XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kosmopolitane Menschenwelten

Für eine Kultur der Verantwortung
Ein unverzichtbares Ziel
Von Heleno Saña

   
 
 

(Vortrag, gehalten in der Bildergalerie Bornemann, Lübeck,
am 19. November 2006)


Ein ethischer Begriff

Verantwortung ist eine zentrale, nicht wegzudenkende Kategorie des menschlichen Daseins, sowohl in persönlicher wie in zwischenmenschlicher und gesellschaftlicher Hinsicht. Man kann sogar die Gesinnung einer Epoche nach dem Stellenwert beurteilen, den sie dem Begriff Verantwortung zuschreibt. In seinem Ende der siebziger Jahre erschienenen Buch "Das Prinzip Verantwortung", sprach der deutsch-jüdisch-amerikanische Philosoph Hans Jonas von der "bis heute fehlenden Theorie der Verantwortung". Diese leichtfertige, im Grunde anmassende Behauptung entbehrt jeder Grundlage. Denn Verantwortung ist nur eine der vielen Seiten des Guten, to agathón, oder der Tugend (areté), gerade das Anliegen, das seit der klassischen Antike die humanistischen Strömungen des Weltlogos am meisten und eindringlichsten beschäftigt hat. Ob dabei das Wort Verantwortung expressis verbis benutzt wurde oder verwandte bzw. gleichbedeutende Begriffe wie Solidarität, Mitgefühl, Sorge oder das lateinische Cura vorzog, ändert an der Sache nichts. Schon die aristotelische Auffassung des Menschen als zoon politikon beinhaltet a priori den Begriff der Pflicht der Verantwortung gegenüber den Anderen. Ein guter Bürger ist nur jener, der in der polis oder Gemeinwesen Verantwortung übernimmt. Verantwortungslos ist dagegen, wer nur an sich selbst denkt. Schon auf dem Gebiet der Erkenntnis fassen Sokrates und Platon die Suche nach der Wahrheit als eine gemeinsame Aufgabe auf, die nur im Dialog mit den Anderen bewältigt werden kann. Nichts anderes bedeutet die zum ersten Mal von beiden entwickelte Kunst der Dialektik. Oder wie Ernst Cassirer in diesem Zusamamenhang in seinem Spätwerk "Was ist der Mensch?" schreibt: "Weil der Mensch sich und anderen antworten kann, wird er verantwortliches Wesen, wird er sittliche Person". Wir können dies nur verstehen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass im Gegensartz zum modernen Individuum, der alte Grieche sich nicht als ein Absolutum, sondern nur als ein Teil des Ganzen verstand. Die Bindung zu den Mitmenschen wurde von den Stoikern als philia oder Freundschaft zur ganzen Menschheit erweitert. Auf gemeinsame Verantwortung für die Herbeiführung einer gerechten, humanen Gesellschaftsordnung beruht die ganze Theorie und Praxis der Arbeiterbewegung des 19. und der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts. Dass Millionen von Sozialisten, Anarchisten und Kommunisten für ihre Ideale alle erdenklichen Opfer auf sich nahmen und oft ihr Engagement mit dem Tod bezahlten, spricht von selbst.

Verantwortung ist ein ethischer Begriff, der die Kategorie des Nächsten in sich beinhaltet und auf ihn gerichtet ist. Sie ist nichts anderes als Mitmenschlichkeit und Rücksicht auf die Anderen, nicht nur, aber an erster Stelle auf die Unglücklichen, die Not leiden und auf unsere Hilfe angewiesen sind. Allein deshalb ist Verantwortlichkeit das gerade Gegenteil von dem Hyperindividualismus, der die Gesinnung und das Verhalten des Durchschnittsmenschen der heutigen Konsumgesellschaft bestimmt. Dort, wo sich Egoismus und Geldgier der Seele des Menschen bemächtigt haben, kann keine Kultur der Verantwortung gedeihen. Dem System ist es nach und nach gelungen, die Kategorie des Mitmenschen zu eliminieren, was es wiederum nur erzielen konnte, weil es gleichzeitig den Menschen entmenschlicht und ihn zur nackten Ichbezogenheit reduziert hat. Aus diesem doppelten Verdinglichungsvorgang besteht das ganze Geheimnis des Systems. Der Andere ist in der jetzigen spätkapitalistischen Gesellschaft nur eine nützliche oder unnützliche Ware, die man je nach Bedarf gebraucht oder wegwirft. Er hat keinen eigenen, spezifischen Wert, nur den Austauschwert, der nach der berechnenden Logik des Sytems ihm zukommt, eine Entwicklung, die Max Horkheimer schon 1936 klar erkannte: "Der Unterdrückung und Vernichtung des Mitmenschen steht im Wesen des bürgerlichen Individualismus nichts entgegen" (Schriften 1936-1941).

