XXV. Jahrgang, Heft 142
Okt - Nov - Dez 2006/4

 
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Letzte Änderung:
03.06.2006

 
 

 

 
 

 

 

Necati Mert´s Kolumne

Das Abendland als kranker Nabel des Globus


   
 
 

In den bisherigen zweihundert Jahren der Wesensgeschichte des Abendlandes liegt der Beweis, daß die Universalität seiner Wertsendungen nicht schwerer wiegt als das Gewicht der Glaskäfighamster. Dennoch oder gerade deswegen bewirkten sie für ihre Empfänger auf dem Wege zur Emanzipation als Ballast.

Das eigentliche Kräfteverhältnis dieser abendländischen Werte liegt zwischen der bisher virtuellen Erzählung vom “Untergang des Abendlandes” und der testamentarischen Apokalypse.

Trotz aller Lobeshymnen, mit der die Domäne der merkantilen Humanität eine Horde von Claqueuren unterhalten kann, wäre es den Vertriebsagenten der bürgerlichen Ideologie-Produkte nicht gelungen, in weiten Teilen des Globus Fuß zu fassen. Begeistert haben sich die Kontinente erst für die sozialistischen Ideale, deren Verbreitung auf der Grundlage der Aufnahmebereitschaft stattfand.

Dagegen erfolgte die Ausweitung der bourgeoisen Ideen durch Eroberungskriege, Invasionen, Bevormundungen, Einmischungen, Intrigen und Provokationen. Mehr als Nationalismus, Klerikalismus, Rassismus u.ä. enthalten sie nicht.

Mit der Siegesparade des monetären Kapitalismus über den Sozialismus wandte sich die Bourgeoisie an all jene geschichtlichen Domänen mit der Botschaft zur Versöhnung, gegen die sie sich bisher als Klasse des Fortschritts behauptete. Um ihre Dynastie zu verewigen, droht sie mit der rachegöttlichen Erzählung der Apokalypse, bedient sich selbstherrlich der technologischen Errungenschaften, stützt sich auf die Oldies der Systeme wie Leibeigenschaft, Sklaverei, Häuptlingstum...

Hier stellt sich die Frage nicht danach, wie reaktionär diese Bourgeoisie geworden ist, sondern ob ihre Fundamente überhaupt universale Bausubstanz enthalten.

Berührt werden sich von einem solchen Fragesatz die Meisterdenker des kritikgeschützten Intellektuellenprogramms nicht fühlen, die sich in den nächtlichen Kanälen im harten Überlebenskampf mit den Bordellfürsten befinden - auch die aufrückenden Gesellen der Intellektuellenzunft nicht. Denn sie verdanken ihr Wohlergehen dem Mangel an subjektiver Gegenkraft der neofeudalen Macht und daß sich der Zusammenprall der sozialen Gegensätze mit den Mittel des Kulturdiskurses beruhigen läßt.

Oft treten diese Gesellen in der Rolle des Demo-Kuratus auf und spielen vor, wie man sich beim Gestank des Elends die Nase, beim Knurren des Magens die Ohren zuhalten kann. Um ihre Stellung nicht zu verlieren, müssen sie ihr Publikum mit den ewig impulslosen Anregungen über Demokratie und Chancengleichheit, Zivilgesellschaft und Menschenrechte in den Schlaf beten. Im rückwärtsgewandten Leitzug der Modernisierung haben sie die politische Ökonomie aus den Foren über Rassismus, Ethnophobie, Emanzipation, Bürgerrechte u.ä. zu verjagen.

Sie haben den menschlichen Horizont zu verhüllen und davon abzulenken, daß die Sprachgüter wie Individualismus, Pluralismus, Liberalismus eine Chimäre auf dem Tretrad des Kapitalverwertungszwangs sind. Auch müssen sie sich mit den Moderatoren der Neuen Rechte verbrüdern sowie mit Neolinken verbünden und darüber lamentieren, wie die metropolitane Vermehrung des Privateigentums die schrecklichen Übel lindert, wie viel Sozial-Präfixe die respektive kapitalistische Demokratie erträgt und wie viel Political Correctness-Suffixe die reflexive Gesellschaft.

