XXV. Jahrgang, Heft 140
Apr - Mai - Jun 2006/2

 
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Letzte Änderung:
12.04.2006

 
 

 

 
 

 

 

MEDIEN – KULTUR – SCHAU

Mark Michalski (Hrsg.): Jenseits der Idylle
Sechs griechische Erzähler. Griechisch/Deutsch. Romiosini Verlag, Köln 2005, 214 Seiten, 19,80 Euro

   
 
 

Um Theologie zu studieren, ging Charles Darwin im Jahre 1827 an das Christ’s College nach Cambridge. An seine Zeit dort erinnert an der Fassade eines alten zweistöckigen Hauses eine Marmortafel. Wer solchen Denkwürdigkeiten seine Aufmerksamkeit schenkt, der darf zu Recht Idylliker genannt werden. Nicht so der Erzähler in der Geschichte „Der Fund“ von Christophoros Milionis (geb. 1932). Für ihn ist der große Naturforscher nämlich nicht der Vater des Gedankens, dass die Entwicklung vom Niederen zum Höheren verläuft, und somit gilt er ihm auch nicht als Begründer des Kinderglaubens: alles wird gut. Nein, für ihn ist Darwin derjenige, „der die Bestie im Menschen entdeckte, der dem Geist die Flügel gestutzt und abgenommen hat und ihn auf allen Vieren gehen und die Wahrheit in den Urwäldern hat suchen lassen.“ Als Defätist ist man allerdings auch leicht seinen eigenen Ängsten erlegen. Der Erzähler, mit Frau und Reisebegleiterin unterwegs, nahm einen vor Darwins Haus liegen gelassenen Fotoapparat an sich. Was aber, wenn sich dieses harmlose Utensil als eine von finsteren Seelen „mit einem explosiven Gemisch aus Hass, Verzweiflung und Fanatismus“ geladene Sprengbombe erweist? Schwärzeste Gedanken stören nächtens seinen Schlaf, aus dem er aufschreckt - durch den Blitz, als seine Damen sich einen Spaß und ein Foto von ihm machen. Christophoros Milionis weiß als Erzähler von Rang, wie Effekte zu setzen sind. Bei ihm, dem sich ins Gedächtnis gebrannt hat, wie in der Heimat Ipiros während des Krieges sein Vaterhaus abgefackelt worden ist, kann man getrost davon ausgehen, dass das nicht Effekte sind um der Effekte willen.

Als ähnlich begnadeter gottloser Spötter stellt sich mit seiner Erzählung „Der Matrose“ Elias Papadimitrakopulos (geb. 1931) vor. Man brauchte letztens im Film „Waiting for the clouds“ von Yesim Ustaoglu über die skurrile Szene, wo in einer türkischen Dorfschule Patriotismus eingeübt wird, gar nicht den Kopf zu schütteln. Auch in der griechischen Schule wird die Jahresfeier mit einem ellenlangen heroischen Gedicht garniert, in unserem Fall mit „Der Matrose“. Der Schüler, der dieses edle Kunstwerk deklamieren darf, ist besonders talentiert, der unangefochtene Star unter seinesgleichen. Dennoch verweigert ihm eine Maid ihre Gunst, was er mit Versen der Art „Mir zeigst du gestern heimlich deine Titten / und lässt dich schamlos jetzt von diesem Arschloch ficken“ zu parieren weiß. Das Gejohle der Mitschüler beweist: Nichts ist in unpathetischen Zeiten weniger angesagt als hehres Pathos.

Der Band „Jenseits der Idylle“ enthält - durchweg in erster dt. Übersetzung - Erzählungen der Jahre 1986 bis 2004. Der in Sparta beheimatete Dimitris Petsetidis (geb. 1940) wird erstmals auf Deutsch präsentiert. Die Sicht der Dinge ist bei allen diesen sechs Autoren (außer den drei genannten sind mit von der Partie: Maro Duka, Niki Marangou und Mitsos Alexandropulos) eine höchst gegenwärtige.

