XXVI. Jahrgang, Heft 143
Jan - Feb - Mär 2007/1

 
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Letzte Änderung:
31.01.2007

 
 

 

 
 

 

 

Medien - Kultur - Schau




   
 
 

Semra Çelik
Grenzen und Grenzgänger
Diskursive Positionierungen im Kontext türkischer Einwanderung. Unrast-Verlag, Münster 2006. 288 Seiten, 20,– Euro

„Diskurse sind umkämpft,“ bemerkt die Autorin einführend. „Diskurse sind umkämpft, weil das den Diskursen inhärente Wissen den Maßstab für die jeweils gültigen Wahrheiten stellt und Wahrheit immer einen Schlüssel zur Macht bildet. Inmitten dieses Kampfes um Wahrheit und Macht befindet sich das Subjekt, das Adressat und Produzent von Wahrheit gleichermaßen ist. Während das Subjekt in den Acht-Uhr-Nachrichten, über Reklametafeln auf der Einkaufsstraße oder über Magazine und Nachrichtenblätter Wissen vermittelt bekommt, tauscht und (re-)produziert es seine Ansichten wiederum in alltäglichen, beruflichen und politischen Gesprächen. Es liegt nicht zuletzt an dieser zentralen Rolle des Subjekts im Diskurs, dass seine Handlungen, Gedanken, Psyche, Vorlieben und Anschauungen, sprich seine Identität selbst ein beliebtes Thema in diesem ist. Entsprechend stellt Identität ein diskursives Feld dar, in dem das Subjekt nicht nur Empfänger und Sender, sondern zudem Gegenstand diskursiven Wissens ist. Diskurse um Identität umfassen einen breiten Raum, in dem beispielsweise Wissensvorgaben über buddhistische, irakische oder weibliche Subjekte gleichermaßen kursieren, wie Wissensvorgaben über atheistische, antinationale oder transsexuelle. In dieser thematischen Vielfalt bieten Identitätsdiskurse weite Flächen für unzählige diskursive Kämpfe, von denen einer um das ‘postmoderne Subjekt’ ausgefochten wird.“

Wie dem Klappentext dieses Bandes auch zu entnehmen ist, arbeitet die diskursanalytisch angelegte Studie auf der Grundlage von Tiefeninterviews heraus, „welche nationalen Selbst- und Fremdbilder türkische Migrantinnen in Deutschland wahrnehmen und wie sie sich anhand dieser ‘ethnisch’ positionieren. Dabei zeigt sich, dass die Interviewten in ihren ethnischen Erzählungen an eine Reihe diskursiver Grenzen stoßen, die sie immer wieder auf die Position des ‘Türken’ zurückverweisen. Das Buch zeigt aber auch, wie es türkischen Migrantinnen gelingt, diese Grenzen zu überschreiten, um sich neue Spielräume im Kontext nationaler Diskurse zu erschließen.“

Mit dieser Arbeit ermöglicht die promovierte Philologin, Jahrgang 1973, einen Blick auf das bundesdeutsche Dikursrund zum Themenspektrum Integration, ethnische Segregation, Kulturkonflikt und islamischer Fundamentalismus, insbesondere ethnische und religiöse Selbstverständnisse türkischer Migranten im Zentrum des medialen, politischen und wissenschaftlichen Interesses.

Semra Çelik schlußfolgert: „Der Diskurs ist ein weites Netz von Erzählungen, in dem Kämpfe um diskursive Wahrheiten, Sagbarkeiten, Symbole und Begriffe stattfinden. In diesem Netz ist Identität ein umstrittener, weil machtvoller Begriff. Die Wirkungsmacht des Identitätsbegriffs liegt in seiner diskursiven Funktion, Subjektivitätsfonnen zu definieren und so das Subjekt im Diskurs zu verorten. Denn indem Subjekte sich selbst beschreiben oder beschrieben werden, positionieren sie sich oder werden im Diskurs positioniert. Um sich zu erzählen oder um ihre Umwelt zu deuten, greifen Subjekte auf das diskursive Wissen ihrer Zeit zu: Sie nutzen einen Korpus von großen und kleinen diskursiven Erzählungen, Symbolen und Strategien. So mit dem Diskurs verweben, beschreibt Identität immer auch Verhältnisse von Zugehörigkeit und mit diesen Verhältnisse von Macht. (...)

