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(Vortrag, gehalten in der Bildergalerie Bornemann,
Lübeck,
am 19. November 2006)
Ein ethischer Begriff
Verantwortung ist eine zentrale, nicht wegzudenkende
Kategorie des menschlichen Daseins, sowohl in persönlicher
wie in zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Man
kann sogar die Gesinnung einer Epoche nach dem Stellenwert beurteilen,
den sie dem Begriff Verantwortung zuschreibt. In seinem Ende der
siebziger Jahre erschienenen Buch "Das Prinzip Verantwortung",
sprach der deutsch-jüdisch-amerikanische Philosoph Hans Jonas
von der "bis heute fehlenden Theorie der Verantwortung".
Diese leichtfertige, im Grunde anmassende Behauptung entbehrt jeder
Grundlage. Denn Verantwortung ist nur eine der vielen Seiten des
Guten, to agathón, oder der Tugend
(areté), gerade das Anliegen, das seit der klassischen Antike
die humanistischen Strömungen des Weltlogos am meisten und
eindringlichsten beschäftigt hat. Ob dabei das Wort Verantwortung
expressis verbis benutzt wurde oder verwandte
bzw. gleichbedeutende Begriffe wie Solidarität, Mitgefühl,
Sorge oder das lateinische Cura vorzog,
ändert an der Sache nichts. Schon die aristotelische Auffassung
des Menschen als zoon politikon beinhaltet
a priori den Begriff der Pflicht der Verantwortung gegenüber
den Anderen. Ein guter Bürger ist nur jener, der in der polis
oder Gemeinwesen Verantwortung übernimmt. Verantwortungslos
ist dagegen, wer nur an sich selbst denkt. Schon auf dem Gebiet
der Erkenntnis fassen Sokrates und Platon die Suche nach der Wahrheit
als eine gemeinsame Aufgabe auf, die nur im Dialog mit den Anderen
bewältigt werden kann. Nichts anderes bedeutet die zum ersten
Mal von beiden entwickelte Kunst der Dialektik. Oder wie Ernst Cassirer
in diesem Zusamamenhang in seinem Spätwerk "Was ist der
Mensch?" schreibt: "Weil der Mensch sich und anderen antworten
kann, wird er verantwortliches Wesen,
wird er sittliche Person". Wir können dies nur verstehen,
wenn wir uns vergegenwärtigen, dass im Gegensartz zum modernen
Individuum, der alte Grieche sich nicht als ein Absolutum, sondern
nur als ein Teil des Ganzen verstand. Die Bindung zu den Mitmenschen
wurde von den Stoikern als philia oder
Freundschaft zur ganzen Menschheit erweitert. Auf gemeinsame Verantwortung
für die Herbeiführung einer gerechten, humanen Gesellschaftsordnung
beruht die ganze Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung des 19.
und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Dass Millionen von
Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten für ihre Ideale alle
erdenklichen Opfer auf sich nahmen und oft ihr Engagement mit dem
Tod bezahlten, spricht von selbst.
Verantwortung ist ein ethischer Begriff, der die Kategorie
des Nächsten in sich beinhaltet und auf ihn gerichtet ist.
Sie ist nichts anderes als Mitmenschlichkeit und Rücksicht
auf die Anderen, nicht nur, aber an erster Stelle auf die Unglücklichen,
die Not leiden und auf unsere Hilfe angewiesen sind. Allein deshalb
ist Verantwortlichkeit das gerade Gegenteil von dem Hyperindividualismus,
der die Gesinnung und das Verhalten des Durchschnittsmenschen der
heutigen Konsumgesellschaft bestimmt. Dort, wo sich Egoismus und
Geldgier der Seele des Menschen bemächtigt haben, kann keine
Kultur der Verantwortung gedeihen. Dem System ist es nach und nach
gelungen, die Kategorie des Mitmenschen zu eliminieren, was es wiederum
nur erzielen konnte, weil es gleichzeitig den Menschen entmenschlicht
und ihn zur nackten Ichbezogenheit reduziert hat. Aus diesem doppelten
Verdinglichungsvorgang besteht das ganze Geheimnis des Systems.
