XXV. Jahrgang, Heft 141
Jul - Aug - Sep 2006/3

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Kultur–Atelier

Choro-Kette

Von Reinhard Bernhof

         
 
 

Zuerst spazierte ich auf den Friedhof, als ich in Kjustendil war. In allen bulgarischen Städten und Dörfern sieht man sie: an zentralen Anschlagtafeln, Telegrafenmasten, Haustüren, vor oder hinter Schaufensterscheiben, häufiger aber an Wegen, die zum Friedhof führen:

Handzettel mit Bildern der Verstorbenen. Meist glattrasierte, energische Gesichter, Frauen mit ebenmäßigen Zügen; man ist überrascht, daß sie schon tot sind. Liest man ihren Geburts- und Todestag, merkt man bei den meisten, daß sie schon das Alter hatten. Nur bei einem lockenköpfigen Jungen ist man betroffen, er starb mit zehn. Manche haben Verdienste aufzuweisen: Anreihungen von Auszeichnungen und Orden; zuletzt folgt der Schmerz der sorgfältig aufgezählten Familienangehörigen.

Der Friedhof liegt an einem Hang, von Büschen umzäunt. Am Eingang eine Holzbaracke, ihre Außenwände ebenfalls mit Zetteln bezweckt und beklebt - so viele Verstorbene -, als sei der Ort von einer Naturkatastrophe heimgesucht worden. Die meisten Zettel vergilbt und fleckig, manche nur noch Fetzen, den keiner entfernt, bis er sich aufgelöst hat, und die verrostete Reißzwecke daran erinnert, daß an dieser Stelle an jemanden gedacht wurde, der schon von Gras, Unkraut und Disteln überwuchert voll integriert ist in die Skelettwelt des Friedhofs.

Aus der Holzbaracke, brettartig umgittert, damit die Sonneneinstrahlung gebrochen wird, dringt das Geraune einer Trauergemeinde, die gerade den Leichenschmaus verzehrt. Vor der Baracke Frauen mit tiefen Runzeln, neugierig, mit Harken und Gießkannen bewaffnet. Auch sie werden eines Tages für wenige Wochen, Monate auf einem dieser Handzettel zu sehen sein, wenn sie, wie wir alle, einmal den Weg ihres Fleisches gehen. Doch vorher kosten sie die Trauer aus, käuen sie wieder und gehören zum Friedhof wie die Grabsteine und Zypressen.

Inmitten von Gräbern die neuen und alten Marmorkreuze und -platten, Zeugnis ablegend vom Wohlstand der Leute, mit den Liebesgeständnissen von Ehegatten, die den Verstorbenen im künftigen Leben wieder zu begegnen hoffen, Holzkreuze und Tafeln für die einfachen Leute. Manche Gräber mit blechernem Gatter, hellgrün oder blau gestrichen. Wo Genossen begraben liegen: rostige, gelbbeschriftete Pyramiden, auf deren Spitze ein Blechstern steckt. Rot! Das Grab eines erst Dreißigjährigen: eingepaßt sein Bild mit dem ovalen weiß-goldbronzenen Rahmen in die Mitte eines schwarz-grauen Marmorsteins, ein Holzkasten daneben, eine Tasse darin, ein Glas mit einem Klecks Marmelade; Weintrauben, Tomaten, Kürbis- und Melonenstücke, von Schimmel überzogen, verteilt, Teller, Messer und Gabel, zwei Pralinen darauf, noch frisch aussehend, Bonbons - und viele Kränze und ein Blumenbukett im Frischhaltebeutel. Der Tote wird gut verpflegt, damit er noch eine Weile durchhält. Ja, Menschen sterben zunächst langsam. Aber dann sterben sie schnell, wenn man sich die übrigen Gräber ansieht. Ausgelöscht die vielen Inschriften von wie vielen Jahren? Schlupfwinkel für Ungeziefer, Mäuse und Ratten - und darunter nur noch Verwesung und zu Staub gewordene Knochen. Tote also, die man restlos vergessen hat...

