XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Editorial

In immer weiterer Ferne des sozial solidarischen Anbruchs


   
 
 

Der anhaltende Handstreich der hochbetuchten Bravour-Bourgeoisie à la Alemania gilt der Demontage von Allmenden durch ein neorassistisches Räderwerk, das in Gang setzt, daß die sozialen Konflikte ethnisiert und zentrifugale Tendenzen verstärkt werden. Die enteigneten Massen haben sich ihrer Zugehörigkeit zu einem völkischen, meist mythischen Stamm zu rühmen und zu bemühen, die Misere ihrer Existenz als gottgegeben gutzuheißen. Längst überließ die gewalthabende Demokratur überall das Elend dem Berufsstand des Menschen-Managements.

Unbesehen der verbalen Akzeptanz der Verdienste, welche die eingewanderten Anachoreten seit fast einem halben Jahrhundert im Groß-D-Land bewerkstelligten, rollt der bullige Akklimatisations-Bulldozer der selektiven Assimilation in immer höherem Tempo durch die imperatorisch imitierten „Parallelgesellschaften“. In seinem offensiven Zielbahnhof liegt das Verbot des Türkischen im schulischen Pausenhof oder bald in allen öffentlichen Orten. Als Grund wird vorgeschoben, daß die Muttersprache der Allochthon-Kinder die Integration erschwere. Diesem kulturalistisch diskriminierenden Duktus schloß sich zuletzt der Berliner Bürgermeister Klaus Wowereit an. Das kinderlose, in Charlottenburg wohnhafte Hauptstadtoberhaupt outete sich Anfang Dezember 2006 vor Kameras: Hätte er Sprößlinge, würde er sie nicht auf eine Kreuzberger Schule schicken. „Ich kann auch jeden verstehen, der sagt, dass er da seine Kinder nicht hinschickt.“

Derartige und analoge Allüren stacheln in den als „Getto“ herabgesetzten Randstadt-Stätten den Alarm an. Dieser tief verwurzelt kaltschnäuzigen Ethnophobie des Deutschtums hielt sich DIE BRÜCKE über ein Viertel Jahrhundert als Gegengewicht im Sattel.

Während die retrospektive Domänen-Diktatur der Demokratie auf die unrühmliche Rückkehr der Ständestaatsstrukturen starrt, kommen die Mainstream-Musketiere der „Vierten Gewalt“ still wie stilvoll anmarschiert, halten große Stücke auf die (Selbst)Zensur, sehen die Sehnsüchte der Menschenmengen nach Brot und Bruderschaft über die Schulter an, beäugen die karnevalesken Kaskaden der Kulturkreis-Kompagnons sowie krawallesken Bravourstücke der imperialen Bastei-Barone in großem Bogen. Ebenfalls erwärmen sie sich für mediale Miseren und hauen allemal auf die Pauke, wenn sie davon Wind bekommen, daß gedruckte Sprachröhren des unfolgsamen Gedankengebäudes wie DIE BRÜCKE in die Marginalien gedrückt werden.

Im Abseits des Mainstreams strengt sich dieses Blätterwerk seit über einem Vierteljahrhundert an zu überleben, fußt vorwiegend auf einem zum Nulltarif tätigen Herausgeber- und Redaktionskreis, demonstriert nun mit dem aktuellen Heft abermals seine publizistische Position als morgenbunt ausgefeilter Botengänger einer kosmopolitanen Bürgerrepublik.

Nicht nur im Integrationssektor des krisenkapitalistischen Syndikatensystems, eine Menge Blätter erscheinen dank der voll- oder halbamtlichen Protektion – im strukturellen Segment der Scheinselbständigkeit. An jedem Jahresende feiern ihre Fertiger umstandslos das gesicherte nächste Jahr. Andere müssen sich in den weihnachtlichen Bettelbetrieb der virtuellen Fußgängerzone einreihen – in immer weiterer Ferne eines solidarischen Anbruchs.

Was tun hingegen die Kritikaster der alternativen Allianzen? Die Meisten manipulieren den literarischen Wert der Exotik und Erotik, reduzieren ihn auf das Niveau des Sexgeschäftes – einer poppigen Portion der primitiven Pornographie. Doch hier stellt sich nicht die Frage nach dem Fortbestand unseres Forums. Vielmehr geht es bei dieser Episode Zweitausendsieben darum, auf die planetär sachliche Schwäche des Antipoden-Pols hinzuweisen und auf die eigene Position bezug zu nehmen.

