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Freier Fall allein
Von Ewa Boura
Fast gleichzeitig und nur einige Sekunden später
stieß er einen urtümlichen Schrei aus, als er mit der
rechten Hand versuchte, noch an der hinter ihm stehenden Stange
(und mit dem Ausdruck der fast- Erleichterung im Gesicht) sich zu
halten.
Langsam zuerst, dann immer schneller, begann sich
sein Körper über den Abgrund zu drehen. Als sei er ein
Propeller.
Und dann dadrunter ... die Leere, die er nicht mehr
wahrzunehmen vermochte.
Es fiel ihm ein, er hatte einen Termin um neunuhrdreißig
... und sein Freund würde umsonst warten, wenn er sich verspätete,
dann, dass er noch zum Arbeitsamt musste, und ... die Schuhe ...
ja deswegen hatten sie sich so gestritten, da war was mit ihnen,
und dass seine Socken der Anlaß waren.
Ich bin so, sah er sich selber sagen und die schweren
Gauloises rauchen. Die Zigarette ganz eng in seiner Kurve zwischen
den Fingerwurzeln festgeklemmt und mit der offengestreckten Handinnenfläche
die eigenen Lippen deckend.
Ihr Blick war wütenden Wetters.
Die feuerroten Haare flatterten.
Zur Furie konnte sie werden.
Er musste dann immer auf ihren kleinen schwarzen stecknadelgroßen
Punkt blicken, der auf dem rechten Vorderzahn zu sehen war. Der
so aussah, als sei Mohn drangeklebt.
Ihre vollen Lippen bewegten sich unentwegt, und ...
er verstand kein Wort.
Er hörte dann nichts mehr.
Er ließ los und fiel hinab in das Echo. Auf
seinem Körper konnte er noch das Vibrieren ihres donnernden
Gelächters vernehmen, bevor er in die Scheiße fiel.
***
Kurz brennen unsere Taschenlampen
Von Tobias Sommer
Das Leuchtfeuer auf dem Salzwasser will uns etwas sagen. Wie ein
Signal, ein stummer Ruf, ein Hinweis auf mögliche Fehler, blinkt
es in rhythmischen Unterbrechungen ein Lied aus Warnungen und Klagegesängen,
die wir hören, ob wir wollen oder nicht.
Der gelbe Kegel scheint, mit der Kraft einer 9-Volt
Batterie, von einer weiblichen Hand zum Himmel gerichtet, viel zu
hell.
Die Wellen gleiten vor uns auf den Strand, färben
mit scheinbar letztem Willen eine subtile Linie in den Untergrund,
bevor sie lautlos in die Nacht verschwinden; sie hinterlassen unbewohnte
Muscheln, Holz, das vor langer Zeit gebrannt hat und Bernsteinimitate,
aber keine Menschen.
Noch ist das Licht sichtbar, einige Zentimeter über
der schwarzen Oberfläche des Meeres, ein kleiner Punkt, vom
Strand betrachtet, aus sicherer Distanz.
Wir müssen ihr helfen, ist die unausgesprochende
Schlussfolgerung, die uns lähmt, unsere Füße auf
den weichen Boden nagelt, die Arme verlegen in die Hosentaschen
gräbt.
Der Wind fährt an meinen Wangen vorbei, die Dünen
hinauf, ich drehe mich um und hoffe, dass außer uns niemand
das Rauschen hört.
Wir sind allein, zu zweit am Strand, ohne Badebekleidung,
die einzigen Zeugen.
Es entsteht das Gefühl von Wellen kontrolliert
zu werden, es durchwühlt meinen Körper und rückt
alle Tugenden zur Seite, wirft die Erinnerungen meiner Heimat und
die Bilder der neuen, grauen Tage auf Waagschalen, die Wahrscheinlichkeiten
berechnen und sich in Bereichen einpendeln, die nur aus Eins und
Null bestehen.
Gefühlschaos. Aber ich bin aufgeräumt.
Ich rücke die Gemälde meiner Vorfahren wieder
an die richtige Stelle, flechte meine Personalnummer in den Rosenkranz
und bete, dass uns niemand sieht.
Mein Kollege nippt an der Öffnung seiner Bierdose,
schluckt langsam, aber hörbar, mit den Fußspitzen zeichnet
er fast perfekte Kreise in den Sand, mit jeder Umrundung verkleinert
er die Radien, die Zehen bohren sich in den Untergrund, immer tiefer,
bis zu einem Ort, an dem es keine Luft mehr zu geben scheint.
Und irgendwo vor uns stirbt eine Frau.
