XXVI. Jahrgang, Heft 145
Jul - Aug - Sep 2007/3

 
  Inhalt  
  Editorial  
  Meinungen - Karawanserei  
  In den Kulissen der Teutozentrale  
  Kosmopolitane
Menschenwelten
 
  Kultur-Atelier  
  Die Brücke an der Spree  
  Medien-Kultur-Schau  
  Lyrik  
     
  Wir über uns  
  Der Verein  
  Archiv  
  Impressum  
     
 

Letzte Änderung:
18.07.2007

 
 

 

 
 

 

 

Meinungen–Karawanserei

Bitte warten!
Zur ökonomischen Beschlagnahme menschlicher Lebenszeit

   
 
 


Tolle Daten an den Börsen sollen nicht vergessen lassen, was viel wichtiger ist, auf jeden Fall für jene, die man als Betroffene dieser liberalisierten Wunderwelt bezeichnen muss. Auf unseren Postämtern etwa erleben wir nicht nur in der Vorweihnachtszeit folgendes: gestresstes Personal hinter den Schaltern und unruhige Kundschaft vor den Schaltern. Kurzum eine Fehlschaltung sondergleichen, zumindest dann, wenn wir unterstellen wollen, dass die Menschen davor und dahinter als ebensolche gelten. Oder war das mal und wird nie mehr?

„Bitte warten!“ Wer kennt sie nicht, diese vertröstenden Worte (nicht nur) aus dem Telefonhörer, wenn eins wieder einmal in die Warteschleife geraten ist. Das bürgerliche Subjekt ist darauf dimensioniert, nicht warten zu sollen, aber verurteilt, warten zu müssen. „Kleinste Wartezeiten machen uns schier wahnsinnig“, hieß es in der inzwischen eingestellten yuppigen Youngster-Beilage der Süddeutschen Zeitung mit dem bezeichnenden Namen „Jetzt!“. Die auf Tempo abgerichteten Geschöpfe bekommen dann Probleme, sind doch stets Termine vorgegeben und einzuhalten. Sie werden unruhig und nervös. Das ist kein persönliches Manko, sondern nur logisch.

Zweifellos, in Zeiten der Gemütlichkeit, als manche angeblich eine ruhige Kugel geschoben haben, verbrachten die Leute viel weniger Zeit vor Kassen und Schaltern als heute. Aber so ist das halt im Kapitalismus: Besorgungen gehen schneller, aber dauern länger. Von zivilisatorischen Errungenschaften wie dem Stau und dem Spam sei hier noch gar nicht die Rede. Die Zeitfresser sind immer und überall, vor allem dort, wo die Rationalisierung ihre Errungenschaften als Inversion in die Welt setzt und uns sodann zur Beruhigung ihre Geschäftsdaten präsentiert. Die einen rechnen sich deppert, die anderen stehen sich deppert. Dass das vielleicht etwas mit irren Verhältnissen zu tun hat, will weder den einen noch den anderen kommen. Denn geht’s der Wirtschaft gut, geht’s den Menschen gut. Ich sag mir das immer, es hält mich aufrecht. Wo Ökonomie funktioniert, sind unangenehme Folgen als Disfunktionalität irgendwelcher Nörgler zu interpretieren. Die Statistiken sprechen doch eine andere Sprache. Und überhaupt: „Raunz nicht, kauf!“

Weitere Rationalisierungsschübe werden die Zahl der Wartenden und die Dauer der Wartezeiten noch erhöhen. Immer mehr Leben wird verwartet. Was heute als Selbstverständlichkeit erscheint, das begriff man früher primär als Schwäche der Planwirtschaft. Wie lachte man dazumals über die polnischen oder russischen Warteschlangen vor den Geschäften. Sowas kann bei uns doch nie passieren. Denkste! Die kleinen Estragons der Selbstbestimmung stellen sich an - und warten.

Dieses Warten hat nun nichts von Vorfreude an sich, es ist eigentlich kein Erwarten, sondern ein Nicht-mehr-warten-Können. Warten ist eine Form, die nicht sein sollte, aber seriell hergestellt wird. Verschiedene Zeitschienen setzen einen gehörig zu. Wenn inneres Tempo und äußere Erscheinung kollidieren, wird das Warten unerträglich. Was erstrebt wird, wird nicht erfüllt, zumindest nicht in der Geschwindigkeit, in der es und wir erfüllt werden soll(en). Man wird auf die lange Folter gespannt. Und diese Länge wird tatsächlich zur Qual. Wir reagieren psychisch sowie physisch. „Heute geht aber gar nichts weiter!“; „Bitte, eine zweite Kassa“, schreien Hilflose Überforderten zu. Gelegentlich zucken auch welche aus.

