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Tolle Daten an den Börsen sollen nicht vergessen lassen, was
viel wichtiger ist, auf jeden Fall für jene, die man als Betroffene
dieser liberalisierten Wunderwelt bezeichnen muss. Auf unseren Postämtern
etwa erleben wir nicht nur in der Vorweihnachtszeit folgendes: gestresstes
Personal hinter den Schaltern und unruhige Kundschaft vor den Schaltern.
Kurzum eine Fehlschaltung sondergleichen, zumindest dann, wenn wir
unterstellen wollen, dass die Menschen davor und dahinter als ebensolche
gelten. Oder war das mal und wird nie mehr?
„Bitte warten!“ Wer kennt sie nicht, diese
vertröstenden Worte (nicht nur) aus dem Telefonhörer,
wenn eins wieder einmal in die Warteschleife geraten ist. Das bürgerliche
Subjekt ist darauf dimensioniert, nicht warten zu sollen, aber verurteilt,
warten zu müssen. „Kleinste Wartezeiten machen uns schier
wahnsinnig“, hieß es in der inzwischen eingestellten
yuppigen Youngster-Beilage der Süddeutschen Zeitung mit dem
bezeichnenden Namen „Jetzt!“. Die auf Tempo abgerichteten
Geschöpfe bekommen dann Probleme, sind doch stets Termine vorgegeben
und einzuhalten. Sie werden unruhig und nervös. Das ist kein
persönliches Manko, sondern nur logisch.
Zweifellos, in Zeiten der Gemütlichkeit, als
manche angeblich eine ruhige Kugel geschoben haben, verbrachten
die Leute viel weniger Zeit vor Kassen und Schaltern als heute.
Aber so ist das halt im Kapitalismus: Besorgungen gehen schneller,
aber dauern länger. Von zivilisatorischen Errungenschaften
wie dem Stau und dem Spam sei hier noch gar nicht die Rede. Die
Zeitfresser sind immer und überall, vor allem dort, wo die
Rationalisierung ihre Errungenschaften als Inversion in die Welt
setzt und uns sodann zur Beruhigung ihre Geschäftsdaten präsentiert.
Die einen rechnen sich deppert, die anderen stehen sich deppert.
Dass das vielleicht etwas mit irren Verhältnissen zu tun hat,
will weder den einen noch den anderen kommen. Denn geht’s
der Wirtschaft gut, geht’s den Menschen gut. Ich sag mir das
immer, es hält mich aufrecht. Wo Ökonomie funktioniert,
sind unangenehme Folgen als Disfunktionalität irgendwelcher
Nörgler zu interpretieren. Die Statistiken sprechen doch eine
andere Sprache. Und überhaupt: „Raunz nicht, kauf!“
Weitere Rationalisierungsschübe werden die Zahl
der Wartenden und die Dauer der Wartezeiten noch erhöhen. Immer
mehr Leben wird verwartet. Was heute als Selbstverständlichkeit
erscheint, das begriff man früher primär als Schwäche
der Planwirtschaft. Wie lachte man dazumals über die polnischen
oder russischen Warteschlangen vor den Geschäften. Sowas kann
bei uns doch nie passieren. Denkste! Die kleinen Estragons der Selbstbestimmung
stellen sich an - und warten.
Dieses Warten hat nun nichts von Vorfreude an sich,
es ist eigentlich kein Erwarten, sondern ein Nicht-mehr-warten-Können.
Warten ist eine Form, die nicht sein sollte, aber seriell hergestellt
wird. Verschiedene Zeitschienen setzen einen gehörig zu. Wenn
inneres Tempo und äußere Erscheinung kollidieren, wird
das Warten unerträglich. Was erstrebt wird, wird nicht erfüllt,
zumindest nicht in der Geschwindigkeit, in der es und wir erfüllt
werden soll(en). Man wird auf die lange Folter gespannt. Und diese
Länge wird tatsächlich zur Qual. Wir reagieren psychisch
sowie physisch. „Heute geht aber gar nichts weiter!“;
„Bitte, eine zweite Kassa“, schreien Hilflose Überforderten
zu. Gelegentlich zucken auch welche aus.
Was etwa Bank oder Bahn an Personalkosten ersparen,
das wälzen sie auf die Laufkundschaft über. Die wartet
sich blöd. Immer mehr Dienstleistungen werden negativ vergesellschaftet,
indem die Käufer unbezahlterweise Tätigkeiten übernehmen,
die einst die Verkäufer (oder deren Personal) verrichteten.
