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Im November 2005 begab sich der renomierte Autor
Hugo Loetscher auf eine Lese-Reise quer durch Nordamerika. Und wie
es sich auf diesem ständig entdeckten Kontinent ziemt, ging
es natürlich immer von Osten nach Westen - immer der Sonne
nach. Ob nun in Ottawa, Montreal, Kingston, Toronto, Vancouver oder
Victoria: gut angekommen ist der Schweizer Buchstabenmeister immer.
In einer Stadt, in einem Land, in einer Welt ankommen
ist nicht jedermanns Sache. Es gehört Feingefühl dazu.
Und Aneignungsvermögen und inwendige Bildgestaltung. Authentisches
Mitdabeisein (Et in Arcadia ego!) will erwiesen werden. Allein durch
die Landung auf dem Flughafen (oder die Ankunft am Bahnhof) und
durch die darauffolgende Fahrt ins Hotel sei es nicht getan, selbst
wenn diese in einer prächtigen Limusine erfolgt. Aus dem schlichten
Faktum der Anreise lässt sich nämlich kaum hinreichend
festellen, ob einer auch wirklich da ist. Einen Ort im Blick erfassen:
Freilich braucht das Übung. Nicht der Moment des Ankommens,
sondern das Moment des Ankommens rückt in den Mittelpunkt sagbaren
Seins, wenn es sich so fügt. Und dann schlüpft ein Lektor
aus der Fabel heraus. Kurz: Hugo Loetscher hat was fürs rechte
Ankommen übrig. Eine Sache der Perspektive? Der Geborgenheit?
Der Häuslichkeit? Denn wenn man wo richtig ankommt, dann ist
man da unter Umständen auch zu Hause. An vielen Orten zu Hause
sein: ist das nicht ein denkbares Attribut des Weltbürgers?
Der Autor saß bereits sozusagen sprachstrotzend
und dazu noch reichlich mit hausgemachten Texten versorgt im Foyer,
als ich das Holiday Inn bei Bloor und St. George betrat, um ihn
abzuholen. „Democratization of a Democracy“ sollte sein
erster Talk an der Universität Toronto heißen. Gemeint
war natürlich die Schweiz: ein Land mit vielen Tälern.
Hurra Helvetia! Jeder Tunnel schafft Verbindung. Jede
Uhr schlägt die Stunde. Jede Bank rechnet Zinsen an. Jedes
waschbare Material ist unschuldfähig (um das mal so auszudrücken),
jeder Geschmack eigenartig. Es lebe der Emmenthaler! Es lebe die
Swatch Watch! Es lebe die Mitbestimmung! Seit siebenhundert Jahren
erliegen die Eidgenossen einem sonderlichen und offensichtlich endlosen
Demokratisierungsprozess, der jederzeit gerne tonnenweise Diskussionsmaterial
zur Verfügung stellt. Ich musste an die Leute von Schwyz, Uri
und Unterwalden denken, die die Grundlage eines Landes schufen,
weil sie die Habsburger nicht mehr ausstehen konnten. Jetzt befand
ich mich vor einem ihrer aussagekräftigsten Nachkomen. Der
Autor hatte in seinem Sack ein Päckchen Geschichtlichkeit mitgebracht:
anhand des Mediums der Literatur destilliert. Bald sollten wir uns
darüber unterhalten, wie die Täler noch demokratischer,
ja wie sie global werden mögen. Ein Diskurs lag in der Luft.
Ich war etwas früher zum Hotel gegangen, um dem
berühmten Hugo Loetscher um eine halbe Pferdelänge voraus
zu sein. Er aber war freilich noch früher runtergekommen (That’s
the Swiss way), um mich willkommen heißen zu können in
sein Hotel, das sich in meinem Land und sogar in meiner Stadt befand.