Horst Möller

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Mahasweta Devi: Aufstand im Munda-Land

Roman. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 2005. 286 Seiten, 17,80 Euro

Vom antikoloniale Widerstand gegen das britische Empire in Indien ist der große Volksaufstand von 1857-58 bekannt, als Teile des indischen Militärs sich auf die Seite der Rebellen schlugen und die Kolonialverwaltung an den Rand des Zusammenbruches brachten. Doch Ruhe hat weder vor noch nach dieser Erhebung geherrscht. Irgendwo in diesem riesigen Landes gab es immer Unruhe, Widerstand oder offenen Aufruhr.

Die bengalische Autorin Mahansweta Devi hat sich mit ihrem ersten, 1975 in bengalischer Sprache veröffentlichten Buch der Aufgabe gestellt, die „Spuren der Besiegten“ nachzuzeichnen. Sie wurde für dieses Roman mit dem Sahitya Akademi Award ausgezeichnet und gehört heute zu den bekanntesten indischen Autor/innen. Das Buch wurde jetzt mit Unterstützung der als Herausgeber fungierenden „Heidelberger Südasiengruppe“ erstmals ins Deutsche übertragen. Die Herausgeber steuerten zum besseren Verständnis noch ein sehr lesenswertes Nachwort bei.

Historischer Hintergrund des Romans ist der Aufstand der ethnischen Minderheit der Munda von 1899-1900. Die Autorin hat offensichtlich sehr umfänglich recherchiert und zeichnet in eindringlichen Bildern die grauenhaften Lebensbedingungen in den Munda-Dörfern im östlichen Zentralindien nach. Traditionell außerhalb des Kastensystems und damit der indischen Mehrheitsgesellschaft stehend, waren sie hilflos der Willkür von Grundbesitzern, Geldverleihern und Kolonialbeamten preisgegeben. Massiver Landraub nahm ihnen nach und nach die Lebensgrundlagen - vielen Munda blieb nur die Wahl, sich entweder auf die Schuldknechtschaft bei einem Grundbesitzer einzulassen, sich unter elenden Bedingungen auf britischen Teeplantagen zu verdingen oder aber zu konvertieren und sich unter den Schutz einer deutschen Missionsgesellschaft zu begeben. Eine rigide Anwendung der von den britischen Kolonialbehörden erlassenen Forstgesetze raubte den Munda schließlich auch noch ihre letzte eigene Ernährungsquelle - den Urwald.

Die Autorin schildert die Entwicklung, die schließlich zum verzweifelten Aufstand einiger hundert schlecht bewaffneter Urwaldbewohner gegen das britische Empire führte, abwechselnd aus der Sicht mehrerer Personen, deren individuelle Schicksale in dieser Zeit miteinander verknüpft waren. Da ist beispielsweise der Bengale Amulya Babu, der entgegen der eigenen Überzeugung den Briten dient und verzweifelt immer wieder versucht, Schlimmeres zu verhüten. Und da ist der uralte Dhani, der sich noch erinnern kann, wie die Munda in vergangenen Zeiten in gemeindeeigenen Dörfern ein anderes Leben gelebt hatten, der seit seiner frühen Jugend von Rebellion zu Rebellion geeilt ist und immer wieder erleben mußte, daß die Briten stärker waren. Und da ist schließlich als eigentlicher Held des Buches Birsa Munda, der charismatische Führer des Aufstandes.

Die Autorin schildert Birsa als eine ungewöhnliche Persönlichkeit: Er wurde in einer Missionsschule unterrichtet, sagte sich dann aber von den deutschen Patern los, als er erfahren mußte, daß diese nichts gegen den fortwährenden Landraub unternahmen und letztlich mit der Kolonialverwaltung an einem Strang zogen. Zurück in den heimatlichen Dörfern verkündete er als Prophet eine eigene Religion, die den ursprünglichen Glauben der Munda mit Elementen des Christentums verband. Binnen kurzem erreichte er, daß die Mehrzahl der Stammesangehörigen ihn als religiösen Führer anerkannte. Auch seine zeitweilige Inhaftierung bewirkte nur, daß die Bewegung immer weiter um sich griff.

Als während einer Dürrezeit in den Munda-Dörfern ein Massensterben drohte, verkündete Birsa schließlich den offenen Aufstand. Die Birsaiten töteten besonders verhaßte Grundbesitzer und Geldverleiher, brannten Missionsstationen nieder und griffen Polizeipatrouillen an. Die Kolonialverwaltung reagierte auf die gewohnte Art: Dem Militär hatten die nur mit Pfeil und Bogen bewaffneten Aufständischen wenig entgegenzusetzen. Die Erhebung währte nur kurz. Birsa Munda starb im Alter von nur 25 Jahren am 9. Juni 1900 unter ungeklärten Umständen im Gefängnis. Seine führenden Anhänger wurden hingerichtet oder überlebten das Gefängnis nicht - andere mußten unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich freigesprochen werden.

