XXVI. Jahrgang, Heft 144
Apr - Mai - Jun 2007/2

 
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Letzte Änderung:
20.04.2007

 
 

 

 
 

 

 

Die Brücke an der Spree

Nun danket alle Ludwig
Bericht von einem Trauergottesdienst
Von Reimar Lenz

   
 
 


Ludwig geht selten in die Kirche; aber diesmal gab es kein Ausweichen.

Tante Clarissa ist gestorben, und sie hatte sich in ihrem Testament einen “Trauergottesdienst" gewünscht. Da geht nun kein Weg dran vorbei.

Die Verwandtschaft hat ihn eingeladen, den “eigensinnigen Ludwig", der wohl die Welt ein wenig anders anschaut als die Mehrheit der Familie. “Weltanschauliche Divergenzen"? Was soll's. Ein Gottesdienst muss her. Schwarzer Anzug. Lässt sich leihen. Vielleicht tut's auch ein grauer. Doch muss man sich bis zum Schlips erniedrigen? Nein, lieber Ludwig, das verlangt doch keiner.

Dass dieser Kirchenmuffel schlecht vorbereitet war auf diese Totenfeier, sollte sich bald herausstellen, als Ludwig in der ungenügend beheizten Kirche sitzt, hingeduckt in die letzte Reihe. Ende April, im Jahre 2006. Ein extrem kaltes Jahr.

Und abgesehen davon, dass Ludwig gar nicht Ludwig hieß, ursprünglich, sondern dass er sich diesen Namen, aus geheimen Gründen, selbst angelacht hatte, als nome de guerre (was schon deplaciert war), muss er das auch von seinem Hemd nun bemerken: kurzärmelig - total deplaciert! Und das unter einer undefinierbaren Jacke, die weder für einen Winter noch für ein Frühjahr geeignet scheint.

Ludwig friert gottserbärmlich. Oder nur wegen des Kirchengottes, mit dem er öfters auf Kriegsfuß steht? Jedenfalls: ein frierender, trauernder, in sich gekauerter Randsiedler des “Christentums", nun bei einer jener Feiern, mit denen wir alle uns immer wieder schwer tun, ob nun mit oder ohne Kirche, - was soll das werden?!

Sei allem, wie ihm möge, - vor Tante Clarissa jedenfalls konnte man einen gewissen Respekt schon haben. Sie war dominant, aber nie arrogant Sie war hilfsbereit, immer auf dem Sprung zum Nächsten, wenn das mancher auch als aufdringlich empfinden sollte.

Nun also Sterben. Endlich, nach langem Leiden. Beerdigung?

Feuerbestattung?

Ein hervorragendes Beerdigungsinstitut hilft, wo es kann. Aber inhaltlich läuft dann doch in so einer kleinen Universitätsstadt meist noch alles auf die Kirchen zu.

Die Kirche hat erstmal Glocken, um den Himmel zum Klingen zu bringen. Hat Kerzen. Einen Altar, als Schwerpunkt. Hat Raum. Ist eine Herberge auch für jene, die höchstens mal zu Weihnachten oder bei Familienfeiern erscheinen, ansonsten den Herrn Jesus einen guten Mann sein lassen, um auch solche Gelegenheitskunden unter Dach und Fach zu kriegen. Außerdem gibt es da eine Orgel, zwecks großzügiger Einstimmung. Die ertönt jetzt, in vertrauter Wucht. Vorspiele. Erste Polyphonien. Buxtehude, Schütz und Bach lassen grüßen. Wenn das nicht Hochkultur ist. Ein reiches Liedgut winkt. Ludwig wird warm ums Herz. Beinahe ist er schon mit der Kirche versöhnt.

Die Kirche hat schließlich ein ganzes Weltbild beizubringen, das sich bemüht, dem Tod gerecht zu werden, ihn ins Leben einzubauen. Mit Psalmen, Evangelien, Apostelbriefen - und wenn's gar ein “ewiges" Leben ist.

Ludwig reißt sich zusammen. Sitzt nun aufrecht und ist gespannt: was werden sie aus Tante Clarissa machen? Der Sarg war im Altenheim noch kurz geöffnet gewesen, und Ludwig wurde eines ungeheuerlichen Anblicks teilhaftig: ein Mensch, unglaublich gefasst wirkend, entrückt, vergeistigt. Aber eben doch ein Leichnam. Verständlich, dass in solcher Grenzsituation der Jenseitsglaube beginnt. Kann ein Beerdigungsinstitut einen Leichnam stilisieren? Nur bedingt.

