XXVI. Jahrgang, Heft 144
Apr - Mai - Jun 2007/2

 
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Letzte Änderung:
20.04.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kultur - Atelier




   
 
 


Die Friedenstaube

Von Mevlüt Asar

Das Ruhrgebiet war sonnig in den September hineingekommen. Und Draußen herrscht heute auch so ein sommerliches Wetter mit einer erfrischenden Brise. ”Wahrscheinlich ist Gott auch auf der Seite des Friedens” denke ich und lächele. Denn heute gibt es in Bochum, das als Universitätsstadt bekannt ist, eine große Friedensdemo. Der Slogan der diesjährigen Veranstaltung, die aus einer Demo zu einem Fest werden soll, lautet: ”Tausend Künstler für Frieden”. Es ist eine riesige Fête, von Künstlern unterstützt, die in Deutschland mehr oder weniger bekannt sind, einheimischen oder ausländischen Musikern, Malern, Literaten, Theaterleuten oder Künstlern aus anderen Bereichen.

Bei diesem Wetter darf man so ein Fest nicht verpassen, denke ich und starte mein Auto. Einige Zeit später lande ich auf der Bundesstraße 1, die das Ruhrgebiet in ganzer Länge durchzieht. Das Wetter wird ständig wärmer. Ich öffne das Schiebedach des Wagens. Die Strahlung der Sonne sammelt sich in seinem Inneren. Dann stelle ich die Stimme von Liedersänger Ruhi Su lauter, die aus dem Kassettenrecorder ertönt. Etwa in einer halben Stunde werde ich in Bochum sein. Um die Nachrichten zur vollen Stunde hören zu können, schalte ich das Radio an. Auch in den Nachrichten wird von dem Fest gesprochen. Hunderttausend Teilnehmer werden angeblich erwartet. Entsprechend den Verkehrsmeldungen des Radios parke ich den Wagen in ziemlicher Entfernung von dem Fest-Gelände. Überall herrscht Menschengedränge, das Bild der Stadt hat sich verändert.

Ich geselle mich zu denen, die geradeswegs zum Festgelände marschieren. Je mehr wir uns dem Platz nähern, wo das Fest stattfinden soll, umso stärker nehmen die Fahnen, Spruchbänder und Stände zu. Die politische Vielfarbigkeit der Festteilnehmer beginnt sich zu zeigen. Ein Spektrum, das sich von kirchlichen Institutionen bis hin zu kommunistischen Organisationen erstreckt, hat das Fußballstadion, in dem die Künstler ihre Programme darbieten, ringsherum eingekreist. Aber eine ganz andere die Aufmerksamkeit fesselnde Tatsache ist, dass sich auch auf diesem Fest, das für den Frieden veranstaltet wird, die Eigenheit der kapitalistischen Wirtschaft zeigt: Sie verrät sich insbesondere beim ”Friedensmarkt”: Auf diesem Markt hat man nicht nur die Möglichkeit, ”Friedens”-Plakate und Buttons zu kaufen, sondern sogar Tee und Wein.

Ich bekomme Hunger. Ich gehe in die Gegend, woher die Grilldüfte kamen. Und ich ziehe mein Geld heraus und nehme meinen eeigenen Anteil am Frieden, indem ich Rippchen esse und Wein trinke. Da ich nun satt bin, beginne ich, meine Umgebung noch besser wahrzunehmen. Im Grunde sind es die Fremden, die dem Fest seine besondere Farbe und seinen besonderen Geschmack verliehen. Die Menschen dieser Welt, von Vietnam bis Chile, bieten ihre Sorgen, ihre Friedenswünsche, ihre Kämpfe den Deutschen dar, indem sie sie in Speisen, Getränke und Geschenkartikel verpackten, und wenn sie organisierter und radikaler waren, in Form von Broschüren und Aufrufen. Und noch eine Besonderheit der ausländischen Gruppen konnte besichtigt werden, nämlich dass Freunde und Feinde alle zugleich nebeneinander auftreten: Die Iraner betreiben ihre Verkaufsstände friedlich als Nachbarn mit den verfeindeten Irakern und die Palästinenser mit den Israeli. Die Menschen, die zu diesem Fest kommen, sind noch bunter gemischt als die teilnehmenden Organisationen: Hippies, Punks, Grüne, Leute der Mitte, Linke und Extremisten. Wen man auch suchte, nach welcher Farbe man auch fragt, alle sind sie da.

