XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kultur - Atelier




   
 
 

Freier Fall allein

Von Ewa Boura

Fast gleichzeitig und nur einige Sekunden später stieß er einen urtümlichen Schrei aus, als er mit der rechten Hand versuchte, noch an der hinter ihm stehenden Stange (und mit dem Ausdruck der fast- Erleichterung im Gesicht) sich zu halten.

Langsam zuerst, dann immer schneller, begann sich sein Körper über den Abgrund zu drehen. Als sei er ein Propeller.

Und dann dadrunter ... die Leere, die er nicht mehr wahrzunehmen vermochte.

Es fiel ihm ein, er hatte einen Termin um neunuhrdreißig ... und sein Freund würde umsonst warten, wenn er sich verspätete, dann, dass er noch zum Arbeitsamt musste, und ... die Schuhe ... ja deswegen hatten sie sich so gestritten, da war was mit ihnen, und dass seine Socken der Anlaß waren.

Ich bin so, sah er sich selber sagen und die schweren Gauloises rauchen. Die Zigarette ganz eng in seiner Kurve zwischen den Fingerwurzeln festgeklemmt und mit der offengestreckten Handinnenfläche die eigenen Lippen deckend.

Ihr Blick war wütenden Wetters.

Die feuerroten Haare flatterten.

Zur Furie konnte sie werden.

Er musste dann immer auf ihren kleinen schwarzen stecknadelgroßen Punkt blicken, der auf dem rechten Vorderzahn zu sehen war. Der so aussah, als sei Mohn drangeklebt.

Ihre vollen Lippen bewegten sich unentwegt, und ... er verstand kein Wort.

Er hörte dann nichts mehr.

Er ließ los und fiel hinab in das Echo. Auf seinem Körper konnte er noch das Vibrieren ihres donnernden Gelächters vernehmen, bevor er in die Scheiße fiel.


***

Kurz brennen unsere Taschenlampen

Von Tobias Sommer


Das Leuchtfeuer auf dem Salzwasser will uns etwas sagen. Wie ein Signal, ein stummer Ruf, ein Hinweis auf mögliche Fehler, blinkt es in rhythmischen Unterbrechungen ein Lied aus Warnungen und Klagegesängen, die wir hören, ob wir wollen oder nicht.

Der gelbe Kegel scheint, mit der Kraft einer 9-Volt Batterie, von einer weiblichen Hand zum Himmel gerichtet, viel zu hell.

Die Wellen gleiten vor uns auf den Strand, färben mit scheinbar letztem Willen eine subtile Linie in den Untergrund, bevor sie lautlos in die Nacht verschwinden; sie hinterlassen unbewohnte Muscheln, Holz, das vor langer Zeit gebrannt hat und Bernsteinimitate, aber keine Menschen.

Noch ist das Licht sichtbar, einige Zentimeter über der schwarzen Oberfläche des Meeres, ein kleiner Punkt, vom Strand betrachtet, aus sicherer Distanz.

Wir müssen ihr helfen, ist die unausgesprochende Schlussfolgerung, die uns lähmt, unsere Füße auf den weichen Boden nagelt, die Arme verlegen in die Hosentaschen gräbt.

Der Wind fährt an meinen Wangen vorbei, die Dünen hinauf, ich drehe mich um und hoffe, dass außer uns niemand das Rauschen hört.

Wir sind allein, zu zweit am Strand, ohne Badebekleidung, die einzigen Zeugen.

Es entsteht das Gefühl von Wellen kontrolliert zu werden, es durchwühlt meinen Körper und rückt alle Tugenden zur Seite, wirft die Erinnerungen meiner Heimat und die Bilder der neuen, grauen Tage auf Waagschalen, die Wahrscheinlichkeiten berechnen und sich in Bereichen einpendeln, die nur aus Eins und Null bestehen.

Gefühlschaos. Aber ich bin aufgeräumt.

Ich rücke die Gemälde meiner Vorfahren wieder an die richtige Stelle, flechte meine Personalnummer in den Rosenkranz und bete, dass uns niemand sieht.

Mein Kollege nippt an der Öffnung seiner Bierdose, schluckt langsam, aber hörbar, mit den Fußspitzen zeichnet er fast perfekte Kreise in den Sand, mit jeder Umrundung verkleinert er die Radien, die Zehen bohren sich in den Untergrund, immer tiefer, bis zu einem Ort, an dem es keine Luft mehr zu geben scheint.

Und irgendwo vor uns stirbt eine Frau.