Schluss jetzt mit Spekulationen, lieber Ludwig. Da vorne passiert etwas. Der Pfarrer schiebt sich ins Bild, gemessenen Schritts. Trägt einen Talar aus vielen weißen und wenigen schwarzen Streifen. Wirkt regelrecht hohepriesterlich. Obwohl wir hier bei Protestanten sind.

“Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen Geistes - amen." Aha, die Dreieinigkeit - die gibt's also auch noch. Im Namen dessen, den es angeht, in der abendländischen Versammlung.

Ludwig wird unruhig. Was fasziniert eigentlich so an der Drei? “Im Namen Wischnus, Shivas und Brahmas - namaskar." Tante Clarissa hatte auch ausländische Bücher, die man sich ausleihen durfte. Ludwig beschloss mit fünfzehn: alle Nationen sind gleichberechtigt, alle Religionen sind gleichberechtigt.

Er brauchte Wahlmöglichkeiten. Weite. Als Student war er so weit, dass er in sein Tagebuch schreiben konnte: “Verdammt noch mal - ihr sollt noch andere Götter, Religionen, Heilande, Menschenbilder, Weltbilder, Dreieinigkeiten haben neben eurem Mono-, Mono-System."

Aber jetzt Schluss mit solchen Ausschweifungen. Der Pfarrer hat eine ganz konkrete Aufgabe. Er macht bekannt mit Namen, Beruf, Familienstand, Geburts- und Todesdatum der Verstorbenen. Er spricht bewusst sachlich. Es klingt wie ein Wetterbericht. Als wenn er das schon Hunderte von malen gemacht hätte. Hat er ja auch! Als Pfarrer kennt er die wiederkehrenden Berichte: Geburt, Taufe, Konfirmation, Hochzeit, womöglich Verwitwung, Tod - für einen Pfarrer ist das normal. Eben der Gang der Dinge.

“Gott hat die Clarissa zu sich gerufen". Ludwig fügt hinzu: wurde aber auch aller-, allerhöchste Zeit, dass er die leidende Frau abgerufen hat! Clarissa konnte seit langem, langem nicht mehr sehen, fast nicht hören, nicht sprechen, sich kaum bewegen. Warum hat der Barmherzige die arme, arme Frau nicht früher gerufen? Das fragt man sich doch, sofern man nicht “Gott" mit der Verantwortung verschonen will.

Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es hochkommt, sind es achtzig Jahre, aber Clarissa hatte Pech: sie musste hundertundvier Jahre alt werden, zum Beispiel dank des medizinischen und pflegerischen Fortschritts. Müssen wir uns darüber den Kopf zerbrechen? Wenn doch einer namens “Gott" alles sowieso regelt?

Was Gottes Ruf anlangt: inzwischen gab es auf Java ein schreckliches Erdbeben, mit über fünftausend Toten, an die der göttliche Ruf erging. (Real waren daran freilich nur die Schreie der Verwundeten.)

Aber hier, in der Kirche, gibt es kein Massenbegräbnis, nur eine kleine, friedliche Totenfeier. Müssen jetzt nicht Choräle kommen?

“Wir singen gemeinsam ,Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren', Lied Nummer 52 unseres Gesangbuchs.

Ludwig staunt. Dass der Herr immer gelobt werden will, weiß er ja, aber so alt-feudal?! Tatsächlich. Schon geht es los.

“Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren, lob ihn, o Seele, vereint mit den himmlischen Chören. Kommet zu häuf; Psalter und Harfe wacht auf, lasset den Lobgesang hören."

Feudalismus, 17. Jahrhundert.

Ludwig, den das Schicksal früh vom illusionären Seinsvertrauen erlöst hat, fragt sich, ob ihm da eventuell ein musikalischer Kontrapunkt einfiele? Soul? Freejazz, wacht auf?

und inhaltlich? “Lobe den Herrn, den mächtigen König der Ehren: Sapiens, doch nur, wenn er stark genug ist, sich allzu starker ,Herm' zu erwehren.

Der Mensch, der aber nur dann »mächtig' heißt, wenn er seiner selbst mächtig wird, unser Menschengeist."