Dabei sah er gelassen aus, wie jemand, der sämtliche Hausaufgaben
längst erledigt hat, und schien irgendwie darauf zu warten,
dass die hoffnungsvoll hinterher hinkende Gegenwart ihn einholen
würde. Natürlich, was sollte ein Schweizer denn sonst
tun, als auf den Rest der Welt warten? dachte ich, und fügte
somit der nackten Wirklichkeit des erzählbaren Jodelns brav
romantisierend und gleichsam vorbildlich klassizistisch ein gerade
mal passendes Stereotyp hinzu. Bestimmt ging seine Uhr fünf
Minuten vor. (An der Uni gehen die Uhren zehn Minuten nach.) Bestimmt
war seine Weltanschauung fünfmal anschaulicher als unsere Weltanschauung.
Bestimmt hatte er Löcherkäse mit. Und von seinem neutralen
Standpunkt aus konnte er jedenfalls ohne weiteres mitbekommen, wie
die unmittelbare Gegenwart auf die nahe Zukunft zueilt.
Was sich so als Gegenwart herumtut, will immer personifiziert
werden. Das ist eine Erwartung, mehr, eine Voraussetzung, die jeder
Reisende mitbringt, der sich routinenmäßig an Texten
vergreift, um daraus Werke zu schleifen. Mir fiel ein, dass im Moment
ich als Stellvertreter der Gegenwart einspringen durfte. Aus all
den sauberlich gedankenreich im Diogenes-Verlag herausgegebenen
Büchern war wie selbstverständlich eine „echte“
Person zutage getreten: eine verkörperte Instanz der Textproduktion.
Greifbar nah. Auf wundersamen Wegen vertraut. Noch wirklicher als
die erfundene Wirklichkeit (La realite surpasse la fiction). Fast
konnte ich eine vielsagende Gestalt zwischen den Zeilen hervorspringen
sehen: auf mich zukommen, auf sich selbst zukommen, einmal, zweimal:
immer wieder. Fast konnte ich die Worte erraten, die der Autor in
wenigen Minuten aussprechen würde. Fast konnte ich seinen Silben,
seinen Semen, seiner Flugkarte auf den Zahn fühlen. Aber eben
nur fast.
Soll man einem Schweizer, der sich unter anderem lange
in Südamerika aufgehalten hat, auf Spanisch oder etwa auf Portugiesisch
kommen? Ungewissheit, nicht nur hier. Señor oder Nicht-Señor?
Nicht-Señor, weil Demokrat. Mal hinschauen: Lederschuhe -
also doch Señor.
Grußworte gehen schnell vorbei. Ein paar Schritte,
und wir befanden uns auf dem Gehsteig, den CN-Turm im Blick. Mit
dem Aufzug dauert es nur eine Minute bis oben. Aber wir wollten
ja unten bleiben. Denn nach der Lesung stand „Erfrischungen“
im Programm (eine Sünde, sie zu verpassen). Es regnete nicht
mehr, nur der Wind tobte fürchterlich. Wir gingen die Bloor
entlang und dann die Davonshire hinunter zum Munk Centre, wo die
Lesung stattfinden sollte.
Die verschlossene Tür schien uns vorzuenthalten,
dass wir uns das Vergehen der Überpünktlich hatten zuschulde
kommen lassen. Kein Türhüter ließ sich erspähen.
Ein rettender Schlüssel stürzte auch von nirgendwo auf
uns zu. Es gab also einen Raum, wo sich was tun sollte, und wir
befanden uns verhängnisvollerweise außerhalb dieses Raumes.
Unwillkürlich schlugen weitausholende Fragen aus den dunkelsten
Ecken des verbotenen Territoriums akademischer Mysterien gleichsam
auf die Ohrtrommel los: Wie wenn sich drinnen gar der Text befand?
Ob wohl der Text nicht aufmachen wollte? Warum denn nicht? Keinen
Zugang zum Text haben: unheimlich. Oder vielleicht kam es sogar
noch unheimlicher: Vielleicht war überhaupt nichts drin. In
diesem Falle musste man sich etwas einfallen lassen.
