XXVI. Jahrgang, Heft 144
Apr - Mai - Jun 2007/2

 
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Letzte Änderung:
20.04.2007

 
 

 

 
 

 

 

Kosmopolitane Menschenwelten

Wie lebenswert ist die virtuelle Gesellschaft?
Das Ende der Gemütlichkeit
Von Heleno Saña

   
 
 


Festzustellen, inwieweit die virtuelle Gesellschaft lobenswert ist, ist eine schöne, aber auch eine schwierige Aufgabe. Eines aber scheint zumindest klar: mit Fachwissen allein kommen wir nicht weiter, deshalb die Notwendigkeit eines kommunikativen Verhaltens auf allen Gebieten, also nicht nur Interaktion im Bereich des Konsums bzw. des Verhältnisses Mensch-Computer. Der Mensch ist nicht nur Verbraucher, genauso wenig wie er komo oeconomicus ist; ja er vermag beides nur zu sein, weil er primär Gesellschaftmensch ist, homo soziale. Entsprechend wird sein Verhalten als Konsument letztendlich von den Werten bestimmt, die in der Gesellschaft als ganzer walten, auch und gerade in der pluralistfschen Gesellschaft. Die virtuellen Möglichkeiten des Einzelnen als Konsument hängen kausal mit seiner Entwicklung als Mensch zusammen, was wiederum durch die Gesamtentwicklung der Gesellschaft bedingt wird. Was vordergründig als strikte "Privacy" erscheint - der Prozeß des Konsumierens -, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein eminent gesellschaftlicher Vorgang. Daher ist interaktives Verhalten nicht als ein mikroskopischer und solipsisäscher Akt zu verstehen, sondern vielmehr als Kommunikation in makroskopischem Sinn, als permanenter interpersonaler und gesamtgesellschaftlicher Austausch von Erfahrungen, Meinungen und Desiderata. Interaktive Praxis ist freilich alles andere als ein kulturgeschichtliches Novum; sie ist vielmehr eine semanäsche Variante bzw. Fortentwicklung dessen, was schon Sokrates, Platon und überhaupt die alten Griechen als den adäquaten Weg zur Wahrheitsfindüng kannten: das dialogische bzw. dialektische Denken. Indem wir also versuchen, diesen alten Grundsatz in unserer durchtechnisierten und informationalisierten Welt anzuwenden, tun wir nichts anderes, als zu den Wurzeln unserer Kultur und Zivilisation zurückzukehren. Und ich meine, daß es Zeit dazu war.

Es geht tatsächlich darum, die Unmittelbarkeit des fachlichen Wissens zu transzendieren und dem Gesamtzusammenhang auf die Spur zu kommen, der zwischen seinen verschiedenen Sparten besteht. Ohne einen allumfassenden Überblick über das, was in der Welt vorgeht - nicht nur in der Welt der Wirtschaft, der Wissenschaft, der Telekommunikation oder der Technik -, laufen wir Gefahr, den Ariadnefaden zu verlieren und uns in einem neuen Labyrinth zu verstricken, diesmal nicht mythologischer, sondern technologischer Natur. Ich berufe mich hierbei auf Platon, der, wie Sie wissen, den Erkenntnisprozeß vom Blickfeld abhängig macht, das dem Subjekt zur Verfügung steht. Ähnlich verfuhr Hegel, als er in seinem Werk "Die Phänomenologie des Geistes" unmißverständlich bewies, daß die Wahrheit das Ganze ist, und nicht ihre jeweiligen, vereinzelten Segmente. Aber schon Kant, sich gegen den englischen Empirismus wendend, hatte mit seinen transzendentalen Synthesen a priori klargestellt, daß ohne die Tätigkeit der ordnenden Vernunft die reale Erscheinungswelt eine zusammenhanglose Sammlung von membra disiecta bleibt. Ich glaube, daß viele der Probleme und Aporien, mit denen wir in zunehmendem Ausmaß ringen müssen, daher rühren, daß wir in den letzten Jahrhunderten - die die Jahrhunderte der Moderne sind - uns mehr nach der Atomistik Demokrits und Leukipps als nach dem dem totalisierenden Denken Platons und seiner Schüler gerichtet haben. Die Tatsache, daß man in letzter Zeit immer öfter von globalem Denken spricht, läßt erkennen, daß wir langsam begreifen, wie bitter nötig wir es haben, weg vom reinen Spezialistentum zu kommen. Nicht nur die Vereinzelung des Fachwissens stellt eine große Gefahr dar, sondern auch seine zunehmende Anonymisierung und die sich aus ihr ergebende Unkontrollierbarkeit. Gerade das virtuelle Zeitalter mit seinen schier unbegrenzten imaginären, simulatorischen, spekulativen, spielerischen, illusorischen und kombinatorischen Optionen ist besonders auf Transparenz und Kalkulierbarkeit angewiesen, nicht nur bei den Biowissenschaften oder den Vernichtungswaffen. Sonst könnten wir Opfer einer neuen folgenschweren, früher unvorstellbaren Unübersichtlichkeit werden.