Das Buch ist flüssig geschrieben und vermittelt ein sehr lebendiges Bild von den grausigen Auswirkung des Kolonialismus auf die Ureinwohner des indischen Subkontinents. Einheimische Feudalstrukturen gingen mit der aus Übersee importierten kapitalistischen Moderne eine unheilige Allianz ein. Leidtragende waren wie stets die Ärmsten der Gesellschaft. Doch gleichzeitig wird von der Kraft der Schwachen erzählt, die lieber einen aussichtslosen Kampf wagten, als hungernd zugrunde zu gehen. Der Aufstand wurde niedergeworfen, doch die praktizierten Ausbeutungsverhältnisse konnten von den Kolonialbehörden nicht vollständig aufrechterhalten werden.

Heute steht ein Denkmal von Birsa Munda auf einem Platz inmitten der Hauptstadt Ranchi des kürzlich neu geschaffenen Bundesstaates Jharkland. Auch die von ihm begründete Religionsgemeinschaft Birsa Dharma hat die britische Kolonialzeit überdauert. Die Forderung der Aufständischen nach Rückgabe des geraubten Landes wurde freilich nicht erfüllt. Die indigenen Völker der Region kämpfen auch heute noch gegen die weitere Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen.

Gerd Bedszent

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Michael Kiesen: Stuttgart Frühlingsfest

Kriminalroman. Pendragon Verlag, Bielefeld 2006. 208 Seiten, 9,90 Euro

Ungefähr ein Viertel der Einwohner Stuttgarts sind nicht-deutschen Ursprungs, ohne dass es zu einer Ghettobildung gekommen wäre. Das hat die Pietistenmetropole verändert und wirkt sich besonders unter Jüngeren aus. Auch dies kommt in „Stuttgart Frühlingsfest“ zum Ausdruck.

So ist die Ausgangslage dieses dritten Kriminalromans von Michael Kiesen: Daniel, Benjamin und Anton sind Freunde, 17 bzw. 18 Jahre alt. Besonders verbindet sie Interesse an sportlichen Aktivitäten. Als Anton von Benjamins Schwester abgewiesen wird, kommt es zum Konflikt, der während eines Besuchs des Stuttgarter Frühlingsfests eskaliert. Am Rande des Festgeländes wird Anton auf ungewöhnliche Art getötet. Verdächtig ist zunächst Daniel, der mit ihm im Festzelt war. Benjamin hält zu Daniel, und die Bindung zwischen den beiden verstärkt sich. Daniel sucht vor der Justiz bei David Schutz, einem jüngeren Rechtsanwalt, der die beiden Freunde trotz der bedrohlichen Lage immer wieder mit Wilde-Zitaten amüsiert. An jenem Abend, als Anton getötet wurde, war auch Benjamin mit seiner Schwester und deren Freundin auf dem Fest, ebenso Antons Bruder, der sich mit Anton gar nicht gut verstand. Für Unruhe sorgt auch Davids albanischer Freund Enver, dessen Bruder Benjamins Schwester gefällt.

Der Rechtsanwalt steht vor der Frage, ob Anton ein Zufallsopfer ist oder ob es sich um eine Beziehungstat handelt. Allmählich nimmt er bei den Personen im Umfeld des Getöteten ein Netz von Aversionen und erotischen Verstrickungen wahr, in dem die Lösung des Falles verborgen sein könnte.

