Den ganzen Tag über, unermüdlich,
waren Pape und John-Johnny im überfüllten Köln dem
Papst und seinem Papamobil hinterhergelaufen, jetzt aber, gegen
Abend schon, gingen sie endlich gemächlicher, trotteten über
die große Rheinbrücke heim zu ihrem Lager, zwei hoch
ins Kraut geschossene Gestalten, schon um die vierzig der eine,
dem eine Papstmütze schief auf dem Kopf vor grauschwarz wuchernden
Haaren saß, noch fast ein Junge der andere, der einen Schnurrbart
trug, dessen dünne, schwärzlichen Enden ihm bis auf den
Hemdkragen baumelten. Beide schwiegen, summten nur vor sich hin
oder knufften sich hin und wieder wortlos in die Seiten, bis, in
der Mitte der Brücke angekommen, der Jüngere plötzlich
einen Sprung machte.
„‘n geiler Papst, was? Heiliger Benedetto!
Das war’n wirklich geiler Papst, hu! Der hätte es meiner
Scheißmutter gegeben, Pape! Was, Pape? Der hätte ihr
eingeheizt!“
„Scheißmutter?“ Pape knuffte den
anderen stärker, so dass er leicht taumelte. „Hömma,
John-Johnny, Scheißmutter, Scheißmutter! Den ganzen
Morgen und jetzt seit dem Roncalli-Platz hast du nichts anderes
drauf. Was ist mit der Scheißmutter?“
Damit blieb er stehen. John-Johnny blieb auch stehen,
stoppte, für Gleichgewicht sorgend, die Schwingungen seines
Bartes, indem er die Enden mit der Rechten umklammerte, und sah
Pape an.
„Ist eben ‘ne Scheißmutter“,
sagte er.
„Na, aber was ist mit der Scheißmutter?“
sagte Pape.
John-Johnny blickte in die sich ineinander schiebenden
feisten Wolken über ihren Köpfen und begann schwer zu
atmen. Plötzlich sagte er laut:
„Sie war ... Nein, willst du’s wirklich
wissen, Pape?“
Pape nickte.
„Sie war ... Nein, sie hatte ... Sie hatten
‘nen Hund, weißt du?“
„Ach“, sagte Pape, „ ... ‘nen
Hund! Die Scheißmutter, was?“
„Ja, ‘nen Hund, der Trudi hieß“,
sagte John-Johnny, „‘nen winzigen Hund hatte sie, und
er wurde jeden Tag winziger und pinkelte überall hin, und ich
war fünf Jahre alt.“
„Ach“, sagte Pape.
„Ja, und diese Trudi, Pape“, sagte John-Johnny,
„pinkelte auch ins Pfarrhaus, weißt du, wo meine Mutter
arbeitete, aber das durfte Trudi, weil der Pfarrherr es duldete,
und meine Mutter ging mit Trudi über den Dorfanger in der Sonne
spazieren und schmuste mit ihr jede freie Stunde und juchheite mit
ihr im Bett in den Daunen herum, während ich im Nebenzimmer,
wo der Apfelbaum hereinschaute, schlafen sollte, ... aber dann ...
dann war der Hund eines Tages weg ...“
John-Johnny zog einen Flachmann aus dem Hemd und trank.
„ ... War weg, verstehst du? Meine Mutter schrie
durchs gottverdammte Pfarrhaus und schrie Hochwürden an und
heulte und bohrte mit den Augen in alle Ecken - bis sie zum Hintereingang
der Kirche kam, dorthin, wo die Penner und Bettler unter den Apfelbäumen
standen und auf ihre warme Graupensuppe warteten, die meine Mutter
ihnen Tag für Tag kochte, und dort, unter dem größten
Apfelbaum, stand einer von ihnen, das Essgeschirr in der Hand, mit
Augen wie matt glänzende Uniformknöpfe, und sagte:
‘Ich hab’ ihn.’
‘Den Hund? Den Hund?’ schrie meine Mutter.
Und der Mann mit den Uniformknopfaugen sagte:
‘Hundert Mark.’
‘Was?’
‘Hundert Mark, oder er ist tot, ein toter Hund,
Frau!’
Da holte meine Mutter hundert Mark, verstehst du,
Pape, hundert Mark aus’m alten Buch oder unterm Teppich hervor,
weiß Gott, wo sie das Bisschen aufbewahrte, das sie hatte,
und gab dem Kerl das Geld, steckte ihm den blauen Schein zittrig
zwischen die knochigen Finger, und der Kerl führte meine Mutter
zur Sakristei, die er abgeschlossen hatte, und öfmete die Tür.