Hinterm Friedhof, der abfällt ins Tal, Felder und Mulden, von einzelnen Apfel-, Granatapfel- und Pflaumenbäumen bewachsen. Keine leuchtenden Farben mehr, nur das vielfältige Rotbraun der herbstlichen Erde. Darüber der Himmel: das blaue, klare, unbeteiligte Element.

Heraus aus dem Bezirk des Abgestorbenseins; man atmet danach ganz anders, als sauge man mehr Leben ein.

Ich irre wieder durch die Stadt, die Hitze flimmert, obwohl es Herbst ist. Irgendwo muß es doch eine Gaststätte geben, weniger um meinen Hunger als meinen Durst zu stillen. Vielleicht befindet sich gleich eine am Bahnhof oder nicht weit von ihm entfernt, ein Stückchen die Hauptstraße entlang, wo Musik aus Ritzen eines Hauses sickert. Ich eile an Läden vorbei, die längst geschlossen haben, es ist Sonnabendnachmittag. Als sei ich in einen Sog geraten, zieht es mich dorthin, wo Musik ist und lautes Lachen aufsteigt und in Lärm übergeht. Aus einem Eckhaus kommen kleine, aber stämmige Männer heraus, aufgekrempelte Hemdsärmel und mit hochroten Gesichtern, sie scheinen schon etwas intus zu haben. Hier müßte die Gaststätte sein. Als mich die Männer kommen sehen, winken sie mir entgegen und rufen mir zu. Vielleicht brauchen sie noch einen Trinkkumpanen, einen, der ihnen etwas kredenzt. Sie umarmen mich, als wäre ich der längst erwartete Kumpel, bilden eine Gasse und komplimentieren mich in die Gaststätte hinein, wo mir Lärm und Gesang entgegenschlägt, Qualm und Mittagessendünste. Alle Tische zu zwei langen Tafeln zusammengeschoben, auf denen Speisereste herumstehen. Die Leute sind festlich gekleidet, Frauen tragen meist lange Kleider mit blinkenden Ketten um den Hals, Männer haben sich die Schlipse lockergebunden und das dunkelblaue oder schwarze Jackett über die Stuhllehne gehängt. Vielleicht eine Hochzeitsgesellschaft, denke ich. Aber wo ist denn die Braut? Ich zwänge mich durch die Herumstehenden - und da sehe ich sie schon. Mit buntköpfigen Stecknadeln hat man ihr so viele Geldscheine ans Hochzeitskleid geheftet, daß sie fast aussieht wie ein gerupfter Vogel mit Papiergeld-Federn. Sie geht von Gast zu Gast und steckt jedem eine Serviette an die Brust, auf der aufgedruckt zwei Weingläser zu sehen sind, mit einer Schleife verbunden, darunter die Vornamen des Brautpaares: Rumjana und Jordan - und das Datum. Neben der Braut der Bräutigam, er nimmt die Geldgeschenke der Gäste entgegen und steckt sie sofort in die weiße Handtasche seiner Braut. Hinter ihnen ein Mädchen mit einem Tablett in der Hand, auf dem sich Stecknadeln befinden, Servietten und weiß-rot gesprenkelte Nelken. Ich komme mir wie ein Eindringling vor. Von den Männern, die mich hereingeschleust haben, fehlt jede Spur. So versuche ich, durch das Gewühl bis an die Theke zu gelangen, um vielleicht eine Cola oder ein Orangen-Schweppes zu trinken. Da faßt mich einer von der Seite an und redet auf mich ein. Als der Mann merkt, daß ich nichts verstehe, freut er sich um so mehr. Deutsch? fragt er. Ich nicke, und er hält mich an beiden Schultern fest, was heißt, daß ich warten soll. Der Mann drängelt sich an die Theke, tippt jemanden an und kommt mit ihm freudestrahlend zurück. Jetzt werde ich in perfektem Deutsch begrüßt. Der von der Theke erzählt mir sofort, wo er studiert hat, in Leipzig - Atomphysik -, und daß er so oft wie nur möglich in die DDR gefahren war, zu seinen Freunden: in Erfurt, Rheinsberg, Greifswald -, und ob ich essen und trinken möchte, wartet aber nicht erst meine Antwort ab, nimmt mich an den Arm, bahnt sich mit mir einen Weg durch die Gaststätte und bietet mir Platz neben seiner Frau an. Er verschwindet für einen Augenblick und kommt sofort mit einem reichlichen Mittagessen für mich zurück, das er schwungvoll und elegant wie ein Oberkellner serviert, obwohl ein echter Kellner hinter ihm steht und eine Salatschüssel und Besteck nachreicht. Dazu bekomme ich Rotwein eingeschenkt und Mastika-Schnaps, den ich zuerst trinken muß und der mir wie eine Feuerwelle durch den Körper schlägt. Das mit Knoblauch und Pfeffer durchwürzte Fleisch, mit roten und grünen Paprikaschoten garniert, läßt meine Mundschleimhäute schmerzen. Zwischendurch muß ich anstoßen und zum soundsovielten Male bestätigen, daß mir das Essen auch wirklich schmeckt. Kaum zu glauben, aus einer meditierenden Friedhofsatmosphäre, in der ich mich noch vor einer halben Stunde befand, urplötzlich in ein volles Leben geraten zu sein, umringt von fröhlichen Menschen, die essen und trinken; dazu spielen Dudelsack, Hirtenflöte, Zupfgeige, Trommel - und manchmal auch Akkordeon, gespielt von einem zopfbekränzten Mädchen. Sie springt