XXV. Jahrgang, Heft 141
Jul - Aug - Sep 2006/3

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Die Brücke an der Spree
NEUKÖLLNER PHÄNOMENOLOGIE
Eine Kolumne von Ní Gudix

Die Ruhe nach dem Sturm

         
 
 

Im Ghetto ist wieder Ruhe eingekehrt. Der März war ein schlimmer Monat gewesen für Neukölln: erst der Film „Knallhart“ von Buck, dessen Handlungen einige Jugendliche in der Pannier- und Donaustraße sofort eifrig nachzuspielen begannen; dann wurde am St. Patrick’s Day in der Fontanestraße ein Schupo erschossen, als er einen Verdächtigen in Richtung Hasenheide verfolgte; und dann standen plötzlich SPIEGEL-, STERN- und FAZ-Fritzen vor der Rütli-Schule im Reuterkiez, und ganz Deutschland jammerte, klagte und debattierte in mehr oder weniger sachverständigen „Experten“-Runden über die Zukunft der Hauptschulen und über die schlimmen und unhaltbaren Zustände in Neukölln. Bilder von Polizisten, die Schüler in die Schule begleiteten, gingen um die Welt und erinnerten an ähnliche Bilder aus Belfast; vermummte Rotznasen posierten mit Baseballschlägern auf diversen Zeitungsseiten und ließen brave Bürger bundesweit erschaudern. Drogen, Gewalt, Gesetzlosigkeit, Ghetto, Slum, Little Bronx, Klein-Chikago: solche Attribute mußte ich mir anhören, wenn die Rede auf Neukölln kam. „Mein Gott“, hieß es, „wie kannst du da nur wohnen?! Herrscht da nicht Bürgerkrieg?! Hast du kein Geld, um da wegzuziehen, oder was?!“

Was soll man dazu sagen? Wieder ein Beweis, daß man nicht alles glauben darf, was in den Zeitungen steht. Es ist der Job von Journalisten, aus einem kleinen Lüftchen einen Sturm zusammenzuschreiben; aber es bleibt dennoch ein Lüftchen. Der Sturm tobt nur auf dem Papier.

Und jetzt, wo die Zeitungen von gestern längst im Altpapiercontainer gelandet sind, ist von dem erfundenen Sturm kaum mehr was zu spüren. Es ist Mai in Neukölln, der Himmel ist quietschblau, der Kassierer im Kaufland strahlt mich an, verschleierte Musliminnen jeden Alters schlendern durch Pimkie und inspizieren die neue Frühjahrsmode, und der Hausmeister pfeift sich eins. Die schrulligen Teppichhändler an der Ecke Fuldastraße kennzeichnen neue Sonderangebote, der Kebabmann steht in der Ladentür und reibt sich den Bauch, und vorm Rathaus sprießen die Blümchen. In dem Baum vor meiner Wohnung zwitschern Vögel, und ich habe keinen Grund mehr, dies für einen Handy-Klingelton zu halten wie noch vor kurzem, als der Winter nicht verschwinden wollte und auch die Natur in Neukölln abgemeldet gewesen zu sein schien.

Nein, ich zieh hier nicht weg. Mir gefällt Neukölln. Gerade ist der Fliesenfritze dabei, mein Badezimmer auszufliesen, und nächste Woche werden die Vorhänge geliefert. Ich fühle mich gut hier. Sicher, das Lüftchen, das den Sturm ausgelöst hat, ist durchaus real: hier gibt es viele Ausländer, und die Schulen haben Probleme. Aber haben sie das in Duisburg oder Kiel nicht auch? Eben. Warum soll immer Neukölln als Sündenbock herhalten? Glaubt denn jemand ernsthaft, daß sich die Türken- und Libanesengangs, kaum daß sie die unsichtbare Grenze von Neukölln zu Kreuzberg überschritten haben, von gewaltorientierten Ghettokids zu schmusigen Multikulti-Latin-Lovern wandeln? Na also. Kreuzbergs guter Ruf ist genauso klischeefixiert und erfunden wie der schlechte Neuköllns; in Kreuzberg wurde ich öfters blöd angemacht und angepöbelt als in Neukölln, und in Prenzlauer Berg noch öfter als in Kreuzberg, nicht von Türken, sondern von arbeitslosen Haus- und Halbaffen mit und ohne Fuslfahne bzw. Joint in der Klaue. Der Affenbezirk Prenzlauer Berg ist gefährlicher als Neukölln - überall stromern unzurechnungsfähige Spinner herum, die ihre Neurosen spazieren führen und mit ihrem Dummdeutsch die Luft verschmutzen - und hastdunichtgesehen hast du den Verstand verloren. In Neukölln nicht. In Neukölln gibt’s zwar Türken-, aber keine Psychotengangs. Neukölln ist neurosenimmun.

Überhaupt die Türken. Mein Vater, Oberschwabe, hatte mir 2004 beim Umzug nach Neukölln geholfen und bemerkte bald: „Des Gschwätz isch doch Mischt. Türken gibt’s, aber die sind doch alles brave Leit! Die schaffet doch alle au, genau wie du!“ Stimmt. Türkische Familien, verschleierte Mütter, säckeweise Kinder dazu: das ist es, was man hier in Nordneukölln auf den Straßen sieht. Keine Ghettokids mit Knarren. Keine Bandenkriege. Keine Schüsse. Kein Bürgerkrieg. Über den Begriff „Ghetto“ kann ich also nur den Kopf schütteln. In Neukölln prallen Ausländer mit Urberlinern zusammen - Neukölln ist eben auch ein Altberliner-Ghetto; die wenigen Berliner, die Berlin noch hat, kommen aus Neukölln. Zum Beispiel Heinz Buschkowsky, unser Bürgermeister - ein neurosenimmuner, integerer Mensch, der den ganzen Ghetto-Fez nicht mitmacht und der ein lebendes Beispiel dafür ist, daß Neukölln ein lebenswerter Bezirk ist.

Trotz allem. Probleme gibt’s hier wie da; es geht ums Anpacken, ums „Schaffe“. Und schaffen, ja: das tun wir schon.

   

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