Da lag der Hund auf dem hellen Teppich unter dem Kruzifix auf dem
Rücken, als wolle er sich kraulen lassen, die langen flauschigen
Ohren platt neben dem Kopf, aber er atmete nicht, nein, er konnte
nicht atmen, denn seine Kehle war durchschnitten.“
Als John-Johnny so weit gekommen war, hatten die beiden,
die inzwischen weitergegangen waren, fast das Ende der Brücke
erreicht. John-Johnny trank wieder aus der Flasche, Pape starrte
zum Himmel und sagte:
„Und? Was ist geworden? Was ist dann geworden?“
„Weiß nicht“, sagte John-Johnny.
„Nicht? Du weißt es nicht?“
„Nein“, sagte John-Johnny, „ich
stand an der Sakristei-Tür, als meine Mutter den Hund zu sehen
kriegte, und ich rannte von dort weg zwischen die Apfelbäume
und in den Wald, und meine Scheißmutter hat nichts erzählt,
auch später nicht, nein.“
„Hat nichts erzählt, die Scheißmutter?“
Nun trank auch Pape, der die Flasche erneut aus John-Johnnys
Hemd hervorgeangelt hatte, einen kräftigen Schluck.
„Nein“, sagte John-Johnny, „überhaupt
nichts, verstehst du? Sie ist auch nicht mehr zum Pfarrer zum Arbeiten
gegangen, sie hat mir kein Essen gekocht - an jenem Tag nicht und
auch später nicht, nie mehr, sondern hat nur dagesessen und
geheult und ein bitteres Gesicht gemacht und Gott angeklagt - an
jenem Tag und am nächsten Tag und am übernächsten,
weil das geschehen war, das mit dem toten Hund - bis heute, verstehst
du, Pape, bis heute...“
Sie verließen jetzt die Brücke. Pape hielt
mit einem Ruck an, trank erneut, setzte dann die Flasche an John-Johnnys
ein wenig zuckende Lippen und ließ ihn ebenfalls trinken.
„Und der Papst“, sagte er, während
John-Johnny trank, „soll der jetzt züchtigen? Die Mutter
züchtigen?“
„Züchtigen?“ John-Johnny verschluckte
sich plötzlich und stieß spuckend mit beiden Händen
die Flasche weg, dass sie seitlich davonpolterte. „Was heißt
denn züchtigen? Zur Hölle soll sie! MUSS denn nicht Gerechtigkeit
sein? Ja, zur Hölle! Für alle Ewigkeit zur Hölle
und geradewegs zum Spazifantus soll er sie jagen!“
Pape, seine Papstmütze von den vorderen Haarspießen
gegen die hinteren rückend, starrte wieder zum Himmel.
„Nein, ich weiß doch nicht“, sagte
er, „der Benedetto, wenn der käme ... müsste der
nicht segnen? Was? Nein, das mit dem Spazifantus, das täte
er vielleicht nicht...“
John-Johnny spuckte wieder, spuckte, die Schultern
hebend, in weitem Bogen hinter der Flasche her, die im Gebüsch
am Straßenrand lag.
„Und was denn sonst, he? Was denn sonst täte
der Benedikt, und was sollte er Gerechteres antworten, wenn ich
ihm anvertraute, wie viel ich geweint hab’, geweint und geweint,
und was mit mir los gewesen ist all’ die Jahre?“
Pape kratzte sich am Kopf.
„Tja“, sagte er. „Geweint? - Geweint
und geweint? Und willst du denn jetzt zum Benedikt beten, dass er
das ärmste Schwein in deinem Dorfe nochmals auf den Kopf haut?“
„Das ärmste Schwein? Wie?“
„Ja“, sagte Pape, „du darfst raten,
wer das ist.“
***
Ein Karikaturist vor den Höllenwärterengeln
Von Peter Schütt
Sören Jyllandsposten hatte seine spitze Feder
für immer aus der Hand gelegt und war in der Gewissheit, dass
es kein Leben und kein Gericht nach dem Tode gibt, sanft entschlafen.
Doch die erhoffte ewige Ruhe dauerte nur sehr kurz. Kaum hatte man
Sören ins Grab gelegt, rüttelten ihn auch schon die Zabaniya,
die Höllenwärterengel, aus seiner Friedhofsruhe wach.
Seine Befragung im Grab verlief streng nach Vorschrift und war ebenso
kurz wie schmerzhaft.
Wer ist dein Gott? war die erste Frage.
Sören wusste keine Antwort.
Wer ist dein Prophet?
Der Befragte versuchte den Kopf zu schütteln,
aber der ließ sich nicht mehr bewegen.
Der Engel Munkar hakte nach. Moses? Jesus? Mohammed?
Buddha? Konfuzius?
Sörens blutleere Lippen brachten kein Wort heraus.