In der Massengesellschaft unserer Tage ist der Mensch ständig umgeben von anderen Menschen, aber nur physisch; im humanen, seelischen Sinn aber waren die Menschen nie so entfernt und entfremdet von einander wie heute. Und dies beginnt schon auf der Ebene der Kommunikation. Die von den elektronischen Medien, der Werbung und der Unterhaltungsindustrie ständig wiederholte Behauptung, wir leben im Zeitalter der Kommunikation, ist reine Makulatur. In Wirklichkeit befinden wir uns im Zeitalter der Kommunikationslosigkeit. Dort, wo sich die Menschen nicht gegenseitig mitteilen und suchen, verlieren sie auch die Möglichkeit, richtige Menschen zu werden. Oder mit den Worten von Karl Barth: "Man kann nicht Mensch sein ausser zusammen mit anderen Menschen" (Gespräche 1959-1961).


Soziale Unverantwortung

Unsere Zeit spricht viel von Verantwortung und Eigenverantwortung, ist aber eine ausgesprochen verantwortungsindifferente und verantwortungslose Zeit. Man kann sagen, dass je gewaltiger die Probleme der Menschheit sind, desto weniger getan wird, um sie in den Griff zu bekommen. Dies gilt allgemein, aber an erster Stelle für die führenden Schichten der Gesellschaft. Sie appellieren an die Eigenverantwortung der Einzelnen, aber sie sind die ersten, die sich nicht an dieses Gebot halten, z.B. im wirtschaftlichen und sozialen Bereich. So fragen sich die Vorstände und Aufsichtsräte der Grosskonzerne und Grossbanken kaum, welche Folgen ihre Planungen, Strategien und Entscheidungen für viele Menschen haben können: Leistungsdruck, Verlust des Arbeitsplatzes, Armut, gesellschaftlliches Abseits, Schuldgefühle, Lebensangst. Das einzig wichtige für sie besteht darin, die Aktionäre und sich selbst zufriedenzustellen, das heisst, sich zu bereichern. Und das tun sie gründlich. Sonst wäre nicht zu erklären, dass ein amerikanischer Top-Manager ein jährliches Einkommen von 11 Millionen Dollar bezieht, während sich der Durchschnittsarbeiter mit 42.000 Dollar zufrieden geben muss, ein Missverhältnis, das im wesentlichen auch für Europa gilt. Die Führungskräfte der Wirtschaft sind automatisierte Rechenmaschienen geworden, die ausschliesslich in Geldkategorien denken und entsprechend jenseits jeder Gesamtverantwortung handeln. Milton Friedman fasste diese Gesinnug in einem Artikel zusammen, den er am 13. September 1970 in "The Sunday Times Magazine" unter dem bezeichnenden Titel "The social responsability of Business Is to Increase Its Profits" veröffentllichte und dessen Inhalt er in dem Buch "Capitalism and Freedom" in extenso erläuterte. Eberhard von Koerber, selbst Unternehmer und Vizepräsident des Club of Rom, hat offen zugegeben, dass "die meisten Führungskräfte der Wirtschaft nicht gelernt (haben), mit ihrer in der globalisierten Welt immens gestiegenen sozialen Verantwortung umzugehen" (Der Mehrwert von Wert-Arbeit, in: Cicero, Berlin, May 2006). Und er steht mit dieser negativen Meinung über seine Kollegen nicht allein. Als im September 2006 bekannt wurde, dass der Siemens-Konzern beschlossen hatte, die Vorstandsbezüge um durchschnittlich 30 Prozent anzuheben, sagte der Porsche-Chef Wendelin Wiedeking dem Nachrichten-Magazin "Spiegel": "Es ist nicht nachzuvollziehen, wenn Konzerne Rekordgewinne melden und zugleich ankündigen, dass sie Tausende von Arbeitsplätzen streichen". Aber auch die Kirchen erhoben ihre Stimme gegen die bestehende Manager-Moral, so der katholische Bischof von Trier, Reinhard Marx: "Eine masslose Gehaltserhöhung wie bei Siemens ist angesichts von Massenentlassungen schon dreist. Wenn die Verantwortlichen der Wirtschaft nicht mehr das Gemeinwohl im Blick haben, sondern die Kapitalrendite, wird das System inakzeptabel". Als Antwort auf das in der Business-Welt herrschende sozialfeindliche Verhalten entstand in den letzten Jahren der Begriff "Corporate Social Responsability"; aber die Früchte dieses gutgemeinten Appells zur sozialen Verantwortung sind äusserst mager gewesen, auch wenn es zweifellos vereinzelt Arbeitgeber und Manager gibt, die sich nach Kräften bemühen, auch die Interessen ihrer Belegschaften zu berücksichtigen. Aber die rücksichtslose Jagd auf Profit ist insgesamt nicht nur geblieben, sondern gestiegen. Tatsache ist, dass mehr denn je die von Galbraith angekündigte "Gesellschaft im Überfluss" zunehmend zu einer Gesellschaft der Knappheit aller wichtigen Lebensgüter wird, wie unter anderem die 70 Millionen Europäer belegen, die innerhalb der Europäischen Union in Armut leben, darunter 2,5 Millionen deutsche Kinder und Jugendliche.