Rationalisierung ist beschlagnahmte Zeit. Und niemandem kann man
eine Abrechnung schicken für diese nicht ungeschickte Entwendung.
Das phantastische Outsourcen entpuppt sich, erlaubt man sich die
Perspektive der Betrachtung zu verändern, als ein Anschlag
auf die Ressource Mensch.
Ähnliches gilt übrigens auch für diverser
Geschäfte im Internet. Billigflieger buchen beansprucht 30-40
Minuten, auch um alle zweifellos notwendigen Schranken und Sicherheiten
im Netz zu überwinden. Der banale Anruf bei der Airline dauert
hingegen höchstens 10 Minuten. Dieser ist selbstverständlich
noch immer möglich, kostet aber nunmehr 6 Euro pro Flug, also
24 für 2 Personen hin- und retour. Und noch ein Beispiel: Gibt
es auf einem Bahnhof fünf offene Schalter für zehn Kunden,
dann ist deren Wartezeit um vieles geringer, als wenn für die
gleiche Anzahl zwei Schalter zugängig sind oder gar nur einer.
Einerseits werden Verwaltungskosten in den Unternehmen abgeschafft,
andererseits werden Konsumenten dazu angehalten, fortan kostenlos
Zeiten und Räume, Geschicke und Tätigkeiten zur Verfügung
zu stellen, die sie früher nicht aufzuwenden hatten. Die Bedienten
dienen. Die Benutzer werden benutzt. Derlei schlägt sich in
keiner betriebswirtschaftlichen Rechnung nieder. Die ausgelagerte
Wartezeit ist als Kostenfaktor irrelevant.
Nun sind wir tatsächlich im ökonomischen
Niemandsland gelandet. Eine Ökonomie des Wartens wäre
freilich jenseits der betriebswirtschaftlichen Disziplin angesiedelt.
Das würde ihre hermetische Metaphysik sprengen. Was monetär
nicht ist, weil es in keiner Rechnung mehr aufscheint, ist aber
in der Wirklichkeit trotzdem da. Es realisiert sich in der beschnittenen
Lebenszeit der Kunden, deren Disponibilität sukzessive Einschränkungen
erfährt. Indes dürfen es die Anbieter nicht zu bunt treiben,
da übermäßige Unzufriedenheit Geschäfte platzen
lässt. Doch gemeinhin stehen die Konsumenten unter dem Diktat
der Angebote. Was gestern unvorstellbar gewesen ist, ist morgen
schon Konvention. Über Staunen, Wundern und Ärgern kommt
das Unbehagen der Betroffenen kaum hinaus. So haben wir eigentlich
keine Begriffe für das, was da abgeht - für die Zeit,
die der Markt uns wegfrisst. Denn der Markt befreit vor allem auch
eins: die Menschen von der Verfügbarkeit über ihr Leben.
Franz Schandl
***
Wildblumen und Gartenpracht
Über das Verschwinden kleiner literarischer
Zeitschriften
In dieser Zeit gab es Mut. Es gab Schönheit.
Es bohrte eine Sehnsucht. Es wucherte Ahnung von einem anderen Dasein
als dem, was hinlänglich bekannt war. All dies beflügelte.
Und fand Ausdruck in kleinen, literarischen oder politisch oder
spirituell ausgerichteten Gazetten. Nach amerikanischem Vorbild,
wo es derlei schon geraume Zeit gab, wurden sie auch „Little
Mags“ genannt. Erzeugnisse der Gegenkultur, des Unbehagens
daran, dass die Produktionsmittel unseren mentalen Haushalt bestimmen
sollte, die jedenfalls, die in Händen der Mächtigen, Reichen,
Besitzenden waren.
Als begannen, nach und nach, auf der Kulturwiese,
frei nach Mao, tausend Blumen zu blühen. Sie verbreiteten ungeliebte
Nachrichten, unliebsame Literatur, unwillkommene Ästhetik.
Nicht, dass sie allesamt alles Bestehende in den Orkus schmeißen
wollten. Warum nicht auf dem aufbauen, was als gut, ja, befreiend
bekannt? Aber ihnen allen war gemein, dass sie sich bemühten,
Lügen, vor allem aber: Heuchelei zu meiden; und das an der
Erde haftende, das Alltägliche, in den fadenscheinigen Himmel
der gemeinhin akzeptierten Formen und Inhalte von Literatur und
Grafik einzubringen, ja, ihnen den Vorrang zu geben.
