziege den Bock, der Bock den Gärtner. Ach, die Rente! Das hat etwas mit Nachkommenschaft zu tun, mit einem zeugungsfreudigen Partner. Vater oder Mutter Staat. Gut, Ochse mit Kuh geht nicht. Ich wusste auch einmal, warum es nicht geht. Weiter! Wissen Sie schon, dass sich Schafe, nehmen wir einfach eine bundesdeutsche Rasse, allein, also Solo nicht halten lassen? Schafe muss man in Horden züchten, bundesdeutschen Horden, schlachten muss man sie allein. Am schnellsten geht es mit einem Formular. Nämlich Schafe benötigen einen Hammel, einen leitenden. Denn je komplexer das Staatsverhalten, je größer sind mögliche Störeinwirkungen. Schafe. Staat. Hammel. Viele Hammel. Blödheit der Schafe. Das ist politische Logik. Ach so, wir bekämpft man staatliche Störeinwirkungen? Wer Hauer hat, der haut, wer Hörner hat, muss hörnen, ist gehörnt. Ich will sagen, Hörner wie Scheckkarten haben einen gewissen Schauwert, eine Signalfunktion. Achtung, Freundchen, jetzt komme ich. Schau dir mal meine Raketen an, meine Villen, meine Radkappen am Auto. Dann fange an zu rechnen. Hast du mehr Wir bleiben jetzt beim Hirsch. Also, wäre ich ein Dachs, dann setzte ich meine Duftmarke, meinen Fegebaum… Ja, wohin denn? Auf einen Bürokratensessel. Bums, mein Territorium wäre dauerhaft markiert. Warum aber habe ich keinen Aggressionstrieb? Es geht auch ohne, es geht um nichts als um bundesdeutsches Wohlbefinden in der Firma, im Bett, auf dem Konto. Dahin laufen die Triebe, dort werden die Ansprüche erfüllt. Ich brauche gar keinen Aggressionstrieb. Rechnungen, Haschisch, Aids, Absagen, Kündigungen kriege ich auch ohne. Wir müssen weiter unten und hinten anfangen. Steinzeit. Lehmzeit benannt nach diesem Affen Adam. Affenzeit. Einheitszeit. Wir Menschen haben da zwei Qualitätssprünge hinter uns, zum dritten Sprung setzen wir im Augenblick an… Wohin? Von Karl dem Großen zur Globalisierung, das ist doch wohl ein Riesenhupfer. Und das fast ungedopt. Der erste Sprung war die Arbeit. So fing es an bei den Affen. Nach der Arbeit das Bewusstsein oder ein Humpen Bier. Der zweite Sprung waren die gesellschaftlichen Staatsansprüche. Kurz, wer kämpft warum, gegen wen und wofür? Und schon sind wir bei Krieg und Frieden. Wer gegen wen? Da beginnt die Eigenverantwortung. Weiß wider Schwarz? Alte Bundesländer wider neue? Christ wider Moslem? Ich sagte Eigenverantwortung und nicht Aggressionswut. Nun hat aber mein Ururururur… großvater schon gemordet und ohne Aggressionstrieb. Er hatte nichts als eine Keule und ein zänkisches Weib. Damit haute er einem Auerochsen oder Säbelzahntiger ein Ding an den Schädel, dass die Bestien in München die Schiffe im Hamburger Hafen hören konnten. Wie, die Bayern gab es damals noch gar nicht? Habe ich das etwa behauptet? Aber traf mein Ur…großvater einen arteigenen Artgenossen, nicht so einen Fremdsippigen, dann begrunzten sie sich, bebrunzten sich, teilten Frau und Sparstrumpf. Der eine fraß rechts vom Wege den Bambus, der andere links vom Wege seine Bananen. Welch ein Friedbild! Wie heute bei uns im bundesdeutschen Staat. Und endlich bin ich beim dritten Qualitätssprung. Der besagt nämlich, wir fangen nicht an. Wir haben eine Verfassung. Und dort steht nichts über einen Aggressionstrieb, nichts vom in die Pfanne hauen. Sind wir menschliche Tiere oder tierische Menschen, oder wie? Schluss! Wo bleibt ihr Beifallstrieb und Beifallsanspruch? Sie haben doch schon nach ganz anderen Vorträgen geklatscht, oder was?

   

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