XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Die Brücke an der Spree

»Über Oppeln soll man hoppeln«: das Musterländle

Von Ní Gudix

   
 
 

Sonntag, 16. Oktober 2005: ab nach Oppeln, schubidu. Ins „Musterländle“, wie mein neuschlauer Reiseführer Polens Süden glaubt vermelden zu müssen. Die Zugfahrkarte kostet einen halben Hennenfurz - ich muß mich erst wieder daran gewöhnen, daß hier alles so einfach und so billig ist. Mensch, Mehdörnle, hier könnteste wat lernen! Auf polnischen Bahnhöfen steht kein überflüssiger Schnickschnack herum, sondern nur das, was man braucht: ein paar Freßbuden, eine Reihe kasy biletowy, ein paar Abfahrtspläne und Schienen. Basta. Kein „Bahn ServicePoint“, kein „Bahn TravelCentre“, kein Raucherglashaus, keine vor lauter Fortschritt bis zur Unleserlichkeit verflimmerten Gleisanzeigen. Und keine genervten Bahner, die verwirrte und verirrte Bahnhofsbesucher aufklären müssen. Weil s das hier nicht gibt. Man geht vorne rein, kauft sich ein Billet, wirft ein paar Zloty hin, geht hinten raus und steigt in seinen Zug. It’s as aisy as that.

Am Bahnhof von Oppeln mache ich dann zum erstenmal die Bekanntschaft mit einem Gericht, das es in Polens Schnellfraßbrätereien neben Hot Dogs, Hamburgern und Pizza gibt: der zapiekanka. Laut Lexikon heißt das „Auflauf“, aber eine Zapiekanka ist eher so etwas wie ein überlanges belegtes warmes Baguette, mit Pilzen, Käse und Ketchup. Jede Freßbude bereitet ihre Zapiekanky anders zu, manchmal ist das Brot knusprig und heiß, manchmal hängt es vorne und hinten vom Papptellerchen runter, manchmal ersaufen die Pilze im Ketchup, manchmal im Käse. Ich fange an, die Zapiekanky zu lieben.

Vor dem Oppelner Bahnhof stehen drei gutgelaunte Polizisten rum. Ich frag einen nach der Ulica Torowa, der Straße, in der sich laut Reiseführer die Jugendherberge befindet, Haus an der Bahnlinie, ein Kilometer südöstlich vom Hauptbahnhof. Klingt einfach und nicht weit weg. „Oh je“, machen die Polizisten, „das muß da hinten irgendwo sein, wa? Die Ulica Armii Krajowej lang und dann rechts ab. Da hinten. Ja.“ Ich zockle also los. Ich laufe zu weit. Ich suche ständig die Straße, die nach rechts abgeht, aber da kommt keine. Ich zockle an einem Irish Pub vorbei. „Merk ich mir“, denke ich, „da besauf ich mich nachher, sobald ich diese Herberge gefunden habe.“ Ich zockle an einem schmutzigen Hauseingang vorbei, in dem einige Jungs und Mädels sitzen und eine Buddel Wodka kreisen lassen. Sie johlen mir nach. Ich grinse zu ihnen rüber. Hundert Meter weiter sehe ich meinen Irrtum dann ein und kehre mit dem Trolley wieder um. Zockle erneut an der besoffenen Dorfjugend vorbei. Frage dann einen Kioskbesitzer nach der Ulica Torowa und erfahre, daß „rechts ab“ keine Straße bedeutete, sondern eine Überführung, die ich nicht sah, weil der Fußgängereingang fast komplett zugewuchert ist. Also wuchte ich meinen Trolley die morschen Stiegen hoch, zockle über die Überführung und befinde mich dann in der Gegend, die die Polizisten von vorhin mit „da hinten irgendwo“ gemeint hatten. Wieder kommt mir eine Meute hackedudeldichter Jungstiere entgegen. Ich frage einen davon nach dem Weg. Er war schon halb an mir vorbeigetorkelt, torkelt jetzt zurück und stützt sich an meiner Schulter ab. „Torowa? Torowa? Eh! Jerzy“, brüllt er seinem Kameraden zu, „wo ist denn diese Scheiß-Torowa noch mal, kuck mal, die Frau hier muß in die Torowa!“ Man mustert mich grinsend, ich grinse zurück. Wenn ich nicht diesen Zwanzig-Kilo-Trolley dabeihätte, würde ich jetzt mit Jerzy und seinen Kumpels um die Oppelner Häuser ziehen. Jerzy weist mir den Weg; es geht noch weiter südöstlich. Ich zockle wieder los. Vorher, in der Armii Krajowej, war ich links der Schienen, jetzt, nach der Überführung, bin ich rechts der Schienen. Wenn diese Herberge „an der Bahnlinie“ liegen soll, dann könnte sie bald mal auftauchen, sonst latsch ich hier ja noch bis Kattowitz!