Das Denkmonument des Abendlandes: Andere müssen Maß halten für ihre Erwartungen

Der hier versuchte Streifzug durch das komplette Abendland zielt nicht darauf ab, es in irgendeinen Kasten zu stecken oder ihm eine Schablone der Teufelei anzudichten, sondern basiert auf einem provokativen Denkansatz: Da es ist, was es tut und läßt, fordert es zu einer fundamentalen Auseinandersetzung mit sich selbst heraus.

Die Zivilisationskaste des Abendlandes besteht auf der autokratischen Autorität im Leitwerk des Fortschritts, und seine bürgerlichen Kräfte tappen seit dem Sturm auf die Bastille durch das Château der immer korpulenter werdenden Oligarchen in der Wolkennacht – mit der Lappe der “universalen” Werte, ohne sie definieren zu wollen. Sie schließen jede Veränderung in ihrer “Hochkultur” aus und beschriften Papierwerke, mit denen sie dann den Rest des Kosmos auffordern, sich genau so zu reformieren, nämlich den Gesetzen des Marktes unterzuordnen.

Also lebt das Abendland von jenen Werten, die sich mindestens seit zweihundert Jahren im Stillstand befinden. Sie sind daher nicht in dem Sinne rückständig, weil sie nicht auf der Tradition der Aufklärung stehen, sondern weil sie eben nichts anderes enthalten als dieses Oldie.

Es betrachtet den Kosmos als seinen Besitz und die Erdenbürger als seine Leibeigene, die es glaubt, mit dem Notwendigsten zum Überleben zu versorgen, um sein Wohlbehagen mit aller Vielfalt der Natur und Technik zu sichern.

Immer wenn das Abendland eine höhere Etappe für seinen Vormarsch auf dem Geschichtsgelände verkündet, erfinden seine Gelehrten neue Novellen. Nicht mehr mit den Paraphrasen wie Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit flattert seine Fahne, sondern mit der neomerkantil-kulturalistischen Ideologie der “Menschenrechte”, seit es am Mount Everest der Arier als Wiege der Zivilisation kalt wurde.

Eine Versagensangst geht um in seinen Kapitalen, herrscht die Stimmung des Ausnahmezustandes vor dem Aufbruch der “neuen Völkerwanderungen”. Daher befehlen ihre Oberhäupter, die Ökonomisierung bzw. Monetarisierung menschlicher Träume und die Bombardierung tumultuarischer Begegnungen mit Geldparkmöglichkeiten.

Das Programm des neuen Abendlandes, das inzwischen den Abstand zum Faschismus verlor und seine Institutionen wie Korporatismus in “Konsensgesellschaft” umschrieb bzw. übernahm, mußte den ramponierten klassischen Rassentheorien die Absage erteilen, weil sie den Wechsel von einer Rasse zu anderen, von Unterrassen zur Oberrasse ausschließen.

Dagegen sind die Grenzen der Kulturkreise nicht so fest betoniert. Also kann Kultur von Einzelnen verworfen und erworben werden. Gemeinsam ist bei beiden Kreismarkierungen die Stufenförmigkeit gemäß der Hierarchie-Leiter mit Wertunterschieden.

Darin liegt auch der Grund, warum die Gelehrten der Integrationsseminare einen Heidenlärm schlagen müssen, wenn ihr Angebot, den angeborenen Unterkulturkreis zu verlassen und sich vom höheren assimilieren zu lassen, nicht einen Glückstaumel auslöst.

Agora und Zivilgesellschaft im audiovisullen Stadium der Aufklärung

Gemeinschaftssäckel des Individuellen leergeschöpft – der Marasmus der zivilisatorischen Kernfäule weitet sich aus. Der herrische Trommelschlag verkündet die Gewalten-Totalität des “Legislativ-Exekutiv-Judikativen”, gestützt auf die architektonische Metapher eines vierkantigen sich nach oben verjüngenden Pfeiler des Kommunikativen mit pyramidenförmiger Spitze. Um diesem Obeliks herum versilbern die subalternen Statthalter, die wiederum in hierarchischen Legionen besoldet werden, ihren druidischen Kunsttrank.

