XXVI. Jahrgang, Heft 145
Jul - Aug - Sep 2007/3

 
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Letzte Änderung:
18.07.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kosmopolitane Menschenwelten

Thesen zum Thema Integration

Von Riza Baran

   
 
 


Der Begriff wird häufig rein normativ und verengt auf Fragen der Kultur verwendet und deshalb von einigen abgelehnt. Münch (1997) hat in seiner Bestandsaufnahme ökonomischer, politischer und soziologischer Integrationstheorien darauf hingewiesen, dass bisher keine Theorie eine umfassende Erklärung für alle Aspekte der Integration bieten kann und dass für spezifische Fragestellungen nur ein Bezug auf „spezifische Theorieansätze“ (ebd., 103) in Frage kommt.

Für unsere Zwecke ist zunächst Lockwoods (1969) Unterscheidung von Systemintegration und sozialer Integration instruktiv, auch deshalb, weil sie verdeutlicht, dass Integration sich auf alle Mitglieder einer Gesellschaft und nicht nur auf Zuwanderer bezieht. Mit ersterer ist der Zusammenhalt und die konflikthafte Beziehung der Teilsysteme Staat und Markt gemeint, die durch Recht und Geld reguliert werden. Die soziale Integration bezieht sich auf die konflikthafte Beziehung von Akteuren - Individuen und Gruppen - zueinander sowie zu gesellschaftlichen Teilbereichen und zur Gesellschaft insgesamt. Ein Scheitern der Systemintegration bezeichnen wir als Desintegration (ebd., 131), ein Scheitern der sozialen Integration als Ausgrenzung.

Mit Orientierung auf den Staat und dabei speziell auf die Verfassung als oberster Rechtsordnung lässt sich über die moderne Rechtsordnung folgendes sagen:

Sie basiert auf Grundrechten und einem prozeduralen Konsens (parlamentarische Entscheidungsfindung), ist weltanschaulich neutral, aber dennoch stets Ausdruck einer partikularen Lebensform und eines historisch spezifischen kollektiven Selbstverständnisses. Die Legitimation bezieht eine solche Rechtsordnung aus dem Selbstverständigungsdiskurs bzw. aus den zivilgesellschaftlichen Dialogen unter Beteiligung aller Mitglieder der Gesellschaft. Als Konsequenzen ergeben sich hieraus:

• Die Anerkennung von Differenzen,

• Die Rechtsgleichheit und gleiche Zugangschancen sowie

• Die allgemeine politische Partizipation.

Neben der Einbeziehung der neusten Studien zu einzelnen Problemfeldern hinsichtlich der sozialen Integration (Stichwort: PISA), muss meines Erachtens erfolgreiche Integration also insgesamt mindestens folgende Sachverhalte besonders beachten:

1. Integration ist nicht allein auf die pädagogische Dimension zu beschränken.

2. Integration ist eine gesamtgesellschaftliche, d.h. eine Querschnittsaufgabe.

3. Das Zuwanderungsgesetz reduziert die Phänomene Migration und Integration auf die kulturelle Dimension.

4. Identität ist dem Menschen nicht angeboren oder kulturell vorgezeichnet, sondern sie entwickelt sich in einem Prozess kommunikativer Interaktion.

5. Die These der Multikulturalisten, nach der die gesellschaftliche Integration nur möglich sei, wenn die kulturelle Identität der Neubürger nicht angetastet würde, führt in die falsche Richtung.

6. Dem gemäß erfordert Integration die Interaktion zwischen der Aufnahmegesellschaft und den Migranten. Dementsprechend muss das Leben in den Moscheen aus den Hinterhöfen sozusagen in die Mitte der gesellschaftlichen Diskussion gestellt werden.

7. Eine ernst gemeinte, kohärente Integrationspolitik muss die gesellschaftlichen Bedingungslagen in der deutschen Mehrheitsbevölkerung einerseits und in der Migrantenbevölkerung andererseits berücksichtigen und darauf aufbauend einen Prozess der gezielten Annäherung einleiten. Beispielsweise muss der Tendenz entgegen gearbeitet werden, dass deutsche Eltern bestimmte Stadtquartiere verlassen, sobald deren Kinder schulpflichtig werden.

8. Ansonsten wird das Ergebnis eine Desintegrationsspirale sein, aus der die Migranten gar nicht aus eigener Kraft entkommen können.

9. Die politischen und gesellschaftlichen Ursachen von Problemen bei der Integration werden bequem hinter ineffizienten Bildungsinstitutionen und/oder nicht ausreichendem Integrationswillen der Migranten versteckt.

10. Um sich gegen die drohende Instrumentalisierung durch die Politik zu immunisieren, wird der Pädagogik nichts anderes übrig bleiben, als sich zu politisieren und eindeutig Stellung zu beziehen.