ab und zu auf, schnallt sich den schweren Kasten um und legt einige Solostücke hin. Auf einmal steht die Braut neben mir und steckt mir eine Serviette und eine Nelke ans Hemd. Dies als Zeichen, gibt der Physiker zu verstehen, daß ich mich von nun an als einen der ihren betrachten kann. Die Luft riecht nach Wein, Leckerbissen werden ständig herumgereicht, ununterbrochen spielt Musik; die Männer im Lokal kommen mit erhobener Hand und aus vollem Halse in eine tolle Singstimmung auf und dröhnen in wilden bulgarischen Liedern: eine Sinfonie von Lauten, hohen und tiefen, in Kadenzen, klar und bestimmt, wütend und böse, sich überbietende, überschlagende Stimmen, wie Sterbende mit katastrophischen Exklamationen. Dann wieder phantasievolle Modulationen, heißblütig, ekstatisch, streichelnd, übergehend in bedrückende Traurigkeit, wie die verlorenen Rufe eines Zugvogels ... Und neuer Gesang, neue Lieder, eine Apotheose des Sprechens und Schreiens, auf die nur noch Schweigen folgen kann. Dieser Gesang bedeutet mehr als nur Vergnügen: Alle Nuancen werden darin ausgedrückt: Lachen und Weinen, Gutes und Böses und die immer wiederkehrende Liebe. - Die Augen der Sänger funkeln wie Dolche, und ihre Hälse sind rot geworden wie Hahnenkämme. Auch die Frauen, die anfangs still waren, singen kehlstimmig mit. Die Musiker sind aufgesprungen und bewegen sich spielend nach draußen. Als erster schließt sich ihnen ein schnurrbärtiger alter Mann an, der Brautvater, wie mein Nebenmann sagt, um eine Tanzkette zu bilden. Ihm folgen wenige, dann mehr und mehr Hochzeitsgäste. Federleicht schwingen sie, drei Schritte vor und einen zurück, um wieder drei Schritte vorzurennen. Von hinten zieht mich eine Frau hoch, eine Frau mit einem enormen Dekollete. Sie nimmt mich an die Hand, hakt mich in die Tanzkette ein, während sie für einen Augenblick den Schlußpunkt bildet. Wie sich ihre schweren Beine bewegen, wie sie zu rennen beginnen, drei Schritte vor und einen zurück, daß sie die Schwere des Körpers vergißt. Zuerst weiß ich gar nicht, wie ich meine Beine bewegen soll, ich komme mir wie ein Fremdkörper vor, der da im Rhythmus des Choro-Tanzes mit herumstolpert. Bald aber habe ich den Rhythmus begriffen, und ohne daß es mir richtig bewußt wird, tanze ich mitten auf der Straße. Im Gesicht des schnurrbärtigen Anrührers liegt ein verwegener Blick, seine Lippen rot und zitternd, und er holt zu immer neuen Schwüngen aus, zieht die Tanzkette nach in eine Spirale und aus der Spirale wieder heraus. Wie viele werden es inzwischen sein, die sich dem Choro-Tanz angeschlossen haben. Inmitten dieser Ketten-Tanz-Spirale stehen die Spieler und variieren immer von neuem das Thema. Das halbe Dorf hat sich am Straßenrand versammelt, auch manche der Passanten haben sich in den Tanz eingefädelt; er ist offen für alle, und die Straße ist lang und breit: Mädchen in langen und kurzen Röcken, in Jeans und Pullis, darunter, ohne BH, ihre Brüste hüpfen. Autos und Omnibusse stauen sich, der Spätnachmittagsverkehr ist stärker geworden: Im Schrittempo lavieren die Fahrzeuge vorbei. Der Brautvater scheint sich in Ekstase getanzt zu haben: Pausenlos rennt er vor und schwenkt seinen tabakfarbenen Arm. Seine Leidenschaft scheint sich auf die Kette übertragen zu haben; neben mir die voluminöse Frau schwitzt und schnauft, scheint ihr Letztes zu geben, und ihre Oberarme sind rot geworden wie Paprikaschoten. Plötzlich werden wir von einer sanften Hand, die sich in meine rechte legt, getrennt, das zopfbekränzte Mädchen, das mit dem Akkordeon, hat sich in die Choro-Kette eingefugt, und ich fühle etwas, das durch unsere Hände fließt. Ihre Blicke umgeben mich, ich versuche ihren Blicken standzuhalten, die von meiner Stirn zum Hals gelangen, dann aber über meinen ganzen Körper laufen wie ein Strom von Ameisen. Ihre Blicke weben Netze um mich herum, halten an und nageln mich an den Boden. Vorher war sie mir nicht weiter aufgefallen, nur durch das Akkordeonspielen. Jetzt aber sehe ich sie, ihr Gesicht, das zum Träumen anregt - und das Trippeln ihrer Schritte neben den vielen anderen Schritten, wo nicht mehr Körper zu tanzen scheinen, vielmehr Seelen, die körperlich geworden sind. Leicht fühle ich mich, leicht wie selten zuvor, und die Leichtigkeit des Tanzes, der mich mit diesen Leuten, mit diesem Mädchen verbindet. Frei von jeder Sprache - nur noch Körperverständigung... In diesem Augenblick möchte ich, daß der Tanz niemals zu Ende geht, daß er ewig anhält, drei Schritte vor und einen zurück, um wieder drei Schritte nach vorn zu rennen. Und daß ich in dieser Kette eingeschmiedet bin für immer.

