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Festzustellen, inwieweit die virtuelle Gesellschaft lobenswert ist,
ist eine schöne, aber auch eine schwierige Aufgabe. Eines aber
scheint zumindest klar: mit Fachwissen allein kommen wir nicht weiter,
deshalb die Notwendigkeit eines kommunikativen Verhaltens auf allen
Gebieten, also nicht nur Interaktion im Bereich des Konsums bzw.
des Verhältnisses Mensch-Computer. Der Mensch ist nicht nur
Verbraucher, genauso wenig wie er komo oeconomicus ist; ja er vermag
beides nur zu sein, weil er primär Gesellschaftmensch ist,
homo soziale. Entsprechend wird sein Verhalten als Konsument letztendlich
von den Werten bestimmt, die in der Gesellschaft als ganzer walten,
auch und gerade in der pluralistfschen Gesellschaft. Die virtuellen
Möglichkeiten des Einzelnen als Konsument hängen kausal
mit seiner Entwicklung als Mensch zusammen, was wiederum durch die
Gesamtentwicklung der Gesellschaft bedingt wird. Was vordergründig
als strikte "Privacy" erscheint - der Prozeß des
Konsumierens -, erweist sich bei genauerem Hinsehen als ein eminent
gesellschaftlicher Vorgang. Daher ist interaktives Verhalten nicht
als ein mikroskopischer und solipsisäscher Akt zu verstehen,
sondern vielmehr als Kommunikation in makroskopischem Sinn, als
permanenter interpersonaler und gesamtgesellschaftlicher Austausch
von Erfahrungen, Meinungen und Desiderata. Interaktive Praxis ist
freilich alles andere als ein kulturgeschichtliches Novum; sie ist
vielmehr eine semanäsche Variante bzw. Fortentwicklung dessen,
was schon Sokrates, Platon und überhaupt die alten Griechen
als den adäquaten Weg zur Wahrheitsfindüng kannten: das
dialogische bzw. dialektische Denken. Indem wir also versuchen,
diesen alten Grundsatz in unserer durchtechnisierten und informationalisierten
Welt anzuwenden, tun wir nichts anderes, als zu den Wurzeln unserer
Kultur und Zivilisation zurückzukehren. Und ich meine, daß
es Zeit dazu war.
Es geht tatsächlich darum, die Unmittelbarkeit
des fachlichen Wissens zu transzendieren und dem Gesamtzusammenhang
auf die Spur zu kommen, der zwischen seinen verschiedenen Sparten
besteht. Ohne einen allumfassenden Überblick über das,
was in der Welt vorgeht - nicht nur in der Welt der Wirtschaft,
der Wissenschaft, der Telekommunikation oder der Technik -, laufen
wir Gefahr, den Ariadnefaden zu verlieren und uns in einem neuen
Labyrinth zu verstricken, diesmal nicht mythologischer, sondern
technologischer Natur. Ich berufe mich hierbei auf Platon, der,
wie Sie wissen, den Erkenntnisprozeß vom Blickfeld abhängig
macht, das dem Subjekt zur Verfügung steht. Ähnlich verfuhr
Hegel, als er in seinem Werk "Die Phänomenologie des Geistes"
unmißverständlich bewies, daß die Wahrheit das
Ganze ist, und nicht ihre jeweiligen, vereinzelten Segmente. Aber
schon Kant, sich gegen den englischen Empirismus wendend, hatte
mit seinen transzendentalen Synthesen a priori klargestellt, daß
ohne die Tätigkeit der ordnenden Vernunft die reale Erscheinungswelt
eine zusammenhanglose Sammlung von membra disiecta bleibt. Ich glaube,
daß viele der Probleme und Aporien, mit denen wir in zunehmendem
Ausmaß ringen müssen, daher rühren, daß wir
in den letzten Jahrhunderten - die die Jahrhunderte der Moderne
sind - uns mehr nach der Atomistik Demokrits und Leukipps als nach
dem dem totalisierenden Denken Platons und seiner Schüler gerichtet
haben. Die Tatsache, daß man in letzter Zeit immer öfter
von globalem Denken spricht, läßt erkennen, daß
wir langsam begreifen, wie bitter nötig wir es haben, weg vom
reinen Spezialistentum zu kommen. Nicht nur die Vereinzelung des
Fachwissens stellt eine große Gefahr dar, sondern auch seine
zunehmende Anonymisierung und die sich aus ihr ergebende Unkontrollierbarkeit.
