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Kleine Museumsinsel
Von Henner Reitmeier
Manche Leute begreifen ihre eigenen Verknüpfungen
nicht. Im Berliner Technikmuseum am Gleisdreieck läßt
sich eine gewaltige blitzende Dampfmaschine bewundern, die einmal
in England eine Kornmühle antrieb. Hier jedoch ist sie über
etliche Treibräder und -riemen mit allerlei Zahnradmaschinen
verbunden, so mit einer Drehbank gleichen Baujahrs (1860), die aus
der Drechselbank hervorging. Ein Schild klärt uns auf: „Nun
konnten Metallteile für Maschinen, Lokomotiven und andere Zwecke
genauer, schneller und billiger als zuvor bearbeitet werden.“
Genauer und schneller gewiß - aber niemals billiger.
Bereits die Dampfmaschine besteht aus zahlreichen Metallteilen,
die erst einmal hergestellt sein wollen. Welcher Aufwand, solche
Schwungräder, Zylinder, Flansche haargenau zu gießen,
schmieden, fräsen, feilen! Und diese Metallteile finden sich
nun in den benachbarten Dreh-, Bohr- oder Stanzmaschinen, von denen
sie hergestellt werden können, wieder. Angesichts dieses komplexen
Verzehrwerks wird die naheliegende Frage, ob das Huhn oder das Ei
eher da war, ziemlich unerheblich. Dabei habe ich noch nicht von
dem Aufwand gesprochen, mit dem der Rohstoff all dieser Maschinenteile
gewonnen wird. Ein Erzbergwerk ist weder ein Sandkasten noch ein
vergilbtes Kalenderblatt. In jeder automatischen Tür, die sich
heute wie Sesam vor uns öffnet, stecken die Verluste, die in
den Bergwerken des 18. Jahrhunderts gemacht wurden. Neben viel Energie
und einigen beträchtlichen Laubwäldern zählen dazu
die Schinderei, das Hungern und eine Menge Tote. Diese fallen in
China noch heute Monat für Monat an. Zögen wir allein
die Verbrennungen zusammen, die Menschen bei der Stahlgewinnung
erlitten, kämen wir auf die Wüste Sahara. Die Opfer unserer
„Mobilität“ Fuß an Kopf gereiht, könnten
wir sämtliche Verkehrsadern dieses Planeten nachzeichnen -
rot. Wir sollten auch die Schlachtfelder aller Zeiten abwandern,
denn nach Lewis Mumford (DER MYTHOS DER MASCHINE) verdanken wir
den Löwenanteil unserer technischen Errungenschaften dem Krieg.
Wer arbeitslos ist, vergibt sich trotzdem nichts,
wenn er sich einmal für 1,50 Euro im Berliner Technikmuseum
umsieht. Bei Zuses erstem Rechner (von 1941) könnte ihm zum
Beispiel aufgehen, warum er arbeitslos ist. Daß ihm dieser
Zustand wenig Freude bereitet, liegt allerdings nicht an Konrad
Zuse, vielmehr an dem rotgrünen Regierungspack und dessen untadeligen
Brechstangenträger Peter Hartz. Könnte Angelika Merkel
nicht, statt neue Staffeln von Jagdflugzeugen anzuschaffen, ein
paar tausend kostenlos besuchbare Malschulen einrichten lassen?
In einem anderen Winkel des Technikmuseums sind 24 „technische“
Ansichten aus Textilfabriken zu sehen, die Erwin Bindewald um 1930
schuf. Diese packenden Bleistiftarbeiten, teils sparsam koloriert,
sind allein den Eintritt wert. Sie wirken trotz ihrer filigranen
Ausgestaltung niemals naturalistisch - echte Schöpfungen.
In puppenfertigungslosen Gebieten dürften die
Augeneinsetzer ziemlich unbekannt sein. Sie waren nicht etwa Assistenten
der obduzierenden Ärzte am Waltershäuser Amtsgericht gewesen,
sondern die wichtigsten Zulieferer der hiesigen Puppenproduktion.