Die Ausgangslage für die Umsetzung dieser Thesen stellt sich wie folgt dar:

Integration ist freiwillig und erfolgt hauptsächlich im Alltag, also im Zusammenleben der Menschen. Sie kann nicht angeordnet oder gar aufgezwungen werden - beiden Seiten nicht. Das heißt allerdings nicht, dass der Staat und auch die politischen Parteien diesen Prozess nicht durch aktive, gestaltende Integrationskonzepte moderieren, anschieben und politisch-psychologisch legitimierend unterstützen können. Staat und Parteien haben sogar die Pflicht dazu, diesen Prozess aus dem mehr oder weniger unbewussten Alltagshandeln ins öffentliche Bewusstsein zu tragen. Dabei sollte die Alltagsnormalität, welche ja weit über die existierenden Probleme hinausgeht, immer wieder aufgegriffen und als Ansporn für den weiteren Gang des Prozesses genutzt werden. Auf diese Art und Weise können sowohl die Herzen (Gefühle) als auch die Köpfe (Verstand) der Menschen zu einer Einheit (Vernunft) verschmelzen, die eine Abkehr von Ausgrenzung und Ghettoisierung in Richtung Weltoffenheit in Gang setzen würde. Diese Integrationskultur steht erst am Anfang und muss laufend weiter entwickelt werden.

Ein Beispiel für eine mögliche Signalwirkung wäre die verstärkte Öffnung der politischen Parteien für Kandidaten mit Migrationshintergrund. Ansonsten könnte es nämlich passieren, dass sich politische Parteien entwickeln, die zu Wahlen antreten und die sich über eine bestimmte nichtdeutsche Nationalität definieren oder allgemein über den Migrationshintergrund und dann mit eigenen politischen Weltbildern operieren. Um dies zu vermeiden ist die baldmöglichste politische und rechtliche Gleichstellung umzusetzen.

Wahrscheinlich würde dies den Integrationsprozess erschweren, als Parallelgesellschaft jedoch ließe sich ein solcher Zustand nicht bezeichnen, da ja gerade die Teilnahme an den Wahlen eine bewusste Einmischung in die Gesamtgesellschaft darstellt. Ebenso wenig lässt sich eine Parallelgesellschaft aus der Tatsache herleiten, dass die Etablierung ethnischer Unternehmen inzwischen die Möglichkeit bietet viele Alltagsdinge innerhalb des eigenen Milieus abzuwickeln.

Wenn die Mehrheitsgesellschaft den Öffnungsgrad solcher Milieus erhöhen will, muss sie sich erst einmal fragen (lassen), aus welchen Gründen sich solche Milieus entwickelt haben. Diese Heterogenität ist auch als kollektive Verwirklichung von Autonomie zu verstehen, die ihren Schutz unter anderem auch im Grundgesetz findet. Der durch die Verfassung garantierte Pluralismus befördert geradezu Milieus oder Subkulturen, wie die ‘Parallelgesellschaften’ früher bezeichnet wurden. Dabei wird man auf folgende Umfeldbedingungen stoßen:

• Psychologisch-kulturell bedingte Affinität zum einem Milieu wegen der zwischenmenschlichen Sicherheit (Wohlfühlfaktor),

• Informelle Hilfsangebote und -netzwerke (politisch-rechtlich bedingt oder auch sozioökonomisch),

• Spezifische Bedürfnisse, die von der Mehrheitsgesellschaft nicht angeboten werden,

• Stabilisierung der Identität in einem Land, in dem Ausgrenzung und/oder räumliche Ghettoisierung herrscht.

Die fehlende gesellschaftliche Anerkennung wirkt hier als entscheidender Katalysator und verbietet es, von „Unfähigkeit zur Integration“ zu reden. Gleiches gilt für die Defizitorientierung von Seiten der Aufnahmegesellschaft gegenüber den Migranten. Der Vorwurf der Abkapselung muslimischer Bevölkerungen in Parallelgesellschaften spiegelt eher den Wunsch nach Einkapselung des Fremden. Eine seriöse Auseinandersetzung mit dem Projekt der Integration als einem ständigen Selbsterneuerungsprozess der Gesellschaft darf nicht dem Ziel der Bildung einer oberflächlichen sozialen Einheit geopfert werden, welche in differenzierten Gesellschaften sowieso eine Fiktion ist. Gleichzeitig ist die Eingliederung einzelner Elemente in ein größeres Ganzes immer ein Prozess von Integration. Gefragt werden muss allerdings hierbei nach dem (differenzierten) Inhalt dieses Ganzen, worauf die zu Integrierenden festgelegt werden sollen und mit welchen Steuerungsmitteln dies zu erreichen ist.

Literatur:

Auernheimer, Georg: Einführung in die Interkulturelle Pädagogik; 2003, Darmstadt

Häußermann, Hartmut/Kronauer, Martin/Siebel, Walter (Hrsg.): An den Rändern der Städte; 2004, Frankfurt/Main; Verlag Suhrkamp

Lockwood, David: Systemintegration und Sozialintegration, in: „Theorien des sozialen Wandels“ (Hrsg.): Zapf, Wolfgang; 1969, Köln

Münch, Richard: Elemente einer Theorie der Integration moderner Gesellschaften. Eine Bestandsaufnahme, in: „Was hält die Gesellschaft zusammen?“ (Hrsg.): Heitmeyer, Wilhelm; 1997, Frankfurt am Main

Sprachverband Deutsch e.V. (Hrsg.): Deutsch als Zweitsprache; Heft 2/2003; Main

   

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