Aber auch die Politiker sind nicht besser. Auch sie kennen nur die instrumentelle Vernunft, auch sie missbrauchen ihre führenden Positionen für unlautere Ziele, einerlei ob sie Bush, Blair, Gerhard Schröder, Chirac, Zapatero oder Angela Merkel heissen. Um so mehr Macht sie haben, desto mehr missbrauchen sie sie. Nicht an die Probleme und Nöte der Regierten denken sie, sondern ausschliesslich an sich selbst und ihre Karriere. Selbstgeltung und Machtsucht sind ihre Motivation, nicht Verantwortung für all die Menschen, die nicht nur keine Macht haben, sondern direkt oder indirekt ihre Opfer sind.


Kapitalistische Kälte

Der seit ein paar Jahrzehnten herrschende globalisierte Ultraliberalismus wird nicht müde zu betonen, dass jeder Arbeitnehmer zuerst auf die eigene Verantwortung und auf die eigene Initiative setzen muss, anstatt alles vom Staat zu erwarten. Mit diesem scheinheiligen Argument versuchen die smarten Adepten von Milton Friedman und der Chicago School of Economics ihre eigene Verantwortung abzuschütteln und sie auf die Schultern der Bedürftigen und Bedrängten zu übertragen. Das erste, was man in diesem Zusammenhang fragen muss, ist: welcher Raum für Eigenverantwortung steht den Milliarden Menschen zur Verfügung, die von Geburt an dazu verurteilt sind, Opfer von Strukturen und Zuständen zu sein, die sie nicht nur nicht ändern können, sondern immer erdrückender werden? Nur blanker Zynismus und kapitalistische Kälte können es fertig bringen, Selbstverantwortung von Menschen zu verlangen, die aufgrund ihrer ausweglosen existentiellen Lage völlig ausserstande sind, überhaupt Gebrauch von ihrer Freiheit und ihrem Willen zu machen, darunter die 40 Millionen Elenden, die weltweit mit dem Virus Aids infiziert sind oder die rund zwei Milliarden Parias, die mit ein oder zwei Dollar täglich leben müssen. Denn man hat den Verdammten dieser Erde nicht nur Brot und Arbeit geraubt, sondern auch die Möglichkeit, unabhängig zu handeln, Entscheidungen zu treffen und eigene Initiativen zu entwicklen. Und das ist das schlimmste ihres Schicksals, dass sie Opfer eines fremden Willens sind, dem skrupellosen, menschenverachtenden Willen ihrer Ausbeuter aus dem Imperium Nord. Nichts treffender als der Titel des jüngsten Buches von Jean Ziegler: "Das Imperium der Schande". Was die Mächtigen dieser Welt "Eigenverantwortung" nennen, ist nichts anderes als die unbedingte Unterstellung des Menschen unter die von ihnen diktierten Daseinsbedingungen.