Für sie bestanden alle ernstzunehmenden Lebewesen nur aus einem
kugelförmigen Hohlkörper mit drei Löchern; zwei für
die Augen und unten eines mit Schraubgewinde für den Anschluß
des Schlundes. In ihrer gesichtsbildenden Rolle wähnten sich
die AugeneinsetzerInnen als Elite des Proletariats, obwohl sie oft
zu Hause schafften. Kommerzienrat Franz Reinhardt bestach sie mit
Pfennigbeträgen. Nach einer Broschüre des VEB „biggi“
Waltershausen von 1986 stützten sich auch Kämmer &
Reinhardt - Herzstück des späteren Kombinats - noch um
1910 beträchtlich „auf die Zulieferungen aus der Heimindustrie.
Viele Frauen und Kinder tressierten, nähten und formten bis
tief in die Nacht.“
Kinderarbeit also - für Puppen. Heute ist dies
zumindest am Thüringer Wald Vergangenheit. In die entkernte
„biggi“-Hauptfabrik ist eine mehr oder weniger anarchistisch
orientierte Kommune gezogen. Heute sind es vielleicht Turnschuhe
mit Streifen, Schwarzwälder Kuckucksuhren oder hauchdünne
Fähnchen mit eingewirkten Schrumpfungskomponenten für
die magersüchtigen „models“ dieser Welt, die Kinder
in Übersee zu fertigen haben. Nach jüngstem Jahresbericht
des UN-Kinderhilfswerks arbeiten weltweit mindestens 70 Millionen
Kinder unter 10 Jahren für Lohn. In gewissen deutschen linken
Kommunen ist es nicht ganz so schlimm; dort tragen die Kinder fleißig
Gebühren in die Eisenacher oder Schweriner Waldorfschulen.
Aber ich muß mich hüten persönlich zu werden. Deshalb
darf ich auch nicht mehr viel zum Waltershäuser Puppenmuseum
sagen, denn ich bin mit seinem Leiter Thomas Reinecke leicht befreundet.
Es wurde über der Stadt sehr hübsch im Schloß untergebracht.
Dort können wir den Augeneinsetzern, der weltberühmten
„biggi“-Puppe sowie Frau Käthe Kruse begegnen.
Den Knüller jedoch hat Reinecke in eine Vitrine unweit des
Empfangstresens im Vorraum verbannt, wo man eher belegte Brötchen
erwarten würde: Kellners Steckfiguren.
Kürzlich platzte ich in einen Ausflug, der Schützlinge
des Kindergartens Schönrasen ins Schloß geführt
hatte. Kaum hatte ich sie auf die Steckfiguren aufmerksam gemacht,
ließen sämtliche Puppen sie kalt. Reinecke stellte uns
eine Schachtel mit den beiden lustigen Gesellen „ruck &
zuck“ zur Verfügung. Ausgekippt, kullern allerlei buntlackierte
Klötzchen, Stäbe, Kugeln und Kegel über das erlauchte
Schloßparkett. Durch ausgefräste kreisrunde Fugen und
passende hülsenförmige blaue Gummimuffen lassen sich die
aus Buchenholz gefertigten Teile nahezu beliebig kombinieren. Zwar
sind ruck & zuck im Beiheft einmal als sitzendes Paar mit einer
Art Papageienstange zwischen sich und einmal übereinander als
Akrobaten abgebildet, doch Gesine, Johanna und Louis, sämtlich
um 5, wissen intuitiv, daß Köpfe nicht unbedingt oben
und Füße nicht unbedingt unten sitzen müssen. Kaum
haben sie die Stecktechnik heraus, kommt der Einfallsreichtum der
Kinder ins Rollen. Während Gesine lauter Brücken baut
(Ehescheidungstrauma?), stattet Louis einen hochkant genommenen
Klotz mit einem bald bleistiftlangen Bauchnabel aus, den er hinterlistig
Staubsauger nennt. Auf die Spitze steckte er eine zweite blaue Gummimuffe.
