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Um Theologie zu studieren, ging
Charles Darwin im Jahre 1827 an das Christ’s College nach
Cambridge. An seine Zeit dort erinnert an der Fassade eines alten
zweistöckigen Hauses eine Marmortafel. Wer solchen Denkwürdigkeiten
seine Aufmerksamkeit schenkt, der darf zu Recht Idylliker genannt
werden. Nicht so der Erzähler in der Geschichte „Der
Fund“ von Christophoros Milionis (geb. 1932). Für ihn
ist der große Naturforscher nämlich nicht der Vater des
Gedankens, dass die Entwicklung vom Niederen zum Höheren verläuft,
und somit gilt er ihm auch nicht als Begründer des Kinderglaubens:
alles wird gut. Nein, für ihn ist Darwin derjenige, „der
die Bestie im Menschen entdeckte, der dem Geist die Flügel
gestutzt und abgenommen hat und ihn auf allen Vieren gehen und die
Wahrheit in den Urwäldern hat suchen lassen.“ Als Defätist
ist man allerdings auch leicht seinen eigenen Ängsten erlegen.
Der Erzähler, mit Frau und Reisebegleiterin unterwegs, nahm
einen vor Darwins Haus liegen gelassenen Fotoapparat an sich. Was
aber, wenn sich dieses harmlose Utensil als eine von finsteren Seelen
„mit einem explosiven Gemisch aus Hass, Verzweiflung und Fanatismus“
geladene Sprengbombe erweist? Schwärzeste Gedanken stören
nächtens seinen Schlaf, aus dem er aufschreckt - durch den
Blitz, als seine Damen sich einen Spaß und ein Foto von ihm
machen. Christophoros Milionis weiß als Erzähler von
Rang, wie Effekte zu setzen sind. Bei ihm, dem sich ins Gedächtnis
gebrannt hat, wie in der Heimat Ipiros während des Krieges
sein Vaterhaus abgefackelt worden ist, kann man getrost davon ausgehen,
dass das nicht Effekte sind um der Effekte willen.
Als ähnlich begnadeter gottloser Spötter
stellt sich mit seiner Erzählung „Der Matrose“
Elias Papadimitrakopulos (geb. 1931) vor. Man brauchte letztens
im Film „Waiting for the clouds“ von Yesim Ustaoglu
über die skurrile Szene, wo in einer türkischen Dorfschule
Patriotismus eingeübt wird, gar nicht den Kopf zu schütteln.
Auch in der griechischen Schule wird die Jahresfeier mit einem ellenlangen
heroischen Gedicht garniert, in unserem Fall mit „Der Matrose“.
Der Schüler, der dieses edle Kunstwerk deklamieren darf, ist
besonders talentiert, der unangefochtene Star unter seinesgleichen.
Dennoch verweigert ihm eine Maid ihre Gunst, was er mit Versen der
Art „Mir zeigst du gestern heimlich deine Titten / und lässt
dich schamlos jetzt von diesem Arschloch ficken“ zu parieren
weiß. Das Gejohle der Mitschüler beweist: Nichts ist
in unpathetischen Zeiten weniger angesagt als hehres Pathos.
Der Band „Jenseits der Idylle“ enthält
- durchweg in erster dt. Übersetzung - Erzählungen der
Jahre 1986 bis 2004. Der in Sparta beheimatete Dimitris Petsetidis
(geb. 1940) wird erstmals auf Deutsch präsentiert. Die Sicht
der Dinge ist bei allen diesen sechs Autoren (außer den drei
genannten sind mit von der Partie: Maro Duka, Niki Marangou und
Mitsos Alexandropulos) eine höchst gegenwärtige.
Horst Möller
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Mahasweta Devi: Aufstand im Munda-Land
Roman. Horlemann-Verlag, Bad Honnef 2005. 286 Seiten,
17,80 Euro
Vom antikoloniale Widerstand gegen das britische Empire
in Indien ist der große Volksaufstand von 1857-58 bekannt,
als Teile des indischen Militärs sich auf die Seite der Rebellen
schlugen und die Kolonialverwaltung an den Rand des Zusammenbruches
brachten. Doch Ruhe hat weder vor noch nach dieser Erhebung geherrscht.
Irgendwo in diesem riesigen Landes gab es immer Unruhe, Widerstand
oder offenen Aufruhr.
