XXV. Jahrgang, Heft 141
Jul - Aug - Sep 2006/3

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Meinungen–Karawanserei

Staccato der Katastrophen

Elend und Geschäft im virtuellen Zeitalter

   
 
 

Wenn sich Katastrophen häufen, erscheinen sie zusehends als Normalität. Je mehr es gibt, desto weniger werden sie also solche wahrgenommen. Zweifellos, wenn es in diesem Tempo der Erdbeben, Flutwellen, Überschwemmungen und sonstigen Elementarereignisse weitergeht, dann dürfte bald der Punkt kommen, wo die Aufmerksamkeit gegen Null tendiert. Die Dramatik geht verloren. Katastrophenmüdigkeit zeichnet sich ab. Wenn der Katastrophen zu viele, gibt es keine Katastrophen mehr. Ab einem gewissen Grad kippt die Stimmung in Apathie. Ist halt so. Was kannst du machen? Wenn sich das Außergewöhnliche häuft, wird es gewöhnlich. Die Leute gewöhnen sich daran, empfinden gar manche Zumutung als Selbstverständlichkeit, ja machen sich allzu oft zu deren eifrigen Verfechtern.

Da nur ist, was in den Medien ist, haben lediglich jene Katastrophen stattgefunden, die kulturindustriell verwertbar sind. Über ihren spezifischen Marktwert entscheiden Marketing und Management. Katastrophen werden gehandelt wie Skandale. Können sie aufregen und die Quoten und Absätze steigern, sind sie auf Sendung und im Blatt; ist dies nicht gegeben, hat es sie nicht gegeben oder eben bloß kurz. Auch Spenden und Hilfsbereitschaft richten sich primär nach diesen Kriterien. Betroffenheit ist keine natürliche Größe, sondern ein Aspekt der Inszenierung. Sie wird exogen evoziert, nicht einfach unmittelbar gespürt. Der emotionale Analphabetismus ist allerorten wahrnehmbar. Wir leben auch im Zeitalter der mentalen Katastrophen.

Die aktuelle Jahreshitparade der Empathie haben sicher die Tsunami-Opfer gewonnen, vor allem deshalb, weil an den Stränden in Südostasien viele Touris hausten, Bürger also, die der westlichen Hemisphäre (und dabei nicht deren ärmsten) angehören. Die rassistische Differenz ist grundlegend. Da kommen pakistanische Erdbeben oder Dammbrüche in New Orleans nicht mit. Pakistan hat da wenig zu bieten. Fremdenverkehr gibt es dort kaum und Präsident Musharraf, obwohl aktuell ein Bündnispartner im Kampf gegen Terror und Schurken, könnte unter anderen Umständen auch ein Bin Laden mit Atombombe sein. Die, denen ebenfalls zu misstrauen wäre, misstrauen ihm zu Recht. Die Folgen solcher Konstellation erleiden zweifellos immer die Schwächsten. Decken gibt es für Frierende nicht wegen der Kälte, sondern aufgrund des auf Bild und Bildschirmen erzeugten Mitgefühls. Ein ordentliches Elend hat geschäftstüchtig zu sein, ansonsten kann es in sich selbst versinken.

Auch die Ereignisse in New Orleans nach dem Hurrikan Katrina haben sehr zurückhaltende Reaktionen gezeitigt, nicht bloß bei George Bush und seiner Administration, sondern weltweit. Arme, Kranke, Autolose, Schwarze, das ist medial kein besonders lukratives Aufgebot. Eine Spendenwelle rollt nur an, wenn ihr eine Sympathiewelle zur Seite steht. Ist das nicht der Fall, sind die Opfer Abfall, eine abschreibbare Größe: „Es wurde bereits entschieden, diese Menschen nicht zu retten. Wenn das in einer Gesellschaft wie den Vereinigten Staaten passieren kann, dann werden solche Entscheidungen bei den großen Katastrophen der Zukunft auf geradezu apokalyptische Weise zunehmen - noch zu Lebzeiten unserer Kinder“, sagt der Soziologe Mike Davis im Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung.