Der Andere ist in der jetzigen spätkapitalistischen Gesellschaft
nur eine nützliche oder unnützliche Ware, die man je nach
Bedarf gebraucht oder wegwirft. Er hat keinen eigenen, spezifischen
Wert, nur den Austauschwert, der nach der berechnenden Logik des
Sytems ihm zukommt, eine Entwicklung, die Max Horkheimer schon 1936
klar erkannte: "Der Unterdrückung und Vernichtung des
Mitmenschen steht im Wesen des bürgerlichen Individualismus
nichts entgegen" (Schriften 1936-1941).
In der Massengesellschaft unserer Tage ist der Mensch
ständig umgeben von anderen Menschen, aber nur physisch; im
humanen, seelischen Sinn aber waren die Menschen nie so entfernt
und entfremdet von einander wie heute. Und dies beginnt schon auf
der Ebene der Kommunikation. Die von den elektronischen Medien,
der Werbung und der Unterhaltungsindustrie ständig wiederholte
Behauptung, wir leben im Zeitalter der Kommunikation, ist reine
Makulatur. In Wirklichkeit befinden wir uns im Zeitalter der Kommunikationslosigkeit.
Dort, wo sich die Menschen nicht gegenseitig mitteilen und suchen,
verlieren sie auch die Möglichkeit, richtige Menschen zu werden.
Oder mit den Worten von Karl Barth: "Man kann nicht Mensch
sein ausser zusammen mit anderen Menschen" (Gespräche
1959-1961).
Soziale Unverantwortung
Unsere Zeit spricht viel von Verantwortung und Eigenverantwortung,
ist aber eine ausgesprochen verantwortungsindifferente und verantwortungslose
Zeit. Man kann sagen, dass je gewaltiger die Probleme der Menschheit
sind, desto weniger getan wird, um sie in den Griff zu bekommen.
Dies gilt allgemein, aber an erster Stelle für die führenden
Schichten der Gesellschaft. Sie appellieren an die Eigenverantwortung
der Einzelnen, aber sie sind die ersten, die sich nicht an dieses
Gebot halten, z.B. im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. So
fragen sich die Vorstände und Aufsichtsräte der Grosskonzerne
und Grossbanken kaum, welche Folgen ihre Planungen, Strategien und
Entscheidungen für viele Menschen haben können: Leistungsdruck,
Verlust des Arbeitsplatzes, Armut, gesellschaftlliches Abseits,
Schuldgefühle, Lebensangst. Das einzig wichtige für sie
besteht darin, die Aktionäre und sich selbst zufriedenzustellen,
das heisst, sich zu bereichern. Und das tun sie gründlich.
Sonst wäre nicht zu erklären, dass ein amerikanischer
Top-Manager ein jährliches Einkommen von 11 Millionen Dollar
bezieht, während sich der Durchschnittsarbeiter mit 42.000
Dollar zufrieden geben muss, ein Missverhältnis, das im wesentlichen
auch für Europa gilt. Die Führungskräfte der Wirtschaft
sind automatisierte Rechenmaschienen geworden, die ausschliesslich
in Geldkategorien denken und entsprechend jenseits jeder Gesamtverantwortung
handeln. Milton Friedman fasste diese Gesinnug in einem Artikel
zusammen, den er am 13. September 1970 in "The Sunday Times
Magazine" unter dem bezeichnenden Titel "The social responsability
of Business Is to Increase Its Profits" veröffentllichte
und dessen Inhalt er in dem Buch "Capitalism and Freedom"
in extenso erläuterte. Eberhard von Koerber, selbst Unternehmer
und Vizepräsident des Club of Rom, hat offen zugegeben, dass
"die meisten Führungskräfte der Wirtschaft nicht
gelernt (haben), mit ihrer in der globalisierten Welt immens gestiegenen
sozialen Verantwortung umzugehen" (Der Mehrwert von Wert-Arbeit,
in: Cicero, Berlin, May 2006). Und er steht mit dieser negativen
Meinung über seine Kollegen nicht allein. Als im September
2006 bekannt wurde, dass der Siemens-Konzern beschlossen hatte,
die Vorstandsbezüge um durchschnittlich 30 Prozent anzuheben,
sagte der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking dem Nachrichten-Magazin
"Spiegel": "Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne
Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende
von Arbeitsplätzen streichen". Aber auch die Kirchen erhoben
ihre Stimme gegen die bestehende Manager-Moral, so der katholische
Bischof von Trier, Reinhard Marx: "Eine masslose Gehaltserhöhung
wie bei Siemens ist angesichts von Massenentlassungen schon dreist.
