|
Zuerst spazierte ich auf den Friedhof, als ich in
Kjustendil war. In allen bulgarischen Städten und Dörfern
sieht man sie: an zentralen Anschlagtafeln, Telegrafenmasten, Haustüren,
vor oder hinter Schaufensterscheiben, häufiger aber an Wegen,
die zum Friedhof führen:
Handzettel mit Bildern der Verstorbenen. Meist glattrasierte,
energische Gesichter, Frauen mit ebenmäßigen Zügen;
man ist überrascht, daß sie schon tot sind. Liest man
ihren Geburts- und Todestag, merkt man bei den meisten, daß
sie schon das Alter hatten. Nur bei einem lockenköpfigen Jungen
ist man betroffen, er starb mit zehn. Manche haben Verdienste aufzuweisen:
Anreihungen von Auszeichnungen und Orden; zuletzt folgt der Schmerz
der sorgfältig aufgezählten Familienangehörigen.
Der Friedhof liegt an einem Hang, von Büschen
umzäunt. Am Eingang eine Holzbaracke, ihre Außenwände
ebenfalls mit Zetteln bezweckt und beklebt - so viele Verstorbene
-, als sei der Ort von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden.
Die meisten Zettel vergilbt und fleckig, manche nur noch Fetzen,
den keiner entfernt, bis er sich aufgelöst hat, und die verrostete
Reißzwecke daran erinnert, daß an dieser Stelle an jemanden
gedacht wurde, der schon von Gras, Unkraut und Disteln überwuchert
voll integriert ist in die Skelettwelt des Friedhofs.
Aus der Holzbaracke, brettartig umgittert, damit die
Sonneneinstrahlung gebrochen wird, dringt das Geraune einer Trauergemeinde,
die gerade den Leichenschmaus verzehrt. Vor der Baracke Frauen mit
tiefen Runzeln, neugierig, mit Harken und Gießkannen bewaffnet.
Auch sie werden eines Tages für wenige Wochen, Monate auf einem
dieser Handzettel zu sehen sein, wenn sie, wie wir alle, einmal
den Weg ihres Fleisches gehen. Doch vorher kosten sie die Trauer
aus, käuen sie wieder und gehören zum Friedhof wie die
Grabsteine und Zypressen.
Inmitten von Gräbern die neuen und alten Marmorkreuze
und -platten, Zeugnis ablegend vom Wohlstand der Leute, mit den
Liebesgeständnissen von Ehegatten, die den Verstorbenen im
künftigen Leben wieder zu begegnen hoffen, Holzkreuze und Tafeln
für die einfachen Leute. Manche Gräber mit blechernem
Gatter, hellgrün oder blau gestrichen. Wo Genossen begraben
liegen: rostige, gelbbeschriftete Pyramiden, auf deren Spitze ein
Blechstern steckt. Rot! Das Grab eines erst Dreißigjährigen:
eingepaßt sein Bild mit dem ovalen weiß-goldbronzenen
Rahmen in die Mitte eines schwarz-grauen Marmorsteins, ein Holzkasten
daneben, eine Tasse darin, ein Glas mit einem Klecks Marmelade;
Weintrauben, Tomaten, Kürbis- und Melonenstücke, von Schimmel
überzogen, verteilt, Teller, Messer und Gabel, zwei Pralinen
darauf, noch frisch aussehend, Bonbons - und viele Kränze und
ein Blumenbukett im Frischhaltebeutel. Der Tote wird gut verpflegt,
damit er noch eine Weile durchhält. Ja, Menschen sterben zunächst
langsam. Aber dann sterben sie schnell, wenn man sich die übrigen
Gräber ansieht. Ausgelöscht die vielen Inschriften von
wie vielen Jahren? Schlupfwinkel für Ungeziefer, Mäuse
und Ratten - und darunter nur noch Verwesung und zu Staub gewordene
Knochen. Tote also, die man restlos vergessen hat...
Hinterm Friedhof, der abfällt ins Tal, Felder
und Mulden, von einzelnen Apfel-, Granatapfel- und Pflaumenbäumen
bewachsen. Keine leuchtenden Farben mehr, nur das vielfältige
Rotbraun der herbstlichen Erde. Darüber der Himmel: das blaue,
klare, unbeteiligte Element.