Die entscheidende Frage, die Frage aller Fragen ist für mich die: Welches soll die Richtschnur eines Denkens und einer Praxis sein, die sich nicht damit begnügen, partielle Wirklichkeitsfelder zu berücksichtigen, und bemüht sind, Lösungen allgemeingültigen Charakters zu finden? Die Antwort liegt auf der Hand: Richtschnur eines solchen Vorhabens ist der konkrete Mensch mit seinen konkreten Bedürfnissen, Sehnsüchten und Träumen. Die Selbstverwirklichung des Einzelnen kann nicht auf den Genuß materieller Werte reduziert werden und schließt die Befriedigung immaterieller Werte ein. Wie man beides in Einklang bringen könnte, ist gerade die Aufgabe, die ich mir hier gestellt habe.

Es besteht auch kaum ein Zweifel darüber, daß die Zukunft der virtuellen Gesellschaft des Westens langfristig von der Gesamtentwicklung der Welt nicht abgekoppelt werden kann. Ich sage auch nichts Neues, wenn ich unterstreiche, wie prekär der Zustand der Welt als Ganzes in praktisch allen wesentlichen Bereichen geworden ist. Wohin man schaut, stößt man tatsächlich auf ein immer dramatischer werdendes Pandämonium ungelöster Probleme, irrationaler Erscheinungen, Auflösungssymptome und Dysfunktionalitäten aller Art. Und das Alarmierende ist, daß wir trotz der ständigen Vervollkommnung unseres Wissens zunehmend Schwierigkeiten haben, tragfähige, weltumfassende Alternativen auszuarbeiten. Daher die herrschende Verunsicherung des Einzelnen, die Panik- und Endzeitstimmung, die zunehmend den Menschen ergreift. Das stolze westliche Zivilisationsmodell ist in eine tiefe Identitätskrise geraten, steht im Grunde mit dem Rücken zur Wand. Überhaupt wird das "Projekt Menschheit", das das Anliegen aller bisherigen humanistischen und aufklärerischen Kräfte war und weiterhin ist, immer unglaubwürdiger, läuft Gefahr, in die Brüche zu gehen. Denn während wir über die Entfaltungsmöglichkeiten der virtuellen Gesellschaft leicht ins Schwärmen geraten, herrschen in weiten Teilen der Erde verheerende Verhältnisse. Ich will nicht mit Horrorstatistiken kommen und beschränke mich auf den Hinweis, daß heute mehr als eine Milliarde Menschen mit weniger als ein Dollar Einkommem am Tag auskommen müssen.