Johanna setzt zwei buntkarierte Pappscheiben ein, die auf der Abbildung
als Sonnen- oder Regenschirm fungieren. Sie nimmt sie als Becken,
indem sie mit einem überzähligen Stäbchen auf die
aufgepflockte Scheibe einschlägt. Prompt versieht Louis einen
flachen orangefarbenen Klotz mit einer Art Linse nach vorn, um die
begabte Schlagzeugerin zu fotografieren. Gefragt, ob er Agfa oder
Orwo eingelegt habe, belehrt er mich altklug, es sei doch digital.
Diese angedeuteten Steckbausätze - derzeit rund
30 von verschiedenem Umfang, die selbstverständlich auch untereinander
wieder kombiniert werden können - stellt der gelernte Werkzeugmacher
und studierte Holzgestalter Hans-Georg Kellner mit Hilfe weniger
MitarbeiterInnen im nahen Kurort Tabarz seit knapp 10 Jahren her.
Allerdings griff er damit auf eine bewährte Familientradition
zurück, die um 1930 mit Patenten seines in Leipzig produzierenden
Großvaters Georg begann. Nach dem 2.Weltkrieg waren die Kellner-Steckfiguren
im ganzen „Ostblock“ beliebt. Unter dem Dach des „biggi“-Kombinats
wurden sie zuletzt überwiegend aus Kunststoff hergestellt.
Heute verkauft Holzliebhaber Kellner, der auch im Freien gelegene
Spielplätze entwirft und errichtet, schon nach Frankreich und
Japan. Verständlicherweise sind seine zuweilen umwerfend komischen,
mit viel Handarbeit gefertigten Figuren vergleichsweise teuer. Sie
wurden inzwischen mit etlichen Qualitätssiegeln und Designpreisen
ausgezeichnet. In oberhalb von Hartz IV angesiedelten Kreisen sollen
sie sich bereits zu Kultfiguren mausern.
Welche Schönheit hat doch diese Szene! Das hohe
eicherne Bett der jungen Frau und die Kleider der um sie gruppierten
fünf Personen sind in eine milde Düsternis getaucht, die
feinste Abstufungen zuläßt. Auch die spannungsreiche
Ausgewogenheit besticht. So korrespondiert der vom Bett abgewandte
Mann im linken Vordergrund, der seine Hand vors Gesicht geschlagen
hat, mit dem Kruzifix, das über dem Kopfteil des Bettes an
der Wand hängt. Die junge Frau lächelt leise, obwohl sie
sehr erschöpft wirkt. Sie liegt im Sterben.
Das eindringliche Ölgemälde, 1928 von Jules
Alfred Giess geschaffen, ist in Deutschlands einzigem Museum für
Sepulkralkultur zu sehen, das geografisch - und eigentlich auch
historisch angemessen in Kassel steht. Da es sich ausschließlich
den Themen Tod und Gedenken widmet, zeigt es verständlicherweise
eine Menge von Grabmalen und Andenken aller Art. Hölzerne Leichenwagen
und Bestattungslimousinen, Fotos aus Krematorien, Werkzeuge zum
Einbalsamieren kommen hinzu. Bücher und Kunstwerke, die sich
mit den „letzten Dingen“ befassen, bezeugen nebenbei,
wie der Mensch zu anderen Zeiten mit dem Tod umgegangen ist; desgleichen
Totenhemden, Todesanzeigen, Partituren von Totenmessen. Beethoven
wurde allein dreimal bestattet, doch berücksichtigt das Museum
auch weniger berühmte Leichen. Überragend Georg Pöhleins
Fotoserie von 1980/81, die „Bilder aus dem Leben meines Großvaters“
zeigt - was heißen will, vor allem aus dessen letzten Tagen,
bis der Großvater auf der Totenbahre liegt. Er könnte
Melker oder Schuster gewesen sein. Diese Schwarzweißfotos
haben nichts Obszönes. Unkommentiert, ergreifen sie durch ihre
Nüchternheit. Der Großvater, wie er sich da in sein ärmliches
Schicksal fügt, spricht selber.