Wenn die Verantwortlichen der Wirtschaft nicht mehr das Gemeinwohl
im Blick haben, sondern die Kapitalrendite, wird das System inakzeptabel".
Als Antwort auf das in der Business-Welt herrschende sozialfeindliche
Verhalten entstand in den letzten Jahren der Begriff "Corporate
Social Responsability"; aber die Früchte dieses gutgemeinten
Appells zur sozialen Verantwortung sind äusserst mager gewesen,
auch wenn es zweifellos vereinzelt Arbeitgeber und Manager gibt,
die sich nach Kräften bemühen, auch die Interessen ihrer
Belegschaften zu berücksichtigen. Aber die rücksichtslose
Jagd auf Profit ist insgesamt nicht nur geblieben, sondern gestiegen.
Tatsache ist, dass mehr denn je die von Galbraith angekündigte
"Gesellschaft im Überfluss" zunehmend zu einer Gesellschaft
der Knappheit aller wichtigen Lebensgüter wird, wie unter anderem
die 70 Millionen Europäer belegen, die innerhalb der Europäischen
Union in Armut leben, darunter 2,5 Millionen deutsche Kinder und
Jugendliche.
Aber auch die Politiker sind nicht besser. Auch sie
kennen nur die instrumentelle Vernunft, auch sie missbrauchen ihre
führenden Positionen für unlautere Ziele, einerlei ob
sie Bush, Blair, Gerhard Schröder, Chirac, Zapatero oder Angela
Merkel heissen. Um so mehr Macht sie haben, desto mehr missbrauchen
sie sie. Nicht an die Probleme und Nöte der Regierten denken
sie, sondern ausschliesslich an sich selbst und ihre Karriere. Selbstgeltung
und Machtsucht sind ihre Motivation, nicht Verantwortung für
all die Menschen, die nicht nur keine Macht haben, sondern direkt
oder indirekt ihre Opfer sind.
Kapitalistische Kälte
Der seit ein paar Jahrzehnten herrschende globalisierte
Ultraliberalismus wird nicht müde zu betonen, dass jeder Arbeitnehmer
zuerst auf die eigene Verantwortung und auf die eigene Initiative
setzen muss, anstatt alles vom Staat zu erwarten. Mit diesem scheinheiligen
Argument versuchen die smarten Adepten von Milton Friedman und der
Chicago School of Economics ihre eigene Verantwortung abzuschütteln
und sie auf die Schultern der Bedürftigen und Bedrängten
zu übertragen. Das erste, was man in diesem Zusammenhang fragen
muss, ist: welcher Raum für Eigenverantwortung steht den Milliarden
Menschen zur Verfügung, die von Geburt an dazu verurteilt sind,
Opfer von Strukturen und Zuständen zu sein, die sie nicht nur
nicht ändern können, sondern immer erdrückender werden?
Nur blanker Zynismus und kapitalistische Kälte können
es fertig bringen, Selbstverantwortung von Menschen zu verlangen,
die aufgrund ihrer ausweglosen existentiellen Lage völlig ausserstande
sind, überhaupt Gebrauch von ihrer Freiheit und ihrem Willen
zu machen, darunter die 40 Millionen Elenden, die weltweit mit dem
Virus Aids infiziert sind oder die rund zwei Milliarden Parias,
die mit ein oder zwei Dollar täglich leben müssen. Denn
man hat den Verdammten dieser Erde nicht nur Brot und Arbeit geraubt,
sondern auch die Möglichkeit, unabhängig zu handeln, Entscheidungen
zu treffen und eigene Initiativen zu entwicklen. Und das ist das
schlimmste ihres Schicksals, dass sie Opfer eines fremden Willens
sind, dem skrupellosen, menschenverachtenden Willen ihrer Ausbeuter
aus dem Imperium Nord. Nichts treffender als der Titel des jüngsten
Buches von Jean Ziegler: "Das Imperium der Schande". Was
die Mächtigen dieser Welt "Eigenverantwortung" nennen,
ist nichts anderes als die unbedingte Unterstellung des Menschen
unter die von ihnen diktierten Daseinsbedingungen.