Die Orgel lässt ihn nicht weiter dichten. Kaum, dass das amtliche “Lobe den Herrn" verklungen ist, schwillt ihr Ton ins Grandiose. Lässt alles Verbale hinter sich. Wer Bach hört, überhaupt barocke Orgelmusik, braucht nicht mehr zu zanken. Kommt womöglich qua Musik aufbessere Gedanken...

Man freue sich nicht zu früh. Der Liedteil der Feier ist noch nicht überstanden. Was zu befürchten war: “Nun danket alle Gott" ist angesagt. Soll man sich da überrollen lassen?

Ludwig, hättest Du da etwas beizusteuern? Wem wäre denn jetzt zu danken? Den Pflegerinnen und Pflegern der Clarissa, mit ihrem schweren Beruf. Besucherinnen und Besuchern der uralten, geplagten Frau.

Stattdessen “Gott"? Ganz abstrakt. Danken, für alles und jedes? Summarisch und affirmativ? Kennen diese Leute denn die Welt so wenig? Die tragische Welt? Haben sie mal etwas gehört von der dazu passenden Dreieinigkeit: Alter, Krankheit, Tod? Von den frühen Entdeckungen des jungen Shakyamuni, des nachmaligen Buddha?

Drei Evangelisten lassen Jesus von Nazareth sterben mit dem Ausruf des gekreuzigten “Eli, Eli, Asabtani" (,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?') Aber dann kommt dieser hochspekulative griechische Dichter und “Evangelist" Johannes und macht die Rechnung wieder glatt: “Es ist vollbracht".

Ludwig schämt sich. Er, als Halbtags-Jesuaner, der den Ruf zur Nächstenliebe, der “Agape", wohl gehört hat, ein Schüler der Dorothee Solle, ein Bewunderer des Pessimisten Albert Schweitzer, keineswegs gewillt, das Christkind mit dem Bade auszuschütten, empfindet dieses Lied der Unempfindlichen als Lästerung.

“Lob, Ehr und Preis sei Gott, dem Vater, dem Sohne und Gott, dem heiligen Geist, im höchsten Himmelsthrone, ihm, dem dreieinigen Gott, wie er am Anfang war und ist und bleiben wird, ihm danket immerdar." Dem Ludwig ist eiskalt geworden in seiner letzten Reihe. Er fühlt sich wie ausgesetzt - in einer exotischen Sekten-Schar. Was mögen die Sänger sich nur denken bei solchem Sang?! Oder liegt der Fehler beim Ludwig? Vielleicht muss er sich einfach mehr anstrengen, um hinter den Sinn des Trauer-Danks zu kommen?! Vielleicht muss er endlich begreifen, das s der dankbare Überschwang einer Not-Wendigkeit entspringt? Es geht um die Zukunft einer Illusion! Die Mär von einem anthropomorphen Patriarchen, der diese Welt gemacht haben soll (ein Schöpfer, wenn auch ohne Kelle), der sich anschließend auf die Schulter klopft, sich selbst bescheinigt, es sei gut, was er gemacht habe?!

Unbestritten blieb das ja nicht.

Ludwig Feuerbach, etwa, Philosoph und Religionskritiker (1804-1872) hatte sich gegen alle Weltschöpfüngsgeschichten gewandt. Und auf den gibt unser heutiger Ludwig eine Menge! Freilich ließ Feuerbachs Hinweis auf die angebliche Ewigkeit der Materie ja auch Fragen übrig.

Die optimistische Urlüge der Genesis ist am schwersten nachzuvollziehen, es sei denn, man verstehe sie als echte Not-Lüge!

Danket dem Herrn, für Alter, Krankheit und Tod?! Für Erdbeben und 'Sintfluten'?! Viren und Bakterien?! Heuschrecken - an besseren Tagen tatsächlich mal wilden Honig? ... Nicht zu fassen, es sei denn als Gipfel der Verdrängung.

Vielleicht gerät die menschliche Vernunft mit Notwendigkeit in Schwierigkeiten, wenn sie die ersten und die letzten Fragen beantworten will. Welch Skandal, dass bislang keine weise Frau, kein Heiland, kein Prophet, kein Philosoph und auch kein Physiker und Kosmologe erklären kann, warum und wieso diese Welt entstanden ist, - sofern sie nicht einer ebenso rätselhaften Beginnlosigkeit sich verdankt. (Kurt Tucholsky fasst sich da kurz am Ende seines einschlägigen Gedichts: “Se wissen et nich, se wissen et nich..."