Ich registriere die unglaublich räudige Gegend. „No-go-area“ würde Schäuble sagen. Und das gilt nicht nur für ihn mit seinem Rollstuhl, der hier im aufgerissenen Asphalt immer mal wieder steckenbleiben würde. Ja, aufgerissener Asphalt, leerstehende Häuser mit gähnend schwarzen Fensterlöchern, graffitiübermalte Wände, bröselndes Mauerwerk, Eingangstreppchen, die nur noch Geröllhaufen sind, undefinierbare staubige Büsche. Jungejunge. Wann ging der Zweite Weltkrieg zu Ende? Vorgestern? Natürlich sieht nicht die ganze Straße so aus. Auf der linken Straßenseite stehen zwischen den Ruinen auch bewohnbare - und bewohnte - Häuser, mit Gardinen an den Fenstern und dem Versuch, in dem staubigen Unkraut vor der Tür Blümchen zu pflanzen, und die Häuser auf der rechten Straßenseite sehen etwas abgeschabt und mitgenommen aus, aber immer noch wie Häuser. Trotzdem...

Fast keine Menschen. Ein Ehepaar mit Kind, das zügigen Schrittes in Richtung Überführung strebt. Ein LKW brettert vorbei. Ein paar Busfahrer stehen da und rauchen eine, der Bus steht solange schräg auf dem gesprungenen Trottoir. Noch ein junger Sonntagnachmittagssuffki. Ein Mann mit Schubkarre, der aus einem verwahrlosten Hinterhof kommt, über die Straße latscht und in einem anderen verschwindet. Ich lasse den Trolley stehen und schleiche ihm nach. Es ist tatsächlich ein Anblick wie kurz nach einem nahen Bombenangriff: Ziegel brechen aus dem Gemäuer, das Unkraut im Garten ist weiß von Mörtelstaub, ein ehemals gelber Gartenstuhl und ein Sonnenschirm stehen da, auch sie weiß bestäubt. Bis auf Wäsche, die in einem Fenster flappt, kein weiteres Zeichen von Leben. Gruslig. Ich gehe wieder zu meinem Trolley zurück und setze den Weg fort.

Dann endlich kommt ein Schienenübergang. Ich walze drüber. „Ulica Torowa“ steht auf einem Schild vor mir, und darunter ein rostiger Hinweis: „PTSM Schroniska Mtodziezowe“, Jugendherberge, und ein Pfeil. Na endlich. Der Weg führt mich noch mal zehn Minuten an Lagerhallen, Traktoren, Garagen und Baugrund vorbei, und als ich schon fast glaube, auf irgendeine Finte reingefallen zu sein, stehe ich schließlich doch noch vor dem grauen Herbergsklotz.

Oppeln gefällt mir immer besser, da es sich so schön als komplettes Gegenteil dessen entpuppst, wie man sich die Hauptstadt eines „Musterländles“ vorstellt, als das die Wojwodschaft Opolskie ja gilt, weil hier noch sehr viele Deutschstämmige sitzen. Deutsche Ordnung, deutsche Sauberkeit, deutsche Pingeligkeit, steht im Reiseführer - hohoho, gówno! Fehlen nur noch ein paar schwäbische Hausfrauen, die in Oppeln die Kehrwoche einführen, wa? Am liebsten würde ich die Reiseführerschreiberin in diese wunderbare Siebzehnsterneherberge einladen, in der Wellness-Oase Ulica Torowa hinter den Schienen. Das war ein Spaß. Ich stell sie mir vor, wie sie angestöckelt kommt, beladen mit Täschchen, und mich fragt, ob es weit sei? „Nun“, sage ich und zeige auf die Schienen, „wenn wir direkt hier neben den Schienen im Dreck nach Südosten stapfen, dann isses nicht weit - Luftlinie ein Kilometer. Wir müssen dann nur hinten, beim Güterbahnhof, über einen Drahtzaun klettern, von dort fällt man weich, nämlich in Schutt und Asche. Und schon sind wir da.“ Sie würde mich mit offenem Mund anstarren. „Wir können aber natürlich auch den Weg außenrum gehen, an den Schienen vorbei, dann können Sie die wunderbare Wellness-Gegend gleich live erleben.“ Und sie würde mir folgen, die morsche Treppe zur Überführung hinauf, ich würde sie nicht vor der Drecklache warnen, und sie würde hineinstolpern; dann würde sie sich im rissigen Asphalt einen Knöchel verknacksen und die schiefe Ebene zu einem Hauseingang hinabrollen, und wenn sie wieder senkrecht stünde, wäre sie über und über mit Staub und Mörtelbröseln bedeckt. Dann kämen Jerzy und seine Kumpels vorbei, sie würden das Schnällchen grinsend anstupsen, und wieder läge es im Dreck. Und zu guter Letzt würde ein Traktor auf dem Lagerareal an uns vorbeiknattern, durch eine kleine hübsche Pfütze, und das Schnällchen wäre eingesaut in Matsch. „Przepraszam, pani!“ würde der Traktorfahrer rufen und grinsen, und ich würde mich in Stücke lachen... denn der absolute Höhepunkt käme ja erst noch: die Duschen funktionierten nicht.

