XXV. Jahrgang, Heft 140
Apr - Mai - Jun 2006/2

 
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Letzte Änderung:
12.04.2006

 
 

 

 
 

 

 

GEGENWART DER GESCHICHTE

Ein demokratischer Señor aus der Schweiz
Hugo Loetscher und seine kontinuierliche Ankunft
Von Vasile V. Poenaru

   
 
 

Im November 2005 begab sich der renomierte Autor Hugo Loetscher auf eine Lese-Reise quer durch Nordamerika. Und wie es sich auf diesem ständig entdeckten Kontinent ziemt, ging es natürlich immer von Osten nach Westen - immer der Sonne nach. Ob nun in Ottawa, Montreal, Kingston, Toronto, Vancouver oder Victoria: gut angekommen ist der Schweizer Buchstabenmeister immer.

In einer Stadt, in einem Land, in einer Welt ankommen ist nicht jedermanns Sache. Es gehört Feingefühl dazu. Und Aneignungsvermögen und inwendige Bildgestaltung. Authentisches Mitdabeisein (Et in Arcadia ego!) will erwiesen werden. Allein durch die Landung auf dem Flughafen (oder die Ankunft am Bahnhof) und durch die darauffolgende Fahrt ins Hotel sei es nicht getan, selbst wenn diese in einer prächtigen Limusine erfolgt. Aus dem schlichten Faktum der Anreise lässt sich nämlich kaum hinreichend festellen, ob einer auch wirklich da ist. Einen Ort im Blick erfassen: Freilich braucht das Übung. Nicht der Moment des Ankommens, sondern das Moment des Ankommens rückt in den Mittelpunkt sagbaren Seins, wenn es sich so fügt. Und dann schlüpft ein Lektor aus der Fabel heraus. Kurz: Hugo Loetscher hat was fürs rechte Ankommen übrig. Eine Sache der Perspektive? Der Geborgenheit? Der Häuslichkeit? Denn wenn man wo richtig ankommt, dann ist man da unter Umständen auch zu Hause. An vielen Orten zu Hause sein: ist das nicht ein denkbares Attribut des Weltbürgers?

Der Autor saß bereits sozusagen sprachstrotzend und dazu noch reichlich mit hausgemachten Texten versorgt im Foyer, als ich das Holiday Inn bei Bloor und St. George betrat, um ihn abzuholen. „Democratization of a Democracy“ sollte sein erster Talk an der Universität Toronto heißen. Gemeint war natürlich die Schweiz: ein Land mit vielen Tälern.

Hurra Helvetia! Jeder Tunnel schafft Verbindung. Jede Uhr schlägt die Stunde. Jede Bank rechnet Zinsen an. Jedes waschbare Material ist unschuldfähig (um das mal so auszudrücken), jeder Geschmack eigenartig. Es lebe der Emmenthaler! Es lebe die Swatch Watch! Es lebe die Mitbestimmung! Seit siebenhundert Jahren erliegen die Eidgenossen einem sonderlichen und offensichtlich endlosen Demokratisierungsprozess, der jederzeit gerne tonnenweise Diskussionsmaterial zur Verfügung stellt. Ich musste an die Leute von Schwyz, Uri und Unterwalden denken, die die Grundlage eines Landes schufen, weil sie die Habsburger nicht mehr ausstehen konnten. Jetzt befand ich mich vor einem ihrer aussagekräftigsten Nachkomen. Der Autor hatte in seinem Sack ein Päckchen Geschichtlichkeit mitgebracht: anhand des Mediums der Literatur destilliert. Bald sollten wir uns darüber unterhalten, wie die Täler noch demokratischer, ja wie sie global werden mögen. Ein Diskurs lag in der Luft.