Nenne man es radikale Subjektivität, nenne man
es Besinnung auf den unbehausten Teil unseres Bewußtseins,
nenne man es Befreiung zu einer Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit,
die vom einzelnen ausgeht, von individuellen Bedürfnissen und
Wahrnehmungen, von der singulären, intimen Sichtweise. Von
der harten Realität, den bitteren Früchten, den verdrängten
Wirklichkeiten. Nenne man sie Wucherblumen oder Wildblumen, auf
jeden Fall waren sie, alles in allem, kunterbunt. Nicht nur Bereicherung,
auch Erfüllung von Lebensträumen und Existenzräumen.
Manch einem gaben Sie die Vision, für die sie lebten. Mittel
der Kommunikation, die den überschaubaren Bereich sprengten.
Die offen waren für Neues, ja, das Neue oft genug verzweifelt
suchten. Die radikal waren, nicht nur in ihrer Ablehnung des überkommenen,
der Tradition, sondern auch, zum Leidwesen mancher, der Ausgewogenheit,
der Vernunft. Sie folgten dem Lustprinzip, einem anarchischen Modell
von Tun, das auf Intuition, Inspiration und Ingenuität aufbaute.
Das erfrischte, das war der berühmte Sand im
Getriebe, den Günther Eich für die Nachkriegsgeneration
gefordert hatte, auf dass er alchimistisch umgewandelt würde
in Samen für einen Garten, dessen Ordnungsprinzip die Lust
des Chaotischen nachahmte, ohne ihm zu verfallen. Balanceakt also.
Und Bridge over troubled water: hin zu neuem Ufer, unbekanntem Ufer.
Es war Entdeckungsfreude bis hin zu einem Wagemut,
der zum Scheitern verurteilt war. Es war die Schaffensfreude bis
hin zum Gespiele, das in Redundanz münden mußte. Es war
die Wahrnehmungsfreude bis hin zu einem Spiegelbild, in dem wir
erschrecken mußten. Aber es war Aufbruch und nicht nur Geschrei:
Nieder mit der Konvention. Und es war Idealismus, oft ein Idealismus,
der zur Selbstausbeutung verzerrt wurde. Eine Leugnung der Sachzwänge,
Verachtung der Marktlage. Gedruckt wurde, was gefiel. Punkt. Gedruckt
wurde, was Meinung werden sollte, auch wenn die geballte Kapitalkraft
der Konzerne, die Konsumentenkraft der Trägheiten dagegensprach.
Und so scheiterte denn manch ein Projekt, wie voraussehbar. Glück
läßt sich nicht erzwingen. Zumal nicht das Glück,
zu dem man andere bekehren möchte. Das erschütterte, nolens
volens, das eigene Weltbild. Das ging nicht in den Kopf.
Also wurden die Flausen verjagt. Also zogen wieder
die Läuse ein. Dieses Geschaffe, nächtelang, bis zum körperlichen
Zusammenbruch, zur psychischen überbelastung. Für wen?
Letztlich war es doch auch ein Wille zur Macht, der diese wagehalsigen
Unternehmungen beeinflußt hatte. Die Macht zu sagen: ich bin
schön, seht her. In aller Unschuld sagte manch einer das, gewiß.
Aber Unschuld schützt vor Finanznot nicht. In wer will in solch
einer Unschuld, Naivität, hervorgebrachten Kunstgebilde kaufen,
wenn er selbst Gefallen findet an dem Fast Food, mit den die Gesellschafter
des auf primitive Reize Setzenden ihren Einfluß, ihre Macht,
ihr Kapital beständig zu vergrößern mochten?
Waren die, die diese aberhunderte von Preziosen, ob
in schlichtem, rauhen Gewand Schlendernden, oder gesetzt in der
Manier des Beeindruckenden Wandelnden, also zum Scheitern verurteilt?
Waren sie Zeugnisse eines Aufbegehrens, das der Gewalt des Vorherrschenden
niemals Stand halten konnte? Ein letztes Resümee kann, darf
noch nicht gezogen werden. Zumindest haben diese ‘Blätter
den Machern, trotzalledem, Spaß gemacht. Und die Welt ein
bißchen schöner gemacht. Und vielleicht waren sie Pioniere,
an die man sich erinnern wird, wenn die Eintönigheit der Hochglanzzeitschriften
im Überdruß zum Overkill taumelt. Mögen sie manch
einem Literaten nur Spielweise gewesen sein, oder Sprungbrett hin
zur Ablagerung in den Etagen des Mainstreams. Was bleibt, ist die
Kreativität des Ungestüms, die Ahnung, was möglich
sein kann, wenn man neu werden möchte. Also bleiben sie im
Gedächtnis. Und nicht nur in den Archiven.