Nicht nur, dass die Machtträger nichts Substantielles für die Beseitigung bzw. Milderung des Weltelends unternehmen. Darüber hinaus gehen sie von der selbstgefälligen Voraussetzung aus, dass in unserer Gesellschsaft das Prinzipielle stimmt und dass es deswegen keinen Anlass gibt, sich zu beklagen und sich nach einer anderen Gesellschafts-und Weltordnung zu sehnen. Oder wie der amerikanische Scharlatan Francis Fukujama in seinem unseligen Bestseller "Das Ende der Geschichte" vor einigen Jahre behauptete, wir leben in der besten aller möglichen Welten. Hans Jonas ging in seinem Buch über Verantwortung nicht so weit, aber relativierte ziemlich schamlos den ausbeuterischen Charakter der bestehenden Verhältnisse. So behauptete er, dass "von einer Ausbeutungsschuld der bevorzugten Nationen sich nur teilweise sprechen lässt". Aber auch innerhalb der Industrienationen des Westens "kann von einseitiger Ausbeutung nicht mehr die Rede sein", schrieb der von der Rockefeller- Stiftung protegierte Autor. Mit seiner Selbstverherrlichung bzw. Rechtfertigung tut das System nichts anderes als das, was alle konservativen Ideologien immer getan haben: das Bestehende als das Wünschenswerteste zu preisen und das Neue als das Gefährliche oder Bedrohliche zu verteufeln.

Die Wurzeln der Verantwortungslosigkeit bzw. fehlgeleiteten Verantwortung liegen freilich nicht an der privaten Moral der einzelnen Unternehmer und Politiker, sondern sind dem System immanent. Daher seine Unkorrigierbarkeit. Anderes zu erwarten ist naives Wunschdenken und Selbsttäuschung. Das bedeutet keineswegs, dass die Machteliten weniger schuldig wären. Sie sind es in hohem Mass, allein deshalb, weil sie sich bedenkenlos der herrschenden Ideologie unterwerfen und sie eiskalt benutzen, um ihre Karriere aufzubauen und sich ihre Privilegien zu verschaffen. Niemand wird mit der Pflicht geboren, als Richtschnur seines Handelns eine menschenfeindliche Ideologie zu wählen, niemand mit dem Recht ausgestattet, seinen Mitmenschen Schaden zuzufügen und sie für eigene Zwecke zu missbrauchen. Wenn Freiheit sich nicht an bestimmte ethische Regeln hält, hört sie auf, Freiheit zu sein, um Willkür zu werden. Und dies ist genau die Art von Freiheit, die die Vertreter des Kapitals praktizieren. Ob sie sich dabei in ihrer Haut wohl fühlen oder nicht, sei dahingestellt. Die Besten und Anständigen unter ihnen werden ihre Arbeit womöglich nicht ohne Gewissensbisse verrichten, aber viel grösser ist sicher die Zahl derer, die stolz auf ihren modus operandi sind, stolz auf ihre Erfolgsbilanzen und auf ihre gegen die Konkurrenz erreichten Siege, was in Wirklichkeit heisst, stolz auf ihre Rücksichtslosigkeit zu sein. Gemäss dem im System geltenden Parameter mag diese Handlungsweise in Ordnung sein; wenn wir aber als Masstab die ewig geltenden und für jedermann bindenden Gesetze der Menschlichkeit und der Gerechtgkeit nehmen, müssen wir die Haltung der durchschnittlichen Wirtschaftsmanager als tief unmoralisch bezeichnen. Was kann man sonst von einem System sagen, das nur Verbraucher und keine Menschen kennt und das anstatt zu investieren und zu produzieren, um die Bedürfnisse der ganzen Menschheit zu befriediegen, nichts anderes im Kopf hat, als Gewinne zu erzielen?


