|
Sonntag, 16. Oktober 2005: ab nach Oppeln, schubidu.
Ins „Musterländle“, wie mein neuschlauer Reiseführer
Polens Süden glaubt vermelden zu müssen. Die Zugfahrkarte
kostet einen halben Hennenfurz - ich muß mich erst wieder
daran gewöhnen, daß hier alles so einfach und so billig
ist. Mensch, Mehdörnle, hier könnteste wat lernen! Auf
polnischen Bahnhöfen steht kein überflüssiger Schnickschnack
herum, sondern nur das, was man braucht: ein paar Freßbuden,
eine Reihe kasy biletowy, ein paar Abfahrtspläne und Schienen.
Basta. Kein „Bahn ServicePoint“, kein „Bahn TravelCentre“,
kein Raucherglashaus, keine vor lauter Fortschritt bis zur Unleserlichkeit
verflimmerten Gleisanzeigen. Und keine genervten Bahner, die verwirrte
und verirrte Bahnhofsbesucher aufklären müssen. Weil s
das hier nicht gibt. Man geht vorne rein, kauft sich ein Billet,
wirft ein paar Zloty hin, geht hinten raus und steigt in seinen
Zug. It’s as aisy as that.
Am Bahnhof von Oppeln mache ich dann zum erstenmal
die Bekanntschaft mit einem Gericht, das es in Polens Schnellfraßbrätereien
neben Hot Dogs, Hamburgern und Pizza gibt: der zapiekanka. Laut
Lexikon heißt das „Auflauf“, aber eine Zapiekanka
ist eher so etwas wie ein überlanges belegtes warmes Baguette,
mit Pilzen, Käse und Ketchup. Jede Freßbude bereitet
ihre Zapiekanky anders zu, manchmal ist das Brot knusprig und heiß,
manchmal hängt es vorne und hinten vom Papptellerchen runter,
manchmal ersaufen die Pilze im Ketchup, manchmal im Käse. Ich
fange an, die Zapiekanky zu lieben.
Vor dem Oppelner Bahnhof stehen drei gutgelaunte Polizisten
rum. Ich frag einen nach der Ulica Torowa, der Straße, in
der sich laut Reiseführer die Jugendherberge befindet, Haus
an der Bahnlinie, ein Kilometer südöstlich vom Hauptbahnhof.
Klingt einfach und nicht weit weg. „Oh je“, machen die
Polizisten, „das muß da hinten irgendwo sein, wa? Die
Ulica Armii Krajowej lang und dann rechts ab. Da hinten. Ja.“
Ich zockle also los. Ich laufe zu weit. Ich suche ständig die
Straße, die nach rechts abgeht, aber da kommt keine. Ich zockle
an einem Irish Pub vorbei. „Merk ich mir“, denke ich,
„da besauf ich mich nachher, sobald ich diese Herberge gefunden
habe.“ Ich zockle an einem schmutzigen Hauseingang vorbei,
in dem einige Jungs und Mädels sitzen und eine Buddel Wodka
kreisen lassen. Sie johlen mir nach. Ich grinse zu ihnen rüber.
Hundert Meter weiter sehe ich meinen Irrtum dann ein und kehre mit
dem Trolley wieder um. Zockle erneut an der besoffenen Dorfjugend
vorbei. Frage dann einen Kioskbesitzer nach der Ulica Torowa und
erfahre, daß „rechts ab“ keine Straße bedeutete,
sondern eine Überführung, die ich nicht sah, weil der
Fußgängereingang fast komplett zugewuchert ist. Also
wuchte ich meinen Trolley die morschen Stiegen hoch, zockle über
die Überführung und befinde mich dann in der Gegend, die
die Polizisten von vorhin mit „da hinten irgendwo“ gemeint
hatten. Wieder kommt mir eine Meute hackedudeldichter Jungstiere
entgegen. Ich frage einen davon nach dem Weg. Er war schon halb
an mir vorbeigetorkelt, torkelt jetzt zurück und stützt
sich an meiner Schulter ab. „Torowa? Torowa? Eh! Jerzy“,
brüllt er seinem Kameraden zu, „wo ist denn diese Scheiß-Torowa
noch mal, kuck mal, die Frau hier muß in die Torowa!“
Man mustert mich grinsend, ich grinse zurück. Wenn ich nicht
diesen Zwanzig-Kilo-Trolley dabeihätte, würde ich jetzt
mit Jerzy und seinen Kumpels um die Oppelner Häuser ziehen.
Jerzy weist mir den Weg; es geht noch weiter südöstlich.