Führen die Spuren der quertreibenden Urteile zum Fundort der Kolonisierten, braucht kein Hahn danach zu krähen. Noch stehen die Schallwellen des diametralen Denkufers unter der Aufsichtsturm der globalen Zentren. Noch kann der humanitäre Reklame-Rummel in weiten Menschenländern fiebernde Furore zeitigen, während das Treibhaus der Kernfäule tiefgekühlt bleibt.

Nur die Ziehkinder der Westgermania, die im Herbst 1989 für die “friedliche Revolution” marschierten, zeigen sich enttäuscht.

Geschwungen und abgeschliffen ist der Federkrieg mit dem Sexus-Konsum als Femme fatale, bis sich sein Profil ins Unkenntliche verwandelt. “Belle Epoque” singen die Pop-Guerilleros der Party- und Spaßparteien in der Formhülle der Neue-Mitte-Demogracien. In der Souffleur-Kabine kugelt sich der Theorie-Patriarch vor Lachen.

Dem Gesellenstück folgt der Meisterlehrgang: Krisen und Kriege werden weggeschwatzt und weggeschrieben, verschwinden im Einerlei des parlamentarischen Pingpong. Das Paradeheer des demokratischen Wirtstiers – Soldschreiber der Mass-Media, Hofphilosophen, Studienstricker... – jagen hinterher.

Die Intervention der Intriganten schreitet voran. Sie beschränken ihre Werkgrenzen nicht mehr nur mit der Kunst, die staatlichen Machtzentren zu erschleichen, sie sind auch brüskiert, die Schaltstellen der Zensur erobert zu haben. Die Akteure der medialen Meetings und Patrone der Denkfabriken schwelen im Zirkusrund der Humanität und schwelgen im Siegesrausch der High-Tech-Brigadisten.

Das Riesenrad der Demokratie dreht sich. Terrorismus-Mär als die letzte Erzählung der Aufklärung im Stile kolonialer Überfälle übervölkert das Bürger-Parkett.

Jede Politokratenzunft, die sich Partei nennt, verfügt über eine Zweigstelle, die sich unter dem Label Stiftung betätigt. Ihre Zwecke, erzählt Arnold Schölzel in “junge Welt” vom 19. November 2001, “ reichen von der Versorgung abgehalfterter, also verdienter Parteimitglieder mit lebensstandardsichernden Ruheposten über Beschäftigungstherapien für junge karrierewillige Menschen, die dem politologischen Aberglauben anhängen, bis zur Ausbildung von Führungspersonal ferner Länder, das so mindestens moralisch verpflichtet wird, der Bundesrepublik vielleicht einmal zu Diensten sein. Damit sie das alles bezahlen können, erhalten die Stiftungen offiziell rund 600 Millionen DM im Jahr.”

Der Demokratiekurs diktiert den Prototext für das Publikum, mit dem ökonomistischen Terrorsystem zu flaggen

Menschenmaterial wird eingesetzt zu produzieren, und die Produktion paradiert auf der Kosten-Kurve. Aus dem Wettlauf, die Faktura der Arbeitskraft zu marginalisieren, entstand plötzlich die Konsumkrise, der Korso der Überproduktion. Und plötzlich rufen die Vorturner der Deregulierung den Übervater, den Souverän des Standortnationalismus zur Intervention in der Arena der Marktspielkräfte. Er muß seinen Untertanen die Konsumlust als einen patriotischen Akt beibringen.

Um die Bedürfnisse der Konsumjunkies zu befriedigen, müssen die Postenschacher alles tun für die Freiheit endloser Bereicherung. Daher trainieren sie am Himmelspunkt mit den kalten Kriegswaffen, um die Freiheit der Aneignung zu sichern. Immer eifriger nähern sie sich dem Stabmanagement eines Supermarktes, das sich freut, wenn die eingelieferten Waren billiger werden und die Regal-Preise undurchsichtiger. Unerheblich dabei, was der Geldsack mit immer größer werdenden Banknoten machen kann.

Immer nach rechts, wo sich die faschistischen Kultstätten ausweiten, driftet der demo-kreative Traktor.