Heraus aus dem Bezirk des Abgestorbenseins; man atmet
danach ganz anders, als sauge man mehr Leben ein.
Ich irre wieder durch die Stadt, die Hitze flimmert,
obwohl es Herbst ist. Irgendwo muß es doch eine Gaststätte
geben, weniger um meinen Hunger als meinen Durst zu stillen. Vielleicht
befindet sich gleich eine am Bahnhof oder nicht weit von ihm entfernt,
ein Stückchen die Hauptstraße entlang, wo Musik aus Ritzen
eines Hauses sickert. Ich eile an Läden vorbei, die längst
geschlossen haben, es ist Sonnabendnachmittag. Als sei ich in einen
Sog geraten, zieht es mich dorthin, wo Musik ist und lautes Lachen
aufsteigt und in Lärm übergeht. Aus einem Eckhaus kommen
kleine, aber stämmige Männer heraus, aufgekrempelte Hemdsärmel
und mit hochroten Gesichtern, sie scheinen schon etwas intus zu
haben. Hier müßte die Gaststätte sein. Als mich
die Männer kommen sehen, winken sie mir entgegen und rufen
mir zu. Vielleicht brauchen sie noch einen Trinkkumpanen, einen,
der ihnen etwas kredenzt. Sie umarmen mich, als wäre ich der
längst erwartete Kumpel, bilden eine Gasse und komplimentieren
mich in die Gaststätte hinein, wo mir Lärm und Gesang
entgegenschlägt, Qualm und Mittagessendünste. Alle Tische
zu zwei langen Tafeln zusammengeschoben, auf denen Speisereste herumstehen.
Die Leute sind festlich gekleidet, Frauen tragen meist lange Kleider
mit blinkenden Ketten um den Hals, Männer haben sich die Schlipse
lockergebunden und das dunkelblaue oder schwarze Jackett über
die Stuhllehne gehängt. Vielleicht eine Hochzeitsgesellschaft,
denke ich. Aber wo ist denn die Braut? Ich zwänge mich durch
die Herumstehenden - und da sehe ich sie schon. Mit buntköpfigen
Stecknadeln hat man ihr so viele Geldscheine ans Hochzeitskleid
geheftet, daß sie fast aussieht wie ein gerupfter Vogel mit
Papiergeld-Federn. Sie geht von Gast zu Gast und steckt jedem eine
Serviette an die Brust, auf der aufgedruckt zwei Weingläser
zu sehen sind, mit einer Schleife verbunden, darunter die Vornamen
des Brautpaares: Rumjana und Jordan - und das Datum. Neben der Braut
der Bräutigam, er nimmt die Geldgeschenke der Gäste entgegen
und steckt sie sofort in die weiße Handtasche seiner Braut.
Hinter ihnen ein Mädchen mit einem Tablett in der Hand, auf
dem sich Stecknadeln befinden, Servietten und weiß-rot gesprenkelte
Nelken. Ich komme mir wie ein Eindringling vor. Von den Männern,
die mich hereingeschleust haben, fehlt jede Spur. So versuche ich,
durch das Gewühl bis an die Theke zu gelangen, um vielleicht
eine Cola oder ein Orangen-Schweppes zu trinken. Da faßt mich
einer von der Seite an und redet auf mich ein. Als der Mann merkt,
daß ich nichts verstehe, freut er sich um so mehr. Deutsch?
fragt er. Ich nicke, und er hält mich an beiden Schultern fest,
was heißt, daß ich warten soll. Der Mann drängelt
sich an die Theke, tippt jemanden an und kommt mit ihm freudestrahlend
zurück. Jetzt werde ich in perfektem Deutsch begrüßt.