***

Herrn Frickes große Schuld

Von Moritz Fichtner

„Vielleicht hätte ich mich doch angeben sollen!“ sagte Herr Fricke.

Es war Nacht. Von der Straße her leuchtete eine Laterne matt durch die Spitzengardinen des Schlafzimmerfensters. Frau Fricke lag auf der Seite, von ihrem Mann abgewendet. Ihr pausbackiges, jedoch bleiches Gesicht ruhte unter dem Schatten scharf geschwungener, fest gezogener Augenbrauen. Herr Fricke saß auf dem Kopfkissen seines Bettes. Sein kleiner, fast haarloser Kopf war auf die rechte, stark geballte Faust gestützt. Die Zehen seiner sehr gepflegten, sauberen Füße, die auf der Daunendecke ruhten, bewegten sich nervös. Seine Augen starrten geradeaus auf die Engelsköpfe der Bettpfosten am Fußende.

„Die Gewißheit ist schlimmer als die Ungewißheit“, sagte er sehr laut.

Seine Frau gab einen unwilligen Ton von sich. Er verriet, daß sie nicht geschlafen hatte. Sie knipste die Nachttischlampe an.

„Du machst dir zuviel Gedanken, Ludwig“, sagte sie und rückte ihr Nachthemd an den Schultern zurecht, „entschieden zuviel Gedanken. Das ist der ganze Jammer an der Sache. Denk an ‘was Schönes, Ludwig. Das geht. Das geht, wenn man will. Komm“, sie zeigte auf ihre Daunendecke, „leg deinen Kopf hierher, hm?“

„Wo ist die Zeitung?“ sagte Herr Fricke.

