|
Semra Çelik
Grenzen und Grenzgänger
Diskursive Positionierungen im Kontext türkischer Einwanderung.
Unrast-Verlag, Münster 2006. 288 Seiten, 20,– Euro
„Diskurse sind umkämpft,“ bemerkt
die Autorin einführend. „Diskurse sind umkämpft,
weil das den Diskursen inhärente Wissen den Maßstab für
die jeweils gültigen Wahrheiten stellt und Wahrheit immer einen
Schlüssel zur Macht bildet. Inmitten dieses Kampfes um Wahrheit
und Macht befindet sich das Subjekt, das Adressat und Produzent
von Wahrheit gleichermaßen ist. Während das Subjekt in
den Acht-Uhr-Nachrichten, über Reklametafeln auf der Einkaufsstraße
oder über Magazine und Nachrichtenblätter Wissen vermittelt
bekommt, tauscht und (re-)produziert es seine Ansichten wiederum
in alltäglichen, beruflichen und politischen Gesprächen.
Es liegt nicht zuletzt an dieser zentralen Rolle des Subjekts im
Diskurs, dass seine Handlungen, Gedanken, Psyche, Vorlieben und
Anschauungen, sprich seine Identität selbst ein beliebtes Thema
in diesem ist. Entsprechend stellt Identität ein diskursives
Feld dar, in dem das Subjekt nicht nur Empfänger und Sender,
sondern zudem Gegenstand diskursiven Wissens ist. Diskurse um Identität
umfassen einen breiten Raum, in dem beispielsweise Wissensvorgaben
über buddhistische, irakische oder weibliche Subjekte gleichermaßen
kursieren, wie Wissensvorgaben über atheistische, antinationale
oder transsexuelle. In dieser thematischen Vielfalt bieten Identitätsdiskurse
weite Flächen für unzählige diskursive Kämpfe,
von denen einer um das ‘postmoderne Subjekt’ ausgefochten
wird.“
Wie dem Klappentext dieses Bandes auch zu entnehmen
ist, arbeitet die diskursanalytisch angelegte Studie auf der Grundlage
von Tiefeninterviews heraus, „welche nationalen Selbst- und
Fremdbilder türkische Migrantinnen in Deutschland wahrnehmen
und wie sie sich anhand dieser ‘ethnisch’ positionieren.
Dabei zeigt sich, dass die Interviewten in ihren ethnischen Erzählungen
an eine Reihe diskursiver Grenzen stoßen, die sie immer wieder
auf die Position des ‘Türken’ zurückverweisen.
Das Buch zeigt aber auch, wie es türkischen Migrantinnen gelingt,
diese Grenzen zu überschreiten, um sich neue Spielräume
im Kontext nationaler Diskurse zu erschließen.“
Mit dieser Arbeit ermöglicht die promovierte
Philologin, Jahrgang 1973, einen Blick auf das bundesdeutsche Dikursrund
zum Themenspektrum Integration, ethnische Segregation, Kulturkonflikt
und islamischer Fundamentalismus, insbesondere ethnische und religiöse
Selbstverständnisse türkischer Migranten im Zentrum des
medialen, politischen und wissenschaftlichen Interesses.
Semra Çelik schlußfolgert: „Der
Diskurs ist ein weites Netz von Erzählungen, in dem Kämpfe
um diskursive Wahrheiten, Sagbarkeiten, Symbole und Begriffe stattfinden.
In diesem Netz ist Identität ein umstrittener, weil machtvoller
Begriff. Die Wirkungsmacht des Identitätsbegriffs liegt in
seiner diskursiven Funktion, Subjektivitätsfonnen zu definieren
und so das Subjekt im Diskurs zu verorten. Denn indem Subjekte sich
selbst beschreiben oder beschrieben werden, positionieren sie sich
oder werden im Diskurs positioniert. Um sich zu erzählen oder
um ihre Umwelt zu deuten, greifen Subjekte auf das diskursive Wissen
ihrer Zeit zu: Sie nutzen einen Korpus von großen und kleinen
diskursiven Erzählungen, Symbolen und Strategien. So mit dem
Diskurs verweben, beschreibt Identität immer auch Verhältnisse
von Zugehörigkeit und mit diesen Verhältnisse von Macht.