Was etwa Bank oder Bahn an Personalkosten ersparen, das wälzen sie auf die Laufkundschaft über. Die wartet sich blöd. Immer mehr Dienstleistungen werden negativ vergesellschaftet, indem die Käufer unbezahlterweise Tätigkeiten übernehmen, die einst die Verkäufer (oder deren Personal) verrichteten. Rationalisierung ist beschlagnahmte Zeit. Und niemandem kann man eine Abrechnung schicken für diese nicht ungeschickte Entwendung. Das phantastische Outsourcen entpuppt sich, erlaubt man sich die Perspektive der Betrachtung zu verändern, als ein Anschlag auf die Ressource Mensch.

Ähnliches gilt übrigens auch für diverser Geschäfte im Internet. Billigflieger buchen beansprucht 30-40 Minuten, auch um alle zweifellos notwendigen Schranken und Sicherheiten im Netz zu überwinden. Der banale Anruf bei der Airline dauert hingegen höchstens 10 Minuten. Dieser ist selbstverständlich noch immer möglich, kostet aber nunmehr 6 Euro pro Flug, also 24 für 2 Personen hin- und retour. Und noch ein Beispiel: Gibt es auf einem Bahnhof fünf offene Schalter für zehn Kunden, dann ist deren Wartezeit um vieles geringer, als wenn für die gleiche Anzahl zwei Schalter zugängig sind oder gar nur einer. Einerseits werden Verwaltungskosten in den Unternehmen abgeschafft, andererseits werden Konsumenten dazu angehalten, fortan kostenlos Zeiten und Räume, Geschicke und Tätigkeiten zur Verfügung zu stellen, die sie früher nicht aufzuwenden hatten. Die Bedienten dienen. Die Benutzer werden benutzt. Derlei schlägt sich in keiner betriebswirtschaftlichen Rechnung nieder. Die ausgelagerte Wartezeit ist als Kostenfaktor irrelevant.

Nun sind wir tatsächlich im ökonomischen Niemandsland gelandet. Eine Ökonomie des Wartens wäre freilich jenseits der betriebswirtschaftlichen Disziplin angesiedelt. Das würde ihre hermetische Metaphysik sprengen. Was monetär nicht ist, weil es in keiner Rechnung mehr aufscheint, ist aber in der Wirklichkeit trotzdem da. Es realisiert sich in der beschnittenen Lebenszeit der Kunden, deren Disponibilität sukzessive Einschränkungen erfährt. Indes dürfen es die Anbieter nicht zu bunt treiben, da übermäßige Unzufriedenheit Geschäfte platzen lässt. Doch gemeinhin stehen die Konsumenten unter dem Diktat der Angebote. Was gestern unvorstellbar gewesen ist, ist morgen schon Konvention. Über Staunen, Wundern und Ärgern kommt das Unbehagen der Betroffenen kaum hinaus. So haben wir eigentlich keine Begriffe für das, was da abgeht - für die Zeit, die der Markt uns wegfrisst. Denn der Markt befreit vor allem auch eins: die Menschen von der Verfügbarkeit über ihr Leben.

Franz Schandl

***

Wildblumen und Gartenpracht
Über das Verschwinden kleiner literarischer Zeitschriften

In dieser Zeit gab es Mut. Es gab Schönheit. Es bohrte eine Sehnsucht. Es wucherte Ahnung von einem anderen Dasein als dem, was hinlänglich bekannt war. All dies beflügelte. Und fand Ausdruck in kleinen, literarischen oder politisch oder spirituell ausgerichteten Gazetten. Nach amerikanischem Vorbild, wo es derlei schon geraume Zeit gab, wurden sie auch „Little Mags“ genannt. Erzeugnisse der Gegenkultur, des Unbehagens daran, dass die Produktionsmittel unseren mentalen Haushalt bestimmen sollte, die jedenfalls, die in Händen der Mächtigen, Reichen, Besitzenden waren.

Als begannen, nach und nach, auf der Kulturwiese, frei nach Mao, tausend Blumen zu blühen. Sie verbreiteten ungeliebte Nachrichten, unliebsame Literatur, unwillkommene Ästhetik. Nicht, dass sie allesamt alles Bestehende in den Orkus schmeißen wollten. Warum nicht auf dem aufbauen, was als gut, ja, befreiend bekannt? Aber ihnen allen war gemein, dass sie sich bemühten, Lügen, vor allem aber: Heuchelei zu meiden; und das an der Erde haftende, das Alltägliche, in den fadenscheinigen Himmel der gemeinhin akzeptierten Formen und Inhalte von Literatur und Grafik einzubringen, ja, ihnen den Vorrang zu geben.