Ich laufe los. Wir müssen. Noch ist Zeit.
Die Sätze prallen gegen eine Gestik aus Erstaunen
und Gleichgültigkeit. Das Erstaunen siegt und produziert in
ihm aus dem begrenzten Fundus seines Sprachschatzes einen Aufschrei.
Bist du von allen guten Geistern verlassen?
Wir schweigen. Ich höre sie nicht.
Das Licht flackert, wie die Flammen eines Lagerfeuers,
das ich vor einigen Tagen sah. Musik lockte mich in seine Richtung.
Ich beobachtete, zwischen den Dünen kauernd, das Farbenspiel
und hätte mich gerne gewärmt, aber ich traute mich nicht,
zu viele Fremde.
Wenn wir laufen, schaffen wir es noch, sage ich.
Meine Stimme ist schwach. Mein Kollege reagiert mit
einem Stoß gegen meinen Oberarm.
Denk doch nach, du Chaot, brüllt er.
Ich denke nach und sehe die Folgen auf beiden Armen
der Waage, Konsequenzen in schwarz-weiß, Fotos, dessen Farben
die Zeit getilgt hat.
Das Licht flackern unter der Oberfläche.
Ich zeige mit dem Finger gen Norden, dort wo nur die
Sonne aufgeht, und stoße zurück. Von der Kälte angegriffen,
schwankt mein Kollege für den Bruchteil einer Sekunde und sagt,
nüchtern, bestimmend: Wir sind Asylanten.
Würde ich ihm widersprechen, würde ich mich
belügen, würde ich nicken, wäre ich ein Mörder.
Ich schließe die Augen, sehe auf der Innenseite
meiner Lider, im Nervengeflecht aus bunten Farbexplosionen, die
Fremde; ihre grazile Figur huscht an mir vorbei. Ich sehe die Szene,
wie sie im Fortgehen aus ihrem Kleid schlüpft, in Zeitlupentempo,
immer wieder, eine Dauerschleife. Sie wird an mir haften bleiben,
verletzlich, nackt.
Jeder Mord hinterlässt Fragen, sagt mein Kollege.
Su-i-zid, spreche ich lautlos, ich versuche mir die
Silben zu merken, eine neue Vokabel.
Es ist dunkel. Überall, auch auf dem Meer.
Meine Waage kippt unter der Last einer Mitschuld nach
links und dann nach rechts; ich renne los.
Ich werde an meinem Gürtel festgehalten, trete
auf der Stelle und glaube in einer Sandwindrose zu versinken.
Mein Kollege dreht sich um, entfernt sich, penibel
auf die Bewegungen seiner Beine achtend, mit der Gewissheit, dass
ich ihm folgen werde; er hat die Tickets zurück.
Das Meer wird sie an das Ufer spülen.
Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.
Aber wir würden nicht nur sie einliefern.
Unsere Nummern wurden gelöscht, wir sind namenlos.
Wir sind Asylanten, ohne Asyl.
***
Neues Produkt
(Eine Satire wider die Erfindungs- und Abkürzungssucht
in unserem Land)
Von Kurt May
Kommen Sie ran, kommen Sie ran! Hier werden Sie menschlicher behandelt
als in Superplapperdomen, kurz SPD. Hier klingelt es. Hier ist die
Quelle aller Schnäppchen. Hier verbauert niemand. Da! Sehen
Sie! Die Antitropfschnitte. Endlich ist sie da. Anti heißt
gegen. Wogegen können Sie heute im deutschen Wohlstandsparadies
schon sein? Gegen die Antitropfschnitte, kurz ATS, können Sie,
wenn Sie kein Pisa - Bürger sind, nicht sein. Diese ATS verhindert
das Tropfen und Überlaufen von flüssigen Brotaufstrichmitteln,
kurz BAM von dieser ATS. Ergo kann flüssiges BAM, auch wenn
es trotzbockt, nicht mehr von der ATS. Denn um diese ATS ist ein
massiver Mauerrand, kurz MMR, gebacken, formschön und graziös.
Hier in der Kurve der ATS ist der Rand etwas verstärkt, um
den Drang und die Wucht von flüssigem BAM, nämlich Brotaufstrichmitteln
zu stoppen. Ja, hier ist der Rand megafach verdickt. Kennen Sie
den Witz von der Dicken? Kostet nichts. Also, eine übergewichtige
Dame, kurz ÜGD, bringt ihren BH in die Schnellreinigung. Sagt
der Schnellerfüllungsdienst, kurz SED: Zirkuszelte nehmen wir
nur nach Voranmeldung an. Ha, ha! Also, was kann nicht von der Frühstücksschnitte,
kurz FSS, tropfen? Richtig! BAM, nämlich flüssiges. Festes
BAM bleibt sowieso oben. Bundesdeutsche Trägheit, kurz BDT.
