XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Lyrik




   
 
 

der experte

offiziell war er
einer jener selbsternannten experten
zumindest stand er auf der liste
von zeitungsredakteuren und fernsehmoderatoren
die ihn gerne und regelmäßig einluden
für ihre dokumentationen und talkshows
aus aktuellem anlaß sofort herbeizitierten
und er ließ sich nicht lange bitten
im fernsehen aufzutreten
und die artikel mit seinem konterfei zu garnieren
als eine allseits bekannte persönlichkeit
der man kompetenz und ausdauer zusprach
sich selbst ins rechte licht zu rücken
mit gebetsmühlenartig vogetragenen thesen
in einem vielstimmigen chor
der ins selbe horn stieß oder das selbe lied sang
die litanei der gemeinheiten
in populärwissenschaftliche formulierungen verpackt
er verstand jedenfalls sein handwerk
darin war er experte
rhetorisch geschult und erfahren
hatte er sich seine fähigkeit angeeignet
jahrelang antrainiert
die auf anerkennung ja begeisterung stieß
inoffiziell war er ein einfacher betrüger
staatlich recht ansehnlich alimentiert und beleumundet
in guten wie in schlechten zeiten
der für kontinuität sorgte

Manfred Pricha

***


Frauenwandel

Als ich klein war,
trug die Lehrerin
schwarzes Tuch
über grauem Knoten
und schlug mit dem Rohrstock
auf unartige Finger,
wir nannten sie Fräulein,
ihr Kleid war lang.

Später lehrte eine andre uns
deutsche Grammatik,
ihr kurzer Rock
und der enge Pullover
ließen uns Buben beben,
auch wenn ihre Stimme kalt
über Konjunktionen sprach
und gnadenlos tadelte.

Dann kam eine in Jeans
und schlotternden Hemden,
sie ließ uns gewähren
und mahnte,
dass wir verantwortlich seien
für unser Leben
und den eignen Verstand
zu gebrauchen hätten.

Die uns heute umkreist
mit sanfter Stimme
wie aus fernen Reichen,
darf ihr Tuch nicht tragen,
wenn sie die Schule betritt,
außerhalb steht sie vor uns
im fremden Shador.
Sieh mich nicht an!

Wilhelm Riedel

***

Roter Oktober

Unter den schweren Schatten
   einer müden Sonne
verglüht verlorener Falter Flügelfarbe
   der Herbst, früchteüberhäuft
betrachtet sich im Spiegel versandender
   Gewässer
langsam verlöscht sein träger Tag
   kein Vogelzug verkündet Ausgesetzten
wohin die überlasteten Boote
   steuern sollten
beängstigend die Leiden lebendiger Leichen
   Leuchtfeuer am schwarzwerdenden Horizont
umrahmt von hergereisten Touristenschwärmen
   werden bei steigender Flut zur Falle
von herbstzeitlosen Heimatvertriebenen
   als lebloses Fallobst aus Fleisch
spült der Friedhof aus Salz und Wasser
   sie ausspeiend an den Strand
Tote ohne Begräbnis faulen an den Küsten
   der Gesättigten voller höhnischem Gleichmut
Ernte aus Mord und Ritual.

Krikor Arakel Melikyan

***


WARTEN
oder
AFRIKA

Konturen flirrender Hitze verschmelzen
Zu halluzinatorischer Fata Morgana
Wind zeichnet Monogramme in den Sand
Schwung der roten Dünen wandert
Sandsturm treibt Busch vor sich her
Sekunden ohne Zeitgefühl flockend
Durch riesiges Stundenglas rieseln

Der Trab durch die Eintönigkeit so ruhig
Lineares verzwirbelt sich im Raum
Menschen treten aus Schatten der Häuser
Freundlicher Gleichgültigkeit ergeben
Warten auf neuen Pass und Stempel
Die Bewegungen der Frauen so anmutig
Allegorien der Entfremdung zaudern

Auf Mutter Erde Schoß
Ehemals ohne Eigentumsanspruch
Wird schnelles Handeln bestraft
Mit vorzeitiger Erschöpfung
Verfallszeiten scheinen verkürzt
Kleines Glück im vorfreudigen Warten
Im dörflichen Wartesaal zwischen Welten

Bea Bezler

***


Die Momente der Wahrheit

haben wir gemeinsame momente
verstecken wir unsere gefühle
geben der pragmatik priorität
filtern müssen wir
die emotionalen schlacken
die blähungen unserer verzweiflung
entsorgen durch transpirationale poren
das parfüm der liebe verwest
wie die soziale gerechtigkeit
wie sollen denn emotionen
zuverlässig dauerhaft eindimensional
glückseligkeit verschaffen -
ein fluch geht um:
wir zwei hatten in wirklichkeit
nie eine chance -
die wahrheit ist ein geschwür
niemand findet rettung
umarmungen bergen hinterrücks dolche
küsse haben uns innerlich verbrannt
das individuum muß sich entscheiden
das kollektiv verlangt bekenntnis
alternativen töten
die innere ruhe
wahrheit ist schmerz
wir globalisieren die darwinisierung
und bleiben die sklaven
unserer angst

Karl-Heinz Schreiber

***


Rundherum nirgends

Rundherum geht etwas vor,
Meine Lieben.
Rundherum geht etwas verkehrt,
Will drohend dazwischen sich schieben.
Rundherum drängt sich `s vor hier und dort,
Wird Unheil unheilvoll näher getrieben.

