Ludwig geht selten in die Kirche; aber diesmal
gab es kein Ausweichen.
Tante Clarissa ist gestorben, und sie hatte sich in
ihrem Testament einen “Trauergottesdienst" gewünscht.
Da geht nun kein Weg dran vorbei.
Die Verwandtschaft hat ihn eingeladen, den “eigensinnigen
Ludwig", der wohl die Welt ein wenig anders anschaut als die
Mehrheit der Familie. “Weltanschauliche Divergenzen"?
Was soll's. Ein Gottesdienst muss her. Schwarzer Anzug. Lässt
sich leihen. Vielleicht tut's auch ein grauer. Doch muss man sich
bis zum Schlips erniedrigen? Nein, lieber Ludwig, das verlangt doch
keiner.
Dass dieser Kirchenmuffel schlecht vorbereitet war
auf diese Totenfeier, sollte sich bald herausstellen, als Ludwig
in der ungenügend beheizten Kirche sitzt, hingeduckt in die
letzte Reihe. Ende April, im Jahre 2006. Ein extrem kaltes Jahr.
Und abgesehen davon, dass Ludwig gar nicht Ludwig
hieß, ursprünglich, sondern dass er sich diesen Namen,
aus geheimen Gründen, selbst angelacht hatte, als nome de guerre
(was schon deplaciert war), muss er das auch von seinem Hemd nun
bemerken: kurzärmelig - total deplaciert! Und das unter einer
undefinierbaren Jacke, die weder für einen Winter noch für
ein Frühjahr geeignet scheint.
Ludwig friert gottserbärmlich. Oder nur wegen
des Kirchengottes, mit dem er öfters auf Kriegsfuß steht?
Jedenfalls: ein frierender, trauernder, in sich gekauerter Randsiedler
des “Christentums", nun bei einer jener Feiern, mit denen
wir alle uns immer wieder schwer tun, ob nun mit oder ohne Kirche,
- was soll das werden?!
Sei allem, wie ihm möge, - vor Tante Clarissa
jedenfalls konnte man einen gewissen Respekt schon haben. Sie war
dominant, aber nie arrogant Sie war hilfsbereit, immer auf dem Sprung
zum Nächsten, wenn das mancher auch als aufdringlich empfinden
sollte.
Nun also Sterben. Endlich, nach langem Leiden. Beerdigung?
Feuerbestattung?
Ein hervorragendes Beerdigungsinstitut hilft, wo es
kann. Aber inhaltlich läuft dann doch in so einer kleinen Universitätsstadt
meist noch alles auf die Kirchen zu.
Die Kirche hat erstmal Glocken, um den Himmel zum
Klingen zu bringen. Hat Kerzen. Einen Altar, als Schwerpunkt. Hat
Raum. Ist eine Herberge auch für jene, die höchstens mal
zu Weihnachten oder bei Familienfeiern erscheinen, ansonsten den
Herrn Jesus einen guten Mann sein lassen, um auch solche Gelegenheitskunden
unter Dach und Fach zu kriegen. Außerdem gibt es da eine Orgel,
zwecks großzügiger Einstimmung. Die ertönt jetzt,
in vertrauter Wucht. Vorspiele. Erste Polyphonien. Buxtehude, Schütz
und Bach lassen grüßen. Wenn das nicht Hochkultur ist.
Ein reiches Liedgut winkt. Ludwig wird warm ums Herz. Beinahe ist
er schon mit der Kirche versöhnt.
Die Kirche hat schließlich ein ganzes Weltbild
beizubringen, das sich bemüht, dem Tod gerecht zu werden, ihn
ins Leben einzubauen. Mit Psalmen, Evangelien, Apostelbriefen -
und wenn's gar ein “ewiges" Leben ist.