Gerade das virtuelle Zeitalter mit seinen schier unbegrenzten imaginären,
simulatorischen, spekulativen, spielerischen, illusorischen und
kombinatorischen Optionen ist besonders auf Transparenz und Kalkulierbarkeit
angewiesen, nicht nur bei den Biowissenschaften oder den Vernichtungswaffen.
Sonst könnten wir Opfer einer neuen folgenschweren, früher
unvorstellbaren Unübersichtlichkeit werden.
Die entscheidende Frage, die Frage aller Fragen ist
für mich die: Welches soll die Richtschnur eines Denkens und
einer Praxis sein, die sich nicht damit begnügen, partielle
Wirklichkeitsfelder zu berücksichtigen, und bemüht sind,
Lösungen allgemeingültigen Charakters zu finden? Die Antwort
liegt auf der Hand: Richtschnur eines solchen Vorhabens ist der
konkrete Mensch mit seinen konkreten Bedürfnissen, Sehnsüchten
und Träumen. Die Selbstverwirklichung des Einzelnen kann nicht
auf den Genuß materieller Werte reduziert werden und schließt
die Befriedigung immaterieller Werte ein. Wie man beides in Einklang
bringen könnte, ist gerade die Aufgabe, die ich mir hier gestellt
habe.
Es besteht auch kaum ein Zweifel darüber, daß
die Zukunft der virtuellen Gesellschaft des Westens langfristig
von der Gesamtentwicklung der Welt nicht abgekoppelt werden kann.
Ich sage auch nichts Neues, wenn ich unterstreiche, wie prekär
der Zustand der Welt als Ganzes in praktisch allen wesentlichen
Bereichen geworden ist. Wohin man schaut, stößt man tatsächlich
auf ein immer dramatischer werdendes Pandämonium ungelöster
Probleme, irrationaler Erscheinungen, Auflösungssymptome und
Dysfunktionalitäten aller Art. Und das Alarmierende ist, daß
wir trotz der ständigen Vervollkommnung unseres Wissens zunehmend
Schwierigkeiten haben, tragfähige, weltumfassende Alternativen
auszuarbeiten. Daher die herrschende Verunsicherung des Einzelnen,
die Panik- und Endzeitstimmung, die zunehmend den Menschen ergreift.
Das stolze westliche Zivilisationsmodell ist in eine tiefe Identitätskrise
geraten, steht im Grunde mit dem Rücken zur Wand. Überhaupt
wird das "Projekt Menschheit", das das Anliegen aller
bisherigen humanistischen und aufklärerischen Kräfte war
und weiterhin ist, immer unglaubwürdiger, läuft Gefahr,
in die Brüche zu gehen. Denn während wir über die
Entfaltungsmöglichkeiten der virtuellen Gesellschaft leicht
ins Schwärmen geraten, herrschen in weiten Teilen der Erde
verheerende Verhältnisse. Ich will nicht mit Horrorstatistiken
kommen und beschränke mich auf den Hinweis, daß heute
mehr als eine Milliarde Menschen mit weniger als ein Dollar Einkommem
am Tag auskommen müssen.
Die Kommunikationsgesellschaft hat zwar die überkommenen
Vorstellungen von Raum und Zeit überwunden, aber wir müssen
zugleich zugeben, daß der geopolitische Raum, in dem Freiheit,
Recht, materieller Wohlstand und andere unverzichtbare Werte grundsätzlich
gesichert sind, im Weltmaßstab immer kleiner wird, während
Gewalt, Unfreiheit, Krieg und Elend sich immer rapider verbreiten.