Die bengalische Autorin Mahansweta Devi hat sich mit
ihrem ersten, 1975 in bengalischer Sprache veröffentlichten
Buch der Aufgabe gestellt, die „Spuren der Besiegten“
nachzuzeichnen. Sie wurde für dieses Roman mit dem Sahitya
Akademi Award ausgezeichnet und gehört heute zu den bekanntesten
indischen Autor/innen. Das Buch wurde jetzt mit Unterstützung
der als Herausgeber fungierenden „Heidelberger Südasiengruppe“
erstmals ins Deutsche übertragen. Die Herausgeber steuerten
zum besseren Verständnis noch ein sehr lesenswertes Nachwort
bei.
Historischer Hintergrund des Romans ist der Aufstand
der ethnischen Minderheit der Munda von 1899-1900. Die Autorin hat
offensichtlich sehr umfänglich recherchiert und zeichnet in
eindringlichen Bildern die grauenhaften Lebensbedingungen in den
Munda-Dörfern im östlichen Zentralindien nach. Traditionell
außerhalb des Kastensystems und damit der indischen Mehrheitsgesellschaft
stehend, waren sie hilflos der Willkür von Grundbesitzern,
Geldverleihern und Kolonialbeamten preisgegeben. Massiver Landraub
nahm ihnen nach und nach die Lebensgrundlagen - vielen Munda blieb
nur die Wahl, sich entweder auf die Schuldknechtschaft bei einem
Grundbesitzer einzulassen, sich unter elenden Bedingungen auf britischen
Teeplantagen zu verdingen oder aber zu konvertieren und sich unter
den Schutz einer deutschen Missionsgesellschaft zu begeben. Eine
rigide Anwendung der von den britischen Kolonialbehörden erlassenen
Forstgesetze raubte den Munda schließlich auch noch ihre letzte
eigene Ernährungsquelle - den Urwald.
Die Autorin schildert die Entwicklung, die schließlich
zum verzweifelten Aufstand einiger hundert schlecht bewaffneter
Urwaldbewohner gegen das britische Empire führte, abwechselnd
aus der Sicht mehrerer Personen, deren individuelle Schicksale in
dieser Zeit miteinander verknüpft waren. Da ist beispielsweise
der Bengale Amulya Babu, der entgegen der eigenen Überzeugung
den Briten dient und verzweifelt immer wieder versucht, Schlimmeres
zu verhüten. Und da ist der uralte Dhani, der sich noch erinnern
kann, wie die Munda in vergangenen Zeiten in gemeindeeigenen Dörfern
ein anderes Leben gelebt hatten, der seit seiner frühen Jugend
von Rebellion zu Rebellion geeilt ist und immer wieder erleben mußte,
daß die Briten stärker waren. Und da ist schließlich
als eigentlicher Held des Buches Birsa Munda, der charismatische
Führer des Aufstandes.
Die Autorin schildert Birsa als eine ungewöhnliche
Persönlichkeit: Er wurde in einer Missionsschule unterrichtet,
sagte sich dann aber von den deutschen Patern los, als er erfahren
mußte, daß diese nichts gegen den fortwährenden
Landraub unternahmen und letztlich mit der Kolonialverwaltung an
einem Strang zogen. Zurück in den heimatlichen Dörfern
verkündete er als Prophet eine eigene Religion, die den ursprünglichen
Glauben der Munda mit Elementen des Christentums verband. Binnen
kurzem erreichte er, daß die Mehrzahl der Stammesangehörigen
ihn als religiösen Führer anerkannte. Auch seine zeitweilige
Inhaftierung bewirkte nur, daß die Bewegung immer weiter um
sich griff.
Als während einer Dürrezeit in den Munda-Dörfern
ein Massensterben drohte, verkündete Birsa schließlich
den offenen Aufstand. Die Birsaiten töteten besonders verhaßte
Grundbesitzer und Geldverleiher, brannten Missionsstationen nieder
und griffen Polizeipatrouillen an. Die Kolonialverwaltung reagierte
auf die gewohnte Art: Dem Militär hatten die nur mit Pfeil
und Bogen bewaffneten Aufständischen wenig entgegenzusetzen.
Die Erhebung währte nur kurz. Birsa Munda starb im Alter von
nur 25 Jahren am 9. Juni 1900 unter ungeklärten Umständen
im Gefängnis. Seine führenden Anhänger wurden hingerichtet
oder überlebten das Gefängnis nicht - andere mußten
unter dem Druck der Öffentlichkeit schließlich freigesprochen
werden.