Auf einer hübsch bemalten Schnupftabaksdose (um
1820/ 50) sitzen sich der Tod und Napoleon gegenüber. Dieses
Ausstellungsstück verweist ungewollt auf einen Mangel des Museums.
Die Verantwortlichen wirken an der Verbreitung der Legende mit,
beim Sterben handle es sich stets um eine persönliche und dazu
noch natürliche Angelegenheit. In Wahrheit kommen unzählige
Menschen durch Gewaltverbrechen, Rassismus, Imperialismus, Hunger
- kurz durch kriminelle gesellschaftliche Verhältnisse um.
Man könnte hier bei der Firma Gebrüder Kain & Abel
anfangen, um vermittels der Feldzüge Napoleons und der US-britischen
Ölscheichs beim rotgrünen Duo Scharping/Fischer zu landen,
das „Vernichtungslager“ zu verhindern trachtete, indem
es ganze Staaten beseitigte. Diesen Bogen schlägt das Museum
mit seinen vielen Toren oder Portalen so gut wie nicht.
Es könnte natürlich einwenden, irgendwo
müsse man Grenzen ziehen, sonst spräche man nicht mehr
über die letzten, sondern über alle Dinge. Dem jedoch
halte ich den Sitz des Museums entgegen. Der Weinberg, der sich
unweit des Rathauses über der Karlsaue erhebt, ist beste Kasseler
Wohnlage. Umgeben von einem hübschen Park, stand hier bis 1932
die Villa Henschel. Die Henschels ließen sie abreißen,
weil ihnen die Besteuerung zu hoch war. Für die Remise galt
dies offenbar nicht. Eigentlich nur Kutschenhaus, ähnelt diese
Remise selber einer Villa aus der Gründerzeit. Gekonnt um einen
Neubau erweitert, ließ sich hier das Museum für Sepulkralkultur
nieder.
Wie durch ein Wunder, war die Remise der Villa Henschel
am 22.Oktober 1943 verschont geblieben. Damals flogen britische
Jäger einen massiven Angriff, der Kassel zu fast 80 Prozent
in Schutt und Asche legte. 418.000 Bomben gingen auf die Stadt nieder.
Wie Zeitzeuge Willi Belz in seinen Erinnerungen erwähnt, stand
selbst der Asfalt der Straßen in Flammen, was etliche Schutzsuchende
in Fackeln verwandelte. Im Ergebnis waren knapp 10.000 EinwohnerInnen
tot, gut 10.000 verwundet, rund 150.000 (von 230.000) obdachlos.
Die Stadt glich einer Steinwüste. Auf einem Foto unternimmt
ein offener PKW eine Besichtigungsfahrt durch die Ruinen. Neben
dem Höheren SS- und Polizeiführer Josias Erbprinz zu Waldeck
und Pyrmont, der im nahen Barockstädtchen Arolsen noch heute
ein hohes Ansehen genießt, ist Herr Dr. Joseph Goebbels, Reichsminister
für „Volksaufklärung“, zu sehen. Doch aufgeklärt
hatten eher die Briten. Seit Monaten war durch Noten an die Hitlerregierung
und durch abgeworfene Flugblätter bekannt gewesen, welche Städte
von den Briten als zum Kampfgebiet gehörig betrachtet wurden.
Wenn Kassel Haß und Bomber auf sich zog, war
die Familie Henschel nicht gerade unbeteiligt daran. Neben einem
Militärflugplatz in Rothwesten und den Waldauer Fieseler-Werken,
die mit über 5.000 Beschäftigten Flugzeuge bauten, barg
Kassel das traditionsreiche Unternehmen Henschel & Sohn. 1777
als Geschütz- und Glockengießerei gegründet, mauserte
sich das Unternehmen bis zum Oktober 1943 zu einer großangelegten
Panzerschmiede mit rund 3.000 Beschäftigten. 1976 war es noch
wertvoll genug, um vom Thyssen-Konzern geschluckt zu werden, der
sich ja ebenfalls traditionell der Förderung der Sepulkralkultur
verpflichtet fühlt. Doch im Museum von Henschel und der Bombennacht
keine Spur. Der Lyriker Paul Celan erlaubte sich wegen der Krupps,
Henschels, Thyssens die Idee, den Tod einen Meister aus Deutschland
zu nennen. Das öffentlich subventionierte Museum tut das lieber
nicht.