Unbestreitbar ist, daß trotz der ökonomischen, technischen,
wissenschaftlichen, finanziellen und militärischen Dominanz
der Ersten Welt, sich die Konflikt- und Selbstzerstörungsdynamik
in den ärmeren Regionen des Globus zunehmend verselbständigt,
und in dies in einem solchen Ausmaß, daß wir Abendländer
immer mehr zu bloßen "Voyeuren" der sich außerhalb
unseres eigenen Lebensbereichs abspielenden Infernos werden. Geläufige
und ritualisierte Stichworte wie Weltgesellschaft oder globales
Dorf, die wie echte Münzen durch die Medien kreisen, verlieren
immer mehr ihren Sinn und entpuppen sich bei genauerem Hinschauen
als realitätsfremde und obsolete Sprachfloskeln. Die Menschheit
ist tief entzweit und durch Abgründe getrennt, wie die 45 Kriege
belegen, die in diesem Augenblick weltweit toben. Und nicht weniger
bezeichnend in diesem Zusammenhang ist die Tatsache, daß rund
70 Prozent des Weltaußenhandels innerhalb der entwickelten
Industrienationen stattfinden. Auf Grund der Marginalisierung der
Dritten Welt kehrt in viele Regionen der Erde die Wildnis zurück,
aber nicht in ihren ursprünglichen Naturzustand, sondern in
Gestalt von Chaos, Anarchie, Tod und Unregierbarkeit, wie der französische
Mediziner und Dritte-Welt-Experte Jean-Christopher Rufin in seinem
hellsichtigen Buch "L'empire et les nouveaux barbares"
in bezug auf den Süden des Planeten hervorgehoben hat.
Die von den westlichen Staatsmännern im Zusammenhang
mit dem Untergang des osteuropäischen Kommunismus verkündete
Neue Weltordnung besitzt heute nur noch musealen Wert. Und dasselbe
gilt für die von dem US-Politologen Francis Fukujama aufgestellte
These, daß der angeblich weltweite Triumphmarsch des liberal-demokratischen
Wertesystems des Westens dem Ende der Geschichte gleichkomme. Zu
erwarten ist eher der Beginn eines neuen weltgeschichtlichen Zyklus
von allgemeiner Regression und Destruktion, oder gar - wie der US-amerikanische
Theoretiker Samuel P. Huntington fürchtet - ein "clash
of civilizations". Angesichts der besorgniserregenden Weltverhältnisse
ist jede Apologetik fehl am Platze, und gerade die virtuelle Gesellschaft
wäre gut beraten, anstatt sich von überzogenen Illusionen
über die technische Wunderwelt der Zukunft berauschen zu lassen,
sich auf die Probleme zu besinnen, die sie bisher nicht gelöst
hat, aber auch an die, die noch auf sie zukommen werden. Denn selbst
in den Ländern, die sich brüsten, an der Spitze des Fortschritts
zu stehen - also in den am weitesten virtualisierten Ländern
- herrschen teilweise Verhältnisse, die das gerade Gegenteil
von ermutigend sind.
Die westlichen Metropolen, einst Mittelpunkte von
Kultur, Urbanität und Geselligkeit, werden zunehmend von Straßengewalt,
Kriminalität, terroristischen Anschlägen, ethnischen Konflikten,
Aids, Drogensucht, moralischer Verwahrlosung und allgemeinem Werteverfäll
heimgesucht. Aber auch die sozialökonomische Lage läßt
viel zu wünschen übrig. Die technologische Revolution
der postindustriellen und multimedialen Gesellschaft führt
zu einem ständigen und unaufhaltsamen Abbau von Arbeitsplätzen.
Vollbeschäftigung und spektakuläre Wachtumsraten gehören
mittlerweile zur goldenen Vergangenheit des Hochkapitalismus Keynesscher
Prägung. Arbeitslosigkeit ist zu einer chronischen Erscheinung
der Ersten Welt geworden und mit ihr auch neue Armut, Obdachlosigkeit
und soziale Ausgrenzung, von den psychischen Auswirkungen dieser
Entwicklung ganz zu schweigen. Auch diese und andere negative Erscheinungen
sind Bestandteil der virtuellen Gesellschaft geworden. So viel erscheint
klar zu sein: gemütlichen Zeiten gehen wir nicht entgegen.
Die Hoffnung Hermann Brochs, daß nach dem Zweiten Weltkrieg
sich die Demokratien zu einer starken "Humanität"
entwickeln würden, hat sich im wesentlichen nicht erfüllt.
Schon Anfang der siebzigerJahre stellte der französische Politologe
Maurice Duverger in seinem Werk "Les deux faces de l'Occident"
fest: "Der ungeheure materielle Erfolg des westlichen Systems
ist von einem richtiggehenden Scheitern in menschlicher Hinsicht
begleitet". Wer will dieser Aussage widersprechen?