Denn das Träge hockt und rührt sich nicht. Wir wissen
es von der Politik. Was aber genau ist flüssiges BAM? Saft
zum Beispiel. Richtig! Entsaftete Rüben, nicht entsaftete Reden,
kurz ESR, vor dem Bundestag. Also kann bundesdeutsche entsaftete
Rübe, kurz BER, nicht mehr von der ATS. Hoch auch nicht. Denn
Saft kann nicht fliegen, nicht einmal ein Parlament des Saftes,
kurz PDS, kann fliegen. Also, die ATS verhindert jeglichen Tropf
- und Tatendrang, kurz TTD von BUM. Quatsch! BUM kommt doch erst
noch. Ja, BAM hat es heute nicht mehr leicht in Deutschland. Wer
hat es schon leicht? Nehmen Sie zum Beispiel Setzeier. Verzeihung!
Setzeier sind ja festes BAM. Nehmen wir also deutschen Bienenhonig,
kurz DBH. Ich kenne da auch eine fleißige scharfe Biene, kurz
SFB. Aber Biene ist gelb. Kennen Sie den Witz von Gelb? Kostet nichts.
Da steht etwas vor einem Telekom - Telegrafenpfahl und kann nicht
hoch. Was ist das? Ein Postauto mit dem Postminister. Ha, ha! Also,
mageren Bienenhonig, kurz MBH genannt, auf die ATS. Was passiert?
Der MBH guckt und guckt, er versuch alle Tricks, beschwert sich
bei der fleißigen deutschen Polizei, kurz, FDP, oder allgemeinen
Verbraucherzentrale, kurz AVZ. Aber er kann nicht von der ATS. Er
will tropfen und fließen und bienen. Es geht nicht. Denn der
MMR der ATS steht und steht und steht. Manche Mauer hat schon fast
dreißig Jahre gestanden, nur die chinesische etwas länger.
So heult und jammert das flüssige BAM bis es von bakterienfreien
Zähnen, kurz BFZ, liquidiert wird. Ist die ATS allerdings von
gestern oder GRÜN, übersetzt aus grauer runzliger Übernahme
von einem nichtmeisterlichen Bäcker, kurz NMB, dann sollten
Sie einen mittleren Schmiedehammer, kurz MSH, mit zum Frühstück
mitnehmen und voll zuschlagen. Also, was herrscht am Frühstückstisch
Deutschlands, kurz FTD? Eintracht, Recht und Freiheit, kurz ERF
genannt, und nicht cholerischer dialektischer Unmut, kurz CDU. Denn
nichts tropft von der ATS. Das Aldi - Tischtuch, kurz ATT, bleibt
sauber. Unsere ATS hält nämlich alles sauber, leider nicht
die Schädel von blöden aufdringlichen Maulhelden und Saftern,
kurz BAMS genannt. Jetzt hat Ihre Tischtuchwäscherein, Ihre
Gattin, kurz TTW, mehr Zeit und kann Ihnen einen Witz erzählen.
Da geht ein Mann mit seinem Meerschweinchen in eine heitere Fernsehshow.
Und das Meerschweinchen heult und heult. Da dreht sich eine dralle
graue Bürgerin, kurz DGB, um und sagt: Sie haben aber ein komisches
Meerschweinchen, kurz KMS. Ja, antwortet der Mann, ich wundere mich
auch. Gestern im Theater bei Othello hat es pausenlos gelacht. Ha,
Ha! Kostet auch nichts. Ja, da werden müde deutsche Frauen,
kurz MDF, am Frühstückstisch munter. Da wird am DFT nicht
mehr geflucht und beleidigt. Pass auf! Du Dussel! Es tropft! Es
troooopft! Nein, es tropft nicht. Oder selten. Dann ist ein kleines
hundsgemeines Loch, kurz KHL, in der ATS. Aber keine Sorge. Sehr
bald kann meine entlassungsfreudige Firma, kurz EFF, die passenden
Ersatzteile, kurz PET liefern. Dann können Sie HKL in der ATS
selber stopfen. Womit? Mit Antilochklumpen, kurz ALK. Wie läuft
jetzt noch mal das bundesdeutsche rassige Diner, kurz BRD, am Morgen?
