|
Wenn sich Katastrophen häufen, erscheinen sie
zusehends als Normalität. Je mehr es gibt, desto weniger werden
sie also solche wahrgenommen. Zweifellos, wenn es in diesem Tempo
der Erdbeben, Flutwellen, Überschwemmungen und sonstigen Elementarereignisse
weitergeht, dann dürfte bald der Punkt kommen, wo die Aufmerksamkeit
gegen Null tendiert. Die Dramatik geht verloren. Katastrophenmüdigkeit
zeichnet sich ab. Wenn der Katastrophen zu viele, gibt es keine
Katastrophen mehr. Ab einem gewissen Grad kippt die Stimmung in
Apathie. Ist halt so. Was kannst du machen? Wenn sich das Außergewöhnliche
häuft, wird es gewöhnlich. Die Leute gewöhnen sich
daran, empfinden gar manche Zumutung als Selbstverständlichkeit,
ja machen sich allzu oft zu deren eifrigen Verfechtern.
Da nur ist, was in den Medien ist, haben lediglich
jene Katastrophen stattgefunden, die kulturindustriell verwertbar
sind. Über ihren spezifischen Marktwert entscheiden Marketing
und Management. Katastrophen werden gehandelt wie Skandale. Können
sie aufregen und die Quoten und Absätze steigern, sind sie
auf Sendung und im Blatt; ist dies nicht gegeben, hat es sie nicht
gegeben oder eben bloß kurz. Auch Spenden und Hilfsbereitschaft
richten sich primär nach diesen Kriterien. Betroffenheit ist
keine natürliche Größe, sondern ein Aspekt der Inszenierung.
Sie wird exogen evoziert, nicht einfach unmittelbar gespürt.
Der emotionale Analphabetismus ist allerorten wahrnehmbar. Wir leben
auch im Zeitalter der mentalen Katastrophen.
Die aktuelle Jahreshitparade der Empathie haben sicher
die Tsunami-Opfer gewonnen, vor allem deshalb, weil an den Stränden
in Südostasien viele Touris hausten, Bürger also, die
der westlichen Hemisphäre (und dabei nicht deren ärmsten)
angehören. Die rassistische Differenz ist grundlegend. Da kommen
pakistanische Erdbeben oder Dammbrüche in New Orleans nicht
mit. Pakistan hat da wenig zu bieten. Fremdenverkehr gibt es dort
kaum und Präsident Musharraf, obwohl aktuell ein Bündnispartner
im Kampf gegen Terror und Schurken, könnte unter anderen Umständen
auch ein Bin Laden mit Atombombe sein. Die, denen ebenfalls zu misstrauen
wäre, misstrauen ihm zu Recht. Die Folgen solcher Konstellation
erleiden zweifellos immer die Schwächsten. Decken gibt es für
Frierende nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund des auf Bild
und Bildschirmen erzeugten Mitgefühls. Ein ordentliches Elend
hat geschäftstüchtig zu sein, ansonsten kann es in sich
selbst versinken.
Auch die Ereignisse in New Orleans nach dem Hurrikan
Katrina haben sehr zurückhaltende Reaktionen gezeitigt, nicht
bloß bei George Bush und seiner Administration, sondern weltweit.
Arme, Kranke, Autolose, Schwarze, das ist medial kein besonders
lukratives Aufgebot. Eine Spendenwelle rollt nur an, wenn ihr eine
Sympathiewelle zur Seite steht. Ist das nicht der Fall, sind die
Opfer Abfall, eine abschreibbare Größe: „Es wurde
bereits entschieden, diese Menschen nicht zu retten. Wenn das in
einer Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten passieren kann, dann
werden solche Entscheidungen bei den großen Katastrophen der
Zukunft auf geradezu apokalyptische Weise zunehmen - noch zu Lebzeiten
unserer Kinder“, sagt der Soziologe Mike Davis im Gespräch
mit der Süddeutschen Zeitung.
Gegen solchen unerträglichen Alarmismus werden
ganze Divisionen von Wissenschaftern aufgeboten, etwa von der Sorte
des Ex-Greenpeace-Aktivisten Bjorn Lømborg. In „Apokalypse
no!“ wird in apologetischer Manier der statistisch unwiderlegbare
Beweis geführt, dass alles unentwegt besser wird. Die deutsche
Übersetzung seines Buchs konnte wohl nur deswegen nicht reüssieren,
weil es blöderweise zu dem Zeitpunkt erschienen ist, wo in
Deutschland und Österreich Donau und Elbe samt ihren Zuflüssen
das Land überfluteten.