Warum diese zumindest teilweise eingetretene Fehlentwicklung?
Sehr einfach: weil wir die Niederlage des Faschismus nicht ausreichend
benutzt haben, um einen wahrhaften kulturgeschichtlichen Neubeginn
zu wagen. Aus der Perspektive der Zeit müssen wir - vor allem
wir Adendländer - tatsächlich zugeben, daß wir die
schöpferischen Chancen, die uns in den letzten fünfzig
Jahren zur Verfügung standen, um die Daseinsbedingungen der
Einzelnen und der Völker substantiell zu humanisieren, straflich
verspielt haben. Und ich schließe dabei auch die Technik nicht.aus,
das ureigenste Paradepferd der Moderne.
Seit dem Entstehen der Neuzeit hat man unzählige
verheißungsvolle Stellungsnahmen und Prophezeiungen über
die emanzipatorischen und eudämonischen Virtualitäten
des wissenschaftlichen, technischen und produktiven Fortschritts
gehört, nicht nur aus dem Munde von bürgerlichen Ideologen
wie Turgot oder Condorcet. Auch und gerade Fourier, Saint-Simon,
Marx und andere Klassiker und Stifter des Sozialismus konzipierten
ihre gesellschaftspolitischen Utopien in kausalem Zusammenhang mit
den Erwartungen, die sie auf die Entwicklung der Wissenschaft und
der Technik setzten, wie zuletzt auch Herbert Marcuse und sein Traum
von einer neuen Technologie als Grundlage der nicht repressiven
Gesellschaft. Diese Bejahung des technischen Fortschritts kann nicht
überraschen, denn sie erfaßt genau das eigentliche Wesen
der Moderne, das vor allem auf Technik beruht. Die Technik ist auch
das, was unsere Zivilisation von der Vorindustriellen Gesellschaft
unterscheidet. Sie stellt auch die entscheidende Mutation in der
Weltgeschichte dar.
Im Zuge dieser Tagung haben wir Gelegenheit gehabt,
auf die beeindruckendste Weise zu erfahren, welche Entfaltungs-
und Gestaltungspotentialen in der virtuellen Phantasie stecken,
und zwar auf so unterschiedlichen Gebieten wie Medizin, Ökologie,
Lebens- und Arbeitsqualität, Freizeitgestaltung, Marketingstrategien,
Konsumkultur, Tourismus, Mobilität, Design, Schönheit
und andere, die ich im einzelnen nicht zu erwähnen brauche.
Es ist keineswegs meine Absicht, die Realisierbarkeit der virtuellen
Welt, die hier gezeichnet wurde, in Frage zu stellen, ebenso wenig
wie den ihr zu Grunde liegenden Glauben an die Technik. Aber ich
kann andererseits nicht umhin, daran zu erinnern, daß es von
ganz früh an auch Stimmen gab - gewichtige sogar -, die vor
den Folgen der modernen Technik eindringlich warnten. Selbst eine
Leitgestalt der Aufklärung wie Rousseau vertrat in seinem "Discours
sur les sciences et les arts" die Ansicht, daß der technische
Fortschritt zu einer Deformation der Persönlichkeitsstruktur
des Menschen führe. In diesem Kontext entwarf er als erster
eine Theorie der modernen Selbstentfremdung, auch wenn dieser Begriff
erst durch Hegel und Marx geläufig wurde. Auch Carlyle geißelte
leidenschaftlich die Entwicklung des industriellen Zeitalters, das
er verachtungsvoll als "mechanical age" bezeichnete. Selbst
Goethe blickte mit Sorge auf den Eintritt der Technik in die Geschichte,
wie er in seinem Roman "Wilhelm Meisters Wanderjahre"
schrieb: "Das überhandnehmende Maschinenwesen quält
und ängstigt mich, es wälzt sich heran wie ein Gewitter".
Und diese warnenden Stimmen sind keineswegs verstummt, sie werden
eher immer lauter. So geht der Philosoph und Medientheoretiker Paul
Virilio so weit, daß er behauptet, die Herrschaft der Technik
könne zu einem neuen Totalitarismus entarten, der schlimmer
sein werde, als der Totalitarismus herkömmlicher Art, was im
übrigen schon Orwell in seiner Zukunftvision "1984"
an die Wand malte. Nun, wer hat Recht, die Apologeten der Technik
oder ihre Widersacher?
