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Die Friedenstaube
Von Mevlüt Asar
Das Ruhrgebiet war sonnig in den September hineingekommen.
Und Draußen herrscht heute auch so ein sommerliches Wetter
mit einer erfrischenden Brise. ”Wahrscheinlich ist Gott auch
auf der Seite des Friedens” denke ich und lächele. Denn
heute gibt es in Bochum, das als Universitätsstadt bekannt
ist, eine große Friedensdemo. Der Slogan der diesjährigen
Veranstaltung, die aus einer Demo zu einem Fest werden soll, lautet:
”Tausend Künstler für Frieden”. Es ist eine
riesige Fête, von Künstlern unterstützt, die in
Deutschland mehr oder weniger bekannt sind, einheimischen oder ausländischen
Musikern, Malern, Literaten, Theaterleuten oder Künstlern aus
anderen Bereichen.
Bei diesem Wetter darf man so ein Fest nicht verpassen,
denke ich und starte mein Auto. Einige Zeit später lande ich
auf der Bundesstraße 1, die das Ruhrgebiet in ganzer Länge
durchzieht. Das Wetter wird ständig wärmer. Ich öffne
das Schiebedach des Wagens. Die Strahlung der Sonne sammelt sich
in seinem Inneren. Dann stelle ich die Stimme von Liedersänger
Ruhi Su lauter, die aus dem Kassettenrecorder ertönt. Etwa
in einer halben Stunde werde ich in Bochum sein. Um die Nachrichten
zur vollen Stunde hören zu können, schalte ich das Radio
an. Auch in den Nachrichten wird von dem Fest gesprochen. Hunderttausend
Teilnehmer werden angeblich erwartet. Entsprechend den Verkehrsmeldungen
des Radios parke ich den Wagen in ziemlicher Entfernung von dem
Fest-Gelände. Überall herrscht Menschengedränge,
das Bild der Stadt hat sich verändert.
Ich geselle mich zu denen, die geradeswegs zum Festgelände
marschieren. Je mehr wir uns dem Platz nähern, wo das Fest
stattfinden soll, umso stärker nehmen die Fahnen, Spruchbänder
und Stände zu. Die politische Vielfarbigkeit der Festteilnehmer
beginnt sich zu zeigen. Ein Spektrum, das sich von kirchlichen Institutionen
bis hin zu kommunistischen Organisationen erstreckt, hat das Fußballstadion,
in dem die Künstler ihre Programme darbieten, ringsherum eingekreist.
Aber eine ganz andere die Aufmerksamkeit fesselnde Tatsache ist,
dass sich auch auf diesem Fest, das für den Frieden veranstaltet
wird, die Eigenheit der kapitalistischen Wirtschaft zeigt: Sie verrät
sich insbesondere beim ”Friedensmarkt”: Auf diesem Markt
hat man nicht nur die Möglichkeit, ”Friedens”-Plakate
und Buttons zu kaufen, sondern sogar Tee und Wein.
Ich bekomme Hunger. Ich gehe in die Gegend, woher
die Grilldüfte kamen. Und ich ziehe mein Geld heraus und nehme
meinen eeigenen Anteil am Frieden, indem ich Rippchen esse und Wein
trinke. Da ich nun satt bin, beginne ich, meine Umgebung noch besser
wahrzunehmen. Im Grunde sind es die Fremden, die dem Fest seine
besondere Farbe und seinen besonderen Geschmack verliehen. Die Menschen
dieser Welt, von Vietnam bis Chile, bieten ihre Sorgen, ihre Friedenswünsche,
ihre Kämpfe den Deutschen dar, indem sie sie in Speisen, Getränke
und Geschenkartikel verpackten, und wenn sie organisierter und radikaler
waren, in Form von Broschüren und Aufrufen. Und noch eine Besonderheit
der ausländischen Gruppen konnte besichtigt werden, nämlich
dass Freunde und Feinde alle zugleich nebeneinander auftreten: Die
Iraner betreiben ihre Verkaufsstände friedlich als Nachbarn
mit den verfeindeten Irakern und die Palästinenser mit den
Israeli. Die Menschen, die zu diesem Fest kommen, sind noch bunter
gemischt als die teilnehmenden Organisationen: Hippies, Punks, Grüne,
Leute der Mitte, Linke und Extremisten. Wen man auch suchte, nach
welcher Farbe man auch fragt, alle sind sie da.