„‘In seinem Gesicht war etwas, das sofort Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und ebenso die leidenschaftliche Keuschheit der Jugend.’ Dies war der erste Eindruck Lord Wottons von Dorian Gray. Man konnte das auch von Daniel sagen. Ob allerdings ein Internetsurfer und Nutzer eines DVD-Players noch so keusch war wie der junge Dorian Gray, war zu bezweifeln. Aber man sah Daniel seine ‘Laster’ nicht an, genauso wenig wie dem reiferen Dorian Gray. Wie mir Daniel in dem italienischen Restaurant gegenübersaß, wurden mir die Entsprechungen zu Dorian Gray bewusst, zumal ich das Buch vor einigen Tagen mal wieder aufgeschlagen hatte.“

Der Handlungsbogen erstreckt sich vom Frühlingsfest über den CSD und das Sommerfest bis zum Volksfest im Herbst und vermittelt ein anderes Bild von Stuttgart, als man es erwarten würde. Dass sich diese großen Stuttgarter Feste, die ja in ganz Baden-Württemberg und über die Grenzen des Landes hinaus großen Anklang finden, in „Stuttgart Frühlingsfest“ spiegeln, macht diesen Roman sehr reizvoll. Eine weitere Besonderheit ist, dass nicht wie sonst im Krimi üblich die Mentalität von Kripobeamten, sondern Jugendfrische das Geschehen prägt. „Stuttgart Frühlingsfest“ ist daher geeignet, auch jüngere Leser anzusprechen und vielleicht manche wieder ans Lesen heranzuführen.

Von Michael Kiesen sind bisher im Pendragon Verlag die Romane „Freunde in Manhattan“ (1983), „Die Wüste bei Stuttgart“ (1989), „Menschenfalle“ (1992), „Die spiegelnde Strafe“ (1996), „Hollywood Boulevard“ (2005), die Erzählungen „Der Diskuswerfer“ (1994), „West-östliche Begegnung“ (1997) und die Krimis „Der nackte Sohn“ (2003) sowie „Ein Mord auf den es nicht ankommt“ (2004) erschienen.

Biographisches und Informationen über weitere literarische Beiträge Michael Kiesens finden sich bei www.michaelkiesen.de

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Molla Demirel: Gizli Bir Sevda

Novelle. Verlag Anadolu, Hückelhoven 2006

Necla Kelek, die herrisch emanzipatrorisch gepriesene Dissidentin der türkischen Community, leistet mit ihrer originellen Printproduktion „Die verlorenen Söhne“ zur zünftigen Zwietracht der „Kulturen“ publizistische Schützenhilfe - zu einem Thema, das beim breiten Publikum der Alteingesessenen ganz gewiß einige Wellen schlagen wird.

Was könnte die vom neoliberal globalisierten Kreuzzug in Unruhe Versetzten besser beschäftigen als die Informationsfluten über die eisigen Ereignisse wie „Zwangsehe“ oder „Ehrenmord“? Daß die beiden Phänomene gerade in einer Zivilisierten-Zone der Erde zutage kommen konnten, muß einen wunden Punkt haben. Und der heißt „Heiratsmigration“.

Die Fontäne, aus der die Rauchfahnen eines solchen Vorfalls hervorsprudeln, verdunkeln die Advokaten der aufklärerischen Artikulation mit aller Macht. Hinweg sehen sie selbst über das Stadium des metropolitanen Menschengeschlechts, wie tief die Aussichten des freien Individuums im marktgängig monetären Sumpf versunken sind. Der Einzelne hat faktisch nur noch einen faktoralen Wert für den Fetisch Arbeit. Trotz der augenscheinlich systematisierten Sklaverei nutzen scharenweise unbegüterten Erdenbürger das Schlupfloch „Heiratsmigration“, um dem Joch der sozialen Not zu entkommen.

Auch Molla Demirels Novelle „Gizli Bir Sevda“ handelt von diesem Thema. Vom Schicksal jener Zweibeiner, die der markanten Maschinerie des marktgängigen Horrors, dem ökonomischen Martyrium, den Kopf hinhalten, um dem Terror des Elends zu entkommen.

„Sevda“ läßt sich schwer ins Deutsche übersetzen, heißt ungefähr „Liebe“, aber auch „Melancholie“ oder „Leidenschaft“. Allerdings ist sie in Mollas Lesart etwas mehr: Sehnsucht, Blütentraum von Frohmut. Weitverzweigtes Fernweh!