Und dann würde sie schreiend das Weite suchen und in die nächste Auflage ihres Reiseführers reinschreiben: „Über Oppeln soll man hoppeln! Meiden Sie Oppeln, es schadet Ihrer Gesundheit!“ Und wir hätten die Zone für uns. Solche Streiche wären vielleicht grade jetzt nötig. Die Schnallen auf diesem Planeten werden immer zahlreicher, man denke an die Imitantinnen der „Sex and the City“-Gänse, die Sinnsucherinnen, die remanzipierten Fortschrittshennen. Die alle müßte man in irgendeiner Drecklache landen lassen. Damit man seine Ruhe hat. Zapraszamy, Ladies and Gentlemen, Pañstwo, willkommen, treten Sie näher, kommen Sie her, hier ist sie: niemyte dusza Polska. Die ungewaschene polnische Seele. Hier. In Oppeln. Und Applaus!

Ich bin bester Laune. Die Herberge ist großartig. Die Bettwäsche ist so steif, daß sie quietscht, als ich sie auseinanderfalte, die Heizung bollert vergnügt vor sich hin, es gibt eine Küche ohne Töpfe und Gemeinschaftsduschen, deren Vorhänge nicht schließen und deren Wasser etwas eigenwillig fließt, aber gdzie jest problem? In einer Dusche steht ein ramponierter Kühlschrank, der wohl hier auf den Abholservice wartet. Sehr skurril. Und die Küche? Soll man sich hier sein Schnitzel direkt auf der Herdplatte brutzeln? Keine Pfannen, keine Töpfe, nur massenhaft Besteck. „No“, sagt der Herbergswirt, „ist Nebensaison“ und zuckt die Achseln, ob mich das störe? Aber nein, Unsinn. Drei Herren haben Herbergsdienst, zwei alte und ein junger, die beiden alten können nur Polnisch, der junge radebrecht Englisch. Ein Kawomat steht in der Vorhalle, aus dem man spottbilligen und leckeren Kaffee ziehen kann, und ein Automat mit Schokoriegeln - was brauch ich mehr? Alles klasse. Ein Minifernseher in einer Ecke, auf einem Tisch mit Deckchen, und die beiden Herbergsopas nuckeln an einem Bierchen und kucken in die Mattscheibe. Der junge Kerl gibt mir meinen Schlüssel. Ich bin, so scheint s, im Moment der einzige Gast hier. Dobrze!

Ich lade meinen Trolley ab und schwanze noch einmal zurück ins Oppelner Zentrum. Mir schießt der Gedanke durch den Kopf, daß sich die polnische Pampa kaum von der irischen unterscheidet: hier wie da sind die Wege unbegehbar, die Dorfjugend besoffen, die Straßenschilder unleserlich und die Sprache unverständlich. Und wie um mir die Richtigkeit dieses Gedankens aufzeigen zu wollen, taucht vor mir in diesem Augenblick ein Schild auf, das besagt, daß der Supermarkt Tesco nicht weit sei, am Plac Teatrainy. Tesco ist eine englische Supermarktkette, die auch in Irland ziemlich viele Filialen unterhält; ich hab damals in Dublin immer im Tesco Rathmines Road eingekauft, weil da ein so schöner großer Fuselladen angeschlossen war. Na bitte. Alles paßt.