Die Bedürftigkeit des Menschen

Die vom System eifrig betriebene Verabsolutierung der Selbstverantwortung als Inbegriff eines gelungenen Lebens ist prinzipiell unvereinbar mit der ontischen bzw. anthropologischen Beschaffenheit des Menschen, einer ihrer Grundzüge eben die Bedürftigkeit oder necessitas ist. Schopenhauer wusste, warum er den Menschen als "das bedürftigste aller Wesen" bezeichnete, oder vor ihm Herder als ein "Mängelwesen". Selbst der verwöhnte, vom Schicksal bevorzugte Goethe musste am Ende seines "Wilhelm Meister" gestehen: "Wir sind Elend und zum Elend bestimmt". Wenn es etwas gibt, was allen Menschen ausnahmslos gemein ist, dann eben ihre grundsätzliche Bedüftigkeit. Insofern hatte Hannah Arendt mit ihrer Definition des Menschseins recht: "Ein Mensch sein heisst zugleich, eines (anderen) zu bedürfen" (Denktagebuch 1950-1973). Dies erklärt, warum die ganze Geschichte des Fortschritts nichts anderes gewesen ist, als der Versuch, der defizitären Dimension des conditio humana entgegenzutreten. Alles, was der Mensch im Zuge seiner Entwicklung erreicht hat, verdankt er paradoxerweise der Negativität seiner antropologischen Konstitution, angefangen mit der Entstehung der Polis, die auf die Hilfslosigkeit des Einzelnen zurückzuführen ist. Wenn Aristoteles uns sagt, dass der Mensch ein "politisches Wesen" sei, meint stillschweigend, dass er sich selbst nicht genügt und dem Beistand seines Nächsten bedarf. Oder mit den lapidaren Worten von Max Schelers ausgedrückt: "Als Einzelner ist der Mensch überhaupt nichts" (Schriften aus dem Nachlass). Gerade, weil wir Mängelwesen sind, hätten wir allen Grund, unsere angeborene Hilfslosigkeit durch Kooperation und gegenseitige Hilfe zu überwinden. Dies aber tut man im allgemeinen nicht. Denn Gleichgültigkeit oder Rücksichtslosigkeit gegenüber den Mitmenschen ist nicht nur Politikern und Wirschaftsbossen eigen, sondern eine Erscheinung, die in mehr oder weniger Ausmass alle Schichten der Gesellschaft ergriffen hat. Dies erklärt, warum sich die Menschen immer mehr an die bestehenden Verhältnisse anpassen und sich kaum Gedanken machen, wie man sie überwinden könnte. Weiter als sich zu beklagen und die angestaute Wut zu verinnerlichen, geht man nicht. Und gerade, weil das System über diese tiefsitzende resignative Grundhaltung Bescheid weiss, wird es immer unverschämter und rücksichtsloser.