Der von der Theke erzählt mir sofort, wo er studiert hat, in
Leipzig - Atomphysik -, und daß er so oft wie nur möglich
in die DDR gefahren war, zu seinen Freunden: in Erfurt, Rheinsberg,
Greifswald -, und ob ich essen und trinken möchte, wartet aber
nicht erst meine Antwort ab, nimmt mich an den Arm, bahnt sich mit
mir einen Weg durch die Gaststätte und bietet mir Platz neben
seiner Frau an. Er verschwindet für einen Augenblick und kommt
sofort mit einem reichlichen Mittagessen für mich zurück,
das er schwungvoll und elegant wie ein Oberkellner serviert, obwohl
ein echter Kellner hinter ihm steht und eine Salatschüssel
und Besteck nachreicht. Dazu bekomme ich Rotwein eingeschenkt und
Mastika-Schnaps, den ich zuerst trinken muß und der mir wie
eine Feuerwelle durch den Körper schlägt. Das mit Knoblauch
und Pfeffer durchwürzte Fleisch, mit roten und grünen
Paprikaschoten garniert, läßt meine Mundschleimhäute
schmerzen. Zwischendurch muß ich anstoßen und zum soundsovielten
Male bestätigen, daß mir das Essen auch wirklich schmeckt.
Kaum zu glauben, aus einer meditierenden Friedhofsatmosphäre,
in der ich mich noch vor einer halben Stunde befand, urplötzlich
in ein volles Leben geraten zu sein, umringt von fröhlichen
Menschen, die essen und trinken; dazu spielen Dudelsack, Hirtenflöte,
Zupfgeige, Trommel - und manchmal auch Akkordeon, gespielt von einem
zopfbekränzten Mädchen. Sie springt ab und zu auf, schnallt
sich den schweren Kasten um und legt einige Solostücke hin.
Auf einmal steht die Braut neben mir und steckt mir eine Serviette
und eine Nelke ans Hemd. Dies als Zeichen, gibt der Physiker zu
verstehen, daß ich mich von nun an als einen der ihren betrachten
kann. Die Luft riecht nach Wein, Leckerbissen werden ständig
herumgereicht, ununterbrochen spielt Musik; die Männer im Lokal
kommen mit erhobener Hand und aus vollem Halse in eine tolle Singstimmung
auf und dröhnen in wilden bulgarischen Liedern: eine Sinfonie
von Lauten, hohen und tiefen, in Kadenzen, klar und bestimmt, wütend
und böse, sich überbietende, überschlagende Stimmen,
wie Sterbende mit katastrophischen Exklamationen. Dann wieder phantasievolle
Modulationen, heißblütig, ekstatisch, streichelnd, übergehend
in bedrückende Traurigkeit, wie die verlorenen Rufe eines Zugvogels
... Und neuer Gesang, neue Lieder, eine Apotheose des Sprechens
und Schreiens, auf die nur noch Schweigen folgen kann. Dieser Gesang
bedeutet mehr als nur Vergnügen: Alle Nuancen werden darin
ausgedrückt: Lachen und Weinen, Gutes und Böses und die
immer wiederkehrende Liebe. - Die Augen der Sänger funkeln
wie Dolche, und ihre Hälse sind rot geworden wie Hahnenkämme.
Auch die Frauen, die anfangs still waren, singen kehlstimmig mit.
Die Musiker sind aufgesprungen und bewegen sich spielend nach draußen.
Als erster schließt sich ihnen ein schnurrbärtiger alter
Mann an, der Brautvater, wie mein Nebenmann sagt, um eine Tanzkette
zu bilden. Ihm folgen wenige, dann mehr und mehr Hochzeitsgäste.
Federleicht schwingen sie, drei Schritte vor und einen zurück,
um wieder drei Schritte vorzurennen. Von hinten zieht mich eine
Frau hoch, eine Frau mit einem enormen Dekollete. Sie nimmt mich
an die Hand, hakt mich in die Tanzkette ein, während sie für
einen Augenblick den Schlußpunkt bildet. Wie sich ihre schweren
Beine bewegen, wie sie zu rennen beginnen, drei Schritte vor und
einen zurück, daß sie die Schwere des Körpers vergißt.
Zuerst weiß ich gar nicht, wie ich meine Beine bewegen soll,
ich komme mir wie ein Fremdkörper vor, der da im Rhythmus des
Choro-Tanzes mit herumstolpert. Bald aber habe ich den Rhythmus
begriffen, und ohne daß es mir richtig bewußt wird,
tanze ich mitten auf der Straße. Im Gesicht des schnurrbärtigen
Anrührers liegt ein verwegener Blick, seine Lippen rot und
zitternd, und er holt zu immer neuen Schwüngen aus, zieht die
Tanzkette nach in eine Spirale und aus der Spirale wieder heraus.