Ich war etwas früher zum Hotel gegangen, um dem berühmten Hugo Loetscher um eine halbe Pferdelänge voraus zu sein. Er aber war freilich noch früher runtergekommen (That’s the Swiss way), um mich willkommen heißen zu können in sein Hotel, das sich in meinem Land und sogar in meiner Stadt befand. Dabei sah er gelassen aus, wie jemand, der sämtliche Hausaufgaben längst erledigt hat, und schien irgendwie darauf zu warten, dass die hoffnungsvoll hinterher hinkende Gegenwart ihn einholen würde. Natürlich, was sollte ein Schweizer denn sonst tun, als auf den Rest der Welt warten? dachte ich, und fügte somit der nackten Wirklichkeit des erzählbaren Jodelns brav romantisierend und gleichsam vorbildlich klassizistisch ein gerade mal passendes Stereotyp hinzu. Bestimmt ging seine Uhr fünf Minuten vor. (An der Uni gehen die Uhren zehn Minuten nach.) Bestimmt war seine Weltanschauung fünfmal anschaulicher als unsere Weltanschauung. Bestimmt hatte er Löcherkäse mit. Und von seinem neutralen Standpunkt aus konnte er jedenfalls ohne weiteres mitbekommen, wie die unmittelbare Gegenwart auf die nahe Zukunft zueilt.

Was sich so als Gegenwart herumtut, will immer personifiziert werden. Das ist eine Erwartung, mehr, eine Voraussetzung, die jeder Reisende mitbringt, der sich routinenmäßig an Texten vergreift, um daraus Werke zu schleifen. Mir fiel ein, dass im Moment ich als Stellvertreter der Gegenwart einspringen durfte. Aus all den sauberlich gedankenreich im Diogenes-Verlag herausgegebenen Büchern war wie selbstverständlich eine „echte“ Person zutage getreten: eine verkörperte Instanz der Textproduktion. Greifbar nah. Auf wundersamen Wegen vertraut. Noch wirklicher als die erfundene Wirklichkeit (La realite surpasse la fiction). Fast konnte ich eine vielsagende Gestalt zwischen den Zeilen hervorspringen sehen: auf mich zukommen, auf sich selbst zukommen, einmal, zweimal: immer wieder. Fast konnte ich die Worte erraten, die der Autor in wenigen Minuten aussprechen würde. Fast konnte ich seinen Silben, seinen Semen, seiner Flugkarte auf den Zahn fühlen. Aber eben nur fast.

Soll man einem Schweizer, der sich unter anderem lange in Südamerika aufgehalten hat, auf Spanisch oder etwa auf Portugiesisch kommen? Ungewissheit, nicht nur hier. Señor oder Nicht-Señor? Nicht-Señor, weil Demokrat. Mal hinschauen: Lederschuhe - also doch Señor.

Grußworte gehen schnell vorbei. Ein paar Schritte, und wir befanden uns auf dem Gehsteig, den CN-Turm im Blick. Mit dem Aufzug dauert es nur eine Minute bis oben. Aber wir wollten ja unten bleiben. Denn nach der Lesung stand „Erfrischungen“ im Programm (eine Sünde, sie zu verpassen). Es regnete nicht mehr, nur der Wind tobte fürchterlich. Wir gingen die Bloor entlang und dann die Davonshire hinunter zum Munk Centre, wo die Lesung stattfinden sollte.

Die verschlossene Tür schien uns vorzuenthalten, dass wir uns das Vergehen der Überpünktlich hatten zuschulde kommen lassen. Kein Türhüter ließ sich erspähen. Ein rettender Schlüssel stürzte auch von nirgendwo auf uns zu. Es gab also einen Raum, wo sich was tun sollte, und wir befanden uns verhängnisvollerweise außerhalb dieses Raumes. Unwillkürlich schlugen weitausholende Fragen aus den dunkelsten Ecken des verbotenen Territoriums akademischer Mysterien gleichsam auf die Ohrtrommel los: Wie wenn sich drinnen gar der Text befand? Ob wohl der Text nicht aufmachen wollte? Warum denn nicht? Keinen Zugang zum Text haben: unheimlich. Oder vielleicht kam es sogar noch unheimlicher: Vielleicht war überhaupt nichts drin. In diesem Falle musste man sich etwas einfallen lassen.