Ihre geliebte lustauslösende Gattin, kurz GAG, und ihr grimmiger
bauchtragender Gatte, kurz GBG, müssen nicht mehr so zwei bis
fünf deutsche Kraftpillen, kurz DKP, das sind Intensivhühnereier,
kurz IHE genannt, zu sich nehmen. Nun wagt man sich auch an flüssigen
BH, kurz FBH. Nebenbei, sollten Sie eine Dame ganz akkurater natürlicher
Sorte, eine Ministerin oder Kanzlerin, kurz GANS, als Gast am Frühstückstisch
haben, tischen Sie nur das beste an BAM und BUM und BEM und BIM
auf. Verdammt, was ist BIM? Ach ja, Brotinfusionsmittel. Das bekommen
Sie erst, wenn Sie ein aussichtsloser Pflegefall sind, kurz APF.
Übrigens, beim BUM geht das noch nicht, das Aufstreichen von
BAM auf ATS, weil nämlich bei BUM noch kein ATR, Antitropfrand,
vorhanden ist. Ach, Sie wissen noch nicht was BUM ist? Warum fragen
Sie nicht? BUM ist Brotumgehungsmittel, zum Beispiel Brötchen
oder Kuchen. ATR bei BUM können die bundesdeutschen Bäcker,
kurz BDB noch nicht. Erst mit dem Antitropfbrötchen und Antitropfkuchen,
kurz ATB und ATK, wird dann jedes Frühstück vollkommen.
Und auch das pure freie Picknicken, kurz PFP, wird ein Erlebnis.
Aber das PFP ist vor Arbeitsämtern strickt verboten. Wer soll
die vielen totgelatschten Arbeitsuchenden, kurz TAS, wegräumen.
Aber BAM und BUM ist nicht verboten. Kurz, meine ATS und kommenden
ATB und ATK sind äußerst preiswert. Nur handgeklöppelte
Tischtücher, kurz HTT, werden etwas teurer sein. Und man kann
ATB und ATK nicht nur verspeisen. Als Spielzeugtitanic, kurz SZT,
für Vater in der Wanne oder als Gleitschuh, etwas gehärtet,
lassen sie sich im Winter auf Eis gut einsetzen. Zwei ATS aufeinander
ergeben ein Geheimfach für Kurschattenliebesbriefe, kurz KSLB.
Auch als Hammer für zwanziger Nägel lassen sich ATS und
ATB und ATK recht gut verwenden. Angefeuchtet kann man die ATS auch
als Kohlrouladenhülle benutzen, kurz KRH. Und es mangelt Ihnen
niemals mehr an Wegwerfaschenbechern, kurz WAB. Und erst der Heizwert
von ATS und ATB und ATK! Er übertrifft den Heizwert von Postwurfsendungen,
kurz PWS, um das ich weiß nicht was für fache und ist
nur etwas geringer als der reale Heizwert, kurz RHW, von chronischem
schauerlichen Urwald, kurz CSU. Selbst als nächtliche Urinschale.
Verzeihung! Meine persönlichen Versuche sind noch nicht abgeschlossen.
Aber die bisher als unlösbar scheinende philosophische Frage
nach dem Oben und Unten der Welt oder gesunden Brotschnitte, kurz
GBS, ist endgültig geklärt. Sie haben ab heute ein ganz
neues BUM - und BAM - und BIM - und BEM - Gefühl. Und sogar
die Kaffeetassen können Sie sparen. Kaffee in die ATS, happa
happa, schlürfi schlürfi, gegessen ist das sonntägliche
sorgenfreie Frühstück, kurz SSF. Und kein Abwaschen. Was
wollen Sie denn abwaschen? ATS und Kaffee sind in Ihrem bundesdeutschen
Magen, kurz BDM, verschwunden und erscheinen erst später wieder
im Licht der ozongeschwächten Erde, kurz OGE, durch gewisse
versteckte Körperöffnungen, kurz, VKÖ. Und zum Schluss
das BEM, das Brotersatzmittel, zum Beispiel Schnaps, Haschisch oder
Tabak. Es gibt auch noch Nahrungsersatzmittel, kurz NEM, zum Beispiel
süffiges Wiesengrundbier, kurz SWB. Aber wer frühstückt
schon am Morgen BEM und NEM? Sie kennen da jemanden? Sagen Sie es
nicht unserer hochverehrten Gesundheitsministerin, kurz HGM, oder
gar den patientenfreundlichen Krankenkassen, kurz PKK. Wenn Sie
jetzt die Hälfte von meinem Vortrag verstanden haben, müssen
Sie PISA für Analphabeten, kurz PFA, nicht fürchten.
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