Ich würde sagen: beide. Oder ex negative ausgedrückt:
Verherrlichung der Technik ist genauso ungerechtfertigt wie prinzipielle
Technikverteufelung. Wahr ist, daß sich die technische Entwicklung
als ein Januskopf erwiesen hat. Denn während sie einerseits
unser persönliches und das gesellschaftliche Leben enorm potenziert,
bereichert und komfortabler gemacht hat, hat sie uns mit Problemen
und Sachzwängen konfrontiert, die den Vormodernen Menschen
erspart blieben. Trotz der kontradiktorischen und dualen Struktur
der Technik meine ich aber, daß sie insgesamt einen unschätzbaren
Beitrag zur Emanzipation des Menschen geleistet hat. Und ich vergesse
dabei nicht, in welchem Ausmaß sie bisher mißbraucht
wurde, auch nicht, daß sie jederzeit für bellizistische
Zwecke eingesetzt werden kann. Die Instrumentalisierung und Manipulierung
der Technik für verwerfliche Zwecke ist gewiß ein Damoklesschwert,
das permanent über unseren Köpfen schwebt. Aber wir dürfen
auch nicht aus den Augen verlieren, daß die antiken Zivilisationen
und das Mittelalter zu Grunde gingen, weil sie nicht fähig
waren, die technische Welt zustande zu bringen, die erst die Moderne
in die Wege leitete. Es gibt keinen Grund, die technische Welt der
Moderne wie eine neue Göttin kritiklos anzubeten, aber noch
weniger Grund, der prämodemen Welt nachzutrauern. Und was entscheidender
ist: Wir können die Probleme, die die Technik verursacht, nicht
mehr ohne die Technik lösen.
Die eigentliche Herausforderung, vor der wir stehen,
ist keineswegs die Technik an sich, sondern die Art und Weise, wie
wir mit ihr umgehen, und dies ist an erster Stelle ein ethisches
Problem. Was hat Ethik mit Technik, Produktion, Konsum, Marketing,
Warenabsatz oder Marktanteilen zu tun, werden sich vielleicht manche
von Ihnen fragen? In tieferem Sinn alles. Bedenken wir, daß
das, was wir Moderne oder bürgerliche Gesellschaft nennen,
ohne den ethischen Ansatz, der in ihr steckt, undenkbar wäre.
Die abendländische Zivilisation ist nicht nur ein wertneutraler
Prozeß von Wissenschaft, Technik und Produktion gewesen, sondern
zugleich die Frucht von so immateriellen Dingen wie Freiheitsliebe,
Rationalismus oder Demokratie. So viel steht für mich fest:
ohne einen ethischen Grundkonsens kann sich keine gesellschaftliche
Totalität fruchtbar und sinnvoll entfalten. Und nicht zuletzt
darin liegt die Achillesferse der Moderne, daß sie ihren Schaffensdrang
vorwiegend auf die Herstellung materieller Werte konzentriert und
die geistigen, moralischen, kulturellen und humanen Werte eher als
einen sekundären Faktor betrachtet hat. Die Krise unserer Zeit
ist meines Erachtens an erster Stelle das Ergebnis einer tiefgreifenden
moralischen Krise. Die auf Platon und Aristoteles zurückgehende
Lehre, wonach ohne ein ethisches Verhalten des Einzelnen kein Gemeinwesen
funktionsfähig ist, gilt heute genauso wie damals. Wo diese
Nomos unbeachtet bleibt oder mit Füßen getreten wird,
wie es heute überall geschieht, endet der Mensch als Schiffbrüchiger.
Wir haben eine immer besser funktionierende Technik,
aber zugleich eine immer schlechter funktionierende Gesellschaft.
Die mit den raffiniertesten informationstechnischen Einrichtungen
ausgestatteten Massenmedien liefern der Gesellschaft ein nie dagewesenes
Nachrichtenspektrum, aber dessen ungeachtet wachsen Orientierungslosigkeit
und Verunsicherung. Zurecht wird heute die Information neben der
Materie und der Energie als eine dritte Grundgröße angesehen.
Entsprechend wird unser Bewußtsein vom medial-elektronischen
ÜberIch zunehmend geprägt. Das Wort Information kommt
aus dem lateinischen informare und bedeutet bilden, belehren, unterrichten.