Gegenseitige Entfremdung

Die Suche nach Selbstverwirklichung und Erfüllung ist entsozialisiert worden, hat sich von der Kategorie des Gemeinsamen abgesetzt und sich in den Bereich des Partikularen zurückgezogen. An das Ganze denkt kaum jemand mehr. Schon Aristoteles stellte in seiner "Metaphysik" fest, dass das Allgemeine zu verstehen das Schwierigste ist, weil das am weitesten vom Partikularen entfernt liegt. Nichts anderes meinte Platon mit seinem Höhlengleichnis und der Tendenz des Menschen, nur seine eigene Sicht der Dinge zu berücksichtigen und die Gesamtperspektive ausser acht zu lassen. Was damals wahr war, trifft auch und gerade für unsere Gesellschaft zu. Denn mehr denn je zählt heute nur noch das, was die Postmodernisten "Differenz" oder "Singularität" nennen, was nichts anderes ist als der urbürgerliche Individualismus und Ich-Absolutismus. Mit der Verherrlichung des Privaten als das summum bonum kommt man freilich nicht weit. Damit versperrt man sich im voraus den Weg zur wahren Erfüllung. Solipsismus und Glück sind antinomische Kategorien, sie schliessen sich gegenseitig aus. Denn ohne die Miteinbeziehung der Anderen in unseren Daseinsbereich ist keine Selbstverwirklichung möglich, die diesem Namen würdig wäre. Unsere Nächsten sind das Wichtigste, genauer: die Grundvoraussetzung unseres eigenen Glücks. Nichts anderes meint Emmanuel Lévinas: "Die Güte besteht darin, sich im Sein so zu setzen, dass der Andere mehr zählt als ich selbst". Deshalb gilt es "den Anderen zu empfangen, ihm Hospitalität zu gewähren" (Totalité et infini). Und ähnliches meinte Gabriel Marcel mit seinem Begriff "disponibilité" oder Paul Ricoeur mit "sollicitude". Dort, wo der Mitmensch nicht wahrgenommen, im Stich gelassen oder gar offen verachtet wird, wie es heute so oft der Fall ist, kann nichts anderes entstehen als gegenseitige Entfremdung oder das, was Hobbes in seinem "Leviathan" der Krieg aller gegen alle nannte. Die Menschen begegnen sich heute vorwiegend als Konkurrenten, Gegner und potentielle Feinde. Deshalb ist das Miteinander zunehmend durch das Gegeneinander ersetzt worden. Indem das Individuum seine eigenen Interessen verfolgt -meinte Adam Smith in "The Wealth of Nations"- fördert er unbewusst die Interessen der Gesellschaft besser als wenn er es absichtlich getan hätte. Diese altliberaleThese hat sich als reines Wunschdenken entpuppt. Klarer sah Marcel Mauss als er in seinem Werk "Die Gabe" schrieb: "Die blosse Verfolgung individueller Zwecke schadet den Zwecken und dem Frieden des Ganzen und damit letztlich dem Einzelnen selbst". Nicht harmonische Konvergenz der individuellen und kollektiven Interessen ist aus der kapitalistischen Konkurrenzgesellschaft entstanden, sondern offene und immer hemmungsloser werdende Konfrontation und Diskrepanz. Ich glaube kaum, dass Wettbewerb als Vergesellschaftungsmuster besser wäre als das Prinzip der Kooperation, wie der Soziologe Hartmut Rosa meint; genauso wenig glaube ich, dass Wettbewerb die Menschen "zivilisiert" und "kultiviert", wie er behauptet, obwohl er zugeben muss, dass die Totalisierung des Wettbewerbs "auch einen totalitären Zwang auf die möglichen Formen der Lebensführung ausübt" ( "Wettbewerb als Interaktionsmodus", Leviathan, Berlin 1/2006) Ich glaube vielmehr, dass Wettbewerb die Einzelnen robotisiert und nur ihre Aggressionstriebe und ihren Neid züchtet. Das sind Charakterzüge, die kaum geeignet sind, die Zivilisierung und Kultivierung des Menschen zu fördern. Wettbewerb als zentrale Kategorie gesellschaftlicher Umgang führt unvermeidlich zu einer Hierarchisierung der zwischenmenschlichen Verhältnisse und zu einer Teilung der Menschen zwischen Siegern und Besiegten, also zu einer neuen Form der Machtidolatrie. Und was sich dabei in der Regel durchsetzt, ist leicht zu ahnen: das Skrupellose, das Strebertum, das Berechnende, das Mittelmässige und das Vulgäre. Kein Wunder, dass wir nicht nur in einem unmoralischen, sondern auch in einem hässlichen Zeitalter leben. Nichts ist falscher als Wettbewerb und Freiheit als bedeutungsgleich auszulegen, wie das System es tut. In der spätkapitalistischen Gesellschaft bedeutet Leistung, sich den erbarmungslosen Gesetzen des Marktes unterzuordnen, enthält ab ovo den Moment der Selbstrepression und der Selbstbestrafung. Was geleistet wird entsteht nicht aus freien Stücken, sondern ist entfremdete Arbeit.


