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Im Ghetto ist wieder Ruhe eingekehrt. Der März
war ein schlimmer Monat gewesen für Neukölln: erst der
Film „Knallhart“ von Buck, dessen Handlungen einige
Jugendliche in der Pannier- und Donaustraße sofort eifrig
nachzuspielen begannen; dann wurde am St. Patrick’s Day in
der Fontanestraße ein Schupo erschossen, als er einen Verdächtigen
in Richtung Hasenheide verfolgte; und dann standen plötzlich
SPIEGEL-, STERN- und FAZ-Fritzen vor der Rütli-Schule im Reuterkiez,
und ganz Deutschland jammerte, klagte und debattierte in mehr oder
weniger sachverständigen „Experten“-Runden über
die Zukunft der Hauptschulen und über die schlimmen und unhaltbaren
Zustände in Neukölln. Bilder von Polizisten, die Schüler
in die Schule begleiteten, gingen um die Welt und erinnerten an
ähnliche Bilder aus Belfast; vermummte Rotznasen posierten
mit Baseballschlägern auf diversen Zeitungsseiten und ließen
brave Bürger bundesweit erschaudern. Drogen, Gewalt, Gesetzlosigkeit,
Ghetto, Slum, Little Bronx, Klein-Chikago: solche Attribute mußte
ich mir anhören, wenn die Rede auf Neukölln kam. „Mein
Gott“, hieß es, „wie kannst du da nur wohnen?!
Herrscht da nicht Bürgerkrieg?! Hast du kein Geld, um da wegzuziehen,
oder was?!“
Was soll man dazu sagen? Wieder ein Beweis, daß
man nicht alles glauben darf, was in den Zeitungen steht. Es ist
der Job von Journalisten, aus einem kleinen Lüftchen einen
Sturm zusammenzuschreiben; aber es bleibt dennoch ein Lüftchen.
Der Sturm tobt nur auf dem Papier.
Und jetzt, wo die Zeitungen von gestern längst
im Altpapiercontainer gelandet sind, ist von dem erfundenen Sturm
kaum mehr was zu spüren. Es ist Mai in Neukölln, der Himmel
ist quietschblau, der Kassierer im Kaufland strahlt mich an, verschleierte
Musliminnen jeden Alters schlendern durch Pimkie und inspizieren
die neue Frühjahrsmode, und der Hausmeister pfeift sich eins.
Die schrulligen Teppichhändler an der Ecke Fuldastraße
kennzeichnen neue Sonderangebote, der Kebabmann steht in der Ladentür
und reibt sich den Bauch, und vorm Rathaus sprießen die Blümchen.
In dem Baum vor meiner Wohnung zwitschern Vögel, und ich habe
keinen Grund mehr, dies für einen Handy-Klingelton zu halten
wie noch vor kurzem, als der Winter nicht verschwinden wollte und
auch die Natur in Neukölln abgemeldet gewesen zu sein schien.
Nein, ich zieh hier nicht weg. Mir gefällt Neukölln.
Gerade ist der Fliesenfritze dabei, mein Badezimmer auszufliesen,
und nächste Woche werden die Vorhänge geliefert. Ich fühle
mich gut hier. Sicher, das Lüftchen, das den Sturm ausgelöst
hat, ist durchaus real: hier gibt es viele Ausländer, und die
Schulen haben Probleme. Aber haben sie das in Duisburg oder Kiel
nicht auch? Eben. Warum soll immer Neukölln als Sündenbock
herhalten? Glaubt denn jemand ernsthaft, daß sich die Türken-
und Libanesengangs, kaum daß sie die unsichtbare Grenze von
Neukölln zu Kreuzberg überschritten haben, von gewaltorientierten
Ghettokids zu schmusigen Multikulti-Latin-Lovern wandeln? Na also.
Kreuzbergs guter Ruf ist genauso klischeefixiert und erfunden wie
der schlechte Neuköllns; in Kreuzberg wurde ich öfters
blöd angemacht und angepöbelt als in Neukölln, und
in Prenzlauer Berg noch öfter als in Kreuzberg, nicht von Türken,
sondern von arbeitslosen Haus- und Halbaffen mit und ohne Fuslfahne
bzw. Joint in der Klaue. Der Affenbezirk Prenzlauer Berg ist gefährlicher
als Neukölln - überall stromern unzurechnungsfähige
Spinner herum, die ihre Neurosen spazieren führen und mit ihrem
Dummdeutsch die Luft verschmutzen - und hastdunichtgesehen hast
du den Verstand verloren. In Neukölln nicht. In Neukölln
gibt’s zwar Türken-, aber keine Psychotengangs. Neukölln
ist neurosenimmun.
Überhaupt die Türken. Mein Vater, Oberschwabe,
hatte mir 2004 beim Umzug nach Neukölln geholfen und bemerkte
bald: „Des Gschwätz isch doch Mischt. Türken gibt’s,
aber die sind doch alles brave Leit! Die schaffet doch alle au,
genau wie du!“ Stimmt. Türkische Familien, verschleierte
Mütter, säckeweise Kinder dazu: das ist es, was man hier
in Nordneukölln auf den Straßen sieht. Keine Ghettokids
mit Knarren. Keine Bandenkriege. Keine Schüsse. Kein Bürgerkrieg.
Über den Begriff „Ghetto“ kann ich also nur den
Kopf schütteln. In Neukölln prallen Ausländer mit
Urberlinern zusammen - Neukölln ist eben auch ein Altberliner-Ghetto;
die wenigen Berliner, die Berlin noch hat, kommen aus Neukölln.
Zum Beispiel Heinz Buschkowsky, unser Bürgermeister - ein neurosenimmuner,
integerer Mensch, der den ganzen Ghetto-Fez nicht mitmacht und der
ein lebendes Beispiel dafür ist, daß Neukölln ein
lebenswerter Bezirk ist.
Trotz allem. Probleme gibt’s hier wie da; es
geht ums Anpacken, ums „Schaffe“. Und schaffen, ja:
das tun wir schon.
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