Gegen solchen unerträglichen Alarmismus werden ganze Divisionen von Wissenschaftern aufgeboten, etwa von der Sorte des Ex-Greenpeace-Aktivisten Bjorn Lømborg. In „Apokalypse no!“ wird in apologetischer Manier der statistisch unwiderlegbare Beweis geführt, dass alles unentwegt besser wird. Die deutsche Übersetzung seines Buchs konnte wohl nur deswegen nicht reüssieren, weil es blöderweise zu dem Zeitpunkt erschienen ist, wo in Deutschland und Österreich Donau und Elbe samt ihren Zuflüssen das Land überfluteten.

Franz Schandl
A – Wien


***


Verlustangstmacher

Bevor ich diesen mit Verlustangst spielenden Beitrag beende, besteht für mich die grundsätzliche, eher nicht zu erwartenden Möglichkeit, meine Existenz zu verlieren. Und diese Zeilen sind im Moment, in dem ich sie verfasse, Lebenszeichen. Aber danach vielleicht schon nicht mehr.

Dabei will ich weder einen Abschiedsbrief oder gar eine Selbstmorddrohung schreiben, noch erwartet mich irgendetwas akut Lebensbedrohliches außer dem Zufall, der Unfall oder sonst ein Tod bringender Vorfall sein könnte.

Auch Ihnen, meine lieben Leserinnen und Leser, droht ständig und überall der Tod und die Verlustangstmacher, die mit dem tödlichen Zufall Wahrscheinlichkeitsspiele spielen, tun als ordinäre Politiker, Versicherungsvertreter, Generäle und Lehrer unter uns Dienst, geben sich wie ganz normale Eltern, drohen als Jugendliche mit Selbstmord oder sind als Arbeitgeber, Kaufleute, Ärzte und Scharfschützen tätig.

Als Versicherungsvertreter verkaufen sie Lebensversicherungen, damit unsere Nachfahren beim möglichen Verlust ihrer bisherigen Miternährer eine gewisse finanzielle Absicherung genießen können. Auch wenn wir eher nicht daran denken, unsere potentiellen Hinterbliebenen zu verlassen, könnten wir in wenigen Augenblicken, warnt, ohne es auszusprechen, der seriöse Versicherungskaufmann, dennoch Opfer eines tödlichen Unfalls werden. Also benötigen wir neben Lebens- auch noch Unfallversicherungen. Sicher ist sicher.

Rauchmelder, sind sich Feuerwehrleute und geschäftstüchtige Brandschutzgerätehersteller einig, müssen in allen Wohnungen installiert werden, um früh genug Wohnungsbrände und Todesopfer zu verhindern.

Airbags im Auto vorn, an der Seite, oben und am besten auch noch hinten, sorgen für das Überleben auf der Straße. Schließlich ist jeder für sich selbst verantwortlich, das Leben unsicher und einzig der Tod noch sicherer als das Amen in der Kirche.

Geschäfte mit dem endgültig sicheren Tod machen auf dem freien Markt allenfalls Bestatter, Nachlassverwalter, Grabredner und auf Erbstreitigkeiten spezialisierte Anwälte. Wesentlich mehr Geld lässt sich mit dem unwahrscheinlichen, aber möglichen Tod verdienen, zumal der lebendige Kunde weiterhin auf dem freien Markt zur Verfügung steht.

Generäle und Verteidigungsminister nutzen Drohungen des angeblich überall lauernden Feindes, der, wie Geheimdienste erfahren haben wollen, Tod bringende auf unser Land gerichtete Waffen stationierte. Also müssen verantwortliche Militärs zur besonderen Freude der Rüstungsindustrie eine wehrhafte Landesverteidigung organisieren.

Lehrer, Väter und Mütter behaupten, ohne das von ihnen vermittelte Wissen können Jugendliche auf dem freien Markt erst gar nicht in ein vernünftiges und erfolgreiches Erwachsenenleben starten, und Politiker drohen mit den unberechenbaren Gefahren des Terrorismus’, vor denen sie uns schützen wollen. Daher führen sie per Gesetz elektronische und möglichst lückenlose Überwachungsmethoden ein, die vor allem ihnen helfen, ihre Macht zu erhalten. Ohnmacht ist - selbst für Nichtpolitiker - sowieso fast wie der Tod.