Eigenverantwortung

Wir haben bis jetzt über die Verantwortung im Bezug auf den Anderen gesprochen. Aber es ist naheliegend, dass unser Verhalten zu unseren Mitmenschen von dem Verhältnis bestimmt wird, das wir zu unserem eigenen Selbst haben. Denn wir können unserer Verantwortung gegenüber den Anderen erst dann bewusst werden, wenn wir ein Wertesytem gewählt haben, das uns veranlasst oder dazu drängt, unseren Nächsten zu Hilfe zu kommen und uns für das Wohl des Ganzen einzusetzen. Nichts anderes meinte Kierkegaard, als er in "Entweder/Oder" über das "ethische Individuum" schrieb: "Das ethische Individuum setzt sich die Aufgabe, sich in das allgemeine Individuum zu verwandeln". Verantwortung uns gegenüber bedeutet, sich den Anderen zu öffnen und ihre Nöte als unsere eigenen zu berücksichtigen. Wenn diese Gesinnung fehlt, werden wir automatisch in ichbezogenem Sinn handeln und nur an unser eigenes Wohl denken. Und hier liegt das eigentliche und entscheidende Problem. Denn die Menschen werden heute von überall bedrängt, ausschliesslich auf ihre eigenen Interessen zu achten. Es fehlen keineswegs die Menschen, die dem allgegenwärtigen Druck dieser Ideologie widerstehen und unegoistisch und selbstlos handeln. Aber sie sind eine kleine Minderheit. Deshalb wird es immer schwieriger, die Kultur der Verantwortlichkeit zustande zu bringen, die die Welt so dringend benötigt.

Eigenverantwortung heute kann nichts anderes bedeuten, als sich für ein Wertesytem einzusetzen, das den Begriff Verantwortung wieder zur Geltung bringt und zum Massstab der zwischenmenschlichen, gesellschaftlichen und internationalen Verhältnisse erhebt. Und was ein solches Anliegen bedeutet, dürfte klar sein: offener Kampf gegen die Verantwortungslosigkeit, die praktisch auf allen Ebenen herrscht. Ich bin weit entrfernt, die unkritische und zweckoptimitsche Meinung von Ralph Dahrendorf zu teilen, "die Gegenwart ist keine Zeit der grossen Prüfungen" ("Die Intellektuellen in Zeiten der Prüfung", Merkur, Stuttgart, Januar 2006). Stichhaltiger und wirklichkeitsnäher scheint mir die Auffassung von Cornelius Castoriadis, der in seinem letztes Jahr post mortem erschienenen Buch "Une société à la derive", unsere Zeit als eine oligarchisch gelenkte "Demokratie ohne Demokraten" bezeichnete, die vom allgemeinen Konformismus gelähmt, in eine Sackgasse geraten ist und ziellos von Katastrophe zu Katastrophe abdriftet.


Verantwortungskultur und Widerstandskultur

Wenn wir von einer Kultur der Verantwortung sprechen, denken wir nicht nur an die führenden Schichten der Gesellschaft, sondern auch an die grosse Masse der verwalteten Menschen. Ziel einer solchen Kultur kann kein anderes sein, als Widerstand gegen Machtmissbrauch in seinen verschiedenen Aspekten zu leisten. Verantwortungskultur und Widerstandskultur sind in diesem Zusammenhang ein und dasselbe. Dort, wo letztere fehlt, wird jene auch nicht gedeihen. Das ist auch das Tragische unserer Zeit, dass den allermeisten Menschen der kausale Nexus zwischen beiden Kategorien kaum bewusst ist. Es war nicht immer so. In der Geschichte hat es immer Entwicklungsphasen gegeben, in denen die Unterdrückten und Benachteiligten es schafften, eine Kultur des Widerstands gegen Unrecht und Ausbeutung auf die Beine zu stellen. Diese epochalen Momente der Weltgeschichte sind bekannt, aber heute weitgehend vergessen –nicht zufällig vergessen, muss man hinzufügen. Dem System ist es mittels seiner grenzenlosen Manipulationsmöglichkeiten tatsächlich gelungen, den Menschen einzubläuen, dass die einzig wahre, legitime und in Betracht kommende Geschichte seine eigene wäre. Entsprechend ist alles andere nicht der Erinnerung würdig. Wieder einmal ist die Macht in der Lage, eine grosse Unwahrheit in die Wahrheit zu verwandeln.

Diese schamlose Umwertung aller Werte erklärt, warum die Negation der Negation in Trümmern liegt. Denn das System hat sich nicht damit begnügt, die Menschen materiell auszubeuten; darüber hinaus ist es ihm gelungen, ihr kritisches Bewusstsein zu eliminieren. Dies ist vielleicht das schlimmste Verbrechen, das es begangen hat: den Menschen zum Konsumroboter degradiert und seine Hoffnung auf Befreiung vom kapitalistischen Über-Ich im Keim erstickt zu haben.