Ludwig versucht, wieder Anschluss zu finden an das Programm für die Trauergemeinde, an das Thema Dankbarkeit. Orgelspiel beruhigt ihn. Und nun dankt er, dankt ehrlich, dankt jenem Arzt im Stillen, der bei einer beginnenden Lungenentzündung im hundertundvierten Jahr endlich kein “fettendes" Antibiotikum mehr gegeben hat. Amen.

Aber der Friede waltet nicht lange. Die Predigt steht noch aus. Und die hat es wieder in sich.

“Liebe Trauergemeinde!", hebt der Pfarrer an. “Wir Christen glauben, dass mit dem Tode keineswegs alles zu Ende ist..."

Das fängt ja gut an. Wo stecken Bleistift und Papier? Da lohnt es sich wohl mitzuschreiben. Freilich, was sollen die Leute denken, wenn einer protokolliert? Ob er's aus Begeisterung tut? Oder zu welchem Zweck sonst?

Sind die Jenseitspropheten wirklich immer noch an Deck? In einer deutschen Universitätsstadt des Jahres 2006? Schon als Dreizehnjähriger hat der kleine Zweifler die angeblich Erwachsenen bedrängt, ob sie ihm nicht garantieren könnten, dass die Sache mit dem ewigen Leben ins Wasser fiele. Grauenhafte Vorstellung! Aber die Erwachsenen reagierten diplomatisch, da sie es mit der Religion nicht verderben wollten.

Und nun wissen “wir Christen" also in Sachen Jenseits Bescheid. Gewiss waren Jesus und Paulus Jenseits-Spezialisten, und sie glaubten ganz ernsthaft an ein vom Himmel hereinbrechendes Gottesreich, die “basi/leia ton uranon", das Königreich der Himmel. Der Paulus brachte die Apokalypse geheimnisvoll und poetisch: “Wir sehen jetzt in einen dunklen Spiegel, doch hernach von Angesicht zu Angesicht."

Wer sagt's denn? Das Rätselwort ist wenige Minuten nach Predigtbeginn wieder unter uns. Da braucht kein Ludwig mitzuschreiben. Außerdem sind weder Bleistift noch Kugelschreiber zur Hand.

Es ist ja wohl auch hoffentlich ausreichend bekannt, dass “wir Christen" kein Monopol haben in Bezug auf Jenseits-Spekulationen. Antike, orientalische, asiatische Religionen kennen Modelle von Tod und (oft zyklischer) Wiedergeburt.

Die wenigsten wissen, dass der Ludwig von der letzten Bank einem anderen Ludwig tief verbunden ist, der als junger Privatdozent für Philosophie an der Universität Erlangen mit einer radikalen Schrift “Gedanken über Tod und Unsterblichkeit" gegen den Glauben an individuelle Unsterblichkeit hervorgetreten war. Das war Ludwig Feuerbach, der an die wahrhafte und vollständige Vergänglichkeit uns erinnerte! Ergebnis: die Schrift wurde von der Polizei konfisziert, zumal sie auch sonst noch Angriffe auf Theologie, Kirche und Frömmelei enthielt.

“Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde", das auf den Kopf gestellte Moses-Wort des Ludwig Feuerbach hatte es dann dem jungen Ludwig von heute so angetan, dass er sich mit einem Spitznamen, einem geheimen ,nome de guerre', -“Ludwig" nannte!

Und unser Ludwig schritt weiter fort, durch den Feuerbach, und ihm wurde klar, dass der Mensch nicht nur den Einmanngott schuf nach seinem Bilde und die entsprechende Dreieinigkeit dazu, sondern überhaupt alle Götter und Göttinnen, Erzengel und Engel, Teufel, Dämonen, Demiurgen - entsprechend seiner enormen Phantasiebegabung.

Und jetzt sitzt Ludwig zwo auf der allerletzten Bank und friert bei einer kirchlichen Wiedererweckung des Jenseits, aber lässt sich nicht unterkriegen, sondern zischt lautlos vor sich hin: Sapiens soll gefälligst in seine Götterwerkstatt gehen und sehen, ob seine Götter noch so herrlich sind wie am ersten Tag...

Trotz Jenseits-Zulage und Nun-danket-alle-Gott-Einlage gerät die Trauerfeier ganz gut. Der Pfarrer ist inzwischen vom allgemeinen zum speziellen Teil der Predigt übergegangen. Er versteht es durchaus, von der Verstorbenen ein plausibles Bild zu zeichnen. Man muss ihn mit Details versorgt haben, und offenbar hat er die Clarissa auch gekannt.