Angeblich flossen die Reden und Gesänge des Pfälzers
Ambrosius wie Honig aus seinem Mund. Er hatte es 374 zum Bischof
von Mailand gebracht. Doch weder unsere ÜberredungskünstlerInnen
im Reichstag noch die ZugansagerInnen des neuen Erfurter Hauptbahnhofs
erkoren ihn zu ihrem Schutzheiligen; es waren die deutschen ImkerInnen.
Von denen gibt es rund 100.000, davon nur fünf Prozent hauptberufliche.
Mit ihren zahlreichen Völkern (1 Million) erbringen sie einen
Jahresertrag von 1,4 kg Honig pro Kopf. Damit kann sich Deutschland
- nach der Erstürmung des globalen Exportmarktes, des Vatikans
sowie zum dritten Mal in nur 60 Jahren auch Serbiens - eines weiteren
Weltmeistertitels rühmen.
Deutschland hat außerdem mehrere Bienenmuseen
zu bieten. Das älteste, 1907 von Pfarrer Ferdinand Gerstung
gegründet, liegt in Weimar nur einen Steinwurf von Goethes
Gartenhaus entfernt am Ufer der Ilm. Von Kräuterbeeten, Bienenständen,
einem wuchtigen eichernen Wachshammer von ca. 1637 und leider auch
der aufblühenden Weimarer Waldorfschule umgeben, kann die Ausstellung
im ehemaligen Landgasthof „Goldener Schwan“ vor allem
mit oft mannshohen sogenannten Figurenbeuten glänzen. Diese
ungewöhnlichen Bienenwohnungen sind für Europa seit dem
16. Jahrhundert nachweisbar. In der Regel aus ausgehöhlten
Baumstammhälften geschnitzt und bunt bemalt, dienten sie wohl
mehr dem Ausdruckswillen ihrer SchöpferInnen als dem Abwehrzauber
gegen allerlei Bienenfeinde und Honigdiebe. Neben Vögeln und
Bären ist hier an eine Kröte zu denken, die in D.H. Lawrences
funkelnder Erzählung „Die Jungfrau und der Zigeuner“
vorm Strohkorb hockt, um die ausfliegenden Bienen wie von der Wäscheleine
zu pflücken. Wilhelm Buschs Knabe Eugen mit dem gestohlenen
Honigtopf hätte sich mühelos in einer Figurenbeute versteckt.
Das Flugloch befindet sich oft an Stelle des Nabels. Einen jüngsten
Goethe von 1999 gibt es auch. Wer sich die rund 50.000 Bienen eines
Volkes in Goethes Bauch denkt, wird gut nachvollziehen können,
warum er Bettina von Arnim eines Tages wutschnaubend Hausverbot
erteilte. Sie hatte seine blutjunge geliebte Christiane als „tollgewordene
Blutwurst“ beschimpft.
Mag es im Herzogtum unseres Geheimrats schon prima
gewesen sein - für Aristoteles hatten die Bienen den vorbildlichsten
Staat. 99,9 Prozent der erwähnten 50.000 dürfen sechs
Sommerwochen lang schuften, bevor sie Ambrosius ins Reich der Unsterblichkeit
holt. Die einzig eierlegende Weichsel oder Königin bringt es
bis zu fünf Jahren, hat aber mitunter erbitterte und tödliche
Kämpfe mit Konkurrentinnen auszutragen. Der im Museum noch
unbekannte Georg Rendl verherrlicht und verniedlicht dieses Geschehen
in seinem BIENENROMAN, wo uns auf 200 Druckseiten weder ein Imker
noch sonst ein Mensch begegnet. Verfolgt man jedoch, wie Rendl jede
einzelne Biene im Volksganzen auf- und untergehen läßt,
weiß man, woher um 1930 in Salzburg der Wind wehte. Zur Vorwarnung
habe ich mein antiquarisches Exemplar nach Weimar verschenkt.