Das Buch ist flüssig geschrieben und vermittelt
ein sehr lebendiges Bild von den grausigen Auswirkung des Kolonialismus
auf die Ureinwohner des indischen Subkontinents. Einheimische Feudalstrukturen
gingen mit der aus Übersee importierten kapitalistischen Moderne
eine unheilige Allianz ein. Leidtragende waren wie stets die Ärmsten
der Gesellschaft. Doch gleichzeitig wird von der Kraft der Schwachen
erzählt, die lieber einen aussichtslosen Kampf wagten, als
hungernd zugrunde zu gehen. Der Aufstand wurde niedergeworfen, doch
die praktizierten Ausbeutungsverhältnisse konnten von den Kolonialbehörden
nicht vollständig aufrechterhalten werden.
Heute steht ein Denkmal von Birsa Munda auf einem
Platz inmitten der Hauptstadt Ranchi des kürzlich neu geschaffenen
Bundesstaates Jharkland. Auch die von ihm begründete Religionsgemeinschaft
Birsa Dharma hat die britische Kolonialzeit überdauert. Die
Forderung der Aufständischen nach Rückgabe des geraubten
Landes wurde freilich nicht erfüllt. Die indigenen Völker
der Region kämpfen auch heute noch gegen die weitere Zerstörung
ihrer Lebensgrundlagen.
Gerd Bedszent
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Michael Kiesen: Stuttgart Frühlingsfest
Kriminalroman. Pendragon Verlag, Bielefeld 2006. 208
Seiten, 9,90 Euro
Ungefähr ein Viertel der Einwohner Stuttgarts
sind nicht-deutschen Ursprungs, ohne dass es zu einer Ghettobildung
gekommen wäre. Das hat die Pietistenmetropole verändert
und wirkt sich besonders unter Jüngeren aus. Auch dies kommt
in „Stuttgart Frühlingsfest“ zum Ausdruck.
So ist die Ausgangslage dieses dritten Kriminalromans
von Michael Kiesen: Daniel, Benjamin und Anton sind Freunde, 17
bzw. 18 Jahre alt. Besonders verbindet sie Interesse an sportlichen
Aktivitäten. Als Anton von Benjamins Schwester abgewiesen wird,
kommt es zum Konflikt, der während eines Besuchs des Stuttgarter
Frühlingsfests eskaliert. Am Rande des Festgeländes wird
Anton auf ungewöhnliche Art getötet. Verdächtig ist
zunächst Daniel, der mit ihm im Festzelt war. Benjamin hält
zu Daniel, und die Bindung zwischen den beiden verstärkt sich.
Daniel sucht vor der Justiz bei David Schutz, einem jüngeren
Rechtsanwalt, der die beiden Freunde trotz der bedrohlichen Lage
immer wieder mit Wilde-Zitaten amüsiert. An jenem Abend, als
Anton getötet wurde, war auch Benjamin mit seiner Schwester
und deren Freundin auf dem Fest, ebenso Antons Bruder, der sich
mit Anton gar nicht gut verstand. Für Unruhe sorgt auch Davids
albanischer Freund Enver, dessen Bruder Benjamins Schwester gefällt.
Der Rechtsanwalt steht vor der Frage, ob Anton ein
Zufallsopfer ist oder ob es sich um eine Beziehungstat handelt.
Allmählich nimmt er bei den Personen im Umfeld des Getöteten
ein Netz von Aversionen und erotischen Verstrickungen wahr, in dem
die Lösung des Falles verborgen sein könnte.
„‘In seinem Gesicht war etwas, das sofort
Vertrauen erweckte. Aller Glanz der Jugend lag darin und ebenso
die leidenschaftliche Keuschheit der Jugend.’ Dies war der
erste Eindruck Lord Wottons von Dorian Gray. Man konnte das auch
von Daniel sagen. Ob allerdings ein Internetsurfer und Nutzer eines
DVD-Players noch so keusch war wie der junge Dorian Gray, war zu
bezweifeln. Aber man sah Daniel seine ‘Laster’ nicht
an, genauso wenig wie dem reiferen Dorian Gray. Wie mir Daniel in
dem italienischen Restaurant gegenübersaß, wurden mir
die Entsprechungen zu Dorian Gray bewusst, zumal ich das Buch vor
einigen Tagen mal wieder aufgeschlagen hatte.“
Der Handlungsbogen erstreckt sich vom Frühlingsfest
über den CSD und das Sommerfest bis zum Volksfest im Herbst
und vermittelt ein anderes Bild von Stuttgart, als man es erwarten
würde. Dass sich diese großen Stuttgarter Feste, die
ja in ganz Baden-Württemberg und über die Grenzen des
Landes hinaus großen Anklang finden, in „Stuttgart Frühlingsfest“
spiegeln, macht diesen Roman sehr reizvoll. Eine weitere Besonderheit
ist, dass nicht wie sonst im Krimi üblich die Mentalität
von Kripobeamten, sondern Jugendfrische das Geschehen prägt.