Ludwig reißt sich zusammen. Sitzt nun aufrecht
und ist gespannt: was werden sie aus Tante Clarissa machen? Der
Sarg war im Altenheim noch kurz geöffnet gewesen, und Ludwig
wurde eines ungeheuerlichen Anblicks teilhaftig: ein Mensch, unglaublich
gefasst wirkend, entrückt, vergeistigt. Aber eben doch ein
Leichnam. Verständlich, dass in solcher Grenzsituation der
Jenseitsglaube beginnt. Kann ein Beerdigungsinstitut einen Leichnam
stilisieren? Nur bedingt.
Schluss jetzt mit Spekulationen, lieber Ludwig. Da
vorne passiert etwas. Der Pfarrer schiebt sich ins Bild, gemessenen
Schritts. Trägt einen Talar aus vielen weißen und wenigen
schwarzen Streifen. Wirkt regelrecht hohepriesterlich. Obwohl wir
hier bei Protestanten sind.
“Im Namen des Vaters, des Sohnes und des heiligen
Geistes - amen." Aha, die Dreieinigkeit - die gibt's also auch
noch. Im Namen dessen, den es angeht, in der abendländischen
Versammlung.
Ludwig wird unruhig. Was fasziniert eigentlich so
an der Drei? “Im Namen Wischnus, Shivas und Brahmas - namaskar."
Tante Clarissa hatte auch ausländische Bücher, die man
sich ausleihen durfte. Ludwig beschloss mit fünfzehn: alle
Nationen sind gleichberechtigt, alle Religionen sind gleichberechtigt.
Er brauchte Wahlmöglichkeiten. Weite. Als Student
war er so weit, dass er in sein Tagebuch schreiben konnte: “Verdammt
noch mal - ihr sollt noch andere Götter, Religionen, Heilande,
Menschenbilder, Weltbilder, Dreieinigkeiten haben neben eurem Mono-,
Mono-System."
Aber jetzt Schluss mit solchen Ausschweifungen. Der
Pfarrer hat eine ganz konkrete Aufgabe. Er macht bekannt mit Namen,
Beruf, Familienstand, Geburts- und Todesdatum der Verstorbenen.
Er spricht bewusst sachlich. Es klingt wie ein Wetterbericht. Als
wenn er das schon Hunderte von malen gemacht hätte. Hat er
ja auch! Als Pfarrer kennt er die wiederkehrenden Berichte: Geburt,
Taufe, Konfirmation, Hochzeit, womöglich Verwitwung, Tod -
für einen Pfarrer ist das normal. Eben der Gang der Dinge.
“Gott hat die Clarissa zu sich gerufen".
Ludwig fügt hinzu: wurde aber auch aller-, allerhöchste
Zeit, dass er die leidende Frau abgerufen hat! Clarissa konnte seit
langem, langem nicht mehr sehen, fast nicht hören, nicht sprechen,
sich kaum bewegen. Warum hat der Barmherzige die arme, arme Frau
nicht früher gerufen? Das fragt man sich doch, sofern man nicht
“Gott" mit der Verantwortung verschonen will.
Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn es
hochkommt, sind es achtzig Jahre, aber Clarissa hatte Pech: sie
musste hundertundvier Jahre alt werden, zum Beispiel dank des medizinischen
und pflegerischen Fortschritts. Müssen wir uns darüber
den Kopf zerbrechen? Wenn doch einer namens “Gott" alles
sowieso regelt?
Was Gottes Ruf anlangt: inzwischen gab es auf Java
ein schreckliches Erdbeben, mit über fünftausend Toten,
an die der göttliche Ruf erging. (Real waren daran freilich
nur die Schreie der Verwundeten.)
Aber hier, in der Kirche, gibt es kein Massenbegräbnis,
nur eine kleine, friedliche Totenfeier. Müssen jetzt nicht
Choräle kommen?
“Wir singen gemeinsam ,Lobe den Herrn, den mächtigen
König der Ehren', Lied Nummer 52 unseres Gesangbuchs.