***
Triebe und Ansprüche
Von Kurt May
Der Bundesbürger, also ein Mensch, hat Triebe,
große und kleine, Nahrungstriebe, Besitztriebe, Fortpflanzungstriebe,
heute Sexualtriebe genannt. Aber wer pflanzt sich schon ohne Geld
und Arbeit fort? Und so sagen manche Affenmenschenforscher, der
Mensch hat auch einen Aggressionstrieb. Dieses sei ein Trieb wie
jeder andere, ergo haben wir Kriege oder Haustürgeschäftemacher,
sich angeifernde Politiker und Ausländerunfreundlichkeit. Allein,
wo steckt dieses Biest, dieser Aggressionstrieb? Der Nahrungstrieb
oder der Sexualtrieb haust…Denkste! Das Kerlchen steckt ganz
woanders. Denn sie wissen, was sie tun. Wer? Die Bundesdeutschen?
Nein, die Tiere. Hauen sich die Geweihe und Rüssel und Hauer
um die blöden Schädel und, das ist erstaunlich, am Ende
leben die Rabauken noch. Da sind wir Menschen höchst anders.
Da lebt am Ende niemand mehr. Wer weiß überhaupt noch,
was er will und verrichtet? Es ist alles Instinkt. Das aggressive
Verhalten ist bei uns Menschen, folglich dem Bundesbürger,
nein, bei den Tieren niemals Selbstzweck, sondern nur ein Mittel,
um die zwischentierischen, ich meine menschlichen Beziehungen zwischen
Bundesbürgern, verdammt, mich lenkt immerzu etwas ab, sagen
wir zwischen Artgenossen zu regeln. Also der Mensch… Halt,
ich bleibe vorerst bei Verhaltensmechanismen der Tiere. Wir stellen
doch alle unsere Europaansprüche, zum Beispiel den Anspruch
auf Raum, kurz Raumtriebe genannt. Wir brauchen halt ein Plätzchen,
wo man lebt und lacht und liebt und dem fiesen Nachbarn gelegentlich
eins auf das Maul schlagen kann. Denn wo ich bin, kann kein anderer
Bundesbürger, kein Ausländer sein. Bitte jetzt nicht an
Betten denken. Ich stehe hier erst an der Gartentür der Psychologie.
Ich Dussel, was will ich hier? Hier ist mein Raum, hier spule ich
meine bundesdeutschen Lebensvorgänge ab. Hm, was gibt es da
zu spulen, zu spülen? Also bei Toilette und Bett da mag ich
keinen Vertreter, keinen Bundesnachrichtendienst. Jetzt kommen wir
zu den Zeitansprüchen, Zeit für Stoffwechsel, Zeit für
Behörden, Zeit für Formulare und Zeit für Wahlen.
Für irgendwas braucht man doch auch noch Zeit? Ach ja, Zeit
um sich diesen wissenschaftlichen Vortrag anzuhören. Aber nicht
allein Radaubrüder und Fußballspieler sind Zeitgenossen,
Artgenossen, Raumgenossen. Zum Kuckuck, wo kommen die vielen Genossen
her? Ja, auch das Kind ist Genosse, Zeitgenosse, Sexualgenosse.
Nicht? Dann lesen Sie mal gründlich die Zeitung. Ja, die Zeitung,
um sich zu informieren. Informationsansprüche. Und woher haben
Sie diese Sucht nach Informationen? Aus dem Reklamefernsehen, dem
Toilettenfernsehen. Was das ist? Da kommt in jedem dritten Satz
das Wort Schei… Schein mag der Bundesbürger sehr, vor.