Die hier vorgestellten diskursiven Taktiken könnten dazu beitragen, die herrschende Ordnung kultureller Repräsentation aus einem asymmetrischen Gefälle heraus und zu einer Diskurskonstellation zu führen, in der mehr Raum für Differenzen und für Vermischungen sowie eine größere Auswahl an Angeboten für Selbstbeschreibungen bereitstehen. Das Ringen um einen neuen Begrifrsapparat zugunsten von Differenzen kann aber nur als Teil einer gesellschaftspolitischen Veränderung erfolgreich sein. Denn das asymmetrische Verhältnis vom Eigenen und Anderen beschränkt sich nicht nur auf die Frage, wer was sagen kann. Vielmehr ist diese Frage der Definitionsmacht untrennbar mit den ökonomischen und politischen Ressourcenverteilungen einer Gesellschaft verbunden. Daher kann sich erst, wenn mit den symbolischen Veränderungen gleichsam politische und gesellschaftliche einhergehen, Differenz als zentrales Element alltäglichen Lebens entfalten.“

NM


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Susan George
Change it!
Anleitung zum politischen Ungehorsam. Droemer, München 2006. 288 Seiten, 16,90 Euro (D), 17,40 Euro (A), 30,10 sFr

Immer wieder habe ich dieses Buch in die Hand genommen und mich von einzelnen Abschnitten fesseln lassen, auch wenn man es sich als Rezensent nicht erlauben darf, allzu gründlich zu stöbern und zu lesen ... Immer wieder bin ich auch auf mir noch unbekannte Fakten und kluge Einschätzungen gestossen. Dabei schreibt die Autorin ebenso klar und leicht verständlich, wie sie auf ihren zahllosen öffentlichen Vorträgen spricht. Insofern erfüllt ihr Buch voll und ganz den Anspruch einer Einführung in die „Globalisierung und die Bewegung für globale Gerechtigkeit für Anfänger“ und richtet sich vor allem an diejenigen, die zögern und bezweifeln, dass etwas getan werden kann; aber es ist auch für „gewitzte Demonstranten und erfahrene Weltverbesserer“ nützlich, wie Susan George nicht ohne Selbstironie hofft. Mit dem englischen Buchtitel möchte sie uns auffordern, das politische und wirtschaftliche System der westlichen Gesellschaften im Sinne einer für alle Erdbewohner menschenwürdigen und ökologisch verträglichen Zukunft zu verändern. Denn „eine andere Welt ist möglich, wenn ...“, wie der Titel des ersten Hauptteils (und im übrigen auch der Buchtitel der französischen Ausgabe) zugleich ermutigend und unter Vorbehalt verkünden. Diese doppelte Botschaft wird noch klarer in Georges Aussage, dass „die Dinge sich ändern, wenn genügend Menschen dies fordern und dafür arbeiten“. Mit anderen Worten: Zur Hoffnungslosigkeit ist kein Grund, aber der Wandel kommt nicht von alleine.

Gebürtige Amerikanerin und seit 1994 französische Staatsbürgerin, gehört die Autorin zu den weltweit profiliertesten Kritikern der kapitalistischen Globalisierung. 1978 promovierte sie an der Sorbonne mit einer Arbeit zur Übertragung des Nahrungssystems der USA auf den Rest der Welt; sie hat zehn Bücher geschrieben, darunter den internationalen Bestseller Der Lugano-Report, und ist stellvertretende Direktorin des Transnational Institute in Amsterdam und Vizepräsidentin von ATTAC Frankreich.