Die Kommunikationsgesellschaft hat zwar die überkommenen Vorstellungen von Raum und Zeit überwunden, aber wir müssen zugleich zugeben, daß der geopolitische Raum, in dem Freiheit, Recht, materieller Wohlstand und andere unverzichtbare Werte grundsätzlich gesichert sind, im Weltmaßstab immer kleiner wird, während Gewalt, Unfreiheit, Krieg und Elend sich immer rapider verbreiten. Unbestreitbar ist, daß trotz der ökonomischen, technischen, wissenschaftlichen, finanziellen und militärischen Dominanz der Ersten Welt, sich die Konflikt- und Selbstzerstörungsdynamik in den ärmeren Regionen des Globus zunehmend verselbständigt, und in dies in einem solchen Ausmaß, daß wir Abendländer immer mehr zu bloßen "Voyeuren" der sich außerhalb unseres eigenen Lebensbereichs abspielenden Infernos werden. Geläufige und ritualisierte Stichworte wie Weltgesellschaft oder globales Dorf, die wie echte Münzen durch die Medien kreisen, verlieren immer mehr ihren Sinn und entpuppen sich bei genauerem Hinschauen als realitätsfremde und obsolete Sprachfloskeln. Die Menschheit ist tief entzweit und durch Abgründe getrennt, wie die 45 Kriege belegen, die in diesem Augenblick weltweit toben. Und nicht weniger bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß rund 70 Prozent des Weltaußenhandels innerhalb der entwickelten Industrienationen stattfinden. Auf Grund der Marginalisierung der Dritten Welt kehrt in viele Regionen der Erde die Wildnis zurück, aber nicht in ihren ursprünglichen Naturzustand, sondern in Gestalt von Chaos, Anarchie, Tod und Unregierbarkeit, wie der französische Mediziner und Dritte-Welt-Experte Jean-Christopher Rufin in seinem hellsichtigen Buch "L'empire et les nouveaux barbares" in bezug auf den Süden des Planeten hervorgehoben hat.

Die von den westlichen Staatsmännern im Zusammenhang mit dem Untergang des osteuropäischen Kommunismus verkündete Neue Weltordnung besitzt heute nur noch musealen Wert. Und dasselbe gilt für die von dem US-Politologen Francis Fukujama aufgestellte These, daß der angeblich weltweite Triumphmarsch des liberal-demokratischen Wertesystems des Westens dem Ende der Geschichte gleichkomme. Zu erwarten ist eher der Beginn eines neuen weltgeschichtlichen Zyklus von allgemeiner Regression und Destruktion, oder gar - wie der US-amerikanische Theoretiker Samuel P. Huntington fürchtet - ein "clash of civilizations". Angesichts der besorgniserregenden Weltverhältnisse ist jede Apologetik fehl am Platze, und gerade die virtuelle Gesellschaft wäre gut beraten, anstatt sich von überzogenen Illusionen über die technische Wunderwelt der Zukunft berauschen zu lassen, sich auf die Probleme zu besinnen, die sie bisher nicht gelöst hat, aber auch an die, die noch auf sie zukommen werden. Denn selbst in den Ländern, die sich brüsten, an der Spitze des Fortschritts zu stehen - also in den am weitesten virtualisierten Ländern - herrschen teilweise Verhältnisse, die das gerade Gegenteil von ermutigend sind.

Die westlichen Metropolen, einst Mittelpunkte von Kultur, Urbanität und Geselligkeit, werden zunehmend von Straßengewalt, Kriminalität, terroristischen Anschlägen, ethnischen Konflikten, Aids, Drogensucht, moralischer Verwahrlosung und allgemeinem Werteverfäll heimgesucht. Aber auch die sozialökonomische Lage läßt viel zu wünschen übrig. Die technologische Revolution der postindustriellen und multimedialen Gesellschaft führt zu einem ständigen und unaufhaltsamen Abbau von Arbeitsplätzen. Vollbeschäftigung und spektakuläre Wachtumsraten gehören mittlerweile zur goldenen Vergangenheit des Hochkapitalismus Keynesscher Prägung. Arbeitslosigkeit ist zu einer chronischen Erscheinung der Ersten Welt geworden und mit ihr auch neue Armut, Obdachlosigkeit und soziale Ausgrenzung, von den psychischen Auswirkungen dieser Entwicklung ganz zu schweigen. Auch diese und andere negative Erscheinungen sind Bestandteil der virtuellen Gesellschaft geworden. So viel erscheint klar zu sein: gemütlichen Zeiten gehen wir nicht entgegen. Die Hoffnung Hermann Brochs, daß nach dem Zweiten Weltkrieg sich die Demokratien zu einer starken "Humanität" entwickeln würden, hat sich im wesentlichen nicht erfüllt. Schon Anfang der siebzigerJahre stellte der französische Politologe Maurice Duverger in seinem Werk "Les deux faces de l'Occident" fest: "Der ungeheure materielle Erfolg des westlichen Systems ist von einem richtiggehenden Scheitern in menschlicher Hinsicht begleitet". Wer will dieser Aussage widersprechen?