Nenne man es radikale Subjektivität, nenne man es Besinnung auf den unbehausten Teil unseres Bewußtseins, nenne man es Befreiung zu einer Gerechtigkeit und Wahrhaftigkeit, die vom einzelnen ausgeht, von individuellen Bedürfnissen und Wahrnehmungen, von der singulären, intimen Sichtweise. Von der harten Realität, den bitteren Früchten, den verdrängten Wirklichkeiten. Nenne man sie Wucherblumen oder Wildblumen, auf jeden Fall waren sie, alles in allem, kunterbunt. Nicht nur Bereicherung, auch Erfüllung von Lebensträumen und Existenzräumen. Manch einem gaben Sie die Vision, für die sie lebten. Mittel der Kommunikation, die den überschaubaren Bereich sprengten. Die offen waren für Neues, ja, das Neue oft genug verzweifelt suchten. Die radikal waren, nicht nur in ihrer Ablehnung des überkommenen, der Tradition, sondern auch, zum Leidwesen mancher, der Ausgewogenheit, der Vernunft. Sie folgten dem Lustprinzip, einem anarchischen Modell von Tun, das auf Intuition, Inspiration und Ingenuität aufbaute.

Das erfrischte, das war der berühmte Sand im Getriebe, den Günther Eich für die Nachkriegsgeneration gefordert hatte, auf dass er alchimistisch umgewandelt würde in Samen für einen Garten, dessen Ordnungsprinzip die Lust des Chaotischen nachahmte, ohne ihm zu verfallen. Balanceakt also. Und Bridge over troubled water: hin zu neuem Ufer, unbekanntem Ufer.

Es war Entdeckungsfreude bis hin zu einem Wagemut, der zum Scheitern verurteilt war. Es war die Schaffensfreude bis hin zum Gespiele, das in Redundanz münden mußte. Es war die Wahrnehmungsfreude bis hin zu einem Spiegelbild, in dem wir erschrecken mußten. Aber es war Aufbruch und nicht nur Geschrei: Nieder mit der Konvention. Und es war Idealismus, oft ein Idealismus, der zur Selbstausbeutung verzerrt wurde. Eine Leugnung der Sachzwänge, Verachtung der Marktlage. Gedruckt wurde, was gefiel. Punkt. Gedruckt wurde, was Meinung werden sollte, auch wenn die geballte Kapitalkraft der Konzerne, die Konsumentenkraft der Trägheiten dagegensprach. Und so scheiterte denn manch ein Projekt, wie voraussehbar. Glück läßt sich nicht erzwingen. Zumal nicht das Glück, zu dem man andere bekehren möchte. Das erschütterte, nolens volens, das eigene Weltbild. Das ging nicht in den Kopf.

Also wurden die Flausen verjagt. Also zogen wieder die Läuse ein. Dieses Geschaffe, nächtelang, bis zum körperlichen Zusammenbruch, zur psychischen überbelastung. Für wen? Letztlich war es doch auch ein Wille zur Macht, der diese wagehalsigen Unternehmungen beeinflußt hatte. Die Macht zu sagen: ich bin schön, seht her. In aller Unschuld sagte manch einer das, gewiß. Aber Unschuld schützt vor Finanznot nicht. In wer will in solch einer Unschuld, Naivität, hervorgebrachten Kunstgebilde kaufen, wenn er selbst Gefallen findet an dem Fast Food, mit den die Gesellschafter des auf primitive Reize Setzenden ihren Einfluß, ihre Macht, ihr Kapital beständig zu vergrößern mochten?

Waren die, die diese aberhunderte von Preziosen, ob in schlichtem, rauhen Gewand Schlendernden, oder gesetzt in der Manier des Beeindruckenden Wandelnden, also zum Scheitern verurteilt? Waren sie Zeugnisse eines Aufbegehrens, das der Gewalt des Vorherrschenden niemals Stand halten konnte? Ein letztes Resümee kann, darf noch nicht gezogen werden. Zumindest haben diese ‘Blätter den Machern, trotzalledem, Spaß gemacht. Und die Welt ein bißchen schöner gemacht. Und vielleicht waren sie Pioniere, an die man sich erinnern wird, wenn die Eintönigheit der Hochglanzzeitschriften im Überdruß zum Overkill taumelt. Mögen sie manch einem Literaten nur Spielweise gewesen sein, oder Sprungbrett hin zur Ablagerung in den Etagen des Mainstreams. Was bleibt, ist die Kreativität des Ungestüms, die Ahnung, was möglich sein kann, wenn man neu werden möchte. Also bleiben sie im Gedächtnis. Und nicht nur in den Archiven.