Im Gegensatz zu sonstigen - meist diplomatischen - Nach-Rufern spart dieser eine Phase im langen, langen Leben der Gefeierten nicht aus, in der die offenbar stets engagierte Frau des Pseudo-Guten zuviel getan hat: in der der NSDAP.

Ja, da gab es offenbar wieder eine verlockende Dreieinigkeit: “Ein Volk, ein Reich, ein Führer!" Als Sozialarbeiterin, Krankenschwester, junge Akademikerin, mit frühem Doktor, fand sie falsche Antworten auf die Wirtschaftskrise der späten zwanziger Jahre und spürte nicht, dass nationalistische Grundannahmen einfach zu klein kariert waren in einer Welt, die Zusammenarbeit brauchte.

Der Pfarrer ist nicht bös'. Bestimmt ein guter Seelsorger. Als Religionsphilosoph weniger geeignet. Aber Ludwig ist auch nicht bös'. Er glaubt allerdings nicht nur an den Wert der christlichen Agape, sondern auch den der buddhistischen “Metta" (Güte), welche im Verbund mit “Mitfreude, Mitleid, und Gleichmut" eine Gruppe von Übungen und Tugenden darstellt, ohne dass dabei ein persönlicher Gott oder Gottessohn vonnöten wäre.

Friede, Freude und doch keine Oblaten? Dabei Buddha und Jesus als Lehrer universaler Menschenliebe?

Klingt damit, teils laut, teils leise, die Trauerfeier für die nun vom leiden erlöste Clarissa aus? Nun danket alle dem individuellen, einfühlsamen Prediger? Ist das alles? Wurde etwas vergessen?

Ja. Es steht noch etwas bevor. Das Unvermeidliche.

“Lasset uns beten".

Das große heilige Murmeln steht noch aus, die akustische Trance, Totem und Tabu.

“Vaterunser..."

Ja, das ist es. Kein Mutter-unser. Kein Urknall-unser. Kein “intelligent design". Der Vater macht es, ganz persönlich. Und wir beten zu ihm, mit einem Trotzdem-unser.

“Der Du bist im Himmel..."

Ach, Du liebes vierdimensionales, raumzeitliches Kontinuum! Einstein-kompatibel? Hawking? Ödet doch schon String-Theorie?! Ach, Du lieber Himmel. Vater mittendrin.

“Geheiligt werde Dein Name..."

Vater, unser, Großvater, unser. Wie war doch gleich Dein Name? Wotan? Zeus? Der große Manitu? Jaweh? Allah? Jehova? Oder doch im Plural: Elohim?!

Jedenfalls sind wir Schriftbesitzer, stolze Gottes-Kinder. Echt. Namensbesitzer.

“Dein Reich komme..."

Au fein! Das Himmelreich. Solche Phantasien ergreifen in Sonderheit Völker, denen es dreckig geht. Wie etwa damals den Juden unter römischer Herrschaft.

“Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch auf Erden..."

Aber bittschön mit Ausnahmen, Allmächtiger! Auf Erdbeben zum Beispiel, “Sintfluten" und Pandemien können wir - dankend! - verzichten.

“Unser täglich Brot gib uns heute..."

Unbedingt! Vollkornbrot. Wir sind für die Bewahrung einer gesunden Schöpfung. Lieben außerdem Demeter, wie alle Fruchtbarkeitsgöttinnen.

“Führe uns nicht in Versuchung..."

Kontakt mit Kybele, Proserpina, Magna Mater.

“Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben unseren Schuldigem..." Sehr wahr. Wir vergeben durchaus den Theolügen, sofern sie zu wagen beginnen, sich ihres Verstandes zu bedienen.

“Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die Herrlichkeit - in Ewigkeit. Amen".

Ludwig denkt sich sein Teil:

“Ja, Ewigkeit! Wir wissen zwar, dass dieses alles nicht stimmt. Aber egal. Wir bestehen einfach auf einem statischen, überholten Weltbild. Und wenn der Andromedanebel auf unsere Galaxis stürzt, kratzt uns auch das keineswegs. Ist ja noch lange hin. Was wir wirklich brauchen, ist ein geborgenheitsträchdges Weltbild. Wenn wir nicht würden wie die Kindlein, müssten wir uns ja neue Gedanken machen. So heißt unser Wahlspruch: credo quia absurdum. cogito, ergo dumm."