Warum diese zumindest teilweise eingetretene Fehlentwicklung? Sehr einfach: weil wir die Niederlage des Faschismus nicht ausreichend benutzt haben, um einen wahrhaften kulturgeschichtlichen Neubeginn zu wagen. Aus der Perspektive der Zeit müssen wir - vor allem wir Adendländer - tatsächlich zugeben, daß wir die schöpferischen Chancen, die uns in den letzten fünfzig Jahren zur Verfügung standen, um die Daseinsbedingungen der Einzelnen und der Völker substantiell zu humanisieren, straflich verspielt haben. Und ich schließe dabei auch die Technik nicht.aus, das ureigenste Paradepferd der Moderne.

Seit dem Entstehen der Neuzeit hat man unzählige verheißungsvolle Stellungsnahmen und Prophezeiungen über die emanzipatorischen und eudämonischen Virtualitäten des wissenschaftlichen, technischen und produktiven Fortschritts gehört, nicht nur aus dem Munde von bürgerlichen Ideologen wie Turgot oder Condorcet. Auch und gerade Fourier, Saint-Simon, Marx und andere Klassiker und Stifter des Sozialismus konzipierten ihre gesellschaftspolitischen Utopien in kausalem Zusammenhang mit den Erwartungen, die sie auf die Entwicklung der Wissenschaft und der Technik setzten, wie zuletzt auch Herbert Marcuse und sein Traum von einer neuen Technologie als Grundlage der nicht repressiven Gesellschaft. Diese Bejahung des technischen Fortschritts kann nicht überraschen, denn sie erfaßt genau das eigentliche Wesen der Moderne, das vor allem auf Technik beruht. Die Technik ist auch das, was unsere Zivilisation von der Vorindustriellen Gesellschaft unterscheidet. Sie stellt auch die entscheidende Mutation in der Weltgeschichte dar.

Im Zuge dieser Tagung haben wir Gelegenheit gehabt, auf die beeindruckendste Weise zu erfahren, welche Entfaltungs- und Gestaltungspotentialen in der virtuellen Phantasie stecken, und zwar auf so unterschiedlichen Gebieten wie Medizin, Ökologie, Lebens- und Arbeitsqualität, Freizeitgestaltung, Marketingstrategien, Konsumkultur, Tourismus, Mobilität, Design, Schönheit und andere, die ich im einzelnen nicht zu erwähnen brauche. Es ist keineswegs meine Absicht, die Realisierbarkeit der virtuellen Welt, die hier gezeichnet wurde, in Frage zu stellen, ebenso wenig wie den ihr zu Grunde liegenden Glauben an die Technik. Aber ich kann andererseits nicht umhin, daran zu erinnern, daß es von ganz früh an auch Stimmen gab - gewichtige sogar -, die vor den Folgen der modernen Technik eindringlich warnten. Selbst eine Leitgestalt der Aufklärung wie Rousseau vertrat in seinem "Discours sur les sciences et les arts" die Ansicht, daß der technische Fortschritt zu einer Deformation der Persönlichkeitsstruktur des Menschen führe. In diesem Kontext entwarf er als erster eine Theorie der modernen Selbstentfremdung, auch wenn dieser Begriff erst durch Hegel und Marx geläufig wurde. Auch Carlyle geißelte leidenschaftlich die Entwicklung des industriellen Zeitalters, das er verachtungsvoll als "mechanical age" bezeichnete. Selbst Goethe blickte mit Sorge auf den Eintritt der Technik in die Geschichte, wie er in seinem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre" schrieb: "Das überhandnehmende Maschinenwesen quält und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter". Und diese warnenden Stimmen sind keineswegs verstummt, sie werden eher immer lauter. So geht der Philosoph und Medientheoretiker Paul Virilio so weit, daß er behauptet, die Herrschaft der Technik könne zu einem neuen Totalitarismus entarten, der schlimmer sein werde, als der Totalitarismus herkömmlicher Art, was im übrigen schon Orwell in seiner Zukunftvision "1984" an die Wand malte. Nun, wer hat Recht, die Apologeten der Technik oder ihre Widersacher?