Die Agenturen des Werbefeldzugs der OneWorld inszenieren ein Laienstück mit Raufbolden und Desperados als Gegenpol des humanitären Krieges. Um den virtuellen Gegner mit islamistisch gedruckter Banderole gemäß dem Pentagon-Plan “Clash of Civilizations” einzuhämmern, werden die Ethno-Banden je nach der Krisenlage rekonstruiert. Allein ihre Existenz dient dann zur Gehirnwäsche des metropolitanen Publikums.

Die Aufdeckung dieser Inszenierung benötigt keine mühsame Aufklärung. Es gibt genug Belege dafür, daß die Staatsdiener mit Protagonisten der rivalisierenden Gewalt kooperieren.

Die arrangierte Gehirnwäsche des verwertbar demokratisierten Publikums vollzieht sich so gründlich, daß jeder für verrückt erklärt wird, der wagt, die Zusammenhänge publik zu machen, die sich von den vorgegebenen Szenarios abweichen. Nicht können die journalistisch jonglierenden Soldgesellen der Aufklärungsindustrie mehr bewirken, als auf dem Schoß der Nachrichtendienst-Agenturen zu sitzen und auf das maßgeschnittene Informationsmaterial zum Füllen ihrer Pflichtspalten zu warten.

Mit dem Zusammenfall von Agora und Theater befaßt sich der Berliner Politologe Herfried Münkler in "Frankfurter Allgemeine Zeitung" vom 26. Juli 2001:

Einige Beobachter des politischen Geschehens schlagen Alarm: Politik, und zwar keineswegs bloß deren Darstellung in den Medien, sondern auch die Entscheidungsabläufe selbst, verkomme zu einer Veranstaltung, die unter dem Diktat der audiovisuellen Medien steht, die, wenn sie beim Publikum Erfolg haben solle, Unterhaltungswert haben müsse.

Dementsprechend würden Konflikte inszeniert und Personen präsentiert, ohne daß dies mit der Sachlogik des politischen Entscheidungsgangs irgend etwas zu tun habe; es gehe bloß darum, auf dem Marktplatz der Aufmerksamkeiten gegenüber anderen Unterhaltungsangeboten nicht ins Hintertreffen zu geraten. Eine Politikberichterstattung, die bei der allabendlichen Programmauswahl nicht sogleich weggezappt werden will, muß entsprechend durchgestylt sein. Um in die Nachrichten zu kommen, hätten sich die Politiker inzwischen entsprechend designt. Das alles habe, so die Kritik, mit sachlicher Politik nur noch wenig zu tun.

Tatsächlich läßt sich eine Fülle von Einzelbeobachtungen zusammenstellen, die diese These bestätigen und womöglich als Bedrohung für die repräsentative Demokratie anzusehen sind. In zunehmendem Maße haben die Parlamente die Funktion der konkurrierenden Präsentation von Interessen und Wertorientierungen, deren argumentativer Vermittlung, schließlich der Ermittlung von Kompromißlinien und Gemeinsamkeiten an politische Talkshows verloren. Fast durchweg haben politische Talkshows höhere Einschaltquoten als die Parlamentsberichterstattung auf Phoenix, und damit haben sie, wenn Quoten die Währung auf dem Markt der Aufmerksamkeiten darstellen, auch eine höhere politische Relevanz.

Fragen der medialen Vermittlung sind dem Politikprozeß schon lange nicht mehr äußerlich - und wahrscheinlich sind sie es auch nie gewesen. Im Falle der Relevanzverschiebung vom Parlament zur Talkshow zeigt sich dies unter anderem darin, daß es für einen aufstrebenden Politiker ein größerer Karriereschritt ist, zu Sabine Christiansen oder Maybrit Illner eingeladen zu werden, als von seiner Fraktion im Rahmen einer Parlamentsdebatte ans Rednerpult geschickt zu werden. Parlamentsauftritte sind in der Regel nur noch relevant für das Ranking innerhalb der Fraktionen; Talkshoweinladungen bieten die Chance, die Meinungsführerschaft in bestimmten Fragen zu erlangen. Wer in einer Talkshow brilliert, bietet sich damit für höhere politische Aufgaben an.