Ludwig staunt. Dass der Herr immer gelobt werden will,
weiß er ja, aber so alt-feudal?! Tatsächlich. Schon geht
es los.
“Lobe den Herrn, den mächtigen König
der Ehren, lob ihn, o Seele, vereint mit den himmlischen Chören.
Kommet zu häuf; Psalter und Harfe wacht auf, lasset den Lobgesang
hören."
Feudalismus, 17. Jahrhundert.
Ludwig, den das Schicksal früh vom illusionären
Seinsvertrauen erlöst hat, fragt sich, ob ihm da eventuell
ein musikalischer Kontrapunkt einfiele? Soul? Freejazz, wacht auf?
und inhaltlich? “Lobe den Herrn, den mächtigen
König der Ehren: Sapiens, doch nur, wenn er stark genug ist,
sich allzu starker ,Herm' zu erwehren.
Der Mensch, der aber nur dann »mächtig'
heißt, wenn er seiner selbst mächtig wird, unser Menschengeist."
Die Orgel lässt ihn nicht weiter dichten. Kaum,
dass das amtliche “Lobe den Herrn" verklungen ist, schwillt
ihr Ton ins Grandiose. Lässt alles Verbale hinter sich. Wer
Bach hört, überhaupt barocke Orgelmusik, braucht nicht
mehr zu zanken. Kommt womöglich qua Musik aufbessere Gedanken...
Man freue sich nicht zu früh. Der Liedteil der
Feier ist noch nicht überstanden. Was zu befürchten war:
“Nun danket alle Gott" ist angesagt. Soll man sich da
überrollen lassen?
Ludwig, hättest Du da etwas beizusteuern? Wem
wäre denn jetzt zu danken? Den Pflegerinnen und Pflegern der
Clarissa, mit ihrem schweren Beruf. Besucherinnen und Besuchern
der uralten, geplagten Frau.
Stattdessen “Gott"? Ganz abstrakt. Danken,
für alles und jedes? Summarisch und affirmativ? Kennen diese
Leute denn die Welt so wenig? Die tragische Welt? Haben sie mal
etwas gehört von der dazu passenden Dreieinigkeit: Alter, Krankheit,
Tod? Von den frühen Entdeckungen des jungen Shakyamuni, des
nachmaligen Buddha?
Drei Evangelisten lassen Jesus von Nazareth sterben
mit dem Ausruf des gekreuzigten “Eli, Eli, Asabtani"
(,Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?') Aber dann
kommt dieser hochspekulative griechische Dichter und “Evangelist"
Johannes und macht die Rechnung wieder glatt: “Es ist vollbracht".
Ludwig schämt sich. Er, als Halbtags-Jesuaner,
der den Ruf zur Nächstenliebe, der “Agape", wohl
gehört hat, ein Schüler der Dorothee Solle, ein Bewunderer
des Pessimisten Albert Schweitzer, keineswegs gewillt, das Christkind
mit dem Bade auszuschütten, empfindet dieses Lied der Unempfindlichen
als Lästerung.
“Lob, Ehr und Preis sei Gott, dem Vater, dem
Sohne und Gott, dem heiligen Geist, im höchsten Himmelsthrone,
ihm, dem dreieinigen Gott, wie er am Anfang war und ist und bleiben
wird, ihm danket immerdar." Dem Ludwig ist eiskalt geworden
in seiner letzten Reihe. Er fühlt sich wie ausgesetzt - in
einer exotischen Sekten-Schar. Was mögen die Sänger sich
nur denken bei solchem Sang?! Oder liegt der Fehler beim Ludwig?
Vielleicht muss er sich einfach mehr anstrengen, um hinter den Sinn
des Trauer-Danks zu kommen?! Vielleicht muss er endlich begreifen,
das s der dankbare Überschwang einer Not-Wendigkeit entspringt?