Wie viele werden es inzwischen sein, die sich dem Choro-Tanz angeschlossen
haben. Inmitten dieser Ketten-Tanz-Spirale stehen die Spieler und
variieren immer von neuem das Thema. Das halbe Dorf hat sich am
Straßenrand versammelt, auch manche der Passanten haben sich
in den Tanz eingefädelt; er ist offen für alle, und die
Straße ist lang und breit: Mädchen in langen und kurzen
Röcken, in Jeans und Pullis, darunter, ohne BH, ihre Brüste
hüpfen. Autos und Omnibusse stauen sich, der Spätnachmittagsverkehr
ist stärker geworden: Im Schrittempo lavieren die Fahrzeuge
vorbei. Der Brautvater scheint sich in Ekstase getanzt zu haben:
Pausenlos rennt er vor und schwenkt seinen tabakfarbenen Arm. Seine
Leidenschaft scheint sich auf die Kette übertragen zu haben;
neben mir die voluminöse Frau schwitzt und schnauft, scheint
ihr Letztes zu geben, und ihre Oberarme sind rot geworden wie Paprikaschoten.
Plötzlich werden wir von einer sanften Hand, die sich in meine
rechte legt, getrennt, das zopfbekränzte Mädchen, das
mit dem Akkordeon, hat sich in die Choro-Kette eingefugt, und ich
fühle etwas, das durch unsere Hände fließt. Ihre
Blicke umgeben mich, ich versuche ihren Blicken standzuhalten, die
von meiner Stirn zum Hals gelangen, dann aber über meinen ganzen
Körper laufen wie ein Strom von Ameisen. Ihre Blicke weben
Netze um mich herum, halten an und nageln mich an den Boden. Vorher
war sie mir nicht weiter aufgefallen, nur durch das Akkordeonspielen.
Jetzt aber sehe ich sie, ihr Gesicht, das zum Träumen anregt
- und das Trippeln ihrer Schritte neben den vielen anderen Schritten,
wo nicht mehr Körper zu tanzen scheinen, vielmehr Seelen, die
körperlich geworden sind. Leicht fühle ich mich, leicht
wie selten zuvor, und die Leichtigkeit des Tanzes, der mich mit
diesen Leuten, mit diesem Mädchen verbindet. Frei von jeder
Sprache - nur noch Körperverständigung... In diesem Augenblick
möchte ich, daß der Tanz niemals zu Ende geht, daß
er ewig anhält, drei Schritte vor und einen zurück, um
wieder drei Schritte nach vorn zu rennen. Und daß ich in dieser
Kette eingeschmiedet bin für immer.
***
Herrn Frickes große Schuld
Von Moritz Fichtner
„Vielleicht hätte ich mich doch angeben
sollen!“ sagte Herr Fricke.
Es war Nacht. Von der Straße her leuchtete eine
Laterne matt durch die Spitzengardinen des Schlafzimmerfensters.
Frau Fricke lag auf der Seite, von ihrem Mann abgewendet. Ihr pausbackiges,
jedoch bleiches Gesicht ruhte unter dem Schatten scharf geschwungener,
fest gezogener Augenbrauen. Herr Fricke saß auf dem Kopfkissen
seines Bettes. Sein kleiner, fast haarloser Kopf war auf die rechte,
stark geballte Faust gestützt. Die Zehen seiner sehr gepflegten,
sauberen Füße, die auf der Daunendecke ruhten, bewegten
sich nervös. Seine Augen starrten geradeaus auf die Engelsköpfe
der Bettpfosten am Fußende.
„Die Gewißheit ist schlimmer als die Ungewißheit“,
sagte er sehr laut.
Seine Frau gab einen unwilligen Ton von sich. Er verriet,
daß sie nicht geschlafen hatte. Sie knipste die Nachttischlampe
an.
„Du machst dir zuviel Gedanken, Ludwig“,
sagte sie und rückte ihr Nachthemd an den Schultern zurecht,
„entschieden zuviel Gedanken. Das ist der ganze Jammer an
der Sache. Denk an ‘was Schönes, Ludwig. Das geht. Das
geht, wenn man will. Komm“, sie zeigte auf ihre Daunendecke,
„leg deinen Kopf hierher, hm?“
„Wo ist die Zeitung?“ sagte Herr Fricke.
