XXVI. Jahrgang, Heft 144
Apr - Mai - Jun 2007/2

 
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Letzte Änderung:
20.04.2007

 
 

 

 
 

 

 

Medien - Kultur - Schau




   
 
 


Niki Eideneier (Hrsg.)
Die Sonnenblumen der Juden
Die Juden in der neugriechischen Literatur. Eine Anthologie. Romiosini Verlag, Köln 2006. 397 Seiten, 24,80 Euro

Damit das Vergangene nicht zum Vergessen werde

Dass durch die Ansiedelung von Vertriebenen das eigene Gemeinwesen voran zu bringen war, das stellte sich nicht erst heraus, nachdem beispielsweise 1685 Brandenburgs Großer Kurfürst Friedrich Wilhelm 15.000 Hugenotten aufgenommen hatte. Im Jahre 1492 war ihm Sultan Bayazid II. darin vorausgegangen, indem er der gleichen Zahl aus Spanien ausgewiesener Juden in Thessaloniki ein Bleiberecht gewährte. Konfliktfrei war deren Existenz allerdings zu keiner Zeit. Als jüdische Buchdrucker 1515 heimlich in Thessaloniki das erste Buch druckten, riskierten sie die Todesstrafe, die dafür dort noch bis 1727 gegolten hat. Dennoch erblühten in der Stadt am Nordostzipfel des Thermaïkos Kolpos Handel und Gewerbe, es entstand eine Großstadt, Kosmopolitismus war ihr Gütesiegel. Es blieb dann Eichmanns Mannen - in Saloniki hießen sie Dieter Wisliceny und Alois Brunner –vorbehalten, im Verein mit dem Kriegsverwaltungsrat Max Merten von 50.000 Juden, die um 1940 in der Stadt lebten (20% der Einwohnerschaft), nach dem 15. März 1943 innerhalb von drei Monaten 46.000 nach Auschwitz zu verbringen.

Mit Erinnerungen, Reflexionen, Erzählungen, Gedichten wird in dieser Anthologie aus griechischer Sicht jüdische Lebenserfahrung in einer Weise übermittelt, die durch ihre Wahrhaftigkeit beeindruckt. “Dort wird kein Schmerz mehr sein”, betitelt Nina Kokkalidou-Nachmia ihre Geschichte über eine deutsche Jüdin, die mit ihrem griechischen Mann auf dem Peloponnes in der Resistance kämpfte und fiel, und wo es am Schluss heißt, “dass dort weder Schmerz noch Klagegeschrei sein wird.” Und dass man dort trotz unendlicher Trostlosigkeit und Ausweglosigkeit dennoch nichts von Resignation erfährt, das zeichnet diese Texte insgesamt aus. Kimon Tzallas schildert, wie zwei Geschwister, Eliezer und Esther, die ihrem Schicksal in Polen entronnen sind, er als Erblindeter, in die ersehnte Heimatstadt zurückkommen und ihr elterliches Haus von Fremden, von den Kriegswirren Versprengten, besetzt vorfinden. An ihrer gleichmütigen Reaktion auf diesen Schock ist abzulesen, dass sie durchlitten haben, wie anderen ganz anderes widerfahren ist. Diese ganz anderen Dimensionen von Leiden derer, denen die Heimkehr versagt blieb, machen das Unaussprechliche und das in diesem Buch Unausgesprochene aus, das sich letztlich dem Vorstellungsvermögen entzieht. Von einer beängstigenden Form von Traumatisierung spricht Mimika Cranaki am Beispiel einer am Pariser Konservatorium Studierenden: “Ich litt schon immer an einer Überfunktion des Gedächtnisses, und das war mir zwar bei den sechsstimmigen Fugen sehr hilfreich, aber im Leben wurde es zu einer Tyrannei; über ganze Stunden hinweg nahmen unbedeutende Dinge übernatürliche Ausmaße an, es setzten sich bei mir alle möglichen verrückten, fixen Ideen im Kopf fest…” Und so wird es sehr begreifbar, dass diese Traumata fortwirkend Ängste auslösen. “Du hast ja sogar Angst vor deinem eigenen Schatten”, heißt es bei Nestoras Matsas. Wer bemüht ist, sich in diese Lebenserfahrung hinein zu denken, wird heutige Nöte sehr rasch auf ihre wirkliche Dimension herunter transponieren.