Und immer mehr Zeitgenossinnen und Zeitgenossen können allein deswegen nicht mehr schlafen, weil sie fürchten, unbemerkt in den Tod hinüber zu schlafen. Das belebt wiederum das Geschäft mit Schlafmitteln.

Nun es gibt auch Mitmenschen, die sich kaum oder nur bedingt von Lebensverlustangst-machern beeindrucken lassen.

Potentielle Mörder, zum Beispiel, selbst wenn sie von Todesstrafe bedroht sind, lassen sich nicht davon abhalten, Mitmenschen umzubringen.

Soldaten töten zwar, um nicht getötet zu werden, gehen jedoch das Risiko ein, im Krieg wesentlich geringere Überlebenschancen als in Friedenszeiten zu haben.

Selbstmordattentäter nehmen - in der Hoffnung auf ein besseres Leben danach - vermeintliche Feinde mit in den Tod, der ordinäre Selbstmörder gab ohnehin jegliche Lebenslust auf, während der langsame Selbstmord mit Nikotin, Alkohol oder illegalen Drogen als solcher eigentlich nicht beabsichtigt ist, da Raucher, Trinker oder User mit Hilfe der Drogen wenigstens kurzfristig ein lustvolleres oder angstfreieres Leben anstreben. Allenfalls deren Angehörige haben Angst um die Gesundheit ihres Drogenkonsumenten. Gesundheit ist im Übrigen wiederum die Garantie für ein möglichst langes, unbeeinträchtigtes Leben, während Krankheit Lebensverlustängste provoziert, mit denen Ärzte, Krankenschwestern und die Pharmaindustrie Geld verdienen.

Offen und verdeckt ängstigen Arbeitgeber ihre Arbeitnehmer mit Arbeitsplatzverlusten und dadurch mit Existenzverlust. Und selbst der Papst und seine Priester drohen reuelosen Sündern den Verlust des unbegrenzten Lebensglücks nach dem Tod an, obwohl bisher kein Menschlicher in paradiesischen Gefilde vordrang, um jene ewige Glückseligkeit garantieren zu können.

Gegen Angst immun zu werden ist kein probates Gegenmittel, denn ohne Angst wären wir extrem leichtsinnig, würden zu permanenter Selbstüberschätzung neigen und vermutlich auch nicht besonders lange leben.

Selbstverständlich leiden auch Politikerinnen und Politiker unter Verlustangst, vor allem unter jener, Macht zu verlieren und bekanntlich verliert gerade die nationale Politik gegenüber den weltweit operierenden Unternehmen und Banken ständig an Macht. So meinen Politiker ihrem Wahlvolk zeigen zu müssen, wie mächtig sie noch immer sind. Also holen sie sich die Macht, die sie an mächtige Unternehmer verloren, beim Volk zurück und geben sich als Dienstleister. Sie bieten an, die überforderten Volksangehörigen von der höheren Verantwortung für das Staatswesen und das Staatsvolk zu entlasten. Ohne Leitfiguren, und zu denen seien sie als Politiker nun einmal berufen, entstehe im Übrigen ein äußerst gefährliches Machtvakuum, in dem sich das gemeine Volk und der Mob auf der Straße gegenseitig umbringen werden.

Nicht das dem Dasein vertrauensvoll zugewandte „leben und leben lassen“ sei die Devise der Zukunft. Vielmehr gelte es in einer eskalierenden Ellenbogengesellschaft mit kampferprobten Mandatsträgern entweder zu überleben oder aber das Leben zu lassen.

Und will das Volk nicht an Ellenbogen glauben, erhöhen Unternehmer und Politiker gemeinsam auf dem so genannten freien Markt, der angeblich alles selbst regelt, den Konkurrenzdruck.

Wetten, dass dann selbst die friedlichsten Mitbürgerinnen und Mitbürger irgendwann den Ellenbogen ausfahren?!

Bevor ich allerdings diesen mit Verlustangst spielenden Beitrag beende, besteht für mich auch weiterhin, allen Geschäfte- und Verlustangstmachern zum Trotz, die eher nicht zu erwartenden Möglichkeit, meine Existenz zu verlieren. Und außerdem bin ich auch weiterhin für leben und leben lassen.

Karl Feldkamp
Bergisch Gladbach

   

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