„Stuttgart Frühlingsfest“ ist daher geeignet, auch
jüngere Leser anzusprechen und vielleicht manche wieder ans
Lesen heranzuführen.
Von Michael Kiesen sind bisher im Pendragon Verlag
die Romane „Freunde in Manhattan“ (1983), „Die
Wüste bei Stuttgart“ (1989), „Menschenfalle“
(1992), „Die spiegelnde Strafe“ (1996), „Hollywood
Boulevard“ (2005), die Erzählungen „Der Diskuswerfer“
(1994), „West-östliche Begegnung“ (1997) und die
Krimis „Der nackte Sohn“ (2003) sowie „Ein Mord
auf den es nicht ankommt“ (2004) erschienen.
Biographisches und Informationen über weitere
literarische Beiträge Michael Kiesens finden sich bei www.michaelkiesen.de
***
Molla Demirel: Gizli Bir Sevda
Novelle. Verlag Anadolu, Hückelhoven 2006
Necla Kelek, die herrisch emanzipatrorisch gepriesene
Dissidentin der türkischen Community, leistet mit ihrer originellen
Printproduktion „Die verlorenen Söhne“ zur zünftigen
Zwietracht der „Kulturen“ publizistische Schützenhilfe
- zu einem Thema, das beim breiten Publikum der Alteingesessenen
ganz gewiß einige Wellen schlagen wird.
Was könnte die vom neoliberal globalisierten
Kreuzzug in Unruhe Versetzten besser beschäftigen als die Informationsfluten
über die eisigen Ereignisse wie „Zwangsehe“ oder
„Ehrenmord“? Daß die beiden Phänomene gerade
in einer Zivilisierten-Zone der Erde zutage kommen konnten, muß
einen wunden Punkt haben. Und der heißt „Heiratsmigration“.
Die Fontäne, aus der die Rauchfahnen eines solchen
Vorfalls hervorsprudeln, verdunkeln die Advokaten der aufklärerischen
Artikulation mit aller Macht. Hinweg sehen sie selbst über
das Stadium des metropolitanen Menschengeschlechts, wie tief die
Aussichten des freien Individuums im marktgängig monetären
Sumpf versunken sind. Der Einzelne hat faktisch nur noch einen faktoralen
Wert für den Fetisch Arbeit. Trotz der augenscheinlich systematisierten
Sklaverei nutzen scharenweise unbegüterten Erdenbürger
das Schlupfloch „Heiratsmigration“, um dem Joch der
sozialen Not zu entkommen.
Auch Molla Demirels Novelle „Gizli Bir Sevda“
handelt von diesem Thema. Vom Schicksal jener Zweibeiner, die der
markanten Maschinerie des marktgängigen Horrors, dem ökonomischen
Martyrium, den Kopf hinhalten, um dem Terror des Elends zu entkommen.
„Sevda“ läßt sich schwer ins
Deutsche übersetzen, heißt ungefähr „Liebe“,
aber auch „Melancholie“ oder „Leidenschaft“.
Allerdings ist sie in Mollas Lesart etwas mehr: Sehnsucht, Blütentraum
von Frohmut. Weitverzweigtes Fernweh!