Hadayatullah Hübsch

***

Das Kosovo –
Vom gesamtjugoslawischen Armenhaus zur Hochburg der Mafia

Der UN-Sicherheitsrat müsse zügig eine Entscheidung über die Unabhängigkeit des Kosovo treffen. Das forderte der US-Präsident George W. Bush bei seinem kürzlich erfolgten Besuch in der albanischen Hauptstadt Tirana: „Unabhängigkeit ist das Ergebnis. (...) Wenn offensichtlich ist, daß eine Vereinbarung nicht relativ zügig zustande kommt, dann müssen wir nach meiner Einschätzung die Resolution vorantreiben. Das heißt: eine Frist setzen.“ Mit diesem Affront gegen Serbien und Rußland legte Bush die Zündschnur an einen erneuten militärischen Konflikt auf dem Balkan.

Albanien ist das einzige europäische Land, in dem der US-Präsident nicht mit Protestdemonstrationen, sondern mit Salutschüssen und frenetischem Beifall empfangen wurde. Großalbanische Nationalisten streben eine Vereinigung mit der seit dem Krieg von 1999 faktisch unter NATO-Protektorat stehenden ex-jugoslawischen Provinz Kosovo an und betrachten deren Unabhängigkeit als ersten Schritt hin zu diesem Ziel. Mit Rückendeckung Rußlands beharrt dagegen die serbische Regierung auf dem Verbleib des „autonomen“ Kosovo im serbischen Staatsverband. Beide Seiten berufen sich auf die Historie.

Für Serbien gilt das Kosovo (zu deutsch: Amselfeld) nicht zu Unrecht als Kerngebiet des mittelalterlichen Feudalstaates, den sich im 14. Jahrhundert das Osmanische Reich einverleibte. Allerdings war das Kosovo schon damals multiethnisch - wie der gesamte Balkan. An der Seite des serbischen Ritterheeres kämpften in der Entscheidungschlacht des Jahres 1389 auch Kontingente anderer Völkerschaften.

Die Albaner betrachten sich als ethnische Nachkommen der Illyrer, die in der Antike einen Großteil des Balkan besiedelten, bezeichnen die Einverleibung des Kosovo in das Königreich Serbien als Folge des 1. und 2. Balkankrieges im Jahre 1911 als Eroberung.

Die albanische Bevölkerung des Kosovo spielte im serbischen (ab 1929 jugoslawischen) Königreich tatsächlich eine untergeordnete Rolle; es gab Unterdrückungsmaßnahmen und Vertreibungen. 1941 fiel dieses Königreich allerdings den angreifenden deutschen und italienischen Truppen zum Opfer.

Im Krieg und Bürgerkrieg siegte die kommunistisch geführte Partisanenarmee; das Kosovo wurde autonomes Gebiet der Republik Serbien im Rahmen der neu konstituierten Föderativen Sozialistischen Republik Jugoslawien. Auf Seiten der faschistischen Besatzer hatte eine SS-Division „Skanderbeg“ gekämpft, die sich ausschließlich aus Albanern rekrutierte und schon damals eine brutale ethnische Säuberung des Kosovo betrieb. Andere Kosovo-Albaner hatten dagegen in den Reihen der multiethnischen Partisanenarmee des kroatischen Kommunisten Tito gestanden.

Im Zuge einer gesamtjugoslawischen Aussöhnungspolitik verzichteten Titos Partisanen nach dem Krieg weitgehend auf Racheakte, akzeptierten die albanischsprachige Bevölkerungsmehrheit des Kosovo. Während der Zeit des dann folgenden sozialistischen Modernisierungsversuches war das Kosovo zusammen mit Bosnien und Mazedonien allerdings das „Armenhaus Jugoslawiens“. Obwohl jährlich Milliardensummen aus dem Haushalt der reicheren Teilrepubliken abgezweigt und in einen Fond zur Förderung der unterentwickelten Regionen eingezahlt wurden, gelang es nicht, das Wirtschaftsgefälle zwischen den jugoslawischen Teilrepubliken nachhaltig auszugleichen. Das Kosovo blieb eine Armutsregion am finanziellen Tropf der Belgrader Zentrale.