Ich laufe los. Wir müssen. Noch ist Zeit.

Die Sätze prallen gegen eine Gestik aus Erstaunen und Gleichgültigkeit. Das Erstaunen siegt und produziert in ihm aus dem begrenzten Fundus seines Sprachschatzes einen Aufschrei.

Bist du von allen guten Geistern verlassen?

Wir schweigen. Ich höre sie nicht.

Das Licht flackert, wie die Flammen eines Lagerfeuers, das ich vor einigen Tagen sah. Musik lockte mich in seine Richtung. Ich beobachtete, zwischen den Dünen kauernd, das Farbenspiel und hätte mich gerne gewärmt, aber ich traute mich nicht, zu viele Fremde.

Wenn wir laufen, schaffen wir es noch, sage ich.

Meine Stimme ist schwach. Mein Kollege reagiert mit einem Stoß gegen meinen Oberarm.

Denk doch nach, du Chaot, brüllt er.

Ich denke nach und sehe die Folgen auf beiden Armen der Waage, Konsequenzen in schwarz-weiß, Fotos, dessen Farben die Zeit getilgt hat.

Das Licht flackern unter der Oberfläche.

Ich zeige mit dem Finger gen Norden, dort wo nur die Sonne aufgeht, und stoße zurück. Von der Kälte angegriffen, schwankt mein Kollege für den Bruchteil einer Sekunde und sagt, nüchtern, bestimmend: Wir sind Asylanten.

Würde ich ihm widersprechen, würde ich mich belügen, würde ich nicken, wäre ich ein Mörder.

Ich schließe die Augen, sehe auf der Innenseite meiner Lider, im Nervengeflecht aus bunten Farbexplosionen, die Fremde; ihre grazile Figur huscht an mir vorbei. Ich sehe die Szene, wie sie im Fortgehen aus ihrem Kleid schlüpft, in Zeitlupentempo, immer wieder, eine Dauerschleife. Sie wird an mir haften bleiben, verletzlich, nackt.

Jeder Mord hinterlässt Fragen, sagt mein Kollege.

Su-i-zid, spreche ich lautlos, ich versuche mir die Silben zu merken, eine neue Vokabel.

Es ist dunkel. Überall, auch auf dem Meer.

Meine Waage kippt unter der Last einer Mitschuld nach links und dann nach rechts; ich renne los.

Ich werde an meinem Gürtel festgehalten, trete auf der Stelle und glaube in einer Sandwindrose zu versinken.

Mein Kollege dreht sich um, entfernt sich, penibel auf die Bewegungen seiner Beine achtend, mit der Gewissheit, dass ich ihm folgen werde; er hat die Tickets zurück.

Das Meer wird sie an das Ufer spülen.

Wir müssen sie ins Krankenhaus bringen.

Aber wir würden nicht nur sie einliefern.

Unsere Nummern wurden gelöscht, wir sind namenlos.

Wir sind Asylanten, ohne Asyl.


***

Neues Produkt

(Eine Satire wider die Erfindungs- und Abkürzungssucht in unserem Land)