Das Fest war ursprünglich mit dem Ziel organisiert
worden, einen Friedensaufruf namens ”Krefelder Appell”
zu unterstützen, den eine Gruppe aus bekannten Wissenschaftlern,
Künstlern, Gewerkschaftern, Politikern und anderen veröffentlicht
hatte. Aber das Fest zerfasert mit der Freigebigkeit, welche die
Sonne heute zeigt, die so gar keine Freundin des Ruhrgebietes ist,
und verwandelte sich inzwischen in jeder Hinsicht in eine Fête,
mit Musik, Alkohol, Essen, und Pärchen, die mitten in der Menge
herumschmusen oder sich auf frei gebliebenen Rasenflächen liebkosen.
Zehntausende Menschen, mich eingeschlossen, versammelten
sich hier für den Frieden. Aber, eingefangen von der Schönheit
des Wetters und unseren Konsumneigungen, vergessen wir den Frieden
und uns dem Vergnügen zugewandt, ”einen schönen
Tag” zu erleben. Die Tatsache, dass zu gleicher Zeit mit dem
Verlauf dieses Festes tausende Kinder an Hunger sterben, hunderte
von Menschen im mittleren Osten und in südamerikanischen ”lokalen
Kleinkriegen” ihr Leben verlieren und dass in Europa das Damoklesschwert
der Atomraketen über uns schwebt, hatten wir vergessen. Die
Arbeit, das ersehnte Ziel in unserer viel gelittenen Welt Frieden
zu schaffen, überlassen wir dem Bild mit den tausenden weißer
Tauben, die auf einen blauen Hintergrund gezeichnet waren.
Als es dunkel zu werden beginnt, beschließe
ich, das Feld zu räumen. Unterwegs zum Parkplatz denke ich
auf dem Rasen am Wegesrand eine echte weiße Taube gesehen
zu haben. Diese Friedenstaube ist aber von zu vielem Fressen offenbar
so aufgeplustert und verwirrt, dass sie zwar umhertrippelte, es
aber auf keine Weise schaffte, abzuheben und zu fliegen. Ich laufe
hinter ihr her, um ihr zu helfen. Aber die Taube schaut mich ganz
unfreundlich an, als wolle sie sagen ”Lass mich in Ruhe”,
und verschwindet in einem Gebüsch...
***
Heimlich
Von Martin Kirchhoff
Langsam nehme ich die Sonntagszeitung von meinen Oberschenkeln,
wedle in der Luft herum, werfe sie dann zum Tisch. Knapp am Ziel
vorbei segelt sie auf den Boden, auf dem sie zum blauen Teppich
einen reizvollen Kontrast bildet, der mich gleich einnimmt und zum
Aufstehen bewegt. Ziellos schaue ich mich um, denke, ich könnte
mal wieder aufräumen, zum Weihnachtsfest, neu geordnet das
alte Jahr verlassen. Schon stehe ich vor der Sonntagszeitung, bücke
mich und lasse meine Finger in der Luft hängen mit der Frage
im Kopf, warum ich den zufällig entstandenen Kontrast auflösen
möchte? Also richte ich mich auf und gehe zum Fenster, das
mir einen Ausblick auf den unentschlossen zwischen den Jahreszeiten
stehenden Garten präsentiert. Verschwommen tauchen alte Szenen
und Bilder auf, die sich vermischen, wieder verschwinden. Damals,
denke ich, bemerke den roten Kater der Nachbarn, der über das
brach liegende Beet schleicht, stehen bleibt, die Bäume inspiziert,
weiter wandelt auf seiner Bahn, die er seit Jahren täglich
durchstreift. Keine Gefahr für die Vögel, er ist alt,
möchte nicht mehr klettern. Ob ich alt bin, überlege ich,
lächle vor mich hin und weiß, auch ich möchte nicht
mehr klettern. Die Karriereleiter ist morsch geworden. Da mal gearbeitet,
anderswo, heute dort, wo ich wohl bleiben werde, zu alt zum Wechseln.
Einfach bleiben und leben, Tag für Tag und froh sein, dass
es so ist, wie es ist.
Der Kater ist aus dem Garten verschwunden, ich löse
mich vom Fenster, lasse mich am Tisch nieder, auf dem Papiere liegen.
Mit einem Ruck springe ich auf, gehe in die Küche, in der ich
die Filtertüte in die Vorrichtung stecke, zwei Löffelchen
Kaffeepulver reinschaufle, Wasser eingieße, den Knopf drücke,
der rot aufleuchtet. Hella freute sich, wenn ich Kaffee machte.