Franz Schandl
A – Wien
***
Verlustangstmacher
Bevor ich diesen mit Verlustangst spielenden Beitrag
beende, besteht für mich die grundsätzliche, eher nicht
zu erwartenden Möglichkeit, meine Existenz zu verlieren. Und
diese Zeilen sind im Moment, in dem ich sie verfasse, Lebenszeichen.
Aber danach vielleicht schon nicht mehr.
Dabei will ich weder einen Abschiedsbrief oder gar
eine Selbstmorddrohung schreiben, noch erwartet mich irgendetwas
akut Lebensbedrohliches außer dem Zufall, der Unfall oder
sonst ein Tod bringender Vorfall sein könnte.
Auch Ihnen, meine lieben Leserinnen und Leser, droht
ständig und überall der Tod und die Verlustangstmacher,
die mit dem tödlichen Zufall Wahrscheinlichkeitsspiele spielen,
tun als ordinäre Politiker, Versicherungsvertreter, Generäle
und Lehrer unter uns Dienst, geben sich wie ganz normale Eltern,
drohen als Jugendliche mit Selbstmord oder sind als Arbeitgeber,
Kaufleute, Ärzte und Scharfschützen tätig.
Als Versicherungsvertreter verkaufen sie Lebensversicherungen,
damit unsere Nachfahren beim möglichen Verlust ihrer bisherigen
Miternährer eine gewisse finanzielle Absicherung genießen
können. Auch wenn wir eher nicht daran denken, unsere potentiellen
Hinterbliebenen zu verlassen, könnten wir in wenigen Augenblicken,
warnt, ohne es auszusprechen, der seriöse Versicherungskaufmann,
dennoch Opfer eines tödlichen Unfalls werden. Also benötigen
wir neben Lebens- auch noch Unfallversicherungen. Sicher ist sicher.
Rauchmelder, sind sich Feuerwehrleute und geschäftstüchtige
Brandschutzgerätehersteller einig, müssen in allen Wohnungen
installiert werden, um früh genug Wohnungsbrände und Todesopfer
zu verhindern.
Airbags im Auto vorn, an der Seite, oben und am besten
auch noch hinten, sorgen für das Überleben auf der Straße.
Schließlich ist jeder für sich selbst verantwortlich,
das Leben unsicher und einzig der Tod noch sicherer als das Amen
in der Kirche.
Geschäfte mit dem endgültig sicheren Tod
machen auf dem freien Markt allenfalls Bestatter, Nachlassverwalter,
Grabredner und auf Erbstreitigkeiten spezialisierte Anwälte.
Wesentlich mehr Geld lässt sich mit dem unwahrscheinlichen,
aber möglichen Tod verdienen, zumal der lebendige Kunde weiterhin
auf dem freien Markt zur Verfügung steht.
Generäle und Verteidigungsminister nutzen Drohungen
des angeblich überall lauernden Feindes, der, wie Geheimdienste
erfahren haben wollen, Tod bringende auf unser Land gerichtete Waffen
stationierte. Also müssen verantwortliche Militärs zur
besonderen Freude der Rüstungsindustrie eine wehrhafte Landesverteidigung
organisieren.
Lehrer, Väter und Mütter behaupten, ohne
das von ihnen vermittelte Wissen können Jugendliche auf dem
freien Markt erst gar nicht in ein vernünftiges und erfolgreiches
Erwachsenenleben starten, und Politiker drohen mit den unberechenbaren
Gefahren des Terrorismus’, vor denen sie uns schützen
wollen. Daher führen sie per Gesetz elektronische und möglichst
lückenlose Überwachungsmethoden ein, die vor allem ihnen
helfen, ihre Macht zu erhalten. Ohnmacht ist - selbst für Nichtpolitiker
- sowieso fast wie der Tod.
Und immer mehr Zeitgenossinnen und Zeitgenossen können
allein deswegen nicht mehr schlafen, weil sie fürchten, unbemerkt
in den Tod hinüber zu schlafen. Das belebt wiederum das Geschäft
mit Schlafmitteln.