Irgend etwas aus dem Stillstand, solltet ihr wissen,
Unaufhaltsam vorwärts gerissen,
Überrollt Menschen, die Ehre, läßt die farbigen Wunder
von Regenbögen und Schneeflocken missen.

Irgend etwas regt tief im Innern mich auf,
Warnt den schützenden Engel: Paß rundherum auf!
Schütze rundum alle anderen gegen
neumodischen Lauf
Vor Vernichtung der Besten zu Hauf,
Durch Zerstörung der Menschlichkeit mit unseligem Denken,
Mit rundum infernalischem, höllischen Hauch.

Rundherum geht etwas vor,
obwohl niemand Untergang will.
Rundherum todbringende Waffen; finden Menschen
zum Ziel,
Gebären Explosionen, grell blitzend, Chaos,
todbringende Wunden,
Verdienen blendend am Mensch, rundum zu
Tode geschunden.
Gelogene Wörter von Liebe, Freiheit und Frieden
Gelogen mit süßesten Unschuldmienen,
Rundherum, zu irgendwem, für nichts und
über Wolken hinaus,
Löschen rundum menschliches Leben endgültig aus.
Verdorrt bleibt in Uncle Sams Händen
rundum der Freiheit
leuchtender Strauß.

Teja Bernardy

***


Wert der Literatur

in der Buchhandlung die Blendung
verlangend (sie wissen schon: Canetti)
die Reaktion: erstaunte Blicke Tuscheln
und Kichern als hätte ich Porno
gefordert endlich andächtig
die Erklärung: noch nie hat jemand
nach diesem Buch und überhaupt
nach diesem Dichter gefragt

Norbert Büttner

***

Kriegswetter

Schon so lange Krieg a never
Ending tour of the Masters of Raw,
Wir würden wohl etwas vermissen,
Gäbe es nicht mehr im Werbefernsehnnach-
Richtenblock Detonationen, Drohnen,
Die Feuermordceterum censeo brüllen,
Und angedockt am Zeitungshafen
Fehlte uns das tägliche Quantum an
Zerrissenen Fahnen, Bahnen, Ahnen,
Der Mensch in seiner Überlebenssucht
Braucht Krieg und kein Förmchenlächeln
Von Sandkastenpolitessen, die auf
Ruckediguh-Messen die Schuhe modernder
Primabellarinos bestaunen,
Graunen und Grauen, darauf laßt uns
Bauen, auf den Schuß aus der Hüfte,
Und nicht auf Gegengift, um Sehnen zu
Nähren, warum nur, warum, gebären
Wir Blut, das uns Röte ins Gesicht treibt,
Und nicht Tinte, mit der sich nach
Feinem Wortgefehde Nudeln blauschwarz
Färben lassen, die wir uns
Kontrahenten im Geiste zu servieren ver-
Mögen? Lögen wir nicht länger,
Um die Kick-Ration zu erhaschen,
Wir wären klüger als die Politik
Erlaubt, und das Land im Hirn
Zählte mehr als eine verzerrte Welt
Im Außenspiegel, verletzlich
Ist die Haut, solange die Seele
Nicht heil ist, wer immerzu frißt,
Kriegt nie genug, Fasten lehrt Rasten,
Aber wir sind lieber Komplizen
Des Komplizierten, und Frieden könnte
Ein Virus sein, der unsere Vorwärts-
Schaltzellen lahm legt,
Also bleiben wir lieber so erregt
Wie kein schöner Krieg in dieser Zeit.

Hadayatullah Hübsch

***


GÖÖGLMÖÖSCH & = 6

26
Seine frau kam nach haus und sah sich das an
   sie kam vom cannabismähen
Quer is doch okay quer is besser als längs
   da muß ich nich so viel nähen
Nun auch die pansenmessermoral
   nahm ein gutes ende
Nur eins der blätter war links oben voll
   und völlig nur eine der wände

27
Kein gutes ende nahm es mit uns
   Mitm mal verschwand de mesinke
im schluckloch bis zur Bleißnburch
   Das war nur eine die linke
Oll Tou war foutu hat sich totgesucht
   Am Spreeknie herrschte ja seerecht
und tränen liefen ihm über ih-
  ren kuß gefühls- und OB echt

28
Das war jetzt alles lump wie latsch
   Wir mußten zur Pilstestfête
Wir waren na klar doch nicht 8 sondern 11
   und wir hatten zu wenig knete
Poul war berühmt für sein schweinebuffet
   Da durften wir gemein sein
Der lebte gefährlich Das konnte sehr wohl
   sein letzter test vor Freund Hein sein