Durchsage: Anschließend treffen wir uns beim Perser, zu einem kleinen Imbiss.

Nach dem “Gottesdienst".

Lockeres Gespräch vor der Kirchentür. Stimmt es, dass die Clarissa sich einen anderen Pfarrer für ihre Trauerfeier gewünscht hatte? Einen mit einer zwölfjährigen Erfahrung als Auslandspfarrer in Brasilien, einen, der zur 'Theologie der Befreiung' tendierte, der Theologie eines Boff, Ernesto Cardenal et tutri quand? Der ein durch und durch selbstkritisches “Christentum" vertrat? Ja, es stimmt. Aber was tut's. Der aktuelle Pfarrer, der ihn vertrat, tat sein Bestes und hatte wieder andere Stärken.

Der Wahlpfarrer war ganz kurz vor der Clarissa gestorben, die Zeitungsannonce stand neben der ihren, und die Trauerfeier erfolgte im Abstand von zwei Stunden. Alles ungeplant. Dafür magische Synchronizität? Aber bitte, Ludwig! Aberglaube passt zu Dir doch wohl zuallerletzt.

Wir können doch schon froh sein, wenn in der Trauergemeinde keine Verabredungen für ein Wiedersehen in unserer “himmlischen Heimat" getroffen werden. Kein see you later...!

Klatsch und Tratsch. Es kommt heraus, dass die Clarissa, als sie noch sprechen konnte, manchmal mit Ludwig diskutiert hat.

Zum Beispiel über Dorothee Sölles “Theologie der Stellvertretung".

Noch eine Theologie, eine Wissenschaft von Gott! Geht vom Tode Gottes aus, will uns aber in die Pflicht nehmen, etwas wirklich werden zu lassen von dem, was als ,Güte Gottes' allzu oft folgenlos beschworen worden ist.

Die Clarissa sagte dann schon mal, in ihrer letzten theologischen Phase: “Den Allmächtigen haben wir uns ja an den Schuhsohlen abgelaufen; aber an Jesus von Nazareth möchte ich trotzdem festhalten."

Der kleine Ludwig wiederum hält seit langem Atheismus für selbstverständlich, aber mit einer anderen Tönung als der große Ludwig, Ludwig Feuerbach. Anders als der philosophische Religionskritiker des 19. Jahrhunderts bekennt sich unser künstlerisch ambitionierte Ludwig weniger als Gottesverneiner denn als Götterliebhaber:

Er liebe die Götter und Göttinnen, Religionen und Mythologien, ja, er achte sie, so gut es gehe - als lauter Beweise für eine üppig blühende, manchmal sogar fruchtbare, immer unheimliche, nicht immer unbedenkliche grandiose Phantasie! Eifrig betet er den polytheistischen Rosenkranz, liebt Apoll und Aphrodite, Isis wie Osiris, Shiva wie Maya (die Kali weniger).

Als Künstler kann Ludwig etwas anfangen mit dem Irrationalen, ,den fünf großen M' wie er sie nennt, also Magie, Märchen, Mythos, Mystik und Metaphysik.

Aber wer hat Zeit für dergleichen? “Was die Leute tatsächlich beschäftigt, ist die Hingabe an die ,drei großen M', die wahren Götter der Gegenwart. Als da sind Mammon, der Gott des Geldes! Mars, der Gott der in Vorbereitung befindlichen nächsten Kriege (die wiedergeborenen Christen in Washington kennen sich da aus)!

Und Maya, die Mediengöttin des schönen, des schlimmen Scheins."

Ein Teil der Trauergäste sitzt noch zusammen, beim Perser. Dann Abschiednehmen. Innerhalb von Tagen wird folgen die Verbrennung des Leichnams im Krematorium. Dann die Umen-Bestattung.

Nun danket alle der kultivierten Regie des feinsinnigen Leiters des Beerdigungsinstituts. Nun danket alle Ludwig Feuerbach, dessen Aktualität sich durch diesen “Trauergottesdienst" überraschend deutlich bestätigt hat.

Und nun danket alle Ludwig, der sich frierend, auf der letzten Kirchenbank, während der Feier vorgenommen hat, weiter durch den Feuerbach zu gehen. Er vertraute sich mir an, und so wurde mir warm ums Herz. Amen.

   

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