„Ich weiß nicht. Die Zeitung ist sehr
uninteressant.“
„Sie war ein hübsches Kind“, fuhr
er fort. „Eigentlich hübscher als unsere Tochter. Wie
hieß sie doch?“ Er wollte die Zeitung vom Boden aufheben.
Seine Frau löschte mit einer energischen, fast Panik verratenden
Bewegung das Licht.
„Was tut das zur Sache? Hör schon auf!“
„Heidemarie - ja - aus Zahrenholz“, sagte
er fast andächtig. „Heidemarie. - Du könntest mir
einen Tee machen, Luise.“
„Jetzt? Um zwölf Uhr nachts? Nein.“
„Ich friere“, sagte er.
Das Licht der Nachttischlampe sprang wieder an. Die
Frau stand auf. Sie drehte die Zentralheizung am Fenster an und
ging in die Küche. Ihr Mann streckte sich quer über ihr
Bett. Er nahm die Zeitung vom Boden auf. Die Seite mit dem Bild
war aufgeschlagen. Auf dem Bild lachte das Kind. Es war neun Jahre
alt. Neun Jahre, und er war neununddreißig. Es hatte blanke
Augen. Ein Mund, der wirklich wie ein Herz war, auch beim Lachen.
Durch das Lachen hatte sich die Haut unter den Augen etwas nach
oben geschoben, und die Augen sahen aus wie blanke Halbmonde, die
auf den Spitzen standen.
Seine Frau kam mit dem Tee. Sie setzte das Tablett
vor ihn auf die Bettdecke und nahm ihm sanft die Zeitung aus der
Hand.
„Eine Gemeinheit, das Kind auch noch abzubilden!“
sagte er. Seine Frau kroch unter die Bettdecke zurück. Sie
nahm eine der zwei dampfenden Tassen, hielt sie sorgfältig
weit von der bestickten Daunendecke weg und streckte den Kopf mit
den gespitzten Lippen danach aus.
„Wozu eigentlich die Aufregung“, sagte
sie, indem sie sich sorgfältig an den Seiten zudeckte, „es
gibt doch keine Zeugen. Sogar die Zeitung schreibt es. Sie wissen
noch nicht einmal, ob das Kind von einem Lastwagen oder Personenwagen
überfahren wurde.“
Herr Fricke starrte wieder auf die Engelsköpfe.
Es waren lachende Engel.
„Diese Engel grinsen auch im Dunkeln“,
sagte er plötzlich in einem Ton, als habe ihm das lange auf
der Seele gelegen, „auch wenn wir es nicht sehen, ja. Wie
lange mag sie da im Straßengraben gelegen haben, Luise?“
„Ach, hör auf. Hör schon auf! Sie
war doch gleich tot.“
„Nein.“ Er raschelte nervös mit allen
zehn Fingern an der Zeitung. „Hier steht, sie war nicht gleich
tot.“
„Na, hör schon auf! Hör auf, sage
ich doch! Ich hab’ es schließlich nicht getan. Ich bin
nicht davongefahren.“
„Du hast mir dazu geraten“, entgegnete
er ruhig.
„In der Aufregung“, rief Frau Fricke mit
glasklarer Stimme, „in dem Schock! Das war ja selbstverständlich.
Oder nicht? In diesem Schock! Dazu kam dieser Sturm. Dieser Regen!
Mein Gott! Und du hattest ja wirklich keine Schuld an dem... Unfall,
nicht wahr? Aber sie hätten dir Schuld gegeben wegen des Alkohols,
das war doch klar. Und daß ich ... beim Aufprall gefahren
habe, konnte man doch auch nicht sagen.“
Herr Fricke war auf dem Kopfkissen einen halben Meter
tiefer gerutscht. Seine Füße stemmten sich krampfhaft
gegen das Laken, und seine Knie waren Zentimeter um Zentimeter seinem
Gesicht näher gekommen. Wie ein ungeheurer, verzerrter Frosch
saß er da. Plötzlich sprang er auf, stand mitten im Bett.
„Man hätte das sagen sollen“, stöhnte
er fast.
„Daß ich fuhr?“ fragte sie.