Wie viele andere legt auch George Wert auf die Feststellung, dass die von ihr unterstützte Bewegung keine „Antiglobalisierung“ fordere, sondern für eine alternative Globalisierung eintrete. Hieran schliesst sich meine einzige Kritik an, die weniger das Buch selbst betrifft als vielmehr die Vorstellung einer solchen andersartigen Globalisierung. Wenn nämlich Globalisierung u.a. auch bedeutet, dass immer mehr Menschen und Güter auf die Reise gehen, dann lässt sich die daraus resultierende Umweltbelastung auch bei Einsatz ökologischer Techniken nicht völlig vermeiden. Zwar können öffentliche Verkehrsmittel, energiesparende Motoren, ökologisches Bauen usw. diese Belastung erheblich mindern. Aber die Einspareffekte würden schnell zunichte, wenn z.B. Millionen Chinesen und Inder in anderen Teilen der Welt Urlaub machen. Mit anderen Worten: Entweder die Genüsse des Fernreisens bleiben den weltweit privilegierten Schichten vorbehalten. Oder aber alle können daran ein wenig teilhaben, genauer gesagt in wesentlich geringerem Umfang, als viele Menschen in den Industrieländern es gewohnt sind...

Christopher Pollmann


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Thede Kahl & Andreas Karzis (Hrsg.)
Märchen aus dem Epirus
Mit Illustrationen von Ioannis Chryssos. Griechisch-Deutsch. Romiosini Verlag/University Studio Press, Köln/Thessaloniki 2006. 359 Seiten, 22,– Euro

So etwas gibt es also heute auch noch: Da ziehen in den Jahren zwischen 1980 und 2004 zwei junge Männer, ein Hamburger und ein Athener, hinaus in den Westen Griechenlands, in den bergigen, waldreichen Epirus, um auf Omas und Opas zu treffen, die ihnen dort freimütig Märchen in den Recorder diktieren. Nachzulesen sind sie jetzt auf Griechisch und in deutscher Übersetzung und bestätigen von neuem, was einst Ernst Bloch anhand der Hausmärchen der Gebrüder Grimm über diese ursprüngliche Gattung der Literatur befunden hat: „Das Märchen lässt sich von den heutigen Paradiesbesitzern nichts vormachen, ist aufsässig, gebranntes Kind und helle... Ein Stück Aufklärung, lange bevor es diese gab... Gibt sich nicht als Ersatz fürs Tun.“

Nun mögen sich die Motive des heute Tradierten in vielem mit dem, was schon seit Homers Zeiten in Umlauf ist, ähneln. Es begegnen das Aschenputtelchen, das zur Goldmarie wird, der arme Hütejunge, der selber seines Glückes Schmied wird und die Königstochter erobert, der unerschrockene Drachentöter - eine reiche Sammlung von vierunddreißig Geschichten. Fragt sich freilich, wie fest die im einzelnen kurz vorgestellten, bei der Aufzeichnung der Märchen zwischen 60 und 85 Jahre alten Erzähler/innen selber noch an die Gültigkeit der hier überlieferten Werte glauben. Deren Skala ist breit, umfasst Klugheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Mut, Verlässlichkeit, Rechtschaffenheit, Tapferkeit und was es da sonst noch so gibt. Wird ihnen, die von solchen Tugenden künden, auch noch die Ehrfurcht zuteil werden, die den Alten gegenüber von alters her gegolten hat: im Märchen? Dieses ist nun allerdings kein Zweifel ausschließlich epirotischer Art. Denn nicht von ungefähr hat die altersweise Doris Lessing auf dem Berliner Internationalen Literaturfestival im Sommer 2006 daran erinnert, dass früher die Großmutter so etwas wie „eine weiterführende Schule“ gewesen sei, die man heute in unserer modernen Schule als Unterrichtsmethode wieder einbauen sollte. Weil: wer sonst als die Großmütter oder Urgroßmütter sollte auch die Geschichten von gestern und vorgestern erzählen?

Diesen Auftrag erfüllt die vorliegende neue Märchensammlung auf eindrucksvolle Weise und sogar mit dem Segen des Staatspräsidenten Karolos Papoulias, der im Geleitwort - ebenfalls auf Griechisch und Deutsch - unterstreicht: „Die moralische Schönheit ist in den Märchen allmächtig.“

Horst Möller

   

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