XXVI. Jahrgang, Heft 145
Jul - Aug - Sep 2007/3

 
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Letzte Änderung:
18.07.2007

 
 

 

 
 

 

 

DIE BRÜCKE AN DER SPREE

Globale Verarschung


   
 
 


Ich setze mich in den Zug Berlin-Warschau. Kurz nach dem Start spüre ich eiskalten Zug auf meinem Kopf und höre irritierendes Summen. Bald entdecke ich die Ursache - natürlich die Klimaanlage! Es wird kälter und kälter, ich schaue neidisch aus dem Fenster auf die Aprilsonne. Ich ziehe alles an, was ich an Kleidung habe. Drehe mich hin und her um mich irgendwo vor dem Wind zu verstecken. Hoffnungslos - jetzt bläst es mir in den Rücken. Ich versuche diesen kälte-blasenden Ungeheuer mit Zeitungen zu ersticken. Ohne Erfolg - der Kältestrom wird lediglich umgeleitet. Ich spüre schon, wie der unvermeidliche Rückenschmerz, Schnupfen und Husten kommt.

Abgesehen von der Kälte wird die Luft ganz trocken und sehe mit meinem inneren Auge all die Pilze, Viren und Bakterien, die sich in Klimaanlagen mit Vorliebe ansiedeln. Ich denke nostalgisch an die Zeiten, als man noch das Fenster aufmachen konnte. Denn wegen der Klimaanlage kann man auch nicht mehr lüften. Bald fallt draußen der Schnee, trotzdem pustet die Klimaanlage immer kühlere Luft - unbeherrschbare Elektronik macht eben, was sie will. Ich fluche - sogar normales Schneewetter ohne Geblase ist besser.

Nach der Grenzüberschreitung beginnt MEIN KAMPF.

Ich bitte den polnischen Schaffner, das Geblase zu reduzieren und seine Temperatur zu erhöhen. Der meint zuerst naiv, daß man das im Abteil durch Knopfdrehen machen kann. Das war mal! - erkläre ich ihm. Jetzt geht es nur elektronisch. Jedoch, bevor er bereit wäre den Techniker zu holen, muß ich erstemal beweisen, daß ich nicht spinne. Das ist nicht allzu schwierig. Ich zeige auf andere Passagiere, die sich auch in Mützen, in Mäntel gewickelt und mit Taschentüchern in der Hand tiefgefroren zusammen krümmen. Natürlich mit Ausnahme von übergewichtigen Männern, die Bierflasche nicht aus der Hand lassen...

Der Schaffner ist schon überzeugt, aber heute will er die „nationale Frage“ ansprechen und fragt mich wiederholt mit seiner Kollegin, warum wir gerade die polnische Besatzung ansprechen, und uns nicht schon in Deutschland beschwert haben? Er wiederholt dramatisch: „Sind wir etwa schlimmer?“

„Nein, nein“, beruhige ich ihn. „Ganz im Gegenteil, ihr seid besser. Mit euch kann man reden, und der deutsche Schaffner hätte gleich ein existierendes oder fiktives GESETZ zitiert, das uns zum Frieren zwingt.“

Jetzt strahlt Schaffners Gesicht, er holt den Techniker und alles geht glatt über die Bühne. Zurück im Abteil nehme ich in meine schon warme Hand eine deutsche Zeitung. Ich lese mit Schrecken, daß bald in der EU alle Glühbirnen mit Ausnahme von „Energiesparenden“ verboten werden. Im Namen des Kampfes gegen die „GLOBALE ERWÄRMUNG“.

Ich habe mal so eine Birne gekauft, und nicht nur was das Licht wie im Leichenhaus, sondern auch blitzte sie und pfiff sogar wenn der Kontakt ausgeschaltet war.

Ich muß mir unbedingt normale, helle, stille Birnen für einige Jahre besorgen - beschloß ich. Und nachher werde ich sie mir im Urlaub in Afrika besorgen. Dabei schätzen die Spezialisten, daß der Energieverbrauch in Haushalten minimalen Anteil des totalen Verbrauchs ausmacht.