Wir hatten Glück. Ich sprach eine amtlich aussehende
Dame an, die sich am Anfang recht pessimistisch gebärdete und
etwas vom anderen Ende des Gebäudes sagte (schlimme Wendung:
weit entfernt), uns dann jedoch bald an eine ebenfalls amtlich aussehende
Dame weiterleitete. Und diese wiederum hatte den Schlüssel.
Der Abend sollte noch ein großer Erfolg werden. Das Geheimnis
des Textes war kein Geheimnis mehr.
Wir standen ganz allein an einer bedeutungsvollen
Stelle in einer Stadt, deren Name „Treffpunkt“ bedeutet.
Wir befanden uns innerhalb des Konferenzraumes, der nun dank eines
einfachen Entschlüsselungsprozesses nicht mehr verschlossen
war. Aleia iacta est. Was wohl von außen auf uns zukommen
würde? Gab es überhaupt ein Ausserhalb? Zum richtigen
Dasein gehört Perspektive. Es blieb nicht viel Zeit zur Beschäftigung
mit grundlegenden Fragestellungen übrig, denn bald kamen die
Schweizer, genauer gesagt: Bald kamen viele Schweizer.
Dass es so viele Schweizer in Toronto gibt, hatte
ich gar nicht geahnt. Sie wirkten wie eine kleine Armee, meinetwegen
neutral und nur mit Uhren, Scheinen und Süßigkeiten bewaffnet,
aber immerhin eine kleine Armee. Ich nahm mir vor, auf der Hut zu
sein, um nicht neutralisiert zu werden. Der Autor hatte für
den Extremfall über zweihundert Argumente und Gegenargumente
parat.
Großes Wort für kleines Land? Seit Gotfried
Keller durchaus möglich. Eine schweizeische Literatur in deutscher
Sprache gibt es dabei nicht, meint Lotscher, so wie es auch keine
österreichische gibt. Wie bitte? A ja, Literatur deuschsprachiger
Ausdrucksweise, geschrieben in der Schweiz: das hört sich schon
ganz anders an. Das sitzt, weil zureichend definiert. Das gibt es.
Zeit zum Lesen: Hugo Loetscher geht wie mit Lesebrillen
durch die Welt. So wie man durch einen Text geht. Mit offenen Augen.
Mit klopfendem Herzen. Mit all seinen Buchstaben. Mit seinen Vorahnungen
und mit seinem Staunen. Ganz fremd ist er nirgends. Ganz kategorisch:
selten. Denn es gibt immer noch Steine am Wegrand, die er nicht
umgedreht hat.
Für ein Porträt fehlt hier der Rahmen, eine
Skitze reicht nicht aus. Loetscher versteht sich darauf, Welten
zu zählen. Er weiß um die unterschiedlichen Bedeutungsschichten,
die in Wörtern wie „Haben“ und „Danke“
liegen (In manchen Kulturen ist etwa der Dank einfach da, selbst
wenn er sich nicht ums Haben dreht). Er hat die Menschen in abgelegenen
Regionen aufgesucht, deren Hoffnungen und Emotionen mit den Mitteln
des bewanderten Schriftstellers aufgezählt.
Doch beim Aufzählen von Welten und deren Bestandteile
sollte es nicht bleiben. Ein hochgradiges Ergründungsvermögen
und die Achtung für seine Mitmenschen auf dem lieben runden
Globus haben diesen Autor dazu veranlasst, poetische Bilder in den
Raum zu stellen, die wie kulturtheoretische Abhandlungen anmuten,
denen gleichsam jedwelche Distanz und Kälte abhanden ging.
Seine Dichtungen sind wohlrecherchierte und vielfach reflektierte
kritische Analysen: mit Witz und Herz niedergeschrieben. Seine Reportagen
wiederum genügen allen Ansprüchen der Dichtung, so dass
sich daraus ein ausgewogenes literarisches Gesamtwerk zusammenfügt:
sozusagen an allen Ecken rund.