Ich würde sagen: beide. Oder ex negative ausgedrückt: Verherrlichung der Technik ist genauso ungerechtfertigt wie prinzipielle Technikverteufelung. Wahr ist, daß sich die technische Entwicklung als ein Januskopf erwiesen hat. Denn während sie einerseits unser persönliches und das gesellschaftliche Leben enorm potenziert, bereichert und komfortabler gemacht hat, hat sie uns mit Problemen und Sachzwängen konfrontiert, die den Vormodernen Menschen erspart blieben. Trotz der kontradiktorischen und dualen Struktur der Technik meine ich aber, daß sie insgesamt einen unschätzbaren Beitrag zur Emanzipation des Menschen geleistet hat. Und ich vergesse dabei nicht, in welchem Ausmaß sie bisher mißbraucht wurde, auch nicht, daß sie jederzeit für bellizistische Zwecke eingesetzt werden kann. Die Instrumentalisierung und Manipulierung der Technik für verwerfliche Zwecke ist gewiß ein Damoklesschwert, das permanent über unseren Köpfen schwebt. Aber wir dürfen auch nicht aus den Augen verlieren, daß die antiken Zivilisationen und das Mittelalter zu Grunde gingen, weil sie nicht fähig waren, die technische Welt zustande zu bringen, die erst die Moderne in die Wege leitete. Es gibt keinen Grund, die technische Welt der Moderne wie eine neue Göttin kritiklos anzubeten, aber noch weniger Grund, der prämodemen Welt nachzutrauern. Und was entscheidender ist: Wir können die Probleme, die die Technik verursacht, nicht mehr ohne die Technik lösen.

Die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen, ist keineswegs die Technik an sich, sondern die Art und Weise, wie wir mit ihr umgehen, und dies ist an erster Stelle ein ethisches Problem. Was hat Ethik mit Technik, Produktion, Konsum, Marketing, Warenabsatz oder Marktanteilen zu tun, werden sich vielleicht manche von Ihnen fragen? In tieferem Sinn alles. Bedenken wir, daß das, was wir Moderne oder bürgerliche Gesellschaft nennen, ohne den ethischen Ansatz, der in ihr steckt, undenkbar wäre. Die abendländische Zivilisation ist nicht nur ein wertneutraler Prozeß von Wissenschaft, Technik und Produktion gewesen, sondern zugleich die Frucht von so immateriellen Dingen wie Freiheitsliebe, Rationalismus oder Demokratie. So viel steht für mich fest: ohne einen ethischen Grundkonsens kann sich keine gesellschaftliche Totalität fruchtbar und sinnvoll entfalten. Und nicht zuletzt darin liegt die Achillesferse der Moderne, daß sie ihren Schaffensdrang vorwiegend auf die Herstellung materieller Werte konzentriert und die geistigen, moralischen, kulturellen und humanen Werte eher als einen sekundären Faktor betrachtet hat. Die Krise unserer Zeit ist meines Erachtens an erster Stelle das Ergebnis einer tiefgreifenden moralischen Krise. Die auf Platon und Aristoteles zurückgehende Lehre, wonach ohne ein ethisches Verhalten des Einzelnen kein Gemeinwesen funktionsfähig ist, gilt heute genauso wie damals. Wo diese Nomos unbeachtet bleibt oder mit Füßen getreten wird, wie es heute überall geschieht, endet der Mensch als Schiffbrüchiger.