Ja, sich satt fernsehen ist die Voraussetzung für einen Informationsanspruch,
für Körperbeherrschung, für das Orientieren in Raum
und Zeit, für Danksagungen bei Fußtritten einer Behörde.
Denn wenn Sie nicht informiert sind, wie wollen Sie richtig wählen
oder ohne Aids davon kommen? Also, die Biokommunikation ist…
Nämlich, wenn ich Sie jetzt küsse oder in den Hintern
trete oder Sie nach dem Gehalt eines Ministers frage, treiben wir
beide Biokommunikation. Da gibt es zum Beispiel noch die Stoffwechselansprüche.
Ich habe zurzeit eine böse Mangelkrankheit, das Vieh heißt
Arbeitslosigkeit, auch Kontoleere genannt. Gut, das fördert
die kollektive Leistung in einer biosozialen Gruppe. Was biosozial
ist? Sind sie etwa politisch geschädigt? Mein Frau und ich
sind die kleinste biosoziale Gruppe im Staat. Moment, ein Besoffener,
ein nicht verwendbarer Bundesbürger ist eigentlich auch nicht
ganz allein. Ja, das sind Ansprüche, oder was? Jetzt kommen
wir zum Schutzanspruch, fast ein Umweltanspruch. Mein Leib, mein
Auto, meine digitale Meinung müssen geschützt werden.
Was digitale Meinung ist? Ich weiß es nicht. Man kann nicht
alles wissen Oder wissen Sie, was so ein Manager in seine eigene
Tasche fließen lässt? Na bitte! Tiere zum Beispiel haben
es im Allgemeinen leichter. Die haben Posten, Schimpfwörter,
Titel, Scheckkarten… Rechtsanspruch… Aber doch nicht
die Tiere. Sie haben Krallen, Rüssel, Buckel. Sie spießen,
stechen, hauen in die Pfanne, hintertieren sich eben. Ich handle
nur menschlich. Dem blöden Meyer von nebenan knalle ich ein
Ding an die Kacheln, dass er bei Nebel die Alpen sieht. Und das
erhöht nicht einmal den Spiegel meiner Sexualhormone. Ich bin
kein brünftiger Hirsch. Ich habe doch die Bundeswehr und unsere
bundesdeutschen Hirsche, die Platzhirsche. Sie kennen keine Platzhirsche?
Gehen Sie mal ins Parlament. Ja, die Genannten halten den gesamten
Verhaltensvollzug in unserem Ökosystem störfrei und schützen
meine Biosozialeinheit als Ganzes. Ich bin halt nur Mensch, ich
habe gar keinen Aggressionstrieb, finde ihn nicht. Meine Frau auch
nicht. Und wo die schon überall suchte. Jetzt kommen wir zum
schönsten aller Triebe, zum Partneranspruch. Das ist so bei
den Tieren, oder waren wir soeben bei den Menschen, den Bundesbürgern?
Ich glaube, in diesem Land hier weiß niemand, welcher Trieb
und Anspruch zuerst kommt, der Lohnanspruch, der Arbeitsanspruch,
der Parkplatzanspruch, der Subkulturanspruch? Jetzt weiß ich
wieder weiter. Ein Partner ist einer, der anders rum ist als man
selbst. Ja, Arbeitgeber und Arbeitnehmen sind ganz schön anders
rum in Sachen Lohn, Urlaub, Auto. Woran dachten Sie denn? An Arm
und Reich, an Ossi und Wessi? Der Partneranspruch schützt meine
physische Existenz und Rente, oder etwa nicht? Der Keiler verteidigt
die Bache, die Ziege den Bock, der Bock den Gärtner. Ach, die
Rente! Das hat etwas mit Nachkommenschaft zu tun, mit einem zeugungsfreudigen
Partner. Vater oder Mutter Staat. Gut, Ochse mit Kuh geht nicht.