Nicht nur, dass die Machtträger nichts Substantielles
für die Beseitigung bzw. Milderung des Weltelends unternehmen.
Darüber hinaus gehen sie von der selbstgefälligen Voraussetzung
aus, dass in unserer Gesellschsaft das Prinzipielle stimmt und dass
es deswegen keinen Anlass gibt, sich zu beklagen und sich nach einer
anderen Gesellschafts-und Weltordnung zu sehnen. Oder wie der amerikanische
Scharlatan Francis Fukujama in seinem unseligen Bestseller "Das
Ende der Geschichte" vor einigen Jahre behauptete, wir leben
in der besten aller möglichen Welten. Hans Jonas ging in seinem
Buch über Verantwortung nicht so weit, aber relativierte ziemlich
schamlos den ausbeuterischen Charakter der bestehenden Verhältnisse.
So behauptete er, dass "von einer Ausbeutungsschuld der bevorzugten
Nationen sich nur teilweise sprechen lässt". Aber auch
innerhalb der Industrienationen des Westens "kann von einseitiger
Ausbeutung nicht mehr die Rede sein", schrieb der von der Rockefeller-
Stiftung protegierte Autor. Mit seiner Selbstverherrlichung bzw.
Rechtfertigung tut das System nichts anderes als das, was alle konservativen
Ideologien immer getan haben: das Bestehende als das Wünschenswerteste
zu preisen und das Neue als das Gefährliche oder Bedrohliche
zu verteufeln.
Die Wurzeln der Verantwortungslosigkeit bzw. fehlgeleiteten
Verantwortung liegen freilich nicht an der privaten Moral der einzelnen
Unternehmer und Politiker, sondern sind dem System immanent. Daher
seine Unkorrigierbarkeit. Anderes zu erwarten ist naives Wunschdenken
und Selbsttäuschung. Das bedeutet keineswegs, dass die Machteliten
weniger schuldig wären. Sie sind es in hohem Mass, allein deshalb,
weil sie sich bedenkenlos der herrschenden Ideologie unterwerfen
und sie eiskalt benutzen, um ihre Karriere aufzubauen und sich ihre
Privilegien zu verschaffen. Niemand wird mit der Pflicht geboren,
als Richtschnur seines Handelns eine menschenfeindliche Ideologie
zu wählen, niemand mit dem Recht ausgestattet, seinen Mitmenschen
Schaden zuzufügen und sie für eigene Zwecke zu missbrauchen.
Wenn Freiheit sich nicht an bestimmte ethische Regeln hält,
hört sie auf, Freiheit zu sein, um Willkür zu werden.
Und dies ist genau die Art von Freiheit, die die Vertreter des Kapitals
praktizieren. Ob sie sich dabei in ihrer Haut wohl fühlen oder
nicht, sei dahingestellt. Die Besten und Anständigen unter
ihnen werden ihre Arbeit womöglich nicht ohne Gewissensbisse
verrichten, aber viel grösser ist sicher die Zahl derer, die
stolz auf ihren modus operandi sind, stolz auf ihre Erfolgsbilanzen
und auf ihre gegen die Konkurrenz erreichten Siege, was in Wirklichkeit
heisst, stolz auf ihre Rücksichtslosigkeit zu sein. Gemäss
dem im System geltenden Parameter mag diese Handlungsweise in Ordnung
sein; wenn wir aber als Masstab die ewig geltenden und für
jedermann bindenden Gesetze der Menschlichkeit und der Gerechtgkeit
nehmen, müssen wir die Haltung der durchschnittlichen Wirtschaftsmanager
als tief unmoralisch bezeichnen. Was kann man sonst von einem System
sagen, das nur Verbraucher und keine Menschen kennt und das anstatt
zu investieren und zu produzieren, um die Bedürfnisse der ganzen
Menschheit zu befriediegen, nichts anderes im Kopf hat, als Gewinne
zu erzielen?
Die Bedürftigkeit des Menschen
Die vom System eifrig betriebene Verabsolutierung
der Selbstverantwortung als Inbegriff eines gelungenen Lebens ist
prinzipiell unvereinbar mit der ontischen bzw. anthropologischen
Beschaffenheit des Menschen, einer ihrer Grundzüge eben die
Bedürftigkeit oder necessitas ist. Schopenhauer wusste, warum
er den Menschen als "das bedürftigste aller Wesen"
bezeichnete, oder vor ihm Herder als ein "Mängelwesen".