Ich zockle wieder los. Vorher, in der Armii Krajowej, war ich links
der Schienen, jetzt, nach der Überführung, bin ich rechts
der Schienen. Wenn diese Herberge „an der Bahnlinie“
liegen soll, dann könnte sie bald mal auftauchen, sonst latsch
ich hier ja noch bis Kattowitz!
Ich registriere die unglaublich räudige Gegend.
„No-go-area“ würde Schäuble sagen. Und das
gilt nicht nur für ihn mit seinem Rollstuhl, der hier im aufgerissenen
Asphalt immer mal wieder steckenbleiben würde. Ja, aufgerissener
Asphalt, leerstehende Häuser mit gähnend schwarzen Fensterlöchern,
graffitiübermalte Wände, bröselndes Mauerwerk, Eingangstreppchen,
die nur noch Geröllhaufen sind, undefinierbare staubige Büsche.
Jungejunge. Wann ging der Zweite Weltkrieg zu Ende? Vorgestern?
Natürlich sieht nicht die ganze Straße so aus. Auf der
linken Straßenseite stehen zwischen den Ruinen auch bewohnbare
- und bewohnte - Häuser, mit Gardinen an den Fenstern und dem
Versuch, in dem staubigen Unkraut vor der Tür Blümchen
zu pflanzen, und die Häuser auf der rechten Straßenseite
sehen etwas abgeschabt und mitgenommen aus, aber immer noch wie
Häuser. Trotzdem...
Fast keine Menschen. Ein Ehepaar mit Kind, das zügigen
Schrittes in Richtung Überführung strebt. Ein LKW brettert
vorbei. Ein paar Busfahrer stehen da und rauchen eine, der Bus steht
solange schräg auf dem gesprungenen Trottoir. Noch ein junger
Sonntagnachmittagssuffki. Ein Mann mit Schubkarre, der aus einem
verwahrlosten Hinterhof kommt, über die Straße latscht
und in einem anderen verschwindet. Ich lasse den Trolley stehen
und schleiche ihm nach. Es ist tatsächlich ein Anblick wie
kurz nach einem nahen Bombenangriff: Ziegel brechen aus dem Gemäuer,
das Unkraut im Garten ist weiß von Mörtelstaub, ein ehemals
gelber Gartenstuhl und ein Sonnenschirm stehen da, auch sie weiß
bestäubt. Bis auf Wäsche, die in einem Fenster flappt,
kein weiteres Zeichen von Leben. Gruslig. Ich gehe wieder zu meinem
Trolley zurück und setze den Weg fort.
Dann endlich kommt ein Schienenübergang. Ich
walze drüber. „Ulica Torowa“ steht auf einem Schild
vor mir, und darunter ein rostiger Hinweis: „PTSM Schroniska
Mtodziezowe“, Jugendherberge, und ein Pfeil. Na endlich. Der
Weg führt mich noch mal zehn Minuten an Lagerhallen, Traktoren,
Garagen und Baugrund vorbei, und als ich schon fast glaube, auf
irgendeine Finte reingefallen zu sein, stehe ich schließlich
doch noch vor dem grauen Herbergsklotz.
Oppeln gefällt mir immer besser, da es sich so
schön als komplettes Gegenteil dessen entpuppst, wie man sich
die Hauptstadt eines „Musterländles“ vorstellt,
als das die Wojwodschaft Opolskie ja gilt, weil hier noch sehr viele
Deutschstämmige sitzen. Deutsche Ordnung, deutsche Sauberkeit,
deutsche Pingeligkeit, steht im Reiseführer - hohoho, gówno!
Fehlen nur noch ein paar schwäbische Hausfrauen, die in Oppeln
die Kehrwoche einführen, wa? Am liebsten würde ich die
Reiseführerschreiberin in diese wunderbare Siebzehnsterneherberge
einladen, in der Wellness-Oase Ulica Torowa hinter den Schienen.
Das war ein Spaß. Ich stell sie mir vor, wie sie angestöckelt
kommt, beladen mit Täschchen, und mich fragt, ob es weit sei?