Wer so poetisch aufgelegt ist, muss natürlich
auch Poesie schreiben. Der 2004 erschienene Gedichtband trägt
den Titel „Es war einmal die Welt“. Nicht bloß
eine Welt, sondern die Welt. (Die ganze Welt wird hierin ins Märchenhafte
umstilisiert. Mythen sind nämlich immer großzügige
Schlupfwinkel für Fragezeichen und Intuitionen). Es war an
der Zeit, dass er sich mit seinen Gedichten an die Öffentlichkeit
traute. Angefangen mit dem Dichten hatte der Autor nämlich
bereits als Jugendlicher. Denn ein Schriftsteller fängt ja
nun einmal als Dichter an, so Loetscher.
In „Der Waschküchenschlüssel oder
Was, wenn Gott Schweizer wäre?“ analysiert der Schriftsteller
unter anderem ein paar typisch schweizerliche Ausdrücke und
deren Schwierigkeiten, sich im gesamtdeutschen Sprachraum wenigstens
auf dem Gebiet der Literatur Geltung zu verschaffen. Was ihm nicht
gängig ist, streicht der deutsche Lektor einfach, ohne sich
dabei viele Gedanken zu machen: von „Morgenessen“ bis
„Übergwändli“: der Text wird saniert, seine
Bedeutungen in ein überblickbares und geregeltes Verhältnis
zum Kontext eingebunden. Das schweizerische Element muss kämpfen,
um sich neben dem zu bewähren, was man so „gutes Deutsch“
heißt. Ja, wenn Gott Schweizer wäre, so mag man bei der
Lektüre des Buches unwillkürlich schließen, dann
würde sich das Rad umdrehen: dann müsste alle Welt „Grüzi“
sagen. Dann dürfte kein deutscher Arbeiter mehr ohne „Ürbergwändli“
zur Arbeit. Duden made in Switzerland? Der Konjunktiv im Titel deutet
allerdings an, dass Gott kein Schweizer sei.
Nun einmal aus multikulturalistischer Perspektive:
Darf man in Kanada unter dem Vorwand akademischer Geschäftigkeit
(und in einem Saal, der sich auf- und zuschließen lässt)
einfach so mir nichts, dir nichts schweizerisches Gedankengut einschmuggeln,
das sich zudem ja gar nicht schweizerisch anhört? Darf man
wirklich mit Mythen und Perspektiven Handel treiben wie mit Toblerone
und Emmenthaler? Darf man von einer anderen Seite her ankommen als
von der Seite, aus der man angekommen ist? Wem steht es zu, Situationen
der Sprache zu erfassen? Was ist klassisches Latein in Toronto?
Wer bestimmt, wie sich Buchstaben aneinanderzureihen haben?
„Lesen statt Klettern“ ist ein ausdrucksvolles
Leitwort von Hugo Loetscher. Und natürlich der Titel eines
anderen Buches. Die Berge sind wunderschön. Der Käse schmeckt.
Die reine Luft tut gut. Aber die Schweizer Literatur setzt nun eben
einmal mit der Verlagerung des Brennpunktes erzählbarer Betrachtungen
und Darstellungen auf das Urbane, auf die Stadt an: durch den Weg
in die Bildung. In den Humanismus.
Freilich: Bildung ist nicht dasselbe wie Building.
Denn sonst wären die Hochhäuser ihrerseits Exponenten
höchster Bildung, vom Body Building ganz zu schweigen. Klettern
kann man in Toronto auf natürlicher Weise nicht, sondern nur
wenn das Urbane als Ersatz für die Natur herhält. Lesen
könnte man hier eigentlich schon. Aber das ist ja wieder ein
Konjunktiv.
Loetscher versteht sich einfach darauf, Welten zu
zählen. Zwei Tage nach seiner Ankunft am Hauptbahnhof saß
er schon im Flugzeug. Die malerische Provinz British Columbia wartete
auf ihn. Und als er dann schließlich den Pazifischen Ozean
so wirklich erreichte, wendete er sich den Staaten zu, um auch dort
mal aufs Neue das Ankommen zu üben.
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