(...)
Die hier vorgestellten diskursiven Taktiken könnten
dazu beitragen, die herrschende Ordnung kultureller Repräsentation
aus einem asymmetrischen Gefälle heraus und zu einer Diskurskonstellation
zu führen, in der mehr Raum für Differenzen und für
Vermischungen sowie eine größere Auswahl an Angeboten
für Selbstbeschreibungen bereitstehen. Das Ringen um einen
neuen Begrifrsapparat zugunsten von Differenzen kann aber nur als
Teil einer gesellschaftspolitischen Veränderung erfolgreich
sein. Denn das asymmetrische Verhältnis vom Eigenen und Anderen
beschränkt sich nicht nur auf die Frage, wer was sagen kann.
Vielmehr ist diese Frage der Definitionsmacht untrennbar mit den
ökonomischen und politischen Ressourcenverteilungen einer Gesellschaft
verbunden. Daher kann sich erst, wenn mit den symbolischen Veränderungen
gleichsam politische und gesellschaftliche einhergehen, Differenz
als zentrales Element alltäglichen Lebens entfalten.“
NM
***
Susan George
Change it!
Anleitung zum politischen Ungehorsam. Droemer, München 2006.
288 Seiten, 16,90 Euro (D), 17,40 Euro (A), 30,10 sFr
Immer wieder habe ich dieses Buch in die Hand genommen
und mich von einzelnen Abschnitten fesseln lassen, auch wenn man
es sich als Rezensent nicht erlauben darf, allzu gründlich
zu stöbern und zu lesen ... Immer wieder bin ich auch auf mir
noch unbekannte Fakten und kluge Einschätzungen gestossen.
Dabei schreibt die Autorin ebenso klar und leicht verständlich,
wie sie auf ihren zahllosen öffentlichen Vorträgen spricht.
Insofern erfüllt ihr Buch voll und ganz den Anspruch einer
Einführung in die „Globalisierung und die Bewegung für
globale Gerechtigkeit für Anfänger“ und richtet
sich vor allem an diejenigen, die zögern und bezweifeln, dass
etwas getan werden kann; aber es ist auch für „gewitzte
Demonstranten und erfahrene Weltverbesserer“ nützlich,
wie Susan George nicht ohne Selbstironie hofft. Mit dem englischen
Buchtitel möchte sie uns auffordern, das politische und wirtschaftliche
System der westlichen Gesellschaften im Sinne einer für alle
Erdbewohner menschenwürdigen und ökologisch verträglichen
Zukunft zu verändern. Denn „eine andere Welt ist möglich,
wenn ...“, wie der Titel des ersten Hauptteils (und im übrigen
auch der Buchtitel der französischen Ausgabe) zugleich ermutigend
und unter Vorbehalt verkünden. Diese doppelte Botschaft wird
noch klarer in Georges Aussage, dass „die Dinge sich ändern,
wenn genügend Menschen dies fordern und dafür arbeiten“.
Mit anderen Worten: Zur Hoffnungslosigkeit ist kein Grund, aber
der Wandel kommt nicht von alleine.
Gebürtige Amerikanerin und seit 1994 französische
Staatsbürgerin, gehört die Autorin zu den weltweit profiliertesten
Kritikern der kapitalistischen Globalisierung. 1978 promovierte
sie an der Sorbonne mit einer Arbeit zur Übertragung des Nahrungssystems
der USA auf den Rest der Welt; sie hat zehn Bücher geschrieben,
darunter den internationalen Bestseller Der Lugano-Report, und ist
stellvertretende Direktorin des Transnational Institute in Amsterdam
und Vizepräsidentin von ATTAC Frankreich.
Wie viele andere legt auch George Wert auf die Feststellung,
dass die von ihr unterstützte Bewegung keine „Antiglobalisierung“
fordere, sondern für eine alternative Globalisierung eintrete.
Hieran schliesst sich meine einzige Kritik an, die weniger das Buch
selbst betrifft als vielmehr die Vorstellung einer solchen andersartigen
Globalisierung. Wenn nämlich Globalisierung u.a. auch bedeutet,
dass immer mehr Menschen und Güter auf die Reise gehen, dann
lässt sich die daraus resultierende Umweltbelastung auch bei
Einsatz ökologischer Techniken nicht völlig vermeiden.