Wir haben eine immer besser funktionierende Technik, aber zugleich eine immer schlechter funktionierende Gesellschaft. Die mit den raffiniertesten informationstechnischen Einrichtungen ausgestatteten Massenmedien liefern der Gesellschaft ein nie dagewesenes Nachrichtenspektrum, aber dessen ungeachtet wachsen Orientierungslosigkeit und Verunsicherung. Zurecht wird heute die Information neben der Materie und der Energie als eine dritte Grundgröße angesehen. Entsprechend wird unser Bewußtsein vom medial-elektronischen ÜberIch zunehmend geprägt. Das Wort Information kommt aus dem lateinischen informare und bedeutet bilden, belehren, unterrichten. Aber was heute die elektronischen Medien anbieten, besteht größtenteils aus Schund und Kitsch, "sex and crime" und banaler Unterhaltung. Die Programme werden nicht auf Grund ihres moralischen oder humanen Wertgehalts ausgewählt, ausschlaggebend ist die Einschaltquote, ergo der Absatz- und Marktwert Die audiovisuellen Medien könnten eine eminent aufklärerische Aufgabe übernehmen, und teilweise erfüllen sie auch, aber sie entwickeln sich immer mehr zum Totengräber der Kultur. Was wäre zu tun, um aus diesem Teufelskreis herauszukommen? Eines können wir uns auf jeden Fall nicht leisten: den technischen Fortschritt entweder aufzuhalten oder abzuschaffen, schon deshalb nicht, weil viele der Probleme, mit denen wir ringen, eben nur durch die Weiterentwicklung unseres technischen Potentials zu bewältigen sind.

Aber eines können wir doch versuchen: unsere sich ständig vermehrende technischen Kenntnisse in die Dienste humaner Ziele zu stellen und dadurch der Technik den emanzipatorischen Sinn zurückzugeben, den sie ursprünglich hatte und noch weiterhin hat. Die Technik wird der emanzipatorischen Aufgabe, die ihr zukommt, nur gewachsen sein, wenn man das ganze Wertesytem, in das sie jetzt eingebettet ist, von Grund auf verändert. Ich will hier noch ein paar Gedanken über diesen von mir angeregten Bewußtseins- und Wertewandel riskieren.

Die Gesellschaft besteht heute aus freien Individuen, gewiß, aber sie bleiben in der Regel voneinander isoliert und bilden im Grunde kein geschlossenes und kohärentes Ganzes, sondern eine diffuse Masse. Die moderne Zivilisation hat unseren Ich-Trieb ungemein gefördert und damit die Menschen weitgehend entsozialisert und entsolidarisiert. Deshalb ist das gegenwärtige Individuum einsamer als je zuvor, gerade in unserer westlichen "open society". Die Freiheit des Einzelnen wird zunehmend solipsistischer, läuft vorwiegend ohne Bezug auf die Mitmenschen ab. Nicht von ungefähr hat der französische Philosoph Paul Ricoeur unsere Zeit als eine "Welt ohne Nächsten" bezeichnet. Es leuchtet ein, daß der herrschende Zustand von allgemeiner Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit nur durch die Wiederherstellung bzw. Vertiefung des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen Dialogs aufgehoben werden kann. Das Miteinanderreden soll wieder und mehr als je der Mittelpunkt menschlicher Praxis werden, denn keine Datenautobahnen, keine TV-Wunderkisten, keine Satelliten-Systeme und keine Online-Dienste können uns für den Verlust der vox humana entschädigen. Wir können nicht über die virtuelle Gesellschaft Mutmaßungen anstellen, ohne uns klar zu werden, daB der einzelne Mensch sein virtuelles Menschsein nur in ständiger Wechselwirkung mit seinen Mitmenschen verwirklichen kann.

Was ich unter dem Begriff virtuelle Gesellschaft verstehe, ist die Herbeiführung eines Gesellschaftszustandes, in dem die berechtigte Sehnsucht nach persönlicher Erfüllung nicht mit der Selbstverwirklichung unserer Mitmenschen kollidiert, sondern vielmehr harmoniert. Menschsein ist mehr, als technische Geräte zu erfinden und zu bedienen, mehr als Profitgier und mehr als Machtstreben. Es ist vor allem der Versuch, aus unserem Dasein etwas Sinnvolles, Erhabenes und Schönes zu machen. Aber um dies in die Praxis umzusetzen, brauchen wir eine zweite Aufklärung, und dieses Ziel wird nur zu verwirklichen sein, wenn wir der überall waltenden instrumentellen Vernunft den Krieg erklären und an ihre Stelle die humane Vernunft setzen. Oder, wie Andre Gide in seinen "Nourritures terrestres" empfahl: "Assumer le plus possible d'humanite".