29
Mit Poul war das so: Sein vater war
   ein buchsiedlerkrebs gewesen
Der brachte sein leben mit zweierlei zu
   mit BECKS und bücherlesen
Am ende wuchs ihm ein haus aus papier
   übern kopf und begrub ihn in zuschiß
Da war sein herz aber nicht so für
   weil ein herz eben manchmal froufrou is

30
Eigentlich sollte die fête so
   was werden wie Bibians Weeke
Keiner hat was gesagt und der himmel fiel ein
   Wir saßen allein in der peeke
MI hatte nur ne tenorflöte mit
   die schlief ihr warm in den brüsten
Sie blies und wir machten die Marching Band
   nach Neheim-Himmelreich-Hüsten

ToussainT

***


Das Göttliche

Edel ist das Produkt,
Hilfreich und gut!
Denn das allein
Unterscheidet es
Von allen
Modernen Menschen,
Die ich kenne.

Heil dem allseits beliebten
Hohem Wesen!
Heil den himmlischen
Tugenden, die es besitzt!
Heil ihnen! denen fern
Bleibe der Mensch,

Welcher unfühlend sei!
Daß jenes bewahre
Die Tugenden des Gutseins
Und des Edelmutes, daß es,
Wie Sonne, Mond und Sterne,
Beispielhaft uns leuchte!

Sturm und reißende Ströme,
Donner, Blitz und Hagel
Können nicht
Die allgewaltigen Handelswege
Zerstören,
Auf denen es uns alle erreicht,
Einen um den ändern.

Dann, zu der Erzeuger Glück,
Tappt es unter die Menge
Und legt sich,
Wie Eisen an Magnete,
In die Hände
Der unschuldigen Kinder,
Der klugen Erwachsenen
Und der weisen Pensionisten!

Denn nach ewigen Gesetzen
Der freien Marktwirtschaft
Müssen wir alle
Unser Dasein
Als Käufer
Vollenden!

Jedoch vermag der Konsument,
Dem ehernen Schicksal trotzend,
Das Unmögliche:
Er unterscheidet
Zwischen den Produkten,
Er wählet und richtet!
Nur ihm gelingt es,
Den Fabriken
Dauer zu verleihen!

Es allein darf
Den Guten lohnen,
Den Bösen bestrafen,
Alle Leiden des Herzens
Heilen und retten
Die Irrenden, die allzu weit
Abschweifen vom Kaufhaus!

Sei verehrt. Göttliches,
Alle Tage!
O Menschen, o tuet,
Im Großen und Kleinen,
Euer Bestes, daß es bleibe
Ein höheres Wesen!

Der edle Mensch
Ist ein eitriger Käufer!
Unermüdlich füllt er
Die holden Einkaufstaschen
Mit nutzlosem Zeug!
Ein Vorbild ist er,
Dergestalt, deutschen
Kindern, deutscher Jugend!

Gottfried Weger

***


Mutter Erde

Wie lange noch
erduldest du den Schmerz,
derer, die auf deinem
Erdboden
den Tod fanden?

Du, blutgetränkte Erde,
Regen vermag
diese menschliche
Schuld nicht
abzuwaschen.
Bäume stehen still,
zu stummen Zeitgenossen
verbannt,
oh, könnten sie doch reden.
Leiber entsorgt
wie Abfall.
Mutter Erde,
die vielen geweinten Tränen
von Müttern, Vätern
unschuldig Ermordeter-
kannst du schon lange
nicht mehr fassen.
Schreien möchtest du,
doch selbst dein Schreien
geht im Lärm des Kugelhagels,
der Bomben
und Raketen unter.

Gudrun Kropp

***


Worte

Und zischend und rauschend
und plätschernd und hallend
sich nie umdrehend
und ewig fallend
Stimme und Bewegung
gemeinsam schwingen
im Flor brodeln
wegen schwindelnder Höhen
zur Dunkelheit kommen
aufgeloderte Worte
im sinnlosen Meer untergehend
Als wenn die Rose sich schließt
und wieder Knospe würd
Sei auf der Hut
vor Haarlocken und Augenglut
Auch hier waren dunkle Wälder
alt wie Hügelchen
bedeckt vom Sonnengrün
schweigenden Waldwegen
ohne eine entschuldigende Gäste

Jasmina Segrt

***


Hoffnungsengel

Du Engel –
Kennst das Epos
Meines Daseins.

Deine Flügel berühren
Die Alpha
Der gefahrvollen Passagen
Und Du dämmst sie.

Ich glaube an Dich
In den kosmischen Fernen
Und die Angst verliert
Ihre Nägel.

Betti Fichtl

***


reinrassig

nackte köpfe
glänzen schweiß
genässt
graue angst
kriecht
in springerstiefeln
zum kleinhirn
der linke herzmuskel
spürt die tritte
bereits unter
schwarzer haut
allein weiß
entspricht dem
reinheitsgebot

Karl Feldkamp

   

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