Der Abonnenten-Stand blieb im vergangenen Jahr weitgehend gleich. Die Produktionskosten stiegen hingegen in die Höhe.

Appelle an die autonomen Autoren der Zivilisations- und Zeitgeistkritik, der Prosa und Poesie, blieben meist ohne Widerhall.

Manche lesen das Editorial kaum. Andere haben den Text „Fels vor dem Wogenprall“ in der Ausgabe 142 irrig interpretiert. Er enthielt den Appell, diesem Forum unter die Arme zu greifen, damit es sein Erscheinen fortsetzen kann – und gar der Unkenruf, daß ein finanzieller Betrag den Abdruck eines Beitrags garantieren könnte. Gewiß postulieren allemal bekannte Platzprobleme, daß die Texte der Abonnenten und Vereinsmitglieder bei der Auswahl Vorrang haben. Hinzu kommt, daß die literarischen Arbeiten im Mindestmaß einen Bezug zur Utopie der Kosmopolitania haben müssen.

In diesem Zusammenhang werden die Rezensenten erneut daran erinnert, zu ihren Beiträgen unbedingt die Angaben hinzufügen wie: Name des Autors oder Herausgebers, Titel und Untertitel, Verlag oder Verband, Ort und Jahr, Seitenzahl und Ladenpreis der Publikation.

Das Frühlingsmeeting 2007 wird in der zweiten Maihälfte stattfinden – in einer festlichen Atmosphäre mit literarischen und zivilisationskritischen Beiträgen. Alle sind zur aktiven Teilnahme eingeladen.

Bekanntlich fiel das Herbsttreffen 2006 der Redaktionskonferenz aus. Denn mein Herz kam aus dem Rhythmus, genannt auch Infarkt, das heißt plötzliche Stagnation der Blutzufuhr in den Herzkranzgefäßen.

Es begann im hochsommerlichen Istanbul. Der Schmerz kreiste auf der Brust. Oft kam er aus dem Magen, flatterte aufwärts, dann zum linken Arm und flog raus. An jenem 12. Oktober nicht mehr. Es krakeelte, ähnelte dem Krach von Heeresfliegern im Landeanflug. Es gab kein Land, das ein Gewicht hatte, kaum ein Ideal, das den Drang nach dem Leben zu ersetzen imstande war.

Die ersten Worte dieses Textes flogen am 13. Oktober 2006 in der Intensivstation des Völklinger Herzzentrums. Nach zwei Tagen wurde ich verlegt in ein Zwei-Betten-Zimmer, teilte es mit einem Ex-Sizilianer – in der Atmosphäre der mediterranen Wärme. Aber nur zwei Tage. Dann wurde ein drittes Bett dazwischen geschoben, so daß es kaum möglich war, sich im engen Raum zu bewegen. Wir verbrachten die meiste Zeit unten im Foyer oder vor dem herzbrechenden Eingang der Heilanstalt und zogen kräftig am Glimmstängel.

Noch schlimmer spielte es sich nach einer Woche in einer Reha-Klinik abb, wo der Patient so definiert wird, daß er ins vorhandene Programm paßt. Man erzielt Extraprofite z.B. durch überteuertes Telefonieren oder durch die Tagesmiete eines kleinen, Jahrzehnte alten Glotzophons von 1,50 Euro. 3,00 Euro kostete ein halbstündiger Internet-Eintritt über einen alten Computer mit Antiquitäten-Qualität. Kurzum: Der Gesundheitsprozeß im metropolitanen Kasten-Kastell scheint restlos der „unsichtbaren Hand“ des Marktes überlassen zu sein.

Am Rande nivellieren die Mammon-Mentoren die urbanen Unebenheiten der demographischen Detonation, formatieren mathematische Formel, um sich an der Methusalem-Metapher vorbeizumogeln. Doch die Senioren-Residenzen pflanzen sich unaufhörlich fort, wobei die Regenten der Rentier-Republik nur noch auf den Pfleger-Import im Heloten-Status blicken.

Zuallerletzt wünscht der Herausgeber- und Redaktionskreis allen Abonnenten, Autoren und anderen ein wohl bewährt bewegtes Jahr 2007.

Necati Mert

   

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