Der parlamentarischen Beschlußfassung sind Prozesse vorgeschaltet, in denen Dissens markiert und Konsens hergestellt wird; diese haben sich im Verlauf des vergangenen Jahrzehnts und seiner tiefgreifenden medialen Veränderungen aus dem Parlament herausverlagert. Nun hat es in der Verfassung nicht vorgesehene informelle Strukturen von jeher gegeben. Aber sie hatten ihren Platz innerhalb des Parlaments und der in ihm vertretenen Parteien. Die Informalität von Meinungsbildungs- und -aushandlungsprozessen hat eine andere Qualität bekommen. ...

Wo Theater gespielt wird, sich also ein Publikum versammelt, um sich durch die Leistungen von Schauspielern unterhalten zu lassen, gibt es Grund zu der Vermutung, daß sich im uneinsehbaren Hintergrund der Bühne ein Autor, ein Regisseur sowie Souffleure und Maskenbildner verbergen, die die Fäden ziehen und über das entscheiden, was das Publikum zu sehen bekommt.

Auf die Politik übertragen, heißt dies daß, wo Theatralisierungen konstatiert werden, Manipulationsverdächte und Verschwörungsängste naheliegen. Nennen wir dies die mit der Theatralisierungsbeobachtung verbundene Manipulationsthese. Sie ist in der Geschichte des demokratischen Denkens, präziser: der Sorge des Republikanismus vor der Aushöhlung bürgerschaftlicher durch herrschaftliche Ordnungsmodelle immer wieder anzutreffen.

Die zunehmende Politiktheatralisierung, wie sie insbesondere durch das Fernsehen als Leitmedium moderner Gesellschaften forciert wird, ist Indikator einer neuen Form von Arkanpolitik, bei der alles Wichtige und Folgenreiche hinter verschlossenen Türen ausgehandelt wird, während für das allgemeine Publikum anschließend ein Theater in Szene gesetzt wird, das mit dem zuvor Verhandelten und Abgemachten nur wenig zu tun hat.

Was in den letzten Jahren an Konzeptionen der Zivilgesellschaft entwickelt und in Umlauf gebracht worden ist, erweist sich nur auf lokaler, allenfalls regionaler Ebene als politisch praktikabel. Die Formel einer europäischen Zivilgesellschaft ist über eine bloße Floskel nie hinausgekommen; schon wo sie als politische Vision apostrophiert wird, ist dies ein Euphemismus. So steckt das Modell der Zivilgesellschaft als Alternative zur theatralen Politikkonzeption von Bühne und Publikum in demselben Kerker, in dem sich bereits der Republikanismus des 17. und 18. Jahrhunderts befunden hat: Es hat Plausibilität nur für kleinräumige und überschaubare Verhältnisse, und je stärker Politik in globalen Maßstäben agiert, desto weniger ist erkennbar, wie es gegen das Theatralitätsmodell ankommen kann. ...

Tatsächlich nämlich haben sich Demokratie und Theater keineswegs immer und grundsätzlich ausgeschlossen, wie dies der Republikanismus unter dem Eindruck eines herrscherlichen Gebrauchs von Theatralität gemeint hat. Daß die Blütezeit der attischen Demokratie und die glanzvolle Periode von Tragödie und Komödie in Athen zusammengefallen sind, ist immer wieder mit Erstaunen bemerkt worden. Erklärungen für diese Gleichzeitigkeit sind freilich wenige angeboten worden. ...

Agora und Theater schlossen sich nicht aus oder konkurrierten um die größere Aufmerksamkeit, sondern ergänzten und stützten sich gegenseitig. Jene demokratischen Politiker, die dem Volk den Weg ins Theater erleichterten, indem sie ihm Aufwandsentschädigungen für den Besuch der Aufführungen auszahlten, scheinen sich dessen bewußt gewesen zu sein. Tragödie wie Komödie der Athener waren wesentliche Elemente bürgerschaftlicher Erziehung, die die Folgen von Entscheidungen wie Nichtentscheidungen vor Augen führten und so die Informationsverarbeitungskompetenz der Bürgerschaft ausbildeten und steigerten.