„Nun“, sage ich und zeige auf die Schienen, „wenn
wir direkt hier neben den Schienen im Dreck nach Südosten stapfen,
dann isses nicht weit - Luftlinie ein Kilometer. Wir müssen
dann nur hinten, beim Güterbahnhof, über einen Drahtzaun
klettern, von dort fällt man weich, nämlich in Schutt
und Asche. Und schon sind wir da.“ Sie würde mich mit
offenem Mund anstarren. „Wir können aber natürlich
auch den Weg außenrum gehen, an den Schienen vorbei, dann
können Sie die wunderbare Wellness-Gegend gleich live erleben.“
Und sie würde mir folgen, die morsche Treppe zur Überführung
hinauf, ich würde sie nicht vor der Drecklache warnen, und
sie würde hineinstolpern; dann würde sie sich im rissigen
Asphalt einen Knöchel verknacksen und die schiefe Ebene zu
einem Hauseingang hinabrollen, und wenn sie wieder senkrecht stünde,
wäre sie über und über mit Staub und Mörtelbröseln
bedeckt. Dann kämen Jerzy und seine Kumpels vorbei, sie würden
das Schnällchen grinsend anstupsen, und wieder läge es
im Dreck. Und zu guter Letzt würde ein Traktor auf dem Lagerareal
an uns vorbeiknattern, durch eine kleine hübsche Pfütze,
und das Schnällchen wäre eingesaut in Matsch. „Przepraszam,
pani!“ würde der Traktorfahrer rufen und grinsen, und
ich würde mich in Stücke lachen... denn der absolute Höhepunkt
käme ja erst noch: die Duschen funktionierten nicht.
Und dann würde sie schreiend das Weite suchen
und in die nächste Auflage ihres Reiseführers reinschreiben:
„Über Oppeln soll man hoppeln! Meiden Sie Oppeln, es
schadet Ihrer Gesundheit!“ Und wir hätten die Zone für
uns. Solche Streiche wären vielleicht grade jetzt nötig.
Die Schnallen auf diesem Planeten werden immer zahlreicher, man
denke an die Imitantinnen der „Sex and the City“-Gänse,
die Sinnsucherinnen, die remanzipierten Fortschrittshennen. Die
alle müßte man in irgendeiner Drecklache landen lassen.
Damit man seine Ruhe hat. Zapraszamy, Ladies and Gentlemen, Pañstwo,
willkommen, treten Sie näher, kommen Sie her, hier ist sie:
niemyte dusza Polska. Die ungewaschene polnische Seele. Hier. In
Oppeln. Und Applaus!
Ich bin bester Laune. Die Herberge ist großartig.
Die Bettwäsche ist so steif, daß sie quietscht, als ich
sie auseinanderfalte, die Heizung bollert vergnügt vor sich
hin, es gibt eine Küche ohne Töpfe und Gemeinschaftsduschen,
deren Vorhänge nicht schließen und deren Wasser etwas
eigenwillig fließt, aber gdzie jest problem? In einer Dusche
steht ein ramponierter Kühlschrank, der wohl hier auf den Abholservice
wartet. Sehr skurril. Und die Küche? Soll man sich hier sein
Schnitzel direkt auf der Herdplatte brutzeln? Keine Pfannen, keine
Töpfe, nur massenhaft Besteck. „No“, sagt der Herbergswirt,
„ist Nebensaison“ und zuckt die Achseln, ob mich das
störe? Aber nein, Unsinn. Drei Herren haben Herbergsdienst,
zwei alte und ein junger, die beiden alten können nur Polnisch,
der junge radebrecht Englisch. Ein Kawomat steht in der Vorhalle,
aus dem man spottbilligen und leckeren Kaffee ziehen kann, und ein
Automat mit Schokoriegeln - was brauch ich mehr? Alles klasse. Ein
Minifernseher in einer Ecke, auf einem Tisch mit Deckchen, und die
beiden Herbergsopas nuckeln an einem Bierchen und kucken in die
Mattscheibe. Der junge Kerl gibt mir meinen Schlüssel. Ich
bin, so scheint s, im Moment der einzige Gast hier. Dobrze!
Ich lade meinen Trolley ab und schwanze noch einmal
zurück ins Oppelner Zentrum. Mir schießt der Gedanke
durch den Kopf, daß sich die polnische Pampa kaum von der
irischen unterscheidet: hier wie da sind die Wege unbegehbar, die
Dorfjugend besoffen, die Straßenschilder unleserlich und die
Sprache unverständlich. Und wie um mir die Richtigkeit dieses
Gedankens aufzeigen zu wollen, taucht vor mir in diesem Augenblick
ein Schild auf, das besagt, daß der Supermarkt Tesco nicht
weit sei, am Plac Teatrainy. Tesco ist eine englische Supermarktkette,
die auch in Irland ziemlich viele Filialen unterhält; ich hab
damals in Dublin immer im Tesco Rathmines Road eingekauft, weil
da ein so schöner großer Fuselladen angeschlossen war.