Die systematische Züchtung unserer Ich-Bezogenheit hat unsere Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit abgestumpft und uns daran gewöhnt, nur an uns selbst zu denken. Deshalb ist der gesellschaftliche Raum von Individuen besetzt, die nur ein unverbindliches Nebeneinander mit ihren Nächsten unterhalten, kein Mit- und Füreinander. Es gilt, den Menschen aus seiner heutigen Vereinsamung herauszureißen und eine neue religio in ihrem ursprünglichen Sinn von religare (zusammenbündeln) herbeizuführen. Das heißt: Mitverantwortung, Anteilnahme, Nähe. Oder wie Henry David Thoreau meinte: "To cooperate means to put our lives together" (Waiden).

Jeder Übergang zu einer höheren gesellschaftlichen und geschichtlichen Entwicklungsstufe setzt auch ein höheres ethisches, geistiges und humanes Niveau voraus. Auch die virtuelle Gesellschaft kann sich diesem ewigen Gesetz nicht entziehen. Ein virtueller Gesellschaftsentwurf, der nur aus Technik, Entertainment, Genußsucht oder Spieltrieb bestehen sollte, ist für mich eine contradictio in subiecto. Das westliche System hat einen unverzeihlichen Fehler begangen: davon auszugehen, daß man mit materiellem Wohlstand allein auch eine sinnvolle und glückliche Gesellschaft aufbauen könne. Der heute herrschende Mammonkult mag vielleicht die Menschen vorübergehend berauschen und ihnen sogar das Gefühl geben, daß es kein besseres Modell der Erfüllung gibt. Aber auf lange Sicht muß ein solches Wertesystem an seiner eigenen Sinnlosigkeit zu Grunde gehen. Über eines sollte man sich nicht täuschen: Eine Gesellschaft, die, aus welchen Gründen auch immer, versucht, ohne geistige Tiefe, ohne ethisches Empfinden, ohne humane Sensibilität und andere edle Werte und Verhaltensweisen auszukommen, ist zum Scheitern verurteilt.

Zum Schluß möchte ich eine Frage stellen, und die lautet: Gibt es für den heutigen Menschen die Möglichkeit, durch den Einsatz für ein sinnvolles und gemeinnütziges Anliegen seinem Leben einen neuen, tieferen Sinn zu geben? Meine Antwort: Als genügend freies und mit Vernunft und Willen ausgestattetes Wesen ist der Mensch durchaus in der Lage, diese Bewährungsprobe zu bestehen, allerdings nur, wenn er den Mut und die schöpferische Kraft aufbringt, sich von alten und längst gescheiterten Denk- und Verhaltensmustem abzusetzen und phantasie- und anspruchsvollere Formen der Selbstverwircklichung zustande zu bringen.

Und diese Umwertung aller Werte muß bei jedem Einzelnen ihren Anfang nehmen, kann von keinen Verwaltungsapparaten, Machtgebilden oder sonstigen Makrostrukturen diktiert werden. Wissenschaft, Technik, Produktion und Konsumfülle reichen nicht aus, um das Leben der virtuellen Gesellschaft lobenswert zu machen. Das ist zu wenig und zu flach, hat bisher zu einer Destruktion anderer, sinnvollerer Werte und Daseinsmodi geführt und einen tiefgreifenden Entfremdungsprozeß in Gang gesetzt. Der Mensch muß wieder lernen, höher zu blicken, tiefer zu denken und humaner zu fühlen, damit das Virtuelle, das in seinem Menschsein liegt, zur vollen Entfaltung kommt und die Heraufkunft einer solidarischen, berechenbaren und menschwenwürdigen Weltordnung ermöglicht. Das Ziel einer wahren virtuellen Gesellschaft kann nur darin bestehen, das bisher nie verwirklichte Reich des Humanen endlich zu verwirklichen. Das ist die Aufgabe, die auf uns alle wartet.

Aus:
Heleno Saña
Würde und Widerstand
Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt Essays/ Vorträge, Kontroversen
PapyRossa Verlag, Köln 2007. 232 Seiten 18,– Euro

   

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