Ich wusste auch einmal, warum es nicht geht. Weiter! Wissen Sie
schon, dass sich Schafe, nehmen wir einfach eine bundesdeutsche
Rasse, allein, also Solo nicht halten lassen? Schafe muss man in
Horden züchten, bundesdeutschen Horden, schlachten muss man
sie allein. Am schnellsten geht es mit einem Formular. Nämlich
Schafe benötigen einen Hammel, einen leitenden. Denn je komplexer
das Staatsverhalten, je größer sind mögliche Störeinwirkungen.
Schafe. Staat. Hammel. Viele Hammel. Blödheit der Schafe. Das
ist politische Logik. Ach so, wir bekämpft man staatliche Störeinwirkungen?
Wer Hauer hat, der haut, wer Hörner hat, muss hörnen,
ist gehörnt. Ich will sagen, Hörner wie Scheckkarten haben
einen gewissen Schauwert, eine Signalfunktion. Achtung, Freundchen,
jetzt komme ich. Schau dir mal meine Raketen an, meine Villen, meine
Radkappen am Auto. Dann fange an zu rechnen. Hast du mehr Wir bleiben
jetzt beim Hirsch. Also, wäre ich ein Dachs, dann setzte ich
meine Duftmarke, meinen Fegebaum… Ja, wohin denn? Auf einen
Bürokratensessel. Bums, mein Territorium wäre dauerhaft
markiert. Warum aber habe ich keinen Aggressionstrieb? Es geht auch
ohne, es geht um nichts als um bundesdeutsches Wohlbefinden in der
Firma, im Bett, auf dem Konto. Dahin laufen die Triebe, dort werden
die Ansprüche erfüllt. Ich brauche gar keinen Aggressionstrieb.
Rechnungen, Haschisch, Aids, Absagen, Kündigungen kriege ich
auch ohne. Wir müssen weiter unten und hinten anfangen. Steinzeit.
Lehmzeit benannt nach diesem Affen Adam. Affenzeit. Einheitszeit.
Wir Menschen haben da zwei Qualitätssprünge hinter uns,
zum dritten Sprung setzen wir im Augenblick an… Wohin? Von
Karl dem Großen zur Globalisierung, das ist doch wohl ein
Riesenhupfer. Und das fast ungedopt. Der erste Sprung war die Arbeit.
So fing es an bei den Affen. Nach der Arbeit das Bewusstsein oder
ein Humpen Bier. Der zweite Sprung waren die gesellschaftlichen
Staatsansprüche. Kurz, wer kämpft warum, gegen wen und
wofür? Und schon sind wir bei Krieg und Frieden. Wer gegen
wen? Da beginnt die Eigenverantwortung. Weiß wider Schwarz?
Alte Bundesländer wider neue? Christ wider Moslem? Ich sagte
Eigenverantwortung und nicht Aggressionswut. Nun hat aber mein Ururururur…
großvater schon gemordet und ohne Aggressionstrieb. Er hatte
nichts als eine Keule und ein zänkisches Weib. Damit haute
er einem Auerochsen oder Säbelzahntiger ein Ding an den Schädel,
dass die Bestien in München die Schiffe im Hamburger Hafen
hören konnten. Wie, die Bayern gab es damals noch gar nicht?
Habe ich das etwa behauptet? Aber traf mein Ur…großvater
einen arteigenen Artgenossen, nicht so einen Fremdsippigen, dann
begrunzten sie sich, bebrunzten sich, teilten Frau und Sparstrumpf.
Der eine fraß rechts vom Wege den Bambus, der andere links
vom Wege seine Bananen. Welch ein Friedbild! Wie heute bei uns im
bundesdeutschen Staat. Und endlich bin ich beim dritten Qualitätssprung.
Der besagt nämlich, wir fangen nicht an. Wir haben eine Verfassung.
Und dort steht nichts über einen Aggressionstrieb, nichts vom
in die Pfanne hauen. Sind wir menschliche Tiere oder tierische Menschen,
oder wie? Schluss! Wo bleibt ihr Beifallstrieb und Beifallsanspruch?
Sie haben doch schon nach ganz anderen Vorträgen geklatscht,
oder was?
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