Molla Demirel erzählt vom real Erlebten, vom
Schmerz jener Bräute, die sich der Notwendigkeit des Überlebens
opfern und die tief im Herzen „eine heimliche Liebe“
tragen. Den Urquell dieser menschlichen Misere beobachtet der Autor
nicht bloß in rückständig bäuerlichen, sondern
ebenfalls in fortgeschritten industriellen Strukturen, wo Mammon
und Markt die Macht haben. „In den Gesellschaften, in denen
Eigentum und Kapital absolut als humane Werte überwiegen, sind
die Schmerzen endlos, welche die Schwachen zu erdulden haben.“
Es ist die Geschichte eines jungen Mädchens,
das unter familiärem Druck die Ehe mit einem „Almanci“
(Deutschländer) eingehen muß. Ihr älterer Bruder
droht mit „Ehrenmord“, dabei geht es ihm ausschließlich
um reale Vorteile, die er sich verspricht: Die Aussicht auf die
Einreise ins gelobte Land Alemania. Doch auch hier hört das
Elend nicht auf. Eher vermehren sich seine Facetten.
Retrospektives Fernweh!
NM
***
Ian McEwan: Saturday
Roman. Diogenes 2005
Der Titel verrät eine Erwartung, dass dieser
Tag aus irgendwelchen Gründen ein besonderer Tag ist oder sein
muss.
An diesem Tag passieren neben der Alltagsroutine zunächst
einige wichtige Ereignisse, die von einander zwar losgelöst,
aber nicht außergewöhnlich sind. Der Protagonist erwartet
an diesem Tag familiären Besuch, sein Schwiegervater kommt
aus Frankreich zu Besuch, mit dem er sich nicht gut versteht, seine
Tochter kommt aus Paris, die sich dort zum Auslandssemester aufhielt
und sich von ihrem Vater langsam loslöst. Er will für
den Besuch kochen. Sein Sohn tritt mit einer Musikgruppe auf. Hunderttausende
Kriegsgegner demonstrieren gegen den Irakkrieg. Die Demonstration,
der Besuch, die Alltagsroutine scheinen voneinander losgelöste
Ereignisse ohne besondere Bedeutung zu sein.
Der Samstag beginnt in der Früh mit einem vom
Romanheld am Himmel gesichteten brennenden Flugzeug, das in den
Nachrichten als ein russisches Transportflugzeug mit Triebwerkschaden
deklariert, in Wirklichkeit aber von Tschetschenischenterroristen
gegen die „westliche Zivilisation“ gesteuert wird. Dieses
kleine Ereignis erhält im Roman keine weitere Bedeutung, nur
der blasse Hinweis auf den Terror gegen den Westen zwischen den
Zeilen bleibt beim kritischen Leser haften, da diese unterschwellige
Voreingenommenheit des Autors wie ein roter Faden zieht. In diesem
Zusammenhang werden viele Klischees bedient. Die Befürwortung
der amerikanischen Invasion in den Irak, die sich auf Aussagen eines
von Saddamanhänger misshandelten und von der Hauptfigur des
Romans behandelten irakischen Professors stützt, die jeder
westliche Zeitungsleser kennt, der seine Information aus der einseitigen,
westlichen Berichterstattung bezieht.
Der Tag beginnt mit der Routine, nämlich mit
einem Tennisspiel mit dem Kollegen des Romanhelden, das samstags
vormittags stattfindet. Auf dem Weg zur Spielhalle - die Hauptstraßen
sind wegen der Demo gesperrt - begeht er in einer Seitenstraße
einen Unfall. Er fährt einen teuren Mercedes als Symbol seiner
Errungenschaften als Arzt, seines Status. Das Auto des Unfallgegners
wird bei dem Zusammenprall am Seitenspiegel beschädigt. Der
Fahrer und zwei weitere Insassen sind Typen mit weißen Blicken
und dunklen Absichten. Der beschädigte Seitenspiegel ist ein
willkommener Vorwand für ihre Absichten. Sie fordern ihn auf,
den Schaden zu ersetzen, den sie verursacht haben. Als er sich weigert,
werden sie gewalttätig. Er flüchtet. Bei dem Verfolgungsjagd,
als er in einer Ecke vom Haupttäter, Baxter, bedrängt
wird, diagnostiziert der Arzt aus einem distanzierten Blick und
in einer gefährlichen Situation die Krankheit seines Widersachers
und verkehrt er die Situation, indem er von der neuen Behandlungsmöglichkeiten
der unheilbaren Krankheit spricht. Durch sein Wissen befreit er
sich aus der Opferrolle und schwächt den Täter. Doch nach