Das Fest war ursprünglich mit dem Ziel organisiert worden, einen Friedensaufruf namens ”Krefelder Appell” zu unterstützen, den eine Gruppe aus bekannten Wissenschaftlern, Künstlern, Gewerkschaftern, Politikern und anderen veröffentlicht hatte. Aber das Fest zerfasert mit der Freigebigkeit, welche die Sonne heute zeigt, die so gar keine Freundin des Ruhrgebietes ist, und verwandelte sich inzwischen in jeder Hinsicht in eine Fête, mit Musik, Alkohol, Essen, und Pärchen, die mitten in der Menge herumschmusen oder sich auf frei gebliebenen Rasenflächen liebkosen.

Zehntausende Menschen, mich eingeschlossen, versammelten sich hier für den Frieden. Aber, eingefangen von der Schönheit des Wetters und unseren Konsumneigungen, vergessen wir den Frieden und uns dem Vergnügen zugewandt, ”einen schönen Tag” zu erleben. Die Tatsache, dass zu gleicher Zeit mit dem Verlauf dieses Festes tausende Kinder an Hunger sterben, hunderte von Menschen im mittleren Osten und in südamerikanischen ”lokalen Kleinkriegen” ihr Leben verlieren und dass in Europa das Damoklesschwert der Atomraketen über uns schwebt, hatten wir vergessen. Die Arbeit, das ersehnte Ziel in unserer viel gelittenen Welt Frieden zu schaffen, überlassen wir dem Bild mit den tausenden weißer Tauben, die auf einen blauen Hintergrund gezeichnet waren.

Als es dunkel zu werden beginnt, beschließe ich, das Feld zu räumen. Unterwegs zum Parkplatz denke ich auf dem Rasen am Wegesrand eine echte weiße Taube gesehen zu haben. Diese Friedenstaube ist aber von zu vielem Fressen offenbar so aufgeplustert und verwirrt, dass sie zwar umhertrippelte, es aber auf keine Weise schaffte, abzuheben und zu fliegen. Ich laufe hinter ihr her, um ihr zu helfen. Aber die Taube schaut mich ganz unfreundlich an, als wolle sie sagen ”Lass mich in Ruhe”, und verschwindet in einem Gebüsch...


***


Heimlich

Von Martin Kirchhoff

Langsam nehme ich die Sonntagszeitung von meinen Oberschenkeln, wedle in der Luft herum, werfe sie dann zum Tisch. Knapp am Ziel vorbei segelt sie auf den Boden, auf dem sie zum blauen Teppich einen reizvollen Kontrast bildet, der mich gleich einnimmt und zum Aufstehen bewegt. Ziellos schaue ich mich um, denke, ich könnte mal wieder aufräumen, zum Weihnachtsfest, neu geordnet das alte Jahr verlassen. Schon stehe ich vor der Sonntagszeitung, bücke mich und lasse meine Finger in der Luft hängen mit der Frage im Kopf, warum ich den zufällig entstandenen Kontrast auflösen möchte? Also richte ich mich auf und gehe zum Fenster, das mir einen Ausblick auf den unentschlossen zwischen den Jahreszeiten stehenden Garten präsentiert. Verschwommen tauchen alte Szenen und Bilder auf, die sich vermischen, wieder verschwinden. Damals, denke ich, bemerke den roten Kater der Nachbarn, der über das brach liegende Beet schleicht, stehen bleibt, die Bäume inspiziert, weiter wandelt auf seiner Bahn, die er seit Jahren täglich durchstreift. Keine Gefahr für die Vögel, er ist alt, möchte nicht mehr klettern. Ob ich alt bin, überlege ich, lächle vor mich hin und weiß, auch ich möchte nicht mehr klettern. Die Karriereleiter ist morsch geworden. Da mal gearbeitet, anderswo, heute dort, wo ich wohl bleiben werde, zu alt zum Wechseln. Einfach bleiben und leben, Tag für Tag und froh sein, dass es so ist, wie es ist.