Zwar können öffentliche Verkehrsmittel, energiesparende
Motoren, ökologisches Bauen usw. diese Belastung erheblich
mindern. Aber die Einspareffekte würden schnell zunichte, wenn
z.B. Millionen Chinesen und Inder in anderen Teilen der Welt Urlaub
machen. Mit anderen Worten: Entweder die Genüsse des Fernreisens
bleiben den weltweit privilegierten Schichten vorbehalten. Oder
aber alle können daran ein wenig teilhaben, genauer gesagt
in wesentlich geringerem Umfang, als viele Menschen in den Industrieländern
es gewohnt sind...
Christopher Pollmann
***
Thede Kahl & Andreas Karzis (Hrsg.)
Märchen aus dem Epirus
Mit Illustrationen von Ioannis Chryssos. Griechisch-Deutsch. Romiosini
Verlag/University Studio Press, Köln/Thessaloniki 2006. 359
Seiten, 22,– Euro
So etwas gibt es also heute auch noch: Da ziehen in
den Jahren zwischen 1980 und 2004 zwei junge Männer, ein Hamburger
und ein Athener, hinaus in den Westen Griechenlands, in den bergigen,
waldreichen Epirus, um auf Omas und Opas zu treffen, die ihnen dort
freimütig Märchen in den Recorder diktieren. Nachzulesen
sind sie jetzt auf Griechisch und in deutscher Übersetzung
und bestätigen von neuem, was einst Ernst Bloch anhand der
Hausmärchen der Gebrüder Grimm über diese ursprüngliche
Gattung der Literatur befunden hat: „Das Märchen lässt
sich von den heutigen Paradiesbesitzern nichts vormachen, ist aufsässig,
gebranntes Kind und helle... Ein Stück Aufklärung, lange
bevor es diese gab... Gibt sich nicht als Ersatz fürs Tun.“
Nun mögen sich die Motive des heute Tradierten
in vielem mit dem, was schon seit Homers Zeiten in Umlauf ist, ähneln.
Es begegnen das Aschenputtelchen, das zur Goldmarie wird, der arme
Hütejunge, der selber seines Glückes Schmied wird und
die Königstochter erobert, der unerschrockene Drachentöter
- eine reiche Sammlung von vierunddreißig Geschichten. Fragt
sich freilich, wie fest die im einzelnen kurz vorgestellten, bei
der Aufzeichnung der Märchen zwischen 60 und 85 Jahre alten
Erzähler/innen selber noch an die Gültigkeit der hier
überlieferten Werte glauben. Deren Skala ist breit, umfasst
Klugheit, Ehrlichkeit, Fleiß, Mut, Verlässlichkeit, Rechtschaffenheit,
Tapferkeit und was es da sonst noch so gibt. Wird ihnen, die von
solchen Tugenden künden, auch noch die Ehrfurcht zuteil werden,
die den Alten gegenüber von alters her gegolten hat: im Märchen?
Dieses ist nun allerdings kein Zweifel ausschließlich epirotischer
Art. Denn nicht von ungefähr hat die altersweise Doris Lessing
auf dem Berliner Internationalen Literaturfestival im Sommer 2006
daran erinnert, dass früher die Großmutter so etwas wie
„eine weiterführende Schule“ gewesen sei, die man
heute in unserer modernen Schule als Unterrichtsmethode wieder einbauen
sollte. Weil: wer sonst als die Großmütter oder Urgroßmütter
sollte auch die Geschichten von gestern und vorgestern erzählen?
Diesen Auftrag erfüllt die vorliegende neue Märchensammlung
auf eindrucksvolle Weise und sogar mit dem Segen des Staatspräsidenten
Karolos Papoulias, der im Geleitwort - ebenfalls auf Griechisch
und Deutsch - unterstreicht: „Die moralische Schönheit
ist in den Märchen allmächtig.“
Horst Möller
|
|
|
Netzbrücke:
• Necati Merts Kolumne
• Mehr lesenswertes
Textmaterial
• Wider den Schwarzen Winter
• Porträt des Periodikums
|
|