Es geht um die Zukunft einer Illusion! Die Mär von einem anthropomorphen
Patriarchen, der diese Welt gemacht haben soll (ein Schöpfer,
wenn auch ohne Kelle), der sich anschließend auf die Schulter
klopft, sich selbst bescheinigt, es sei gut, was er gemacht habe?!
Unbestritten blieb das ja nicht.
Ludwig Feuerbach, etwa, Philosoph und Religionskritiker
(1804-1872) hatte sich gegen alle Weltschöpfüngsgeschichten
gewandt. Und auf den gibt unser heutiger Ludwig eine Menge! Freilich
ließ Feuerbachs Hinweis auf die angebliche Ewigkeit der Materie
ja auch Fragen übrig.
Die optimistische Urlüge der Genesis ist am schwersten
nachzuvollziehen, es sei denn, man verstehe sie als echte Not-Lüge!
Danket dem Herrn, für Alter, Krankheit und Tod?!
Für Erdbeben und 'Sintfluten'?! Viren und Bakterien?! Heuschrecken
- an besseren Tagen tatsächlich mal wilden Honig? ... Nicht
zu fassen, es sei denn als Gipfel der Verdrängung.
Vielleicht gerät die menschliche Vernunft mit
Notwendigkeit in Schwierigkeiten, wenn sie die ersten und die letzten
Fragen beantworten will. Welch Skandal, dass bislang keine weise
Frau, kein Heiland, kein Prophet, kein Philosoph und auch kein Physiker
und Kosmologe erklären kann, warum und wieso diese Welt entstanden
ist, - sofern sie nicht einer ebenso rätselhaften Beginnlosigkeit
sich verdankt. (Kurt Tucholsky fasst sich da kurz am Ende seines
einschlägigen Gedichts: “Se wissen et nich, se wissen
et nich..."
Ludwig versucht, wieder Anschluss zu finden an das
Programm für die Trauergemeinde, an das Thema Dankbarkeit.
Orgelspiel beruhigt ihn. Und nun dankt er, dankt ehrlich, dankt
jenem Arzt im Stillen, der bei einer beginnenden Lungenentzündung
im hundertundvierten Jahr endlich kein “fettendes" Antibiotikum
mehr gegeben hat. Amen.
Aber der Friede waltet nicht lange. Die Predigt steht
noch aus. Und die hat es wieder in sich.
“Liebe Trauergemeinde!", hebt der Pfarrer
an. “Wir Christen glauben, dass mit dem Tode keineswegs alles
zu Ende ist..."
Das fängt ja gut an. Wo stecken Bleistift und
Papier? Da lohnt es sich wohl mitzuschreiben. Freilich, was sollen
die Leute denken, wenn einer protokolliert? Ob er's aus Begeisterung
tut? Oder zu welchem Zweck sonst?
Sind die Jenseitspropheten wirklich immer noch an
Deck? In einer deutschen Universitätsstadt des Jahres 2006?
Schon als Dreizehnjähriger hat der kleine Zweifler die angeblich
Erwachsenen bedrängt, ob sie ihm nicht garantieren könnten,
dass die Sache mit dem ewigen Leben ins Wasser fiele. Grauenhafte
Vorstellung! Aber die Erwachsenen reagierten diplomatisch, da sie
es mit der Religion nicht verderben wollten.
Und nun wissen “wir Christen" also in Sachen
Jenseits Bescheid. Gewiss waren Jesus und Paulus Jenseits-Spezialisten,
und sie glaubten ganz ernsthaft an ein vom Himmel hereinbrechendes
Gottesreich, die “basi/leia ton uranon", das Königreich
der Himmel. Der Paulus brachte die Apokalypse geheimnisvoll und
poetisch: “Wir sehen jetzt in einen dunklen Spiegel, doch
hernach von Angesicht zu Angesicht."
Wer sagt's denn? Das Rätselwort ist wenige Minuten
nach Predigtbeginn wieder unter uns. Da braucht kein Ludwig mitzuschreiben.