Hadayatullah Hübsch
***
Das Kosovo –
Vom gesamtjugoslawischen Armenhaus zur
Hochburg der Mafia
Der UN-Sicherheitsrat müsse zügig eine Entscheidung
über die Unabhängigkeit des Kosovo treffen. Das forderte
der US-Präsident George W. Bush bei seinem kürzlich erfolgten
Besuch in der albanischen Hauptstadt Tirana: „Unabhängigkeit
ist das Ergebnis. (...) Wenn offensichtlich ist, daß eine
Vereinbarung nicht relativ zügig zustande kommt, dann müssen
wir nach meiner Einschätzung die Resolution vorantreiben. Das
heißt: eine Frist setzen.“ Mit diesem Affront gegen
Serbien und Rußland legte Bush die Zündschnur an einen
erneuten militärischen Konflikt auf dem Balkan.
Albanien ist das einzige europäische Land, in
dem der US-Präsident nicht mit Protestdemonstrationen, sondern
mit Salutschüssen und frenetischem Beifall empfangen wurde.
Großalbanische Nationalisten streben eine Vereinigung mit
der seit dem Krieg von 1999 faktisch unter NATO-Protektorat stehenden
ex-jugoslawischen Provinz Kosovo an und betrachten deren Unabhängigkeit
als ersten Schritt hin zu diesem Ziel. Mit Rückendeckung Rußlands
beharrt dagegen die serbische Regierung auf dem Verbleib des „autonomen“
Kosovo im serbischen Staatsverband. Beide Seiten berufen sich auf
die Historie.
Für Serbien gilt das Kosovo (zu deutsch: Amselfeld)
nicht zu Unrecht als Kerngebiet des mittelalterlichen Feudalstaates,
den sich im 14. Jahrhundert das Osmanische Reich einverleibte. Allerdings
war das Kosovo schon damals multiethnisch - wie der gesamte Balkan.
An der Seite des serbischen Ritterheeres kämpften in der Entscheidungschlacht
des Jahres 1389 auch Kontingente anderer Völkerschaften.
Die Albaner betrachten sich als ethnische Nachkommen
der Illyrer, die in der Antike einen Großteil des Balkan besiedelten,
bezeichnen die Einverleibung des Kosovo in das Königreich Serbien
als Folge des 1. und 2. Balkankrieges im Jahre 1911 als Eroberung.
Die albanische Bevölkerung des Kosovo spielte
im serbischen (ab 1929 jugoslawischen) Königreich tatsächlich
eine untergeordnete Rolle; es gab Unterdrückungsmaßnahmen
und Vertreibungen. 1941 fiel dieses Königreich allerdings den
angreifenden deutschen und italienischen Truppen zum Opfer.
Im Krieg und Bürgerkrieg siegte die kommunistisch
geführte Partisanenarmee; das Kosovo wurde autonomes Gebiet
der Republik Serbien im Rahmen der neu konstituierten Föderativen
Sozialistischen Republik Jugoslawien. Auf Seiten der faschistischen
Besatzer hatte eine SS-Division „Skanderbeg“ gekämpft,
die sich ausschließlich aus Albanern rekrutierte und schon
damals eine brutale ethnische Säuberung des Kosovo betrieb.
Andere Kosovo-Albaner hatten dagegen in den Reihen der multiethnischen
Partisanenarmee des kroatischen Kommunisten Tito gestanden.
Im Zuge einer gesamtjugoslawischen Aussöhnungspolitik
verzichteten Titos Partisanen nach dem Krieg weitgehend auf Racheakte,
akzeptierten die albanischsprachige Bevölkerungsmehrheit des
Kosovo. Während der Zeit des dann folgenden sozialistischen
Modernisierungsversuches war das Kosovo zusammen mit Bosnien und
Mazedonien allerdings das „Armenhaus Jugoslawiens“.
Obwohl jährlich Milliardensummen aus dem Haushalt der reicheren
Teilrepubliken abgezweigt und in einen Fond zur Förderung der
unterentwickelten Regionen eingezahlt wurden, gelang es nicht, das
Wirtschaftsgefälle zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken
nachhaltig auszugleichen. Das Kosovo blieb eine Armutsregion am
finanziellen Tropf der Belgrader Zentrale.
Nachdem sich Ende der achtziger Jahre herauskristallisierte,
daß die Modernisierung unter sozialistischem Vorzeichen gescheitert
war, leitete die Sezession der reichen Teilrepubliken Slowenien
und Kroatien den blutigen Zerfall des jugoslawischen Staates ein.