Was an diesem Buch noch auffällt: So unterschiedlich die Sichten seien mögen, in denen über die Lebensschicksale Verfolgter berichtet wird, es wird nirgendwo Hass geäußert. Dieser Affekt spielt in ganz anderem Zusammenhang eine Rolle bei Nikos Kazantzakis in einem Auszug aus seinem autobiographisch-poetischen Roman Rechenschaft vor el Greco. “Hass, Hass, Hass – das ist die erste Pflicht”, bricht es da aus einer Jüdin hervor, auf die der Erzähler im Berlin der Jahre nach dem 1. Weltkrieg trifft. Und weiter liest man da: “Itka führte mich in proletarische Viertel, schlüpfte in Keller; alle kannten sie. Sie zeigte mir hungernde Kinder, weinende Mütter, arbeitslose Männer…Ich wusste nicht, wie viel Schmerz es auf der Welt gibt, wie viel Hunger, wie viel Ungerechtigkeit. Noch nie hatte ich aus der Nähe das grauenhafte Antlitz der Not erblickt. Hier herrschen andere Gesetze. Der Hass dominiert. Die zehn Gebote sind verändert; Liebe Hass, Krieg, Ethik haben einen anderen Sinn.” Er erlebt Itka als den Dornbusch, der brennt, aber nicht verbrennt, er erlebt sie als eine Frau, die sich nicht um Schönheit kümmert und deren höchste Sehnsucht nicht der Freiheit gilt, sondern der Gerechtigkeit. Und er bekommt von ihr zu hören: “Schämst du dich nicht in deinem Wohlleben? Du hungerst nicht, frierst nicht im Winter, besitzt keine durchlöcherten Schuhe! Schämst du dich nicht, spazieren zu gehen und zu sagen: Schön ist die Welt, sie gefällt mir?”

In diesem Buch wird ein weiter Kreis ausgeschritten. Es handelt sich zum Glück hier nicht um ein abgeschlossenes Kapitel der griechischen Literatur.

Horst Möller


***


Stefan Luft
Abschied von Multikulti
Wege aus der Integrationskrise. Resch-Verlag, Gräfelfing 2006. 480 Seiten, 19,90 Euro

Wenn der Autor eines dicken Buches den "Abschied von Multikulti" kundtut und gleich auf die "Wege aus der Integrationskrise" hinweist, dann entfalten sich daraus die mentalen Mentoren-Momente: Die Republik hat mit seinen Fremden, also Spätankömmlingen reichhaltige Schwierigkeiten, die sie nicht überwinden kann. Von "ethnischen Kolonien" ist in diesem umfangreichen Buch immerfort die Rede als Invasoren und mancherorts von "Vorbildern für eine gelungene Integration." Wie ist dieses Gelaber des Gelungenen festzuhalten? Das fragen die vielen anderswo in den Seminaren. Doch der Autor illustriert ein Negativbild vom migratorischen Milieu mit allen Details und versteht unter dem "Abschied von Multikulti" den geraden Weg zum Assimilationsareal. Seine Fakten sind stark selektiv. Einen Ausweg aus der "Krise" ohne majoritär autoritären Zwang zeigt er nicht. Vielmehr verschiebt er die verantwortlichen Grundfragen auf die Objekte der Misere und verschreibt das Rezept: Bringschuld, die die eingewanderten Einwohner der Parallelgesellschaften zu leisten haben.

Der Klappentext gibt einen Hinweis darauf, daß der Band sich auf den Fährten des auf die selektive Assimilation gezielten Amtsschimmels befindet: "In vielen deutschen Städten haben sich seit Beginn der 1970er Jahre 'ethnische Kolonien' gebildet. Sie erwiesen sich zunehmend nicht als Durchgangsstation, sondern als Sackgasse. Was kann gegen die schulische und berufliche Perspektiviosigkeit großer Teile der Nachkommen der 'Gastarbeiter' unternommen werden? Was muss die deutsche Politik tun, damit nicht ganze Generationen an den Rand gedrängt werden, damit nicht die Gefahr von Gewaltexzessen wie in Frankreich droht? Wie kann die Entwicklung von 'ethnischen Kolonien' zu “Parallelgesellschaften" rückgängig gemacht oder verhindert werden? (...)