Selbst der verwöhnte, vom Schicksal bevorzugte Goethe musste
am Ende seines "Wilhelm Meister" gestehen: "Wir sind
Elend und zum Elend bestimmt". Wenn es etwas gibt, was allen
Menschen ausnahmslos gemein ist, dann eben ihre grundsätzliche
Bedüftigkeit. Insofern hatte Hannah Arendt mit ihrer Definition
des Menschseins recht: "Ein Mensch sein heisst zugleich, eines
(anderen) zu bedürfen" (Denktagebuch 1950-1973). Dies
erklärt, warum die ganze Geschichte des Fortschritts nichts
anderes gewesen ist, als der Versuch, der defizitären Dimension
des conditio humana entgegenzutreten. Alles, was der Mensch im Zuge
seiner Entwicklung erreicht hat, verdankt er paradoxerweise der
Negativität seiner antropologischen Konstitution, angefangen
mit der Entstehung der Polis, die auf die Hilfslosigkeit des Einzelnen
zurückzuführen ist. Wenn Aristoteles uns sagt, dass der
Mensch ein "politisches Wesen" sei, meint stillschweigend,
dass er sich selbst nicht genügt und dem Beistand seines Nächsten
bedarf. Oder mit den lapidaren Worten von Max Schelers ausgedrückt:
"Als Einzelner ist der Mensch überhaupt nichts" (Schriften
aus dem Nachlass). Gerade, weil wir Mängelwesen sind, hätten
wir allen Grund, unsere angeborene Hilfslosigkeit durch Kooperation
und gegenseitige Hilfe zu überwinden. Dies aber tut man im
allgemeinen nicht. Denn Gleichgültigkeit oder Rücksichtslosigkeit
gegenüber den Mitmenschen ist nicht nur Politikern und Wirschaftsbossen
eigen, sondern eine Erscheinung, die in mehr oder weniger Ausmass
alle Schichten der Gesellschaft ergriffen hat. Dies erklärt,
warum sich die Menschen immer mehr an die bestehenden Verhältnisse
anpassen und sich kaum Gedanken machen, wie man sie überwinden
könnte. Weiter als sich zu beklagen und die angestaute Wut
zu verinnerlichen, geht man nicht. Und gerade, weil das System über
diese tiefsitzende resignative Grundhaltung Bescheid weiss, wird
es immer unverschämter und rücksichtsloser.
Gegenseitige Entfremdung
Die Suche nach Selbstverwirklichung und Erfüllung
ist entsozialisiert worden, hat sich von der Kategorie des Gemeinsamen
abgesetzt und sich in den Bereich des Partikularen zurückgezogen.
An das Ganze denkt kaum jemand mehr. Schon Aristoteles stellte in
seiner "Metaphysik" fest, dass das Allgemeine zu verstehen
das Schwierigste ist, weil das am weitesten vom Partikularen entfernt
liegt. Nichts anderes meinte Platon mit seinem Höhlengleichnis
und der Tendenz des Menschen, nur seine eigene Sicht der Dinge zu
berücksichtigen und die Gesamtperspektive ausser acht zu lassen.
Was damals wahr war, trifft auch und gerade für unsere Gesellschaft
zu. Denn mehr denn je zählt heute nur noch das, was die Postmodernisten
"Differenz" oder "Singularität" nennen,
was nichts anderes ist als der urbürgerliche Individualismus
und Ich-Absolutismus. Mit der Verherrlichung des Privaten als das
summum bonum kommt man freilich nicht
weit. Damit versperrt man sich im voraus den Weg zur wahren Erfüllung.