„Natürlich.“
„Hm.“ Frau Fricke hielt den Kopf schief.
Sie langte nach dem Tee und trank, den Kopf noch immer schief. „Dann
hätten wir uns ja beide schuldig gemacht. Da ich nicht fahren
darf, wärest du überdies doppelt schuldig gewesen. Ludwig!
Überlegst du, was du sagst?“
Herr Fricke bückte sich, schlaff und beinahe
wie von der eigenen Schwere gezogen, zur Daunendecke herab. Er zog
das Tablett mit dem Tee auf den Nachttisch, glitt auf das Bett zurück
und faltete die Zeitung auseinander. Er schloß die Augen.
Er ließ die Hände in das knisternde Papier sinken.
„Dann... hätte ich eben alles allein auf
mich nehmen müssen...“, sagte er.
Frau Fricke lachte.
„Aber Ludwig, daran zweifelt doch niemand!“
Ihre Hand bebte leicht beim Lachen, und sie verschüttete etwas
Tee. „Du hast es nur verpaßt, Ludwig. Jetzt kann man
nichts mehr machen.“
„Ich hab’ es verpaßt“, sagte
er.
„Ich war nach dem Schock zu schwach, um überhaupt
noch zu denken. Das war das Unglück.“
„Das war das Unglück, Luise.“
Sie schwiegen. Wieder schaltete Frau Fricke das Licht
aus. Draußen war auch die Laterne erloschen. Herr Fricke sagte
ins Dunkel: „Im Ernst, es konnte ja wirklich einen Gott geben,
Luise, und... Es ist doch so:
Wenn wir nicht weggefahren wären...“
„Wer weiß, was dann wäre“,
sagte die Frau.
„Man hätte dann nicht so viel Blut dort
gefunden, das steht fest. Das Kind... ist doch... verblutet.“
„Unfug! Warum denkst du so viel? Das ist doch
sonst nicht deine Stärke.“
Er lachte nervös.
„Ich hätte mich gestern doch angeben sollen“,
fuhr er noch mitten im Lachen fort. „Oder morgen kann ich
es noch tun? Morgen ist übrigens die Beisetzung.“
„Jetzt noch angeben? Wem nützt du damit?“
„Nützen“, sagte er, „nützen...“
„Ja, wem? Denk an das Geschäft! Denk an
unser Kind!“
„An unser Kind!“ lachte er.
„Ja! Herrje, das ist doch kriminell. Und du
nützt niemand damit. Verstehst du?“
„Mach doch das Licht an, Luise!“
Frau Fricke seufzte. Als man wieder etwas sah, stand
ihr Mann mitten im Zimmer auf dem dunklen Teppich. Er warf die Schlafanzugjacke
ab.
„Ich zieh’ mich an. Ich gehe ein bißchen
spazieren. „Er blickte auf seine Sachen, die sauber und ordentlich
auf einem Stuhl lagen.
„Ich zieh’ mich an“, sagte er wieder.
„Das Hemd ist aber schmutzig, das Hemd ist sehr schmutzig,
Luise. Krieg’ ich keine sauberen Hemden mehr?“
Seine Frau war zu ihm getreten. Sie strich mit der
rechten Hand über seine nach vorn gefallenen Schultern. In
der linken hielt sie das Tablett mit dem Tee. Herr Fricke trat zwei
Schritte zurück.
„Was ist denn?“ fragte die Frau.
„Ich bin hier fremd“, sagte Herr Fricke.
„Hier?“
„Ja, hier. Hier, hier!“
Er ging mehrere Schritte in Richtung der Tür.
Sie folgte ihm und strich ihm wieder über die Schultern.
„Das ist kein Wunder, Ludwig... Mit dieser...
Schuld. Aber das gibt sich. Da, trink von dem Tee!“
Der Mann stierte auf das Tablett.
„Der Tee ist kalt“, sagte er. „Ich
sollte mich vielleicht doch angeben.“
„Auch kalter Tee ist gut“, sagte die Frau.
„Auch kalter?“
„Ja, er erfrischt.“
„Aber das Kind!“ sagte Herr Fricke, ehe
er zur Tasse griff. „Heidemarie aus Zahrenholz. Die erfrischt
nun nichts mehr. Wie soll man weiterleben?“
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|