Von Kurt May


Kommen Sie ran, kommen Sie ran! Hier werden Sie menschlicher behandelt als in Superplapperdomen, kurz SPD. Hier klingelt es. Hier ist die Quelle aller Schnäppchen. Hier verbauert niemand. Da! Sehen Sie! Die Antitropfschnitte. Endlich ist sie da. Anti heißt gegen. Wogegen können Sie heute im deutschen Wohlstandsparadies schon sein? Gegen die Antitropfschnitte, kurz ATS, können Sie, wenn Sie kein Pisa - Bürger sind, nicht sein. Diese ATS verhindert das Tropfen und Überlaufen von flüssigen Brotaufstrichmitteln, kurz BAM von dieser ATS. Ergo kann flüssiges BAM, auch wenn es trotzbockt, nicht mehr von der ATS. Denn um diese ATS ist ein massiver Mauerrand, kurz MMR, gebacken, formschön und graziös. Hier in der Kurve der ATS ist der Rand etwas verstärkt, um den Drang und die Wucht von flüssigem BAM, nämlich Brotaufstrichmitteln zu stoppen. Ja, hier ist der Rand megafach verdickt. Kennen Sie den Witz von der Dicken? Kostet nichts. Also, eine übergewichtige Dame, kurz ÜGD, bringt ihren BH in die Schnellreinigung. Sagt der Schnellerfüllungsdienst, kurz SED: Zirkuszelte nehmen wir nur nach Voranmeldung an. Ha, ha! Also, was kann nicht von der Frühstücksschnitte, kurz FSS, tropfen? Richtig! BAM, nämlich flüssiges. Festes BAM bleibt sowieso oben. Bundesdeutsche Trägheit, kurz BDT. Denn das Träge hockt und rührt sich nicht. Wir wissen es von der Politik. Was aber genau ist flüssiges BAM? Saft zum Beispiel. Richtig! Entsaftete Rüben, nicht entsaftete Reden, kurz ESR, vor dem Bundestag. Also kann bundesdeutsche entsaftete Rübe, kurz BER, nicht mehr von der ATS. Hoch auch nicht. Denn Saft kann nicht fliegen, nicht einmal ein Parlament des Saftes, kurz PDS, kann fliegen. Also, die ATS verhindert jeglichen Tropf - und Tatendrang, kurz TTD von BUM. Quatsch! BUM kommt doch erst noch. Ja, BAM hat es heute nicht mehr leicht in Deutschland. Wer hat es schon leicht? Nehmen Sie zum Beispiel Setzeier. Verzeihung! Setzeier sind ja festes BAM. Nehmen wir also deutschen Bienenhonig, kurz DBH. Ich kenne da auch eine fleißige scharfe Biene, kurz SFB. Aber Biene ist gelb. Kennen Sie den Witz von Gelb? Kostet nichts. Da steht etwas vor einem Telekom - Telegrafenpfahl und kann nicht hoch. Was ist das? Ein Postauto mit dem Postminister. Ha, ha! Also, mageren Bienenhonig, kurz MBH genannt, auf die ATS. Was passiert? Der MBH guckt und guckt, er versuch alle Tricks, beschwert sich bei der fleißigen deutschen Polizei, kurz, FDP, oder allgemeinen Verbraucherzentrale, kurz AVZ. Aber er kann nicht von der ATS. Er will tropfen und fließen und bienen. Es geht nicht. Denn der MMR der ATS steht und steht und steht. Manche Mauer hat schon fast dreißig Jahre gestanden, nur die chinesische etwas länger. So heult und jammert das flüssige BAM bis es von bakterienfreien Zähnen, kurz BFZ, liquidiert wird. Ist die ATS allerdings von gestern oder GRÜN, übersetzt aus grauer runzliger Übernahme von einem nichtmeisterlichen Bäcker, kurz NMB, dann sollten Sie einen mittleren Schmiedehammer, kurz MSH, mit zum Frühstück mitnehmen und voll zuschlagen. Also, was herrscht am Frühstückstisch Deutschlands, kurz FTD? Eintracht, Recht und Freiheit, kurz ERF genannt, und nicht cholerischer dialektischer Unmut, kurz CDU. Denn nichts tropft von der ATS. Das Aldi - Tischtuch, kurz ATT, bleibt sauber. Unsere ATS hält nämlich alles sauber, leider nicht die Schädel von blöden aufdringlichen Maulhelden und Saftern, kurz BAMS genannt. Jetzt hat Ihre Tischtuchwäscherein, Ihre Gattin, kurz TTW, mehr Zeit und kann Ihnen einen Witz erzählen. Da geht ein Mann mit seinem Meerschweinchen in eine heitere Fernsehshow. Und das Meerschweinchen heult und heult. Da dreht sich eine dralle graue Bürgerin, kurz DGB, um und sagt: Sie haben aber ein komisches Meerschweinchen, kurz KMS. Ja, antwortet der Mann, ich wundere mich auch. Gestern im Theater bei Othello hat es pausenlos gelacht. Ha, Ha! Kostet auch nichts. Ja, da werden müde deutsche Frauen, kurz MDF, am Frühstückstisch munter. Da wird