Außerdem sind weder Bleistift noch Kugelschreiber zur Hand.
Es ist ja wohl auch hoffentlich ausreichend bekannt,
dass “wir Christen" kein Monopol haben in Bezug auf Jenseits-Spekulationen.
Antike, orientalische, asiatische Religionen kennen Modelle von
Tod und (oft zyklischer) Wiedergeburt.
Die wenigsten wissen, dass der Ludwig von der letzten
Bank einem anderen Ludwig tief verbunden ist, der als junger Privatdozent
für Philosophie an der Universität Erlangen mit einer
radikalen Schrift “Gedanken über Tod und Unsterblichkeit"
gegen den Glauben an individuelle Unsterblichkeit hervorgetreten
war. Das war Ludwig Feuerbach, der an die wahrhafte und vollständige
Vergänglichkeit uns erinnerte! Ergebnis: die Schrift wurde
von der Polizei konfisziert, zumal sie auch sonst noch Angriffe
auf Theologie, Kirche und Frömmelei enthielt.
“Der Mensch schuf Gott nach seinem Bilde",
das auf den Kopf gestellte Moses-Wort des Ludwig Feuerbach hatte
es dann dem jungen Ludwig von heute so angetan, dass er sich mit
einem Spitznamen, einem geheimen ,nome de guerre', -“Ludwig"
nannte!
Und unser Ludwig schritt weiter fort, durch den Feuerbach,
und ihm wurde klar, dass der Mensch nicht nur den Einmanngott schuf
nach seinem Bilde und die entsprechende Dreieinigkeit dazu, sondern
überhaupt alle Götter und Göttinnen, Erzengel und
Engel, Teufel, Dämonen, Demiurgen - entsprechend seiner enormen
Phantasiebegabung.
Und jetzt sitzt Ludwig zwo auf der allerletzten Bank
und friert bei einer kirchlichen Wiedererweckung des Jenseits, aber
lässt sich nicht unterkriegen, sondern zischt lautlos vor sich
hin: Sapiens soll gefälligst in seine Götterwerkstatt
gehen und sehen, ob seine Götter noch so herrlich sind wie
am ersten Tag...
Trotz Jenseits-Zulage und Nun-danket-alle-Gott-Einlage
gerät die Trauerfeier ganz gut. Der Pfarrer ist inzwischen
vom allgemeinen zum speziellen Teil der Predigt übergegangen.
Er versteht es durchaus, von der Verstorbenen ein plausibles Bild
zu zeichnen. Man muss ihn mit Details versorgt haben, und offenbar
hat er die Clarissa auch gekannt.
Im Gegensatz zu sonstigen - meist diplomatischen -
Nach-Rufern spart dieser eine Phase im langen, langen Leben der
Gefeierten nicht aus, in der die offenbar stets engagierte Frau
des Pseudo-Guten zuviel getan hat: in der der NSDAP.
Ja, da gab es offenbar wieder eine verlockende Dreieinigkeit:
“Ein Volk, ein Reich, ein Führer!" Als Sozialarbeiterin,
Krankenschwester, junge Akademikerin, mit frühem Doktor, fand
sie falsche Antworten auf die Wirtschaftskrise der späten zwanziger
Jahre und spürte nicht, dass nationalistische Grundannahmen
einfach zu klein kariert waren in einer Welt, die Zusammenarbeit
brauchte.
Der Pfarrer ist nicht bös'. Bestimmt ein guter
Seelsorger. Als Religionsphilosoph weniger geeignet. Aber Ludwig
ist auch nicht bös'. Er glaubt allerdings nicht nur an den
Wert der christlichen Agape, sondern auch den der buddhistischen
“Metta" (Güte), welche im Verbund mit “Mitfreude,
Mitleid, und Gleichmut" eine Gruppe von Übungen und Tugenden
darstellt, ohne dass dabei ein persönlicher Gott oder Gottessohn
vonnöten wäre.