Molla Demirel erzählt vom real Erlebten, vom Schmerz jener Bräute, die sich der Notwendigkeit des Überlebens opfern und die tief im Herzen „eine heimliche Liebe“ tragen. Den Urquell dieser menschlichen Misere beobachtet der Autor nicht bloß in rückständig bäuerlichen, sondern ebenfalls in fortgeschritten industriellen Strukturen, wo Mammon und Markt die Macht haben. „In den Gesellschaften, in denen Eigentum und Kapital absolut als humane Werte überwiegen, sind die Schmerzen endlos, welche die Schwachen zu erdulden haben.“

Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens, das unter familiärem Druck die Ehe mit einem „Almanci“ (Deutschländer) eingehen muß. Ihr älterer Bruder droht mit „Ehrenmord“, dabei geht es ihm ausschließlich um reale Vorteile, die er sich verspricht: Die Aussicht auf die Einreise ins gelobte Land Alemania. Doch auch hier hört das Elend nicht auf. Eher vermehren sich seine Facetten.

Retrospektives Fernweh!

NM

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Ian McEwan: Saturday

Roman. Diogenes 2005

Der Titel verrät eine Erwartung, dass dieser Tag aus irgendwelchen Gründen ein besonderer Tag ist oder sein muss.

An diesem Tag passieren neben der Alltagsroutine zunächst einige wichtige Ereignisse, die von einander zwar losgelöst, aber nicht außergewöhnlich sind. Der Protagonist erwartet an diesem Tag familiären Besuch, sein Schwiegervater kommt aus Frankreich zu Besuch, mit dem er sich nicht gut versteht, seine Tochter kommt aus Paris, die sich dort zum Auslandssemester aufhielt und sich von ihrem Vater langsam loslöst. Er will für den Besuch kochen. Sein Sohn tritt mit einer Musikgruppe auf. Hunderttausende Kriegsgegner demonstrieren gegen den Irakkrieg. Die Demonstration, der Besuch, die Alltagsroutine scheinen voneinander losgelöste Ereignisse ohne besondere Bedeutung zu sein.

Der Samstag beginnt in der Früh mit einem vom Romanheld am Himmel gesichteten brennenden Flugzeug, das in den Nachrichten als ein russisches Transportflugzeug mit Triebwerkschaden deklariert, in Wirklichkeit aber von Tschetschenischenterroristen gegen die „westliche Zivilisation“ gesteuert wird. Dieses kleine Ereignis erhält im Roman keine weitere Bedeutung, nur der blasse Hinweis auf den Terror gegen den Westen zwischen den Zeilen bleibt beim kritischen Leser haften, da diese unterschwellige Voreingenommenheit des Autors wie ein roter Faden zieht. In diesem Zusammenhang werden viele Klischees bedient. Die Befürwortung der amerikanischen Invasion in den Irak, die sich auf Aussagen eines von Saddamanhänger misshandelten und von der Hauptfigur des Romans behandelten irakischen Professors stützt, die jeder westliche Zeitungsleser kennt, der seine Information aus der einseitigen, westlichen Berichterstattung bezieht.