Nun es gibt auch Mitmenschen, die sich kaum oder nur
bedingt von Lebensverlustangst-machern beeindrucken lassen.
Potentielle Mörder, zum Beispiel, selbst wenn
sie von Todesstrafe bedroht sind, lassen sich nicht davon abhalten,
Mitmenschen umzubringen.
Soldaten töten zwar, um nicht getötet zu
werden, gehen jedoch das Risiko ein, im Krieg wesentlich geringere
Überlebenschancen als in Friedenszeiten zu haben.
Selbstmordattentäter nehmen - in der Hoffnung
auf ein besseres Leben danach - vermeintliche Feinde mit in den
Tod, der ordinäre Selbstmörder gab ohnehin jegliche Lebenslust
auf, während der langsame Selbstmord mit Nikotin, Alkohol oder
illegalen Drogen als solcher eigentlich nicht beabsichtigt ist,
da Raucher, Trinker oder User mit Hilfe der Drogen wenigstens kurzfristig
ein lustvolleres oder angstfreieres Leben anstreben. Allenfalls
deren Angehörige haben Angst um die Gesundheit ihres Drogenkonsumenten.
Gesundheit ist im Übrigen wiederum die Garantie für ein
möglichst langes, unbeeinträchtigtes Leben, während
Krankheit Lebensverlustängste provoziert, mit denen Ärzte,
Krankenschwestern und die Pharmaindustrie Geld verdienen.
Offen und verdeckt ängstigen Arbeitgeber ihre
Arbeitnehmer mit Arbeitsplatzverlusten und dadurch mit Existenzverlust.
Und selbst der Papst und seine Priester drohen reuelosen Sündern
den Verlust des unbegrenzten Lebensglücks nach dem Tod an,
obwohl bisher kein Menschlicher in paradiesischen Gefilde vordrang,
um jene ewige Glückseligkeit garantieren zu können.
Gegen Angst immun zu werden ist kein probates Gegenmittel,
denn ohne Angst wären wir extrem leichtsinnig, würden
zu permanenter Selbstüberschätzung neigen und vermutlich
auch nicht besonders lange leben.
Selbstverständlich leiden auch Politikerinnen
und Politiker unter Verlustangst, vor allem unter jener, Macht zu
verlieren und bekanntlich verliert gerade die nationale Politik
gegenüber den weltweit operierenden Unternehmen und Banken
ständig an Macht. So meinen Politiker ihrem Wahlvolk zeigen
zu müssen, wie mächtig sie noch immer sind. Also holen
sie sich die Macht, die sie an mächtige Unternehmer verloren,
beim Volk zurück und geben sich als Dienstleister. Sie bieten
an, die überforderten Volksangehörigen von der höheren
Verantwortung für das Staatswesen und das Staatsvolk zu entlasten.
Ohne Leitfiguren, und zu denen seien sie als Politiker nun einmal
berufen, entstehe im Übrigen ein äußerst gefährliches
Machtvakuum, in dem sich das gemeine Volk und der Mob auf der Straße
gegenseitig umbringen werden.
Nicht das dem Dasein vertrauensvoll zugewandte „leben
und leben lassen“ sei die Devise der Zukunft. Vielmehr gelte
es in einer eskalierenden Ellenbogengesellschaft mit kampferprobten
Mandatsträgern entweder zu überleben oder aber das Leben
zu lassen.
Und will das Volk nicht an Ellenbogen glauben, erhöhen
Unternehmer und Politiker gemeinsam auf dem so genannten freien
Markt, der angeblich alles selbst regelt, den Konkurrenzdruck.
Wetten, dass dann selbst die friedlichsten Mitbürgerinnen
und Mitbürger irgendwann den Ellenbogen ausfahren?!
Bevor ich allerdings diesen mit Verlustangst spielenden
Beitrag beende, besteht für mich auch weiterhin, allen Geschäfte-
und Verlustangstmachern zum Trotz, die eher nicht zu erwartenden
Möglichkeit, meine Existenz zu verlieren. Und außerdem
bin ich auch weiterhin für leben und leben lassen.
Karl Feldkamp
Bergisch Gladbach
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes
Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|