Wir hatten Glück. Ich sprach eine amtlich aussehende Dame an, die sich am Anfang recht pessimistisch gebärdete und etwas vom anderen Ende des Gebäudes sagte (schlimme Wendung: weit entfernt), uns dann jedoch bald an eine ebenfalls amtlich aussehende Dame weiterleitete. Und diese wiederum hatte den Schlüssel. Der Abend sollte noch ein großer Erfolg werden. Das Geheimnis des Textes war kein Geheimnis mehr.

Wir standen ganz allein an einer bedeutungsvollen Stelle in einer Stadt, deren Name „Treffpunkt“ bedeutet. Wir befanden uns innerhalb des Konferenzraumes, der nun dank eines einfachen Entschlüsselungsprozesses nicht mehr verschlossen war. Aleia iacta est. Was wohl von außen auf uns zukommen würde? Gab es überhaupt ein Ausserhalb? Zum richtigen Dasein gehört Perspektive. Es blieb nicht viel Zeit zur Beschäftigung mit grundlegenden Fragestellungen übrig, denn bald kamen die Schweizer, genauer gesagt: Bald kamen viele Schweizer.

Dass es so viele Schweizer in Toronto gibt, hatte ich gar nicht geahnt. Sie wirkten wie eine kleine Armee, meinetwegen neutral und nur mit Uhren, Scheinen und Süßigkeiten bewaffnet, aber immerhin eine kleine Armee. Ich nahm mir vor, auf der Hut zu sein, um nicht neutralisiert zu werden. Der Autor hatte für den Extremfall über zweihundert Argumente und Gegenargumente parat.

Großes Wort für kleines Land? Seit Gotfried Keller durchaus möglich. Eine schweizeische Literatur in deutscher Sprache gibt es dabei nicht, meint Lotscher, so wie es auch keine österreichische gibt. Wie bitte? A ja, Literatur deuschsprachiger Ausdrucksweise, geschrieben in der Schweiz: das hört sich schon ganz anders an. Das sitzt, weil zureichend definiert. Das gibt es.

Zeit zum Lesen: Hugo Loetscher geht wie mit Lesebrillen durch die Welt. So wie man durch einen Text geht. Mit offenen Augen. Mit klopfendem Herzen. Mit all seinen Buchstaben. Mit seinen Vorahnungen und mit seinem Staunen. Ganz fremd ist er nirgends. Ganz kategorisch: selten. Denn es gibt immer noch Steine am Wegrand, die er nicht umgedreht hat.

Für ein Porträt fehlt hier der Rahmen, eine Skitze reicht nicht aus. Loetscher versteht sich darauf, Welten zu zählen. Er weiß um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten, die in Wörtern wie „Haben“ und „Danke“ liegen (In manchen Kulturen ist etwa der Dank einfach da, selbst wenn er sich nicht ums Haben dreht). Er hat die Menschen in abgelegenen Regionen aufgesucht, deren Hoffnungen und Emotionen mit den Mitteln des bewanderten Schriftstellers aufgezählt.

Doch beim Aufzählen von Welten und deren Bestandteile sollte es nicht bleiben. Ein hochgradiges Ergründungsvermögen und die Achtung für seine Mitmenschen auf dem lieben runden Globus haben diesen Autor dazu veranlasst, poetische Bilder in den Raum zu stellen, die wie kulturtheoretische Abhandlungen anmuten, denen gleichsam jedwelche Distanz und Kälte abhanden ging. Seine Dichtungen sind wohlrecherchierte und vielfach reflektierte kritische Analysen: mit Witz und Herz niedergeschrieben. Seine Reportagen wiederum genügen allen Ansprüchen der Dichtung, so dass sich daraus ein ausgewogenes literarisches Gesamtwerk zusammenfügt: sozusagen an allen Ecken rund.