Der Engel Nakir setze das Verhör fort. Was ist
deine Religion?
Der Verhörte brachte keine Antwort zustande.
Letzte Frage. Wohin zeigt deine Gebetsrichtung?
Sören verstand nur Bahnhof.
Aufstehen!, schrie der Engel, und mühsam erhob
sich Sören aus seiner Grabesenge. Nakir wollte ihm gerade mit
seiner berüchtigten eisernen Keule den Rücken polieren,
als Munkar ihm mit einer Handbewegung gebot, noch einmal innezuhalten.
Kennen wir den Keri nicht? fragte er.
Doch, kennen wir ihn! Das ist doch der, der sich über
den Propheten Mohammed lustig gemacht hat und der damals unter den
Menschen viel Staub aufgewirbelt hat! antwortete Nakir.
Sören Jyllandsposten witterte eine allerletzte
Chance, seiner drohenden Verdammnis zu entkommen.
Pardon, rief er den Höllenwärterengeln zu,
ich habe zwar einmal den Propheten karikiert, aber so war das nicht
gemeint.
Nakir lachte lauthals. Du hast den Propheten als Bombe
mit einer Zündschüre karikiert, und jetzt behauptest du
frech, das hättest du höchstens mystisch gemeint.
Verzeihung, Entschuldigung! seufzte Sören. Zu
seinen Lebzeiten hatte er dieses Wort nicht ein einziges Mal über
die Lippen gebracht, aber angesichts der Realität seines Todes
schien ihm zumindest der Anschein der Reue geboten.
Die Engel schwiegen. Die Peinlichkeit ihres Schweigens
drang Sören durch sein totes Mark und Bein.
Hier unten, beendete Munkar endlich die Grabesstille,
erntet jeder Mensch das, was er auf Erden gesät hat. Du hast
Hass und Zwietracht gesät. Also wirst Du an deinem Verdammungsort
nichts als Hass und Zwietracht ernten. Dein Kopf wird sich anfühlen
wie eine Bombe, die jederzeit platzen kann, und die anderen Spötter,
die mit dir die Hölle bewohnen, werden sich vor lauter Angst
und Grausen von dir abwenden.
Reumütig fiel das, was von Sören Jyllandsposten
übriggeblieben war, vor den beiden Höllenwärterengeln
auf die Knie. Gibt es denn keine Abteilung für Satiriker und
Karikaturisten? Ich bin doch nicht der erste, der sich über
den Propheten lustig gemacht hat. Ich denke nur an Voltaire oder
an Salman Rushdie.
Dass ich nicht lache, scherzte Munkar. Du stellst
dich doch wahrhaftig diesen beiden auf eine Stufe! Dummheit und
Stolz wachsen auf gleichem Holz. Voltaire und Rushdie waren in der
Tat geistreiche Spötter. Sie waren so witzig, dass selbst die
Propheten daran ihr Vergnügen hatten. Aber deine armseligen
Karikaturen waren einfach witzlos und dumm. Mohammed, der Verehrte,
dessen Ehre du so gern verletzt hättest, hat einmal gesagt,
ein kluger Feind ist ihm lieber als tausend dumme Freunde.
Der Engel zu seiner Linken, Nakir, stieß in
dasselbe Horn. Auch in der Hölle gibt es so etwas wie eine
Rangordnung. Hier wird jeder nach seinen Verdiensten und Leistungen
beurteilt. Hier gilt das Leistungsprinzip, und einen Dänenrabatt
gibt es auch nicht. Der arme Sören war den Tränen nah,
aber sein Zustand ließ nicht einmal einen Krokodilstränenfluss
zu. Da gibt es kein Entrinnen, wehklagte er, ich muss herab auf
die unterste Stufe.
Der Engel zu seiner Rechten, Munkir, klopfte ihm auf
die klapprige Schulter. Du gehst dahin, wo die Spötter sitzen
und sich gegenseitig das jenseitige Leben zur Hölle machen.
Sören seufzte tief und seufte, bis Nadir noch
einmal das Wort ergriff. Du bist dazu verdammt, immer neue Karikaturen
über unsere Propheten zu entwerfen. Unter deinen Höllengenossen
wird es dir vielleicht nicht schwerfallen, dafür Beifall zu
finden. Aber du musst dich bemühen, ständig besser zu
werden. Solange, bis Du es eines fernen Tages schaffst, mit deinen
satirischen Zeichnungen auch die Bewohner des Himmels zum Lachen
zu bringen. Das wird ein jahrmillionenlanger Weg der tätigen
Reue werden, aber am Ende kannst Du so geläutert werden, dass
du teilhaben kannst am himmlischen Gelächter.
Sören Jyllandsposten wollte es nicht glauben.