Integration muss als Aufgabe aller gesellschaftlichen Schichten verstanden werden. Wir dürfen sie nicht den sozial Schwächsten in den ethnischen Kolonien überlassen. Andererseits haben Zuwanderer und ihre Nachkommen die Pflicht, eigene Integrationsleistungen zu erbringen. Zuwanderung muss darüber hinaus wirkungsvoll gesteuert und begrenzt werden. Nicht zuletzt aufgrund der absehbaren demografischen Entwicklung gehört eine neue Integrationspolitik zu den unverzichtbaren Voraussetzungen für die Erhaltung des inneren Friedens in Deutschland.

Auch Stefan Luft, Jahrgang 1961, seit 2004 Politikwissenschaftler an der Universität Bremen, glaubt, erkannt zu haben, wo der Grundfehler der gegenwärtig kristallisierten "Krise" liegt:

"Die Anwerbung der 'Gastarbeiter' in großem Stil seit den 60er Jahren war eine folgenschwere Entscheidung, die - wie im Falle der Türkei - auch auf Druck der Entsendeländer zustande kam. (...)

Menschen, die sich dauerhaft in einem anderen Land niederlassen, suchen die Gemeinschaft mit Landsleuten. Das war und ist in Deutschland nicht anders als in Großbritannien, den USA oder den Niederlanden. Sind die daraus entstehenden ethnischen Kolonien lediglich Durchgangsstationen, sind sie ein durchlässiges System, besteht wenig Gefahr, dass sie sich im Laufe der Zeit verfestigen und zu einer Integrationsbarriere werden. (...)

In den ethnischen Kolonien in Deutschland vollziehen sich seit Jahrzehnten sozial selektive Wanderungen, die eine zunehmende Ballung sozial schwacher und ethnischer Gruppen zur Folge haben. Wer es sich leisten kann, verlässt den Stadtteil. Die sozial schwachen Einheimischen, die nicht in “bessere" Wohngegenden ziehen können, sehen sich mit einer zunehmenden Dominanz fremder Lebensweisen und kultureller Ausdruckformen konfrontiert, die das Gefühl des 'Fremdseins in der eigenen Heimat' entstehen lassen. (...)

Die deutsche Ausländerpolitik setzte lange Jahre auf die Bewahrung der “kulturellen Identität" der Zuwanderer. Sie stellte sich gegen eine Angleichung der Gastarbeiter und ihrer Nachkommen, die als Eindeutschung abgelehnt wurde. Lag bei den einen eine romantisierende Vorstellung der jeweiligen Herkunftsidentitäten vor (die die Kulturwissenschaft als Exotismus kennt), hatten die anderen die Rückkehrfähigkeit als Motiv, die sie erhalten sehen wollten."

Natürlich enthält auch diese Publikation ein paar fachgemäße Fakten, und die berufstüchtigen Tüftlergenies der Integrationszunft präsentieren ein paar frisch gebackene nützliche Erkenntnisse.

Doch die Analysen sind anachronistisch, bewegen sich zum Teil zwischen staats- bzw. strukturkonfromen Kontinuitäten und gutmenschelnden Grundstufenstudiengängen.

"Der demokratische Rechtsstaat muss sich nicht aufgeben, wenn er wirkungsvoll gegen die Parallelgesellschaften, die damit verbundenen Verletzungen der Menschenwürde, die kriminellen Strukturen und die hohen sozialen Kosten vorgehen will. Es gibt keinen Grund zu Resignation oder gar zur Kapitulation. Der Auseinandersetzung um die Regeln des Zusammenlebens kann allerdings nicht ausgewichen werden."

Wirft man einen Blick auf die lange Literaturliste im Anhang, gewinnt man den Eindruck, daß es sich beim vorliegenden Buch um eine mentale Melange aus bereits berufsmäßig Berichtetem dreht. Kritische Beobachter des Migrations- und Integrationsgeschehens lassen sich schmerzlich vermissen.

Necati Mert

   

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