„Ich weiß nicht. Die Zeitung ist sehr uninteressant.“

„Sie war ein hübsches Kind“, fuhr er fort. „Eigentlich hübscher als unsere Tochter. Wie hieß sie doch?“ Er wollte die Zeitung vom Boden aufheben. Seine Frau löschte mit einer energischen, fast Panik verratenden Bewegung das Licht.

„Was tut das zur Sache? Hör schon auf!“

„Heidemarie - ja - aus Zahrenholz“, sagte er fast andächtig. „Heidemarie. - Du könntest mir einen Tee machen, Luise.“

„Jetzt? Um zwölf Uhr nachts? Nein.“

„Ich friere“, sagte er.

Das Licht der Nachttischlampe sprang wieder an. Die Frau stand auf. Sie drehte die Zentralheizung am Fenster an und ging in die Küche. Ihr Mann streckte sich quer über ihr Bett. Er nahm die Zeitung vom Boden auf. Die Seite mit dem Bild war aufgeschlagen. Auf dem Bild lachte das Kind. Es war neun Jahre alt. Neun Jahre, und er war neununddreißig. Es hatte blanke Augen. Ein Mund, der wirklich wie ein Herz war, auch beim Lachen. Durch das Lachen hatte sich die Haut unter den Augen etwas nach oben geschoben, und die Augen sahen aus wie blanke Halbmonde, die auf den Spitzen standen.

Seine Frau kam mit dem Tee. Sie setzte das Tablett vor ihn auf die Bettdecke und nahm ihm sanft die Zeitung aus der Hand.

„Eine Gemeinheit, das Kind auch noch abzubilden!“ sagte er. Seine Frau kroch unter die Bettdecke zurück. Sie nahm eine der zwei dampfenden Tassen, hielt sie sorgfältig weit von der bestickten Daunendecke weg und streckte den Kopf mit den gespitzten Lippen danach aus.

„Wozu eigentlich die Aufregung“, sagte sie, indem sie sich sorgfältig an den Seiten zudeckte, „es gibt doch keine Zeugen. Sogar die Zeitung schreibt es. Sie wissen noch nicht einmal, ob das Kind von einem Lastwagen oder Personenwagen überfahren wurde.“

Herr Fricke starrte wieder auf die Engelsköpfe. Es waren lachende Engel.

„Diese Engel grinsen auch im Dunkeln“, sagte er plötzlich in einem Ton, als habe ihm das lange auf der Seele gelegen, „auch wenn wir es nicht sehen, ja. Wie lange mag sie da im Straßengraben gelegen haben, Luise?“

„Ach, hör auf. Hör schon auf! Sie war doch gleich tot.“

„Nein.“ Er raschelte nervös mit allen zehn Fingern an der Zeitung. „Hier steht, sie war nicht gleich tot.“

„Na, hör schon auf! Hör auf, sage ich doch! Ich hab’ es schließlich nicht getan. Ich bin nicht davongefahren.“

„Du hast mir dazu geraten“, entgegnete er ruhig.

„In der Aufregung“, rief Frau Fricke mit glasklarer Stimme, „in dem Schock! Das war ja selbstverständlich. Oder nicht? In diesem Schock! Dazu kam dieser Sturm. Dieser Regen! Mein Gott! Und du hattest ja wirklich keine Schuld an dem... Unfall, nicht wahr? Aber sie hätten dir Schuld gegeben wegen des Alkohols, das war doch klar. Und daß ich ... beim Aufprall gefahren habe, konnte man doch auch nicht sagen.“

Herr Fricke war auf dem Kopfkissen einen halben Meter tiefer gerutscht. Seine Füße stemmten sich krampfhaft gegen das Laken, und seine Knie waren Zentimeter um Zentimeter seinem Gesicht näher gekommen. Wie ein ungeheurer, verzerrter Frosch saß er da. Plötzlich sprang er auf, stand mitten im Bett.

„Man hätte das sagen sollen“, stöhnte er fast.

„Daß ich fuhr?“ fragte sie.