Back to business. Morgen muß ich „dieses Mensch“ Vogel finden, den Vizekonsul Rupert Vogel im Generalkonsulat, und ihm etwas von meinem Projekt verzapfen, das so wichtig ist für Oberschlesien, und ihn bitten, mich zu sponsern. Er wird es nicht tun, das weiß ich schon jetzt. Aber ohne den Hinweis von der Frau Lipman wäre ich in Oppeln gar nicht abgestiegen - und hätte nicht diese wunderbar versiffte Hinterludergegend zu sehen bekommen.

„Deutsche Küche“ soll s hier auch geben im Musterländle -“kartofelpufer 2 Zloty“, das ist alles, was ich an Deutschheit feststelle. An einer Bräterei vor dem Bahnhof. Ich esse lieber noch mal eine Zapiekanka, dazu kaufe ich mir drei Dosen Zywiec, von denen ich zwei als Betthupferl mit in die Herberge nehme. In den Irish Pub an der Ulica Armii Krajowej schaffe ich es nicht mehr - langsam tun mir die Füße weh. Außerdem muß ich mir noch ein wenig Nüchternheit bewahren, denn, so kombiniere ich messerscharf, wird die Gegend „da hinten“ wahrscheinlich nachts nicht allzu hell beleuchtet sein. Nicht, daß ich am Ende so knülle bin, daß ich in der kuhdunklen Schwärze doch noch in ein Loch im Teer falle, nachdem ich zweimal so schön darüber hinweggehopst war!

Ich komme heil wieder zurück; die gruslige Straße rechts der Schienen ist tatsächlich nur spärlich beleuchtet. Als ich den Schienenübergang passiert habe, blinkt ein Licht, und die Schranken rasseln herunter. „Die Mauern des Ghettos schlossen sich, die Falle ging zu...“ Ich kann mir nicht helfen, ich fühle mich in diesem Ambiente dreiundsechzig Jahre zurückkatapultiert!

Nein, er sponsert mich nicht. Sie sagten das zwar nicht direkt, der Herr Vizekonsul Vogel und der andere Mensch, die mich abfertigten, aber sie meinten es so. Sie sagten: „Janosz, ach, das ist ja was ganz was Niedliches, höhöhö, hm, reizend, ja - ja, wann soll das Buch denn erscheinen?“ Ich sagte, das käme darauf an, wann ich es schreiben könne, und das wiederum hinge davon ab, ob mich ein Kultursponsor oder ein Stipendium freihielte für die Zeit, die ich das Buch schreibe. „Nun, hm, das ist ja so recht ungewöhnlich -“ „Frau Lipman schickte mich zu Ihnen“, sagte ich. „So? Aber wie stellen Sie sich das vor, das Generalkonsulat ist für andere Dinge zuständig -“ „Weiß ich ja“, sagte ich, „aber ich dachte, vielleicht könnten Sie mir eine Kulturförderstiftung nennen oder mich mit jemandem verbinden, der für Kulturstipendien zuständig ist?“ „Hm“, sagte Vogel, „da müßte ich erst mal “, und ich ging. Ich kam mir vor wie der letzte Bettelbruder. Schon der Einlaß ins Generalkonsulat war demütigend genug. Zwei Beamte in einem Glaskasten haben freie Sicht auf die Türklingel, und wem sie die Tür öffnen und wem nicht, hängt davon ab, was sie da sehen und was man vor der Tür in die Sprechanlage spricht. Dann kommt man in ein Vorzimmer und wird angeschnauzt: „Ausweis!“ Ich weigerte mich, sagte, ich wolle nur kurz mit Herrn Vogel sprechen, ich käme vom Sozial-Kulturellen Institut Breslau, es gehe um Kulturförderung - „Ausweis!“ Ich hatte einen Brief vorbereitet für den Fall, daß der Herr Vogel nicht zu sprechen sein sollte. Ich gab dem Herrn Vogel dann diesen Brief und sagte: „Ich dränge Sie ja nicht, hier steht alles über das Projekt, und Sie können sich kundig machen und sich dann bei mir melden, ob Sie eine Stiftung kennen, die derlei Projekte unterstützt.“

Ich habe noch zwei Eisen im Feuer: das Dom Wspotpracy in Gleiwitz und die Fundacja Wspotpracy in Warschau. Ersteres werde ich als nächstes aufsuchen.

   

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