Das Ausbleiben der Zahlungen aus den abgespaltenen Republiken führte
zur weiteren Verarmung der schon vorher unterentwickelten Regionen.
Massenhafte Arbeitslosigkeit beförderte u.a. im Kosovo die
Entstehung einer kriminellen Schattenwirtschaft, die sich mit der
großalbanisch-nationalistischen „Kosovo-Befreiungsarmee“
UCK schließlich einen militärischen Arm schuf.
Der Bürgerkrieg der UCK-Freischärler gegen
die jugoslawische Polizei und Armee lieferte 1999 den Anlaß
für das militärische Eingreifen der NATO. Nach einem barbarischen
Bombenkrieg gegen Städte und Dörfer zog sich die jugoslawische
Armee schließlich aus dem Kosovo zurück. Die daraufhin
eskalierenden nationalistischen Exzesse führten zu einer fast
vollständigen Vertreibung der nicht-albanischen Bevölkerungsgruppen.
Lediglich in einigen von den Besatzern abgeschirmten Enklaven wurde
der ethnischen Säuberung Einhalt geboten. Diese „serbischen“
Siedlungen (in denen übrigens auch viele Albanern leben) sind
seitdem die einzigen Territorien des Kosovo, in denen ein Zusammenleben
verschiedener Bevölkerungsgruppen weiter möglich ist.
Die faktische Sezession aus dem rest-jugoslawischen
Staatsverband erwies sich für die kosovo-albanischen Nationalisten
als wirtschaftliches Desaster. Die bereits stark angeschlagene Industrie
brach fast völlig zusammen, da infolge der politischen Trennung
die vorher noch funktionierenden Vertriebs- und Absatznetze zerrissen.
Andererseits war eine angestrebte Zusammenarbeit mit dem benachbarten
albanischen Staat kaum praktizierbar, da dessen Wirtschaft schon
in den neunziger Jahre weitgehend zusammengebrochen, die Reste von
mafiösen Clans übernommen waren. Tausende Einwohner des
albanischen „Mutterlandes“ siedelten in das Kosovo über,
eigneten sich dort zumeist Ländereien vertriebener nicht-albanischer
Dorfbewohner an. Der seitdem schwelende Dauerkonflikt mit den Einwohnern
serbischer Enklaven hat keinen politischen Hintergrund, sondern
ist letztlich eine Folge nackter Raubsucht.
In Gestalt gewesener UCK-Kämpfer hat die organisierte
Kriminalität seit 1999 im Kosovo die politische Macht inne
- das Territorium entwickelte sich seitdem zu einem Eldorado für
Kriminelle aller Schattierungen. Die UCK und ihre Nachfolgestrukturen
finanzieren sich im wesentlichen durch Schutzgelderpressung, Rauschgift-
und Frauenhandel. Kundschaft dieser kriminellen Unternehmen sind
dabei nicht zuletzt die Soldaten der Besatzungstruppen, deren Aufgabe
eigentlich darin bestünde, in diesem Zusammenbruchsterritorium
die Funktion einer Ordnungsmacht wahrzunehmen.
Einen weitere trübe Finanzquelle der derzeitigen
Machthaber ist die Religion. In der Tito-Ära war das Kosovo
weitgehend laizistisch - wie damals ganz Jugoslawien. Seit 1999
strömen - überwiegend aus Malaysia - Missionsgelder ins
Land. In den meisten Dörfern wurden mittlerweile Moscheen errichtet
- jahrhundertealte Bauwerke der serbisch-orthodoxen Kirche hingegen
erbarmungslos geschleift.
Bei den derzeitigen kriminellen Zuständen im
Kosovo handelt es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen,
sondern um das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Zerfallsprozesses,
der noch keineswegs abgeschlossen ist. Wenn es keine Möglichkeit
des regulären Broterwerbes gibt, bleibt als Alternative eben
nur die Teilnahme an der Schattenwirtschaft - also der Mafia. Oder
aber die Ausplünderung anderer Bevölkerungsgruppen, die
von nationalistischen und religiösen Scharfmachern als „feindlich“
und daher als außerhalb der Gesetze und der moralischen Normen
stehend erklärt worden sind.
Die Rede des US-Präsidenten in Tirana ist kein
Ausrutscher, sondern Symptom der kriminellen Verwilderung des Systems
westlicher Moderne, reiht sich nahtlos ein in eine Politik, blutige
Warlords und Banden marodierender Krimineller als bezahlte Handlanger
zu vernutzen.
Gerd Bedszent
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