Im Himmel, maulte er, gibt es kein Lachen. Da gibt es nur Singen
und Beten. Hast du eine Ahnung’, lachten die Höllenwärterengel.
Abend für Abend sitzen die Propheten beisammen und erzählen
sich gegenseitig die Witze des Tages. Und der Prophet, den Du so
finster dargestellt hast, der schafft es regelmäßig,
selbst den gestrengen Moses und sogar Jesus mit seiner Leidensmiene
zum Lachen zu bringen.
Das möchte ich sehen! rief Sören den Engeln
zu, und der Engel Munkir antwortete ihm vieldeutig: Du wirst es
sehen, nach Millionen Jahre langer Bewährungsfrist in der Karikaturistenwerkstatt.
Dann sprach der Engel Munkir ein Machtwort: Jetzt ab mit dir in
dein Himmelreich!
Sören fiel aus allen Wolken. Himmel..., stammelte
er.
Der Höllenwärterengel verschaffte ihm letzte
Klarheit: Dein Himmelreich ist die Hölle. Da gibt es nichts
Heiliges mehr. Da kennt man keinerlei Respekt vor einander. Da könnt
ihr einander nach Herzenslust wehtun. Das ist das Himmelreich für
die Spötter. Hinab mit dir!
***
Peter Schutt ist seit mehr als 15 Jahren Muslim. In
seinem Buch „Allahs Sonne lacht über der Alster. 111
Geschichten aus der 1002. Nacht“ möchte er zeigen, dass
auch Muslime Spaß verstehen.
***
Extrem – Situation
He! TOD,
dengel
deine Sens’
ich schleif’ die Axt!
Goethe und der Galgen
Von Artur K. Führer
Es wird immer klarer: die Heroen der Geschichte haben
n i c h t n u r Sonnenseiten, ihre Schattenseiten (meist verschwiegen)
sind oft ebenso „groß“. Für mich immer schon
ein „Problem“: der Doktor Martin Luther, ein mutiger
Reformator und großartiger Bibelübersetzer - aber auch
einer, der den aufständischen Bauern in den Rücken fiel,
sie beschimpfte, verachtete und bekämpfte und widerliche Totschlagsrufe
gegen die Juden verfasste - ein schlimmer Antisemit.
Meine Uni an der Saale trägt seinen Namen.
Und unser Dichterfürst in Weimar... präsent
durch die Jahrhunderte als UNIVERSALgenie in der NATUR, in der GESCHICHTE
und als KLASSIKER der feinen Poesie. Postuliert: humanitäre
Gesinnung, LIEBE und M1TMENSCHLICHKEIT. Und dann ... im Jahre 1783
betet in einer düsteren, feucht-kalten Zelle des Zuchthauses
an der Böttchergasse die junge Magd Johanna Catharina Höhnin
aus Tannroda für ein gnädiges Urteil. Sie hat treu und
fleißig in der Niedermühle gedient, aber vor dem hohen
Gericht n i c h t preisgegeben, w e r hin und wieder bei Nacht in
ihre Kammer geschlichen kam. Sie wurde schwanger, aber niemand sollte
davon wissen - dabei dachte sie an die Tochter eines Tagelöhners
aus dem Nachbardorf: die wurde mit Peitschenhieben aus der Gemeinde
getrieben und des Landes verwiesen.
Johanna wollte „so etwas nicht erleben ...“
Ihre panische Angst bewog sie „...ihr Neugeborenes
noch vor dem ersten Augenaufschlag aus dem Leben zu nehmen.“
Kurz danach wurde sie von „den Bütteln
abgeholt“. Und eingesperrt. Nun droht ihr die Todesstrafe.
Die letzte wurde vor achtundzwanzig Jahren hier vollstreckt.
Die Meinungen prallen aufeinander: Todesstrafe oder
Knast. Der Geheime Rat und Präsident der Kammer, Goethe, wird
um seine Meinung „ersucht“, die „berühmteste
Persönlichkeit der Stadt“. Spötter behaupten, man
habe gerade ihn um Rat gebeten, weil er Erfahrungen habe „mit
Frauen in fremder Kammer“.
Am 4. November 1783 entscheidet der feinsinnige Dichterfürst,
„die Todesstrafe beyzubehalten“ und die arme Magd hinzurichten.
Zwei Wochen später wird Johanna Catharina Höhnin
auf der Richtstätte vor dem Erfurter Tor vom Scharfrichter
mit dem Schwert enthauptet. Ihrer Leichnam bringt der Abdecker!
auf seinem Karren nach Jena zum Pathologischen Institut.
n.B.: Die beiden Geistlichen, die der Verurteilten
auf ihrem letzten Gang Beistand leisteten, erhielten je einen Reichstaler.
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