Aber was heute die elektronischen Medien anbieten, besteht größtenteils
aus Schund und Kitsch, "sex and crime" und banaler Unterhaltung.
Die Programme werden nicht auf Grund ihres moralischen oder humanen
Wertgehalts ausgewählt, ausschlaggebend ist die Einschaltquote,
ergo der Absatz- und Marktwert Die audiovisuellen Medien könnten
eine eminent aufklärerische Aufgabe übernehmen, und teilweise
erfüllen sie auch, aber sie entwickeln sich immer mehr zum
Totengräber der Kultur. Was wäre zu tun, um aus diesem
Teufelskreis herauszukommen? Eines können wir uns auf jeden
Fall nicht leisten: den technischen Fortschritt entweder aufzuhalten
oder abzuschaffen, schon deshalb nicht, weil viele der Probleme,
mit denen wir ringen, eben nur durch die Weiterentwicklung unseres
technischen Potentials zu bewältigen sind.
Aber eines können wir doch versuchen: unsere
sich ständig vermehrende technischen Kenntnisse in die Dienste
humaner Ziele zu stellen und dadurch der Technik den emanzipatorischen
Sinn zurückzugeben, den sie ursprünglich hatte und noch
weiterhin hat. Die Technik wird der emanzipatorischen Aufgabe, die
ihr zukommt, nur gewachsen sein, wenn man das ganze Wertesytem,
in das sie jetzt eingebettet ist, von Grund auf verändert.
Ich will hier noch ein paar Gedanken über diesen von mir angeregten
Bewußtseins- und Wertewandel riskieren.
Die Gesellschaft besteht heute aus freien Individuen,
gewiß, aber sie bleiben in der Regel voneinander isoliert
und bilden im Grunde kein geschlossenes und kohärentes Ganzes,
sondern eine diffuse Masse. Die moderne Zivilisation hat unseren
Ich-Trieb ungemein gefördert und damit die Menschen weitgehend
entsozialisert und entsolidarisiert. Deshalb ist das gegenwärtige
Individuum einsamer als je zuvor, gerade in unserer westlichen "open
society". Die Freiheit des Einzelnen wird zunehmend solipsistischer,
läuft vorwiegend ohne Bezug auf die Mitmenschen ab. Nicht von
ungefähr hat der französische Philosoph Paul Ricoeur unsere
Zeit als eine "Welt ohne Nächsten" bezeichnet. Es
leuchtet ein, daß der herrschende Zustand von allgemeiner
Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit nur durch die Wiederherstellung
bzw. Vertiefung des zwischenmenschlichen und gesellschaftlichen
Dialogs aufgehoben werden kann. Das Miteinanderreden soll wieder
und mehr als je der Mittelpunkt menschlicher Praxis werden, denn
keine Datenautobahnen, keine TV-Wunderkisten, keine Satelliten-Systeme
und keine Online-Dienste können uns für den Verlust der
vox humana entschädigen. Wir können nicht über die
virtuelle Gesellschaft Mutmaßungen anstellen, ohne uns klar
zu werden, daB der einzelne Mensch sein virtuelles Menschsein nur
in ständiger Wechselwirkung mit seinen Mitmenschen verwirklichen
kann.
Was ich unter dem Begriff virtuelle Gesellschaft verstehe,
ist die Herbeiführung eines Gesellschaftszustandes, in dem
die berechtigte Sehnsucht nach persönlicher Erfüllung
nicht mit der Selbstverwirklichung unserer Mitmenschen kollidiert,
sondern vielmehr harmoniert. Menschsein ist mehr, als technische
Geräte zu erfinden und zu bedienen, mehr als Profitgier und
mehr als Machtstreben. Es ist vor allem der Versuch, aus unserem
Dasein etwas Sinnvolles, Erhabenes und Schönes zu machen. Aber
um dies in die Praxis umzusetzen, brauchen wir eine zweite Aufklärung,
und dieses Ziel wird nur zu verwirklichen sein, wenn wir der überall
waltenden instrumentellen Vernunft den Krieg erklären und an
ihre Stelle die humane Vernunft setzen. Oder, wie Andre Gide in
seinen "Nourritures terrestres" empfahl: "Assumer
le plus possible d'humanite".