Solipsismus und Glück sind antinomische Kategorien, sie schliessen
sich gegenseitig aus. Denn ohne die Miteinbeziehung der Anderen
in unseren Daseinsbereich ist keine Selbstverwirklichung möglich,
die diesem Namen würdig wäre. Unsere Nächsten sind
das Wichtigste, genauer: die Grundvoraussetzung unseres eigenen
Glücks. Nichts anderes meint Emmanuel Lévinas: "Die
Güte besteht darin, sich im Sein so zu setzen, dass der Andere
mehr zählt als ich selbst". Deshalb gilt es "den
Anderen zu empfangen, ihm Hospitalität zu gewähren"
(Totalité et infini). Und ähnliches meinte Gabriel Marcel
mit seinem Begriff "disponibilité" oder Paul Ricoeur
mit "sollicitude". Dort, wo der Mitmensch nicht wahrgenommen,
im Stich gelassen oder gar offen verachtet wird, wie es heute so
oft der Fall ist, kann nichts anderes entstehen als gegenseitige
Entfremdung oder das, was Hobbes in seinem "Leviathan"
der Krieg aller gegen alle nannte. Die Menschen begegnen sich heute
vorwiegend als Konkurrenten, Gegner und potentielle Feinde. Deshalb
ist das Miteinander zunehmend durch das Gegeneinander ersetzt worden.
Indem das Individuum seine eigenen Interessen verfolgt -meinte Adam
Smith in "The Wealth of Nations"- fördert er unbewusst
die Interessen der Gesellschaft besser als wenn er es absichtlich
getan hätte. Diese altliberaleThese hat sich als reines Wunschdenken
entpuppt. Klarer sah Marcel Mauss als er in seinem Werk "Die
Gabe" schrieb: "Die blosse Verfolgung individueller Zwecke
schadet den Zwecken und dem Frieden des Ganzen und damit letztlich
dem Einzelnen selbst". Nicht harmonische Konvergenz der individuellen
und kollektiven Interessen ist aus der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft
entstanden, sondern offene und immer hemmungsloser werdende Konfrontation
und Diskrepanz. Ich glaube kaum, dass Wettbewerb als Vergesellschaftungsmuster
besser wäre als das Prinzip der Kooperation, wie der Soziologe
Hartmut Rosa meint; genauso wenig glaube ich, dass Wettbewerb die
Menschen "zivilisiert" und "kultiviert", wie
er behauptet, obwohl er zugeben muss, dass die Totalisierung des
Wettbewerbs "auch einen totalitären Zwang auf die möglichen
Formen der Lebensführung ausübt" ( "Wettbewerb
als Interaktionsmodus", Leviathan, Berlin 1/2006) Ich glaube
vielmehr, dass Wettbewerb die Einzelnen robotisiert und nur ihre
Aggressionstriebe und ihren Neid züchtet. Das sind Charakterzüge,
die kaum geeignet sind, die Zivilisierung und Kultivierung des Menschen
zu fördern. Wettbewerb als zentrale Kategorie gesellschaftlicher
Umgang führt unvermeidlich zu einer Hierarchisierung der zwischenmenschlichen
Verhältnisse und zu einer Teilung der Menschen zwischen Siegern
und Besiegten, also zu einer neuen Form der Machtidolatrie. Und
was sich dabei in der Regel durchsetzt, ist leicht zu ahnen: das
Skrupellose, das Strebertum, das Berechnende, das Mittelmässige
und das Vulgäre. Kein Wunder, dass wir nicht nur in einem unmoralischen,
sondern auch in einem hässlichen Zeitalter leben. Nichts ist
falscher als Wettbewerb und Freiheit als bedeutungsgleich auszulegen,
wie das System es tut. In der spätkapitalistischen Gesellschaft
bedeutet Leistung, sich den erbarmungslosen Gesetzen des Marktes
unterzuordnen, enthält ab ovo den Moment der Selbstrepression
und der Selbstbestrafung. Was geleistet wird entsteht nicht aus
freien Stücken, sondern ist entfremdete Arbeit.
Eigenverantwortung
Wir haben bis jetzt über die Verantwortung im
Bezug auf den Anderen gesprochen. Aber es ist naheliegend, dass
unser Verhalten zu unseren Mitmenschen von dem Verhältnis bestimmt
wird, das wir zu unserem eigenen Selbst haben. Denn wir können
unserer Verantwortung gegenüber den Anderen erst dann bewusst
werden, wenn wir ein Wertesytem gewählt haben, das uns veranlasst
oder dazu drängt, unseren Nächsten zu Hilfe zu kommen
und uns für das Wohl des Ganzen einzusetzen. Nichts anderes
meinte Kierkegaard, als er in "Entweder/Oder" über
das "ethische Individuum" schrieb: "Das ethische
Individuum setzt sich die Aufgabe, sich in das allgemeine Individuum
zu verwandeln". Verantwortung uns gegenüber bedeutet,
sich den Anderen zu öffnen und ihre Nöte als unsere eigenen
zu berücksichtigen. Wenn diese Gesinnung fehlt, werden wir
automatisch in ichbezogenem Sinn handeln und nur an unser eigenes
Wohl denken. Und hier liegt das eigentliche und entscheidende Problem.