Der Kater ist aus dem Garten verschwunden, ich löse mich vom Fenster, lasse mich am Tisch nieder, auf dem Papiere liegen. Mit einem Ruck springe ich auf, gehe in die Küche, in der ich die Filtertüte in die Vorrichtung stecke, zwei Löffelchen Kaffeepulver reinschaufle, Wasser eingieße, den Knopf drücke, der rot aufleuchtet. Hella freute sich, wenn ich Kaffee machte. In der ersten Phase unserer Beziehung. Später wollte sie ihn nicht mehr, dann mich nicht mehr; so lebten wir noch vier Jahre nebeneinander her, bis wir uns endlich vor sieben Jahren trennten. Anschließend sammelte ich Freundinnen. Jede anders und doch gleich an sich. Ab und zu treffe ich mich mit einer, wir gehen spazieren, unterhalten uns, froh darüber, dass wir uns kennen. Mehr nicht. Das genügt. Lächelnd gieße ich den Kaffee in die Tasse, rühre um und kehre in die Stube zurück. Am Tisch nehme ich eines der Papiere zur Hand, auf dem die ersten Notizen der Geschichte “Ganz liternatürlich" stehen, die ich nie beendete. Alles ist in den Anfängen irgendwann stecken geblieben. Jede Geschichte, jede Handlung, jeder Plan und das Leben ist geflossen, zufällig, alles so, wie es wollte. Jede Veränderung birgt Gefahren in sich, glaube ich, weil es immer so war.

Löcher in die Luft starrend, zucke ich die Achseln, gedankenverloren in den Papieren kramend, die sich fast vergessen auf der Tischplatte ansammelten. Entwürfe anderer Welten. Rechnungen und Mahnungen. Plötzlich bleibt mir ein Foto an den Fingern haften, ich löse mich von den treibenden Gedanken, betrachte es. Im Hintergrund eine Hecke, darin ein fluchtbereites Rotkehlchen, davor ich, vor vier oder fünf Jahren, quietschvergnügt in einer gelben, knallengen Badehose. Das soll ich sein, schießt mir durch den Kopf. Damit, fällt mir ein, bewarb ich mich als Mann des Jahres der Großen Kreisstadt Lönberg. Kommentarlos wurde es nach Monaten zurückgeschickt. Anschließend zweifelte ich mal wieder an mir, zog mich zurück, müde geworden. Lustlos lasse ich das Foto fallen, greife in den Papierstapel, den ich hochwerfe und fasziniert beobachte, wie die Papiere bodenwärts schweben, hin zum blauen Teppich. Neue Kontraste entstehen. Mit der Kaffeetasse in der linken Hand springe ich auf, haste ich durch die Küche ins Badezimmer, in dem ich mich vor dem Spiegel aufstelle. Vor mir steht eine graue, knittrig verzagte, in sich zusammengesackte Gestalt, einer Mumie gleich, die mir zulächelt, mir winkt. Erschreckt trete ich einen kleinen Schritt zurück, halte inne und werfe den nächsten Blick auf den ungebetenen Gast, dem ich rasch ausweiche, bis ich auf den Rand der Dusche stoße, über den ich stolpere. Suchend greifen beide Hände um sich, krallen sich in den Vorhang, der aus der Fassung springt und sich über mich legt. Sehr langsam, vom Schrecken durchrennen, richte ich mich auf, schiebe den Stoff zur Seite, schon spüre ich die wallenden Schmerzen in meine Schulter und den Rücken stechen. Quälend langsam erhebe ich mich und schleiche in die Küche. Vorsichtig sehe ich mich um. Niemand da, selbst die Mumiengestalt nicht. Allein auf der ganzen Fläche, seit Jahren. Endlich gehe ich weiter, in den Flur, ziehe mir den hellen Mantel über, suche dann meine Straßenschuhe, die ich endlich in einem der Schränke finde. Zur Flucht bereit, ziehe ich mich in die Stube zurück, lasse mich am Tisch nieder. Zeit vergeht, insgeheim warte ich auf etwas, ein Klingeln, eine Stimme, eine Bewegung, atme ein und aus, schneller, immer schneller, dann röchelt ein dunkles Lachen aus mir in den Raum, ich schmettere meine Faust auf den Tisch und mache mich endlich ans Werk. Intuitiv verrücke ich die Stühle, stelle das Sofa mitten in den Raum, die Beine nach oben. Darauf platziere ich den Tisch, verteile die Stühle, die ich stelle oder lege, ohne zu überlegen. Nach Stunden bin ich einverstanden mit der Veränderung. “Klettern möchte ich nicht mehr", manifestiere ich laut, lege mich dann müde und zufrieden auf den Kühlschrank, der jetzt unter der Dusche liegt und fühle mich wohl in dieser, meiner neuen Welt, meinem ersten gelungenen Entwurf.

   

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