„Natürlich.“

„Hm.“ Frau Fricke hielt den Kopf schief. Sie langte nach dem Tee und trank, den Kopf noch immer schief. „Dann hätten wir uns ja beide schuldig gemacht. Da ich nicht fahren darf, wärest du überdies doppelt schuldig gewesen. Ludwig! Überlegst du, was du sagst?“

Herr Fricke bückte sich, schlaff und beinahe wie von der eigenen Schwere gezogen, zur Daunendecke herab. Er zog das Tablett mit dem Tee auf den Nachttisch, glitt auf das Bett zurück und faltete die Zeitung auseinander. Er schloß die Augen. Er ließ die Hände in das knisternde Papier sinken.

„Dann... hätte ich eben alles allein auf mich nehmen müssen...“, sagte er.

Frau Fricke lachte.

„Aber Ludwig, daran zweifelt doch niemand!“ Ihre Hand bebte leicht beim Lachen, und sie verschüttete etwas Tee. „Du hast es nur verpaßt, Ludwig. Jetzt kann man nichts mehr machen.“

„Ich hab’ es verpaßt“, sagte er.

„Ich war nach dem Schock zu schwach, um überhaupt noch zu denken. Das war das Unglück.“

„Das war das Unglück, Luise.“

Sie schwiegen. Wieder schaltete Frau Fricke das Licht aus. Draußen war auch die Laterne erloschen. Herr Fricke sagte ins Dunkel: „Im Ernst, es konnte ja wirklich einen Gott geben, Luise, und... Es ist doch so:

Wenn wir nicht weggefahren wären...“

„Wer weiß, was dann wäre“, sagte die Frau.

„Man hätte dann nicht so viel Blut dort gefunden, das steht fest. Das Kind... ist doch... verblutet.“

„Unfug! Warum denkst du so viel? Das ist doch sonst nicht deine Stärke.“

Er lachte nervös.

„Ich hätte mich gestern doch angeben sollen“, fuhr er noch mitten im Lachen fort. „Oder morgen kann ich es noch tun? Morgen ist übrigens die Beisetzung.“

„Jetzt noch angeben? Wem nützt du damit?“

„Nützen“, sagte er, „nützen...“

„Ja, wem? Denk an das Geschäft! Denk an unser Kind!“

„An unser Kind!“ lachte er.

„Ja! Herrje, das ist doch kriminell. Und du nützt niemand damit. Verstehst du?“

„Mach doch das Licht an, Luise!“

Frau Fricke seufzte. Als man wieder etwas sah, stand ihr Mann mitten im Zimmer auf dem dunklen Teppich. Er warf die Schlafanzugjacke ab.

„Ich zieh’ mich an. Ich gehe ein bißchen spazieren. „Er blickte auf seine Sachen, die sauber und ordentlich auf einem Stuhl lagen.

„Ich zieh’ mich an“, sagte er wieder. „Das Hemd ist aber schmutzig, das Hemd ist sehr schmutzig, Luise. Krieg’ ich keine sauberen Hemden mehr?“

Seine Frau war zu ihm getreten. Sie strich mit der rechten Hand über seine nach vorn gefallenen Schultern. In der linken hielt sie das Tablett mit dem Tee. Herr Fricke trat zwei Schritte zurück.

„Was ist denn?“ fragte die Frau.

„Ich bin hier fremd“, sagte Herr Fricke.

„Hier?“

„Ja, hier. Hier, hier!“

Er ging mehrere Schritte in Richtung der Tür. Sie folgte ihm und strich ihm wieder über die Schultern.

„Das ist kein Wunder, Ludwig... Mit dieser... Schuld. Aber das gibt sich. Da, trink von dem Tee!“

Der Mann stierte auf das Tablett.

„Der Tee ist kalt“, sagte er. „Ich sollte mich vielleicht doch angeben.“

„Auch kalter Tee ist gut“, sagte die Frau.

„Auch kalter?“

„Ja, er erfrischt.“

„Aber das Kind!“ sagte Herr Fricke, ehe er zur Tasse griff. „Heidemarie aus Zahrenholz. Die erfrischt nun nichts mehr. Wie soll man weiterleben?“

   

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