Na bitte. Alles paßt.
Back to business. Morgen muß ich „dieses
Mensch“ Vogel finden, den Vizekonsul Rupert Vogel im Generalkonsulat,
und ihm etwas von meinem Projekt verzapfen, das so wichtig ist für
Oberschlesien, und ihn bitten, mich zu sponsern. Er wird es nicht
tun, das weiß ich schon jetzt. Aber ohne den Hinweis von der
Frau Lipman wäre ich in Oppeln gar nicht abgestiegen - und
hätte nicht diese wunderbar versiffte Hinterludergegend zu
sehen bekommen.
„Deutsche Küche“ soll s hier auch
geben im Musterländle -“kartofelpufer 2 Zloty“,
das ist alles, was ich an Deutschheit feststelle. An einer Bräterei
vor dem Bahnhof. Ich esse lieber noch mal eine Zapiekanka, dazu
kaufe ich mir drei Dosen Zywiec, von denen ich zwei als Betthupferl
mit in die Herberge nehme. In den Irish Pub an der Ulica Armii Krajowej
schaffe ich es nicht mehr - langsam tun mir die Füße
weh. Außerdem muß ich mir noch ein wenig Nüchternheit
bewahren, denn, so kombiniere ich messerscharf, wird die Gegend
„da hinten“ wahrscheinlich nachts nicht allzu hell beleuchtet
sein. Nicht, daß ich am Ende so knülle bin, daß
ich in der kuhdunklen Schwärze doch noch in ein Loch im Teer
falle, nachdem ich zweimal so schön darüber hinweggehopst
war!
Ich komme heil wieder zurück; die gruslige Straße
rechts der Schienen ist tatsächlich nur spärlich beleuchtet.
Als ich den Schienenübergang passiert habe, blinkt ein Licht,
und die Schranken rasseln herunter. „Die Mauern des Ghettos
schlossen sich, die Falle ging zu...“ Ich kann mir nicht helfen,
ich fühle mich in diesem Ambiente dreiundsechzig Jahre zurückkatapultiert!
Nein, er sponsert mich nicht. Sie sagten das zwar
nicht direkt, der Herr Vizekonsul Vogel und der andere Mensch, die
mich abfertigten, aber sie meinten es so. Sie sagten: „Janosz,
ach, das ist ja was ganz was Niedliches, höhöhö,
hm, reizend, ja - ja, wann soll das Buch denn erscheinen?“
Ich sagte, das käme darauf an, wann ich es schreiben könne,
und das wiederum hinge davon ab, ob mich ein Kultursponsor oder
ein Stipendium freihielte für die Zeit, die ich das Buch schreibe.
„Nun, hm, das ist ja so recht ungewöhnlich -“ „Frau
Lipman schickte mich zu Ihnen“, sagte ich. „So? Aber
wie stellen Sie sich das vor, das Generalkonsulat ist für andere
Dinge zuständig -“ „Weiß ich ja“, sagte
ich, „aber ich dachte, vielleicht könnten Sie mir eine
Kulturförderstiftung nennen oder mich mit jemandem verbinden,
der für Kulturstipendien zuständig ist?“ „Hm“,
sagte Vogel, „da müßte ich erst mal “, und
ich ging. Ich kam mir vor wie der letzte Bettelbruder. Schon der
Einlaß ins Generalkonsulat war demütigend genug. Zwei
Beamte in einem Glaskasten haben freie Sicht auf die Türklingel,
und wem sie die Tür öffnen und wem nicht, hängt davon
ab, was sie da sehen und was man vor der Tür in die Sprechanlage
spricht. Dann kommt man in ein Vorzimmer und wird angeschnauzt:
„Ausweis!“ Ich weigerte mich, sagte, ich wolle nur kurz
mit Herrn Vogel sprechen, ich käme vom Sozial-Kulturellen Institut
Breslau, es gehe um Kulturförderung - „Ausweis!“
Ich hatte einen Brief vorbereitet für den Fall, daß der
Herr Vogel nicht zu sprechen sein sollte. Ich gab dem Herrn Vogel
dann diesen Brief und sagte: „Ich dränge Sie ja nicht,
hier steht alles über das Projekt, und Sie können sich
kundig machen und sich dann bei mir melden, ob Sie eine Stiftung
kennen, die derlei Projekte unterstützt.“
Ich habe noch zwei Eisen im Feuer: das Dom Wspotpracy
in Gleiwitz und die Fundacja Wspotpracy in Warschau. Ersteres werde
ich als nächstes aufsuchen.
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes
Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|