Denn die Menschen werden heute von überall bedrängt, ausschliesslich
auf ihre eigenen Interessen zu achten. Es fehlen keineswegs die
Menschen, die dem allgegenwärtigen Druck dieser Ideologie widerstehen
und unegoistisch und selbstlos handeln. Aber sie sind eine kleine
Minderheit. Deshalb wird es immer schwieriger, die Kultur der Verantwortlichkeit
zustande zu bringen, die die Welt so dringend benötigt.
Eigenverantwortung heute kann nichts anderes bedeuten,
als sich für ein Wertesytem einzusetzen, das den Begriff Verantwortung
wieder zur Geltung bringt und zum Massstab der zwischenmenschlichen,
gesellschaftlichen und internationalen Verhältnisse erhebt.
Und was ein solches Anliegen bedeutet, dürfte klar sein: offener
Kampf gegen die Verantwortungslosigkeit, die praktisch auf allen
Ebenen herrscht. Ich bin weit entrfernt, die unkritische und zweckoptimitsche
Meinung von Ralph Dahrendorf zu teilen, "die Gegenwart ist
keine Zeit der grossen Prüfungen" ("Die Intellektuellen
in Zeiten der Prüfung", Merkur, Stuttgart, Januar 2006).
Stichhaltiger und wirklichkeitsnäher scheint mir die Auffassung
von Cornelius Castoriadis, der in seinem letztes Jahr post mortem
erschienenen Buch "Une société à la derive",
unsere Zeit als eine oligarchisch gelenkte "Demokratie ohne
Demokraten" bezeichnete, die vom allgemeinen Konformismus gelähmt,
in eine Sackgasse geraten ist und ziellos von Katastrophe zu Katastrophe
abdriftet.
Verantwortungskultur und Widerstandskultur
Wenn wir von einer Kultur der Verantwortung sprechen,
denken wir nicht nur an die führenden Schichten der Gesellschaft,
sondern auch an die grosse Masse der verwalteten Menschen. Ziel
einer solchen Kultur kann kein anderes sein, als Widerstand gegen
Machtmissbrauch in seinen verschiedenen Aspekten zu leisten. Verantwortungskultur
und Widerstandskultur sind in diesem Zusammenhang ein und dasselbe.
Dort, wo letztere fehlt, wird jene auch nicht gedeihen. Das ist
auch das Tragische unserer Zeit, dass den allermeisten Menschen
der kausale Nexus zwischen beiden Kategorien kaum bewusst ist. Es
war nicht immer so. In der Geschichte hat es immer Entwicklungsphasen
gegeben, in denen die Unterdrückten und Benachteiligten es
schafften, eine Kultur des Widerstands gegen Unrecht und Ausbeutung
auf die Beine zu stellen. Diese epochalen Momente der Weltgeschichte
sind bekannt, aber heute weitgehend vergessen –nicht zufällig
vergessen, muss man hinzufügen. Dem System ist es mittels seiner
grenzenlosen Manipulationsmöglichkeiten tatsächlich gelungen,
den Menschen einzubläuen, dass die einzig wahre, legitime und
in Betracht kommende Geschichte seine eigene wäre. Entsprechend
ist alles andere nicht der Erinnerung würdig. Wieder einmal
ist die Macht in der Lage, eine grosse Unwahrheit in die Wahrheit
zu verwandeln.
Diese schamlose Umwertung aller Werte erklärt,
warum die Negation der Negation in Trümmern liegt. Denn das
System hat sich nicht damit begnügt, die Menschen materiell
auszubeuten; darüber hinaus ist es ihm gelungen, ihr kritisches
Bewusstsein zu eliminieren. Dies ist vielleicht das schlimmste Verbrechen,
das es begangen hat: den Menschen zum Konsumroboter degradiert und
seine Hoffnung auf Befreiung vom kapitalistischen Über-Ich
im Keim erstickt zu haben.