Nachdem sich Ende der achtziger Jahre herauskristallisierte, daß die Modernisierung unter sozialistischem Vorzeichen gescheitert war, leitete die Sezession der reichen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien den blutigen Zerfall des jugoslawischen Staates ein. Das Ausbleiben der Zahlungen aus den abgespaltenen Republiken führte zur weiteren Verarmung der schon vorher unterentwickelten Regionen. Massenhafte Arbeitslosigkeit beförderte u.a. im Kosovo die Entstehung einer kriminellen Schattenwirtschaft, die sich mit der großalbanisch-nationalistischen „Kosovo-Befreiungsarmee“ UCK schließlich einen militärischen Arm schuf.

Der Bürgerkrieg der UCK-Freischärler gegen die jugoslawische Polizei und Armee lieferte 1999 den Anlaß für das militärische Eingreifen der NATO. Nach einem barbarischen Bombenkrieg gegen Städte und Dörfer zog sich die jugoslawische Armee schließlich aus dem Kosovo zurück. Die daraufhin eskalierenden nationalistischen Exzesse führten zu einer fast vollständigen Vertreibung der nicht-albanischen Bevölkerungsgruppen. Lediglich in einigen von den Besatzern abgeschirmten Enklaven wurde der ethnischen Säuberung Einhalt geboten. Diese „serbischen“ Siedlungen (in denen übrigens auch viele Albanern leben) sind seitdem die einzigen Territorien des Kosovo, in denen ein Zusammenleben verschiedener Bevölkerungsgruppen weiter möglich ist.

Die faktische Sezession aus dem rest-jugoslawischen Staatsverband erwies sich für die kosovo-albanischen Nationalisten als wirtschaftliches Desaster. Die bereits stark angeschlagene Industrie brach fast völlig zusammen, da infolge der politischen Trennung die vorher noch funktionierenden Vertriebs- und Absatznetze zerrissen. Andererseits war eine angestrebte Zusammenarbeit mit dem benachbarten albanischen Staat kaum praktizierbar, da dessen Wirtschaft schon in den neunziger Jahre weitgehend zusammengebrochen, die Reste von mafiösen Clans übernommen waren. Tausende Einwohner des albanischen „Mutterlandes“ siedelten in das Kosovo über, eigneten sich dort zumeist Ländereien vertriebener nicht-albanischer Dorfbewohner an. Der seitdem schwelende Dauerkonflikt mit den Einwohnern serbischer Enklaven hat keinen politischen Hintergrund, sondern ist letztlich eine Folge nackter Raubsucht.

In Gestalt gewesener UCK-Kämpfer hat die organisierte Kriminalität seit 1999 im Kosovo die politische Macht inne - das Territorium entwickelte sich seitdem zu einem Eldorado für Kriminelle aller Schattierungen. Die UCK und ihre Nachfolgestrukturen finanzieren sich im wesentlichen durch Schutzgelderpressung, Rauschgift- und Frauenhandel. Kundschaft dieser kriminellen Unternehmen sind dabei nicht zuletzt die Soldaten der Besatzungstruppen, deren Aufgabe eigentlich darin bestünde, in diesem Zusammenbruchsterritorium die Funktion einer Ordnungsmacht wahrzunehmen.

Einen weitere trübe Finanzquelle der derzeitigen Machthaber ist die Religion. In der Tito-Ära war das Kosovo weitgehend laizistisch - wie damals ganz Jugoslawien. Seit 1999 strömen - überwiegend aus Malaysia - Missionsgelder ins Land. In den meisten Dörfern wurden mittlerweile Moscheen errichtet - jahrhundertealte Bauwerke der serbisch-orthodoxen Kirche hingegen erbarmungslos geschleift.

Bei den derzeitigen kriminellen Zuständen im Kosovo handelt es sich nicht um ein vorübergehendes Phänomen, sondern um das Resultat eines gesamtgesellschaftlichen Zerfallsprozesses, der noch keineswegs abgeschlossen ist. Wenn es keine Möglichkeit des regulären Broterwerbes gibt, bleibt als Alternative eben nur die Teilnahme an der Schattenwirtschaft - also der Mafia. Oder aber die Ausplünderung anderer Bevölkerungsgruppen, die von nationalistischen und religiösen Scharfmachern als „feindlich“ und daher als außerhalb der Gesetze und der moralischen Normen stehend erklärt worden sind.

Die Rede des US-Präsidenten in Tirana ist kein Ausrutscher, sondern Symptom der kriminellen Verwilderung des Systems westlicher Moderne, reiht sich nahtlos ein in eine Politik, blutige Warlords und Banden marodierender Krimineller als bezahlte Handlanger zu vernutzen.

Gerd Bedszent

   

Netzbrücke:

• Necati Merts Kolumne

• Mehr lesenswertes   Textmaterial

• Wider den Schwarzen   Winter

• Porträt des   Periodikums