Friede, Freude und doch keine Oblaten? Dabei Buddha
und Jesus als Lehrer universaler Menschenliebe?
Klingt damit, teils laut, teils leise, die Trauerfeier
für die nun vom leiden erlöste Clarissa aus? Nun danket
alle dem individuellen, einfühlsamen Prediger? Ist das alles?
Wurde etwas vergessen?
Ja. Es steht noch etwas bevor. Das Unvermeidliche.
“Lasset uns beten".
Das große heilige Murmeln steht noch aus, die
akustische Trance, Totem und Tabu.
“Vaterunser..."
Ja, das ist es. Kein Mutter-unser. Kein Urknall-unser.
Kein “intelligent design". Der Vater macht es, ganz persönlich.
Und wir beten zu ihm, mit einem Trotzdem-unser.
“Der Du bist im Himmel..."
Ach, Du liebes vierdimensionales, raumzeitliches Kontinuum!
Einstein-kompatibel? Hawking? Ödet doch schon String-Theorie?!
Ach, Du lieber Himmel. Vater mittendrin.
“Geheiligt werde Dein Name..."
Vater, unser, Großvater, unser. Wie war doch
gleich Dein Name? Wotan? Zeus? Der große Manitu? Jaweh? Allah?
Jehova? Oder doch im Plural: Elohim?!
Jedenfalls sind wir Schriftbesitzer, stolze Gottes-Kinder.
Echt. Namensbesitzer.
“Dein Reich komme..."
Au fein! Das Himmelreich. Solche Phantasien ergreifen
in Sonderheit Völker, denen es dreckig geht. Wie etwa damals
den Juden unter römischer Herrschaft.
“Dein Wille geschehe, wie im Himmel, also auch
auf Erden..."
Aber bittschön mit Ausnahmen, Allmächtiger!
Auf Erdbeben zum Beispiel, “Sintfluten" und Pandemien
können wir - dankend! - verzichten.
“Unser täglich Brot gib uns heute..."
Unbedingt! Vollkornbrot. Wir sind für die Bewahrung
einer gesunden Schöpfung. Lieben außerdem Demeter, wie
alle Fruchtbarkeitsgöttinnen.
“Führe uns nicht in Versuchung..."
Kontakt mit Kybele, Proserpina, Magna Mater.
“Und vergib uns unsere Schuld, wie wir vergeben
unseren Schuldigem..." Sehr wahr. Wir vergeben durchaus den
Theolügen, sofern sie zu wagen beginnen, sich ihres Verstandes
zu bedienen.
“Denn Dein ist das Reich und die Kraft und die
Herrlichkeit - in Ewigkeit. Amen".
Ludwig denkt sich sein Teil:
“Ja, Ewigkeit! Wir wissen zwar, dass dieses
alles nicht stimmt. Aber egal. Wir bestehen einfach auf einem statischen,
überholten Weltbild. Und wenn der Andromedanebel auf unsere
Galaxis stürzt, kratzt uns auch das keineswegs. Ist ja noch
lange hin. Was wir wirklich brauchen, ist ein geborgenheitsträchdges
Weltbild. Wenn wir nicht würden wie die Kindlein, müssten
wir uns ja neue Gedanken machen. So heißt unser Wahlspruch:
credo quia absurdum. cogito, ergo dumm."
Durchsage: Anschließend treffen wir uns beim
Perser, zu einem kleinen Imbiss.
Nach dem “Gottesdienst".
Lockeres Gespräch vor der Kirchentür. Stimmt
es, dass die Clarissa sich einen anderen Pfarrer für ihre Trauerfeier
gewünscht hatte? Einen mit einer zwölfjährigen Erfahrung
als Auslandspfarrer in Brasilien, einen, der zur 'Theologie der
Befreiung' tendierte, der Theologie eines Boff, Ernesto Cardenal
et tutri quand? Der ein durch und durch selbstkritisches “Christentum"
vertrat? Ja, es stimmt. Aber was tut's. Der aktuelle Pfarrer, der
ihn vertrat, tat sein Bestes und hatte wieder andere Stärken.