Wer so poetisch aufgelegt ist, muss natürlich auch Poesie schreiben. Der 2004 erschienene Gedichtband trägt den Titel „Es war einmal die Welt“. Nicht bloß eine Welt, sondern die Welt. (Die ganze Welt wird hierin ins Märchenhafte umstilisiert. Mythen sind nämlich immer großzügige Schlupfwinkel für Fragezeichen und Intuitionen). Es war an der Zeit, dass er sich mit seinen Gedichten an die Öffentlichkeit traute. Angefangen mit dem Dichten hatte der Autor nämlich bereits als Jugendlicher. Denn ein Schriftsteller fängt ja nun einmal als Dichter an, so Loetscher.

In „Der Waschküchenschlüssel oder Was, wenn Gott Schweizer wäre?“ analysiert der Schriftsteller unter anderem ein paar typisch schweizerliche Ausdrücke und deren Schwierigkeiten, sich im gesamtdeutschen Sprachraum wenigstens auf dem Gebiet der Literatur Geltung zu verschaffen. Was ihm nicht gängig ist, streicht der deutsche Lektor einfach, ohne sich dabei viele Gedanken zu machen: von „Morgenessen“ bis „Übergwändli“: der Text wird saniert, seine Bedeutungen in ein überblickbares und geregeltes Verhältnis zum Kontext eingebunden. Das schweizerische Element muss kämpfen, um sich neben dem zu bewähren, was man so „gutes Deutsch“ heißt. Ja, wenn Gott Schweizer wäre, so mag man bei der Lektüre des Buches unwillkürlich schließen, dann würde sich das Rad umdrehen: dann müsste alle Welt „Grüzi“ sagen. Dann dürfte kein deutscher Arbeiter mehr ohne „Ürbergwändli“ zur Arbeit. Duden made in Switzerland? Der Konjunktiv im Titel deutet allerdings an, dass Gott kein Schweizer sei.

Nun einmal aus multikulturalistischer Perspektive: Darf man in Kanada unter dem Vorwand akademischer Geschäftigkeit (und in einem Saal, der sich auf- und zuschließen lässt) einfach so mir nichts, dir nichts schweizerisches Gedankengut einschmuggeln, das sich zudem ja gar nicht schweizerisch anhört? Darf man wirklich mit Mythen und Perspektiven Handel treiben wie mit Toblerone und Emmenthaler? Darf man von einer anderen Seite her ankommen als von der Seite, aus der man angekommen ist? Wem steht es zu, Situationen der Sprache zu erfassen? Was ist klassisches Latein in Toronto? Wer bestimmt, wie sich Buchstaben aneinanderzureihen haben?

„Lesen statt Klettern“ ist ein ausdrucksvolles Leitwort von Hugo Loetscher. Und natürlich der Titel eines anderen Buches. Die Berge sind wunderschön. Der Käse schmeckt. Die reine Luft tut gut. Aber die Schweizer Literatur setzt nun eben einmal mit der Verlagerung des Brennpunktes erzählbarer Betrachtungen und Darstellungen auf das Urbane, auf die Stadt an: durch den Weg in die Bildung. In den Humanismus.

Freilich: Bildung ist nicht dasselbe wie Building. Denn sonst wären die Hochhäuser ihrerseits Exponenten höchster Bildung, vom Body Building ganz zu schweigen. Klettern kann man in Toronto auf natürlicher Weise nicht, sondern nur wenn das Urbane als Ersatz für die Natur herhält. Lesen könnte man hier eigentlich schon. Aber das ist ja wieder ein Konjunktiv.

Loetscher versteht sich einfach darauf, Welten zu zählen. Zwei Tage nach seiner Ankunft am Hauptbahnhof saß er schon im Flugzeug. Die malerische Provinz British Columbia wartete auf ihn. Und als er dann schließlich den Pazifischen Ozean so wirklich erreichte, wendete er sich den Staaten zu, um auch dort mal aufs Neue das Ankommen zu üben.

   

Netzbrücke:

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