Ich teilte meine Idee mit zugestiegenen Passagieren und allgemeines Schimpfen begann - wieso redet man nicht von mehreren, ständig laufenden Fernsehapparaten und Computern mit Internet fast in jedem Haushalt, und von Handies, die zu Gesprächen „Was machst du jetzt, ich sitze gerade im Bus“ benutzt werden? Von energiefressenden Neonwerbung, ständigen Einladungen zum Quatschen und Surfen, von ohrenbetäubende Musik überall? Ach so hilfreiche Geräte wie elektronische Waagen, elektrische Mühlen und Uhren, Kaffeemaschinen und Dosenöffner stören niemanden. Staubsauger auch zum Entstauben von Parkettböden, die man am besten mit einer Bürste sauber halten kann. Toiletten, die selbst Spülwasser lassen im am wenigsten geeigneten Moment und Wasserhähne, die uns auf die Hände spuken, wenn wir sie gerade trocknen wollen. Oder Händetrockner, die heiße Luft pusten, wenn unsere Hände voller Seife sind. Bald wird es nur elektronisch regelbare Kühlschränke geben, und sogar für jede Temperaturänderug werden wir elektronisch programmieren oder einen Computerspezialisten holen müssen. Auf einmal kam wieder ein eisiger Hauch in den Abteil und wir brüllten alle mit Erleuchtung: „Und die Klimaanlagen!“

„Ja, bei den Klimadebatten geht es nicht um GLOBALE ERWÄRMUNG, sondern um GLOBALE VERARSCHUNG“ - definierte ich präzise diese Neuerscheinung. Alle klatschen Beifall. Während man uns, kleinen Leuten dunkle Glühbirnchen verschreibt, pusten die Klimaanlagen in Zügen, auf den Bahnhöfen, in jeder Bank, Einkaufszentrum, Bürogebäude, oft auch in Restaurants. Man begegnet ihren zahlreichen Opfern, den Angestellten, in Apotheken, wo sie schimpfend oder weinend sogar im Sommer nach Erkältungsmitteln Schlange stehen. Wir sind nämlich in Europa, bis auf wenige Augusttage weit von der Hitze entfernt. Trotzdem erleben wir auch Veranstaltungen, wo uns sogar im tiefsten Winter kalte Luft in die Schnauze gepustet wird. Ich verlasse sie dann voreilig. Auch wenn die das Thermometer über 20 Grad beträgt, kann die sogenannte „gefühlte Temperatur“ beim starkem Wind und hoher Luftfeuchtigkeit bis zu 15 Grad davon abweichen.

Hinzu kommt, daß es gerade die Klimaanlagen sind, die zwar die Innenräume kühlen, aber zugleich heiße Luft auf die Straßen blasen, die die Klimakatastrophe in Südostasien herbeigeführt haben. Schon in den 70-er Jahren wußte jedes Kind in Bangkok, daß die wachsende Hitze in der Stadt durch Verbreitung von Klimaanlagen verursacht wurde. Zugleich zwang sie immer mehr Leute dazu, nolens volens sich auch diese Geräte anzuschaffen.

DIE KLIMAANLAGEN SCHAFFEN ALSO SELBST WACHSENDE NACHFRAGE NACH WEITEREN KLIMAANLAGEN UND VERURSACHEN EINEN TEUFELSKREIS FÜR DIE UMWELT UND SÜSSE GEWINNPERSPEKTIVEN FÜR DIE PRODUZENTEN. UND ZWAR NUR SIE!

Weder die Heizung, noch die Erzeugung von heißem Wasser, noch Windmühlen oder Lüfter stimulieren mehr Bedarf für sich selbst. Den riesigen Energieverbrauch für Kühlung und Pusten zugleich, sowie Umweltvergiftung kann man sich kaum vorstellen oder ausrechnen. Und wir sollen dank der rasanten Verbreitung von Klimaanlagen jetzt nicht nur im Winter frieren, sondern auch im Sommer in klimatisierten Räumen. Na und im Urlaub im Brandenburg, um die Energie zu sparen, die bei Flügen verbraucht wird.