Der Wahlpfarrer war ganz kurz vor der Clarissa gestorben,
die Zeitungsannonce stand neben der ihren, und die Trauerfeier erfolgte
im Abstand von zwei Stunden. Alles ungeplant. Dafür magische
Synchronizität? Aber bitte, Ludwig! Aberglaube passt zu Dir
doch wohl zuallerletzt.
Wir können doch schon froh sein, wenn in der
Trauergemeinde keine Verabredungen für ein Wiedersehen in unserer
“himmlischen Heimat" getroffen werden. Kein see you later...!
Klatsch und Tratsch. Es kommt heraus, dass die Clarissa,
als sie noch sprechen konnte, manchmal mit Ludwig diskutiert hat.
Zum Beispiel über Dorothee Sölles “Theologie
der Stellvertretung".
Noch eine Theologie, eine Wissenschaft von Gott! Geht
vom Tode Gottes aus, will uns aber in die Pflicht nehmen, etwas
wirklich werden zu lassen von dem, was als ,Güte Gottes' allzu
oft folgenlos beschworen worden ist.
Die Clarissa sagte dann schon mal, in ihrer letzten
theologischen Phase: “Den Allmächtigen haben wir uns
ja an den Schuhsohlen abgelaufen; aber an Jesus von Nazareth möchte
ich trotzdem festhalten."
Der kleine Ludwig wiederum hält seit langem Atheismus
für selbstverständlich, aber mit einer anderen Tönung
als der große Ludwig, Ludwig Feuerbach. Anders als der philosophische
Religionskritiker des 19. Jahrhunderts bekennt sich unser künstlerisch
ambitionierte Ludwig weniger als Gottesverneiner denn als Götterliebhaber:
Er liebe die Götter und Göttinnen, Religionen
und Mythologien, ja, er achte sie, so gut es gehe - als lauter Beweise
für eine üppig blühende, manchmal sogar fruchtbare,
immer unheimliche, nicht immer unbedenkliche grandiose Phantasie!
Eifrig betet er den polytheistischen Rosenkranz, liebt Apoll und
Aphrodite, Isis wie Osiris, Shiva wie Maya (die Kali weniger).
Als Künstler kann Ludwig etwas anfangen mit dem
Irrationalen, ,den fünf großen M' wie er sie nennt, also
Magie, Märchen, Mythos, Mystik und Metaphysik.
Aber wer hat Zeit für dergleichen? “Was
die Leute tatsächlich beschäftigt, ist die Hingabe an
die ,drei großen M', die wahren Götter der Gegenwart.
Als da sind Mammon, der Gott des Geldes! Mars, der Gott der in Vorbereitung
befindlichen nächsten Kriege (die wiedergeborenen Christen
in Washington kennen sich da aus)!
Und Maya, die Mediengöttin des schönen,
des schlimmen Scheins."
Ein Teil der Trauergäste sitzt noch zusammen,
beim Perser. Dann Abschiednehmen. Innerhalb von Tagen wird folgen
die Verbrennung des Leichnams im Krematorium. Dann die Umen-Bestattung.
Nun danket alle der kultivierten Regie des feinsinnigen
Leiters des Beerdigungsinstituts. Nun danket alle Ludwig Feuerbach,
dessen Aktualität sich durch diesen “Trauergottesdienst"
überraschend deutlich bestätigt hat.
Und nun danket alle Ludwig, der sich frierend, auf
der letzten Kirchenbank, während der Feier vorgenommen hat,
weiter durch den Feuerbach zu gehen. Er vertraute sich mir an, und
so wurde mir warm ums Herz. Amen.
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