Das Endziel

Das Endziel einer richtig verstandenen Verantwortungskultur besteht paradoxerweise darin, einen gesamtgesellschaftlichen Zustand herbeizuführen, in welchem der Einzelne nicht im voraus dazu verurteilt ist, auf den Willen der anderen angewiesen zu sein. Hilfe und Beistand von unseren Nächsten zu akzeptieren, wenn man in Not geraten ist, ist keine Demütigung. Sie wird es aber, wenn diese Not materieller Natur und durch eine ungerechte soziale Ordnung verursacht worden ist, wie es heute weitgehend geschieht. Eine Gesellschaft, die die Abhängigkeit bestimmter gesellschaftlicher Schichten von staatlichen Stellen institutionalisert hat, ist nicht menschenwürdig. Der regelmässige Gang zum Arbeits-und Sozialamt ist freilich besser als zu verhungern und in Elend zu krepieren, wie es in den Regionen und Ländern geschieht, in denen es diese Einrichtungen gar nicht gibt oder unzureichende Hilfe leisten. Dennoch bleiben Armut und soziale Benachteiligung überhaupt eine demütigende Erfahrung.

Verantwortung ist anders und mehr als Caritas. Diese Form von Nächstenliebe oder Mitmenschlichkeit ist begrüssens- und bewundernswert, denn sie erfüllt die schöne Aufgabe, sich um chronisch Kranke oder hilfslos gewordene alte Menschen zu kümmern. Troztdem bildet sie nur einen, wenn auch äusserst wichtigen Teil der Verantwortungskultur, die wir vor Augen haben. Dienst am Nächsten und persönliche Aufopferung für die physisch oder psychisch in Not geratenen Menschen werden auch in den optimalsten aller Gesellschaften benötigt werden, aber eine im umfassenden Sinn emanzipierte Gesellschaft kann nicht nur auf Barmherzigkeit beruhen, sondern muss grundsätzlich auf dem Begriff sozialer Gerechtigkeit aufgebaut werden. Für dieses Ziel haben auch die Gewerkschaften und die mit ihnen verbundenen fortschrittlichen Kräfte jahrhundertelang gekämpft. Dieses Ideal ist von der beherrschenden doxa aus dem privaten und öffentlichen Bewusstsein verdrängt worden, aber weit entfernt, ein Anachronismus geworden zu sein, behält seine vollste Legitimität und ist aktueller und dringender denn je.

Institutionell und gesetzlich verankerte Gerechtigkeit mindert allerdings keineswegs die Tragweite zwischenmenschlicher Beziehungen. Amtlich verwaltete Gerechtigkeit ohne menschliche Substanz entartet unvermeidlich zum unpersönlichen und anonymen Bürokratentum. Erst wenn wir im Umgang mit den anderen lernen, uns menschlich zu verhalten, werden wir auch in der Lage sein, eine menschliche Gesellschaft aufzubauen. Hier liegt die Bedeutung von Martin Bubers intersubjektiver Philosophie des Ich-Du als Ergänzung der im 19. Jahrhundert entstandenen grossen kolletivistischen Emanzipationslehren. Der Weg der Befreiung beginnt auf der bescheidenen aber konkreten Ebene der interpersonalen Begegnung. Gelingt es uns nicht, die gegenseitige Enthumanisierung zu überwinden, die im Verhältnis von Mensch zu Mensch heute überwiegt, werden wir es auch nicht schaffen, die Gesellschaft als Ganzes zu verändern. Platons Idee der Gerechtigkeit als Inbegriff der Wahrheit ist objektiver Natur und besitzt ewige Gültigkeit, verwirklicht kann sie jedoch nur durch das jeweilige historische Subjekt werden. Entsprechend enthält sie sowohl das Imperativ der theoretischen Aneignung wie ihre Umsetzung in die Praxis. Erst wenn wir dies begreifen, werden wir in der Lage sein, uns aus den Fesseln unserer Selbstentfremdung loszulösen und das Bedürfnis empfinden, uns im Rahmen einer neuen Kultur der Verantwortung für eine gerechtere, humanere, sinnvollere, menschenwürdigere Welt zu engagieren.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

   

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