Aber, oh Wunder, in der öffentlichen Umweltdebatte in Deutschland habe ich kein Wort über Klimaanlagen gehört. Auch im Internet gelang es mir nur in vor allem in wenigen privaten blogs einige karge Sätze finden, die ganz nebenbei von Klimaanlagen im Zusammenhang mit der Heizung die USA kritisieren, sie aber im eigenen Land voll übersehen. Dafür aber entscheiden die Hausverwalter über die Temperaturen in meiner Berliner Wohnung. Die letzten Gerichtsurteile entschieden, das 18 Grad ausreicht. Bald kommt vielleicht sogar 14-15 Grad. Nachts, wenn es am kältesten ist, wird die Heizung ganz abgestellt. Eine deutsche Macke, natürlich aus der Zeit von Bismarck. Dieses „Energiespargesetz“ stimuliert womöglich stärkeren Energieverbrauch, als differenzierten menschlichen Bedürfnissen gerechte Heizung. Wenn es jemandem zu heiß ist, der kann doch die Heizung zudrehen oder lüften. Umgekehrt geht es aber nicht Viele Menschen schalten also energiefressende Elektroofen oder Heizlüfter ein. Ich kenne keinen Berliner, der so was nicht hätte! Und an die Bedürfnisse von Alten und Kranken, oder Kälte-Allergiker (das gibt es auch!) wird überhaupt nicht gedacht. Statt dessen werden vielleicht bald Beamte neben Kontrollen von „Energieausweisen“ (ja, das wird bald eingeführt) auch unsere Schlafzimmer nachts durchsuchen? Dabei sind merkwürdigerweise fast alle Verwaltungsgebäude total überhitzt! Also lassen uns die Hausverwaltungen doch nicht aus Liebe zur Umwelt frieren? Was ist ihre Motivation - dachte ich lange nach. Na klar! - entdeckte ich endlich. Sie halten die Vorauszahlungen für Heizung weiterhin hoch und kassieren ein Jahr lang Zinsen für zurückgehaltenes Heizungsgeld.

Daher finde ich, daß die „globale Erwärmung“ als Vorwand für die epochale Verarschung genutzt wird. Bürokratische Terroristen lassen weiterhin die Konzerne blühen, die Klimaanlagen und andere überflüssige Elektrogeräte erzeugen, während sie für private Konsumenten absurde, kleinliche Verbote einführen. Auch hier muß Deutschland „an der Spitze sein“, obwohl sogar manche deutsche Publizisten zurecht von Hysterie reden - international bekannt als GERMAN ANGST.

Außer Interessen der Produzenten und der Selbstimulierung der Nachfrage durch Klimaanlagen, spielt der Snobismus der Neureichen europäischen Länder eine gewisse Rolle. Ähnlich wie in den USA und der Dritten Welt, wo Kälte ein Prestigesymbol darstellt...

Jetzt übernimmt das neuereiche Europa dieses Modell, sichtbar auch im Bau von fensterlosen Glasgebäuden und rennt dadurch in Richtung Klimakatastrophe. Wobei man für gemäßigten Verbrauch von Klimaanlagen in tropischen Länder Rechtfertigung finden kann, aber im kalten Europa? Kommt die Verschwörung des Schweigens zum Thema Klimaanlagen von der GLOBALEN VERBLÖDUNG der Politiker und Spezialisten kommt?

Zum Beispiel durch Untertauchen der Klimaanlagen unter der Bezeichnung „Heizung“ - manche Systeme blasen nämlich, wie im Zug, warme oder kalte Luft. Oder werden sie von finanziellen „Anreizen“, wie Schmiergelder angetrieben?

Diese Frage stellt sich auch, wenn man primitive Methoden der Politiker und Wissenschaftler merkt. Sie extrapolieren einfach die aktuellen Trends und versuchen nicht, mögliche Neuentwicklungen zu antizipieren. Oder wenigstens zugeben, daß sie unberechenbar ist.

Wie eine Anekdote klingen heute die Ängste vom Ende des 19-ten Jahrhunderts, daß Paris infolge der Verbreitung von Pferdekutschen bald in Pferdescheiße ersticken würde... Bevor er ersticken konnte, hat man Autos erfunden, und jetzt erstickt Paris in etwas ganz anderem.

Aber vielleicht werden wir alle bald mit einem Fibrillator im Hintern fliegen?

Oder umgekehrt, bei nicht geradlinigen Entwicklungen kann man sich auch die Rückkehr zu alten, erprobten Technologien vorstellen, wie der traditionellen Bauart zum Beispiel im Nahen Osten und Indien, die das Spiel von Sonne, Schatten und Wind perfekt nutzten.

AUF JEDEN FALL WERDE ICH DIE GLÜHBIRNEN, DIE MIR GEFALLEN, SOLANGE NACH EUROPA SCHMUGGELN, BIS DIE KLIMAANLAGEN IN BRÜSSEL ABGESTELLT WERDEN.

Viktoria Korb

   

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