Der Tag beginnt mit der Routine, nämlich mit einem Tennisspiel mit dem Kollegen des Romanhelden, das samstags vormittags stattfindet. Auf dem Weg zur Spielhalle - die Hauptstraßen sind wegen der Demo gesperrt - begeht er in einer Seitenstraße einen Unfall. Er fährt einen teuren Mercedes als Symbol seiner Errungenschaften als Arzt, seines Status. Das Auto des Unfallgegners wird bei dem Zusammenprall am Seitenspiegel beschädigt. Der Fahrer und zwei weitere Insassen sind Typen mit weißen Blicken und dunklen Absichten. Der beschädigte Seitenspiegel ist ein willkommener Vorwand für ihre Absichten. Sie fordern ihn auf, den Schaden zu ersetzen, den sie verursacht haben. Als er sich weigert, werden sie gewalttätig. Er flüchtet. Bei dem Verfolgungsjagd, als er in einer Ecke vom Haupttäter, Baxter, bedrängt wird, diagnostiziert der Arzt aus einem distanzierten Blick und in einer gefährlichen Situation die Krankheit seines Widersachers und verkehrt er die Situation, indem er von der neuen Behandlungsmöglichkeiten der unheilbaren Krankheit spricht. Durch sein Wissen befreit er sich aus der Opferrolle und schwächt den Täter. Doch nach dem Einkauf und anschließendem Kochen treffen die Familienmitglieder eins nach dem anderen ein. Zuletzt kommt die Frau mit blassem, zitterndem Gesicht und erschreckter Miene. Sie wird vom Baxter und einem Mittäter mit Messer bedroht. Nach langen bedrohlichen Szenen verlangt Baxter die Unterlagen über die Behandlungsmethode, von deren Existenz der Arzt erzählt hatte, die es aber nicht gibt. Die Situation wird prekärer, spitzt sich zu. Das Messer am Hals der Frau des Arztes haltend verlangt er die Übergabe der genannten Dokumenten und führt ihn in sein Arbeitszimmer in der oberen Etage. Doch in einem passenden Moment wirft sich der Sohn auf den Täter, der andere war inzwischen geflüchtet, wie bei der ersten Begegnung ohne plausiblen Grund. Bei dieser Rangelei fällt der Täter die Treppen herunter auf den Kopf. Der Leser darf dreimal raten, von wem der Verbrecher behandelt wird, natürlich von Henry Perowne, dem Romanhelden, dessen Frau kurz zuvor ernsthaft bedroht wurde und seine Tochter gezwungen wurde, sich vor allen splitternackt auszuziehen. Diese lebensbedrohliche Ereignisse, Demütigung, schließlich das Gefühl der Befreiung, das Essen, der Besuch, alles wird liegengelassen, um den Verbrecher medizinisch zu versorgen! Das sind die Werte des guten Menschen im Westen, die der Autor vermitteln will. Doch wenn die Realität nicht der krasse Gegensatz wäre, wenn der Roman von einem Autor der Trivialliteratur stammen würde, würde der kritische Leser ihn, den Roman, als eine lebensfremde Phantasie abtun und beiseite legen. Wir erleben aber tagtäglich, wie das Gesundheitssystem in den reichen westlichen Ländern eine zwei Klassengesellschaft geschaffen hat, wie die Sozialschwachen und Benachteiligten medizinisch versorgt werden. Und der Autor ist der Verfassers des Romans Abbitte, einer der besten, ins Deutsch übersetzten Romane überhaupt. Spätestens seit seinem Roman Abbitte wissen wir, dass er ein guter Autor ist. Die Enttäuschung ist daher tief, die Empörung groß.

Es weckt den Eindruck, dass der Autor etwas beweisen will, dass er mehr kann; mit der Sprache gut umgehen kann, was zweifellos richtig ist. Sein Roman davor, Abbitte, ist das beste Zeugnis seiner Sprachbegabung. Die Hauptfigur des Romans ist ein Neurochirurg. Viele medizinische Fachbegriffe, auch Fachbegriffe der Musik und des Sport, die den normalen Leser kaum interessieren dürfen, werden bei der Beschreibung der jeweiligen Szene verwendet. Die Beschreibung eines Bruchteils des Lebens eines Menschen, nämlich den Ablauf eines Tages des Neurochirurgen wirkt aufgesetzt. Insbesondere die hier und da gestreuten angeblichen Eigenschaften und Erlebnisse der involvierten Figuren sind wie die Montage von Teilen, die das Original entfremdet erscheinen lassen. Die Einfälle, die Schilderung der Arbeit des Arztes, seiner Einsichten, Vorstellungen in bestimmten Situationen sind auch sehr überzogen.

Der Held und seine Familie sind Personen mit allen Eigenschaften der Trivialliteratur ausgestattet; er ist ein erfolgreicher Neurochirurg, seine Frau ist Anwältin, deren Vater ist ein bekannter Dichter. Die Tochter ist die literarische Erbin Ihres Großvaters, hat bereits als achtzehnjährige mit ihrem ersten Gedichtband einen literarischen Preis erhalten. Der Sohn ist ein angehender, erfolgreicher Musiker. Im krassen Gegensatz steht der böse Held des Romans, Baxter, dem der Arzt durch einen Verkehrsunfall begegnet. Er ist ein junger Mann ohne Eltern, Arbeit und Zukunft und hat eine unheilbare Krankheit. Nicht nur die Begegnung und die Folgen dieser Begegnung, die den außergewöhnlichen Verlauf des Romans bestimmen und die Charaktere der involvierten Figuren und die Einfachheit der in Gut und Böse geteilten Welt heraus kristallisieren lassen, sind unglaubwürdig und realitätsfern.

Saturday ist eine höhere, moderne Stufe der Trivialliteratur.

Metin Buz

   

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