In der ersten Phase unserer Beziehung. Später wollte sie ihn
nicht mehr, dann mich nicht mehr; so lebten wir noch vier Jahre
nebeneinander her, bis wir uns endlich vor sieben Jahren trennten.
Anschließend sammelte ich Freundinnen. Jede anders und doch
gleich an sich. Ab und zu treffe ich mich mit einer, wir gehen spazieren,
unterhalten uns, froh darüber, dass wir uns kennen. Mehr nicht.
Das genügt. Lächelnd gieße ich den Kaffee in die
Tasse, rühre um und kehre in die Stube zurück. Am Tisch
nehme ich eines der Papiere zur Hand, auf dem die ersten Notizen
der Geschichte “Ganz liternatürlich" stehen, die
ich nie beendete. Alles ist in den Anfängen irgendwann stecken
geblieben. Jede Geschichte, jede Handlung, jeder Plan und das Leben
ist geflossen, zufällig, alles so, wie es wollte. Jede Veränderung
birgt Gefahren in sich, glaube ich, weil es immer so war.
Löcher in die Luft starrend, zucke ich die Achseln,
gedankenverloren in den Papieren kramend, die sich fast vergessen
auf der Tischplatte ansammelten. Entwürfe anderer Welten. Rechnungen
und Mahnungen. Plötzlich bleibt mir ein Foto an den Fingern
haften, ich löse mich von den treibenden Gedanken, betrachte
es. Im Hintergrund eine Hecke, darin ein fluchtbereites Rotkehlchen,
davor ich, vor vier oder fünf Jahren, quietschvergnügt
in einer gelben, knallengen Badehose. Das soll ich sein, schießt
mir durch den Kopf. Damit, fällt mir ein, bewarb ich mich als
Mann des Jahres der Großen Kreisstadt Lönberg. Kommentarlos
wurde es nach Monaten zurückgeschickt. Anschließend zweifelte
ich mal wieder an mir, zog mich zurück, müde geworden.
Lustlos lasse ich das Foto fallen, greife in den Papierstapel, den
ich hochwerfe und fasziniert beobachte, wie die Papiere bodenwärts
schweben, hin zum blauen Teppich. Neue Kontraste entstehen. Mit
der Kaffeetasse in der linken Hand springe ich auf, haste ich durch
die Küche ins Badezimmer, in dem ich mich vor dem Spiegel aufstelle.
Vor mir steht eine graue, knittrig verzagte, in sich zusammengesackte
Gestalt, einer Mumie gleich, die mir zulächelt, mir winkt.
Erschreckt trete ich einen kleinen Schritt zurück, halte inne
und werfe den nächsten Blick auf den ungebetenen Gast, dem
ich rasch ausweiche, bis ich auf den Rand der Dusche stoße,
über den ich stolpere. Suchend greifen beide Hände um
sich, krallen sich in den Vorhang, der aus der Fassung springt und
sich über mich legt. Sehr langsam, vom Schrecken durchrennen,
richte ich mich auf, schiebe den Stoff zur Seite, schon spüre
ich die wallenden Schmerzen in meine Schulter und den Rücken
stechen. Quälend langsam erhebe ich mich und schleiche in die
Küche. Vorsichtig sehe ich mich um. Niemand da, selbst die
Mumiengestalt nicht. Allein auf der ganzen Fläche, seit Jahren.
Endlich gehe ich weiter, in den Flur, ziehe mir den hellen Mantel
über, suche dann meine Straßenschuhe, die ich endlich
in einem der Schränke finde. Zur Flucht bereit, ziehe ich mich
in die Stube zurück, lasse mich am Tisch nieder. Zeit vergeht,
insgeheim warte ich auf etwas, ein Klingeln, eine Stimme, eine Bewegung,
atme ein und aus, schneller, immer schneller, dann röchelt
ein dunkles Lachen aus mir in den Raum, ich schmettere meine Faust
auf den Tisch und mache mich endlich ans Werk. Intuitiv verrücke
ich die Stühle, stelle das Sofa mitten in den Raum, die Beine
nach oben. Darauf platziere ich den Tisch, verteile die Stühle,
die ich stelle oder lege, ohne zu überlegen. Nach Stunden bin
ich einverstanden mit der Veränderung. “Klettern möchte
ich nicht mehr", manifestiere ich laut, lege mich dann müde
und zufrieden auf den Kühlschrank, der jetzt unter der Dusche
liegt und fühle mich wohl in dieser, meiner neuen Welt, meinem
ersten gelungenen Entwurf.
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