dem Einkauf und anschließendem Kochen treffen die Familienmitglieder
eins nach dem anderen ein. Zuletzt kommt die Frau mit blassem, zitterndem
Gesicht und erschreckter Miene. Sie wird vom Baxter und einem Mittäter
mit Messer bedroht. Nach langen bedrohlichen Szenen verlangt Baxter
die Unterlagen über die Behandlungsmethode, von deren Existenz
der Arzt erzählt hatte, die es aber nicht gibt. Die Situation
wird prekärer, spitzt sich zu. Das Messer am Hals der Frau
des Arztes haltend verlangt er die Übergabe der genannten Dokumenten
und führt ihn in sein Arbeitszimmer in der oberen Etage. Doch
in einem passenden Moment wirft sich der Sohn auf den Täter,
der andere war inzwischen geflüchtet, wie bei der ersten Begegnung
ohne plausiblen Grund. Bei dieser Rangelei fällt der Täter
die Treppen herunter auf den Kopf. Der Leser darf dreimal raten,
von wem der Verbrecher behandelt wird, natürlich von Henry
Perowne, dem Romanhelden, dessen Frau kurz zuvor ernsthaft bedroht
wurde und seine Tochter gezwungen wurde, sich vor allen splitternackt
auszuziehen. Diese lebensbedrohliche Ereignisse, Demütigung,
schließlich das Gefühl der Befreiung, das Essen, der
Besuch, alles wird liegengelassen, um den Verbrecher medizinisch
zu versorgen! Das sind die Werte des guten Menschen im Westen, die
der Autor vermitteln will. Doch wenn die Realität nicht der
krasse Gegensatz wäre, wenn der Roman von einem Autor der Trivialliteratur
stammen würde, würde der kritische Leser ihn, den Roman,
als eine lebensfremde Phantasie abtun und beiseite legen. Wir erleben
aber tagtäglich, wie das Gesundheitssystem in den reichen westlichen
Ländern eine zwei Klassengesellschaft geschaffen hat, wie die
Sozialschwachen und Benachteiligten medizinisch versorgt werden.
Und der Autor ist der Verfassers des Romans Abbitte, einer der besten,
ins Deutsch übersetzten Romane überhaupt. Spätestens
seit seinem Roman Abbitte wissen wir, dass er ein guter Autor ist.
Die Enttäuschung ist daher tief, die Empörung groß.
Es weckt den Eindruck, dass der Autor etwas beweisen
will, dass er mehr kann; mit der Sprache gut umgehen kann, was zweifellos
richtig ist. Sein Roman davor, Abbitte, ist das beste Zeugnis seiner
Sprachbegabung. Die Hauptfigur des Romans ist ein Neurochirurg.
Viele medizinische Fachbegriffe, auch Fachbegriffe der Musik und
des Sport, die den normalen Leser kaum interessieren dürfen,
werden bei der Beschreibung der jeweiligen Szene verwendet. Die
Beschreibung eines Bruchteils des Lebens eines Menschen, nämlich
den Ablauf eines Tages des Neurochirurgen wirkt aufgesetzt. Insbesondere
die hier und da gestreuten angeblichen Eigenschaften und Erlebnisse
der involvierten Figuren sind wie die Montage von Teilen, die das
Original entfremdet erscheinen lassen. Die Einfälle, die Schilderung
der Arbeit des Arztes, seiner Einsichten, Vorstellungen in bestimmten
Situationen sind auch sehr überzogen.
Der Held und seine Familie sind Personen mit allen
Eigenschaften der Trivialliteratur ausgestattet; er ist ein erfolgreicher
Neurochirurg, seine Frau ist Anwältin, deren Vater ist ein
bekannter Dichter. Die Tochter ist die literarische Erbin Ihres
Großvaters, hat bereits als achtzehnjährige mit ihrem
ersten Gedichtband einen literarischen Preis erhalten. Der Sohn
ist ein angehender, erfolgreicher Musiker. Im krassen Gegensatz
steht der böse Held des Romans, Baxter, dem der Arzt durch
einen Verkehrsunfall begegnet. Er ist ein junger Mann ohne Eltern,
Arbeit und Zukunft und hat eine unheilbare Krankheit. Nicht nur
die Begegnung und die Folgen dieser Begegnung, die den außergewöhnlichen
Verlauf des Romans bestimmen und die Charaktere der involvierten
Figuren und die Einfachheit der in Gut und Böse geteilten Welt
heraus kristallisieren lassen, sind unglaubwürdig und realitätsfern.
Saturday ist eine höhere, moderne Stufe der Trivialliteratur.
Metin Buz
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