am DFT nicht mehr geflucht und beleidigt. Pass auf! Du Dussel! Es tropft! Es troooopft! Nein, es tropft nicht. Oder selten. Dann ist ein kleines hundsgemeines Loch, kurz KHL, in der ATS. Aber keine Sorge. Sehr bald kann meine entlassungsfreudige Firma, kurz EFF, die passenden Ersatzteile, kurz PET liefern. Dann können Sie HKL in der ATS selber stopfen. Womit? Mit Antilochklumpen, kurz ALK. Wie läuft jetzt noch mal das bundesdeutsche rassige Diner, kurz BRD, am Morgen? Ihre geliebte lustauslösende Gattin, kurz GAG, und ihr grimmiger bauchtragender Gatte, kurz GBG, müssen nicht mehr so zwei bis fünf deutsche Kraftpillen, kurz DKP, das sind Intensivhühnereier, kurz IHE genannt, zu sich nehmen. Nun wagt man sich auch an flüssigen BH, kurz FBH. Nebenbei, sollten Sie eine Dame ganz akkurater natürlicher Sorte, eine Ministerin oder Kanzlerin, kurz GANS, als Gast am Frühstückstisch haben, tischen Sie nur das beste an BAM und BUM und BEM und BIM auf. Verdammt, was ist BIM? Ach ja, Brotinfusionsmittel. Das bekommen Sie erst, wenn Sie ein aussichtsloser Pflegefall sind, kurz APF. Übrigens, beim BUM geht das noch nicht, das Aufstreichen von BAM auf ATS, weil nämlich bei BUM noch kein ATR, Antitropfrand, vorhanden ist. Ach, Sie wissen noch nicht was BUM ist? Warum fragen Sie nicht? BUM ist Brotumgehungsmittel, zum Beispiel Brötchen oder Kuchen. ATR bei BUM können die bundesdeutschen Bäcker, kurz BDB noch nicht. Erst mit dem Antitropfbrötchen und Antitropfkuchen, kurz ATB und ATK, wird dann jedes Frühstück vollkommen. Und auch das pure freie Picknicken, kurz PFP, wird ein Erlebnis. Aber das PFP ist vor Arbeitsämtern strickt verboten. Wer soll die vielen totgelatschten Arbeitsuchenden, kurz TAS, wegräumen. Aber BAM und BUM ist nicht verboten. Kurz, meine ATS und kommenden ATB und ATK sind äußerst preiswert. Nur handgeklöppelte Tischtücher, kurz HTT, werden etwas teurer sein. Und man kann ATB und ATK nicht nur verspeisen. Als Spielzeugtitanic, kurz SZT, für Vater in der Wanne oder als Gleitschuh, etwas gehärtet, lassen sie sich im Winter auf Eis gut einsetzen. Zwei ATS aufeinander ergeben ein Geheimfach für Kurschattenliebesbriefe, kurz KSLB. Auch als Hammer für zwanziger Nägel lassen sich ATS und ATB und ATK recht gut verwenden. Angefeuchtet kann man die ATS auch als Kohlrouladenhülle benutzen, kurz KRH. Und es mangelt Ihnen niemals mehr an Wegwerfaschenbechern, kurz WAB. Und erst der Heizwert von ATS und ATB und ATK! Er übertrifft den Heizwert von Postwurfsendungen, kurz PWS, um das ich weiß nicht was für fache und ist nur etwas geringer als der reale Heizwert, kurz RHW, von chronischem schauerlichen Urwald, kurz CSU. Selbst als nächtliche Urinschale. Verzeihung! Meine persönlichen Versuche sind noch nicht abgeschlossen. Aber die bisher als unlösbar scheinende philosophische Frage nach dem Oben und Unten der Welt oder gesunden Brotschnitte, kurz GBS, ist endgültig geklärt. Sie haben ab heute ein ganz neues BUM - und BAM - und BIM - und BEM - Gefühl. Und sogar die Kaffeetassen können Sie sparen. Kaffee in die ATS, happa happa, schlürfi schlürfi, gegessen ist das sonntägliche sorgenfreie Frühstück, kurz SSF. Und kein Abwaschen. Was wollen Sie denn abwaschen? ATS und Kaffee sind in Ihrem bundesdeutschen Magen, kurz BDM, verschwunden und erscheinen erst später wieder im Licht der ozongeschwächten Erde, kurz OGE, durch gewisse versteckte Körperöffnungen, kurz, VKÖ. Und zum Schluss das BEM, das Brotersatzmittel, zum Beispiel Schnaps, Haschisch oder Tabak. Es gibt auch noch Nahrungsersatzmittel, kurz NEM, zum Beispiel süffiges Wiesengrundbier, kurz SWB. Aber wer frühstückt schon am Morgen BEM und NEM? Sie kennen da jemanden? Sagen Sie es nicht unserer hochverehrten Gesundheitsministerin, kurz HGM, oder gar den patientenfreundlichen Krankenkassen, kurz PKK. Wenn Sie jetzt die Hälfte von meinem Vortrag verstanden haben, müssen Sie PISA für Analphabeten, kurz PFA, nicht fürchten.

   

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