Die systematische Züchtung unserer Ich-Bezogenheit
hat unsere Bereitschaft zur Mitmenschlichkeit abgestumpft und uns
daran gewöhnt, nur an uns selbst zu denken. Deshalb ist der
gesellschaftliche Raum von Individuen besetzt, die nur ein unverbindliches
Nebeneinander mit ihren Nächsten unterhalten, kein Mit- und
Füreinander. Es gilt, den Menschen aus seiner heutigen Vereinsamung
herauszureißen und eine neue religio in ihrem ursprünglichen
Sinn von religare (zusammenbündeln) herbeizuführen. Das
heißt: Mitverantwortung, Anteilnahme, Nähe. Oder wie
Henry David Thoreau meinte: "To cooperate means to put our
lives together" (Waiden).
Jeder Übergang zu einer höheren gesellschaftlichen
und geschichtlichen Entwicklungsstufe setzt auch ein höheres
ethisches, geistiges und humanes Niveau voraus. Auch die virtuelle
Gesellschaft kann sich diesem ewigen Gesetz nicht entziehen. Ein
virtueller Gesellschaftsentwurf, der nur aus Technik, Entertainment,
Genußsucht oder Spieltrieb bestehen sollte, ist für mich
eine contradictio in subiecto. Das westliche System hat einen unverzeihlichen
Fehler begangen: davon auszugehen, daß man mit materiellem
Wohlstand allein auch eine sinnvolle und glückliche Gesellschaft
aufbauen könne. Der heute herrschende Mammonkult mag vielleicht
die Menschen vorübergehend berauschen und ihnen sogar das Gefühl
geben, daß es kein besseres Modell der Erfüllung gibt.
Aber auf lange Sicht muß ein solches Wertesystem an seiner
eigenen Sinnlosigkeit zu Grunde gehen. Über eines sollte man
sich nicht täuschen: Eine Gesellschaft, die, aus welchen Gründen
auch immer, versucht, ohne geistige Tiefe, ohne ethisches Empfinden,
ohne humane Sensibilität und andere edle Werte und Verhaltensweisen
auszukommen, ist zum Scheitern verurteilt.
Zum Schluß möchte ich eine Frage stellen,
und die lautet: Gibt es für den heutigen Menschen die Möglichkeit,
durch den Einsatz für ein sinnvolles und gemeinnütziges
Anliegen seinem Leben einen neuen, tieferen Sinn zu geben? Meine
Antwort: Als genügend freies und mit Vernunft und Willen ausgestattetes
Wesen ist der Mensch durchaus in der Lage, diese Bewährungsprobe
zu bestehen, allerdings nur, wenn er den Mut und die schöpferische
Kraft aufbringt, sich von alten und längst gescheiterten Denk-
und Verhaltensmustem abzusetzen und phantasie- und anspruchsvollere
Formen der Selbstverwircklichung zustande zu bringen.
Und diese Umwertung aller Werte muß bei jedem
Einzelnen ihren Anfang nehmen, kann von keinen Verwaltungsapparaten,
Machtgebilden oder sonstigen Makrostrukturen diktiert werden. Wissenschaft,
Technik, Produktion und Konsumfülle reichen nicht aus, um das
Leben der virtuellen Gesellschaft lobenswert zu machen. Das ist
zu wenig und zu flach, hat bisher zu einer Destruktion anderer,
sinnvollerer Werte und Daseinsmodi geführt und einen tiefgreifenden
Entfremdungsprozeß in Gang gesetzt. Der Mensch muß wieder
lernen, höher zu blicken, tiefer zu denken und humaner zu fühlen,
damit das Virtuelle, das in seinem Menschsein liegt, zur vollen
Entfaltung kommt und die Heraufkunft einer solidarischen, berechenbaren
und menschwenwürdigen Weltordnung ermöglicht. Das Ziel
einer wahren virtuellen Gesellschaft kann nur darin bestehen, das
bisher nie verwirklichte Reich des Humanen endlich zu verwirklichen.
Das ist die Aufgabe, die auf uns alle wartet.
Aus:
Heleno Saña
Würde und Widerstand
Menschlichkeit in einer unmenschlichen Welt Essays/ Vorträge,
Kontroversen
PapyRossa Verlag, Köln 2007. 232 Seiten 18,– Euro
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