Das Endziel
Das Endziel einer richtig verstandenen Verantwortungskultur
besteht paradoxerweise darin, einen gesamtgesellschaftlichen Zustand
herbeizuführen, in welchem der Einzelne nicht im voraus dazu
verurteilt ist, auf den Willen der anderen angewiesen zu sein. Hilfe
und Beistand von unseren Nächsten zu akzeptieren, wenn man
in Not geraten ist, ist keine Demütigung. Sie wird es aber,
wenn diese Not materieller Natur und durch eine ungerechte soziale
Ordnung verursacht worden ist, wie es heute weitgehend geschieht.
Eine Gesellschaft, die die Abhängigkeit bestimmter gesellschaftlicher
Schichten von staatlichen Stellen institutionalisert hat, ist nicht
menschenwürdig. Der regelmässige Gang zum Arbeits-und
Sozialamt ist freilich besser als zu verhungern und in Elend zu
krepieren, wie es in den Regionen und Ländern geschieht, in
denen es diese Einrichtungen gar nicht gibt oder unzureichende Hilfe
leisten. Dennoch bleiben Armut und soziale Benachteiligung überhaupt
eine demütigende Erfahrung.
Verantwortung ist anders und mehr als Caritas.
Diese Form von Nächstenliebe oder Mitmenschlichkeit ist begrüssens-
und bewundernswert, denn sie erfüllt die schöne Aufgabe,
sich um chronisch Kranke oder hilfslos gewordene alte Menschen zu
kümmern. Troztdem bildet sie nur einen, wenn auch äusserst
wichtigen Teil der Verantwortungskultur, die wir vor Augen haben.
Dienst am Nächsten und persönliche Aufopferung für
die physisch oder psychisch in Not geratenen Menschen werden auch
in den optimalsten aller Gesellschaften benötigt werden, aber
eine im umfassenden Sinn emanzipierte Gesellschaft kann nicht nur
auf Barmherzigkeit beruhen, sondern muss grundsätzlich auf
dem Begriff sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden. Für dieses
Ziel haben auch die Gewerkschaften und die mit ihnen verbundenen
fortschrittlichen Kräfte jahrhundertelang gekämpft. Dieses
Ideal ist von der beherrschenden doxa
aus dem privaten und öffentlichen Bewusstsein verdrängt
worden, aber weit entfernt, ein Anachronismus geworden zu sein,
behält seine vollste Legitimität und ist aktueller und
dringender denn je.
Institutionell und gesetzlich verankerte Gerechtigkeit
mindert allerdings keineswegs die Tragweite zwischenmenschlicher
Beziehungen. Amtlich verwaltete Gerechtigkeit ohne menschliche Substanz
entartet unvermeidlich zum unpersönlichen und anonymen Bürokratentum.
Erst wenn wir im Umgang mit den anderen lernen, uns menschlich zu
verhalten, werden wir auch in der Lage sein, eine menschliche Gesellschaft
aufzubauen. Hier liegt die Bedeutung von Martin Bubers intersubjektiver
Philosophie des Ich-Du als Ergänzung der im 19. Jahrhundert
entstandenen grossen kolletivistischen Emanzipationslehren. Der
Weg der Befreiung beginnt auf der bescheidenen aber konkreten Ebene
der interpersonalen Begegnung. Gelingt es uns nicht, die gegenseitige
Enthumanisierung zu überwinden, die im Verhältnis von
Mensch zu Mensch heute überwiegt, werden wir es auch nicht
schaffen, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Platons
Idee der Gerechtigkeit als Inbegriff der Wahrheit ist objektiver
Natur und besitzt ewige Gültigkeit, verwirklicht kann sie jedoch
nur durch das jeweilige historische Subjekt werden. Entsprechend
enthält sie sowohl das Imperativ der theoretischen Aneignung
wie ihre Umsetzung in die Praxis. Erst wenn wir dies begreifen,
werden wir in der Lage sein, uns aus den Fesseln unserer Selbstentfremdung
loszulösen und das Bedürfnis empfinden, uns im Rahmen
einer neuen Kultur der Verantwortung für eine gerechtere, humanere,
sinnvollere, menschenwürdigere Welt zu engagieren.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
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