Das Theater war - zumindest funktional - eine Form politischer Erziehung in der Demokratie. Die Orestie, der Ödipus oder die Antigone waren auch Reflexionen auf die Risiken und Dilemmata der Politik, in denen der Bürgerschaft vor Augen geführt wurde, was alles zu bedenken war, wenn man politisch handelte. ...

Die Theatralisierung der Politik ist gleichbedeutend mit einer Erhöhung der politischen Prämien auf Populismus.

Und das Spannungsverhältnis zwischen Politik und Theater, wie es für die attische Demokratie charakteristisch war, wird durch die Politiktheatralisierung gerade aufgelöst; das Rollenrepertoire der Bühne wird zum Rollenrepertoire der Politik selbst. Das reicht von der Inszenierung des Privatlebens der Politiker, durch die ihre Wahlchancen erhöht werden sollen, bis zu jenen Formen umweltpolitischen Agenda-Settings, wie es von Greenpeace perfektioniert wurde. Die Initiativen der Bürger, die sich aus Sorge um die Bedrohung ihrer Umwelt politisch engagierten, sind abgelöst worden durch eine kleine Gruppe von Professionals, die in Form spektakulärer Aktionen Medienereignisse produzieren, um damit sowohl Aufmerksamkeit für spezifische Umweltfragen als auch neue Anreize für die Spendenwilligkeit des Publikums zu schaffen.

Der sich für die Erhaltung und Reproduktion kollektiver Güter engagierende Bürger ist ersetzt durch ein interessiertes Publikum, das seine politische Präferenzbildung in Form steuerabzugsfähiger Spenden artikuliert. Der Kampf um die knappe Ressource der Aufmerksamkeit des Publikums ist zum wichtigsten Betätigungsfeld der Umweltaktivisten geworden. Die Mittel, mit denen sie diesen Kampf führen, sind immer seltener solche der überzeugenden Argumentation und immer häufiger die einer gelungenen Inszenierung. Nicht viel anders ist es um die Rekrutierung des politischen Personals bestellt. Die Fähigkeit einer geschliffenen Rhetorik ist längst durch smarte Telegenität abgelöst; die Fähigkeit, innerhalb von dreißig Sekunden vor laufenden Kameras eine politische Botschaft zu pointieren, ist wichtiger als die mitreißende Entwicklung einer politischen Idee in einer längeren Rede.

Trivial-Tiraden mit der Vollmacht der Wallstreetmagnaten

Subkommissare der UNO und die verkappten Agenturen des Imperiums, welche die NGO-Parlamentäre sind, harren auf den Rauch der todtragenden High-Tech-Apparate und werfen sich dem repräsentativ-demokratischen, nordisch-weißen Kupplerkapitalismus an den Hals. In ihrem kontrafaktischen Konstrukt entspinnt sich der Topos des systemischen Schabernacks, mit dem sie als Musterexemplare jener Spezies den Mund vollnehmen, welche generell ein mysterienreiches Wachstum ihres Geistesvermögens generieren wollen. Vorausgesetzt, daß es den Gelehrten des globalen Glockenspiels gelingt, der Ausbeute durch Stilisierung segmentierter Sekten neue Marktnischen zu eröffnen.

Der Eulenspiegel der MultiKulti-Maskerade folgt dem postmodernen Postulat hybrider Identitäten auf dem Dritten Weg der Sozialdemokratie mit dem Ökopaxen-Faun. Die neokonservativen Verteidiger des grenzenlosen Marktes verachten das Kollektive als kontraproduktiven Sentimentalismus.

In ihrem erdballumspannenden Virtuell diktieren sie eine Spaßgesellschaft, die das fiktiven Quantum des privaten Reichtums ermuntert, sich über die Versager kaputt zu lachen. Dann verhängen sie ein Lachverbot mit populistischen Pointen und polemischem Tolerieren, das man gegenüber jedem und überall dort verhängen kann, wo man nichts vermutet, was ernst zu nehmen ist.

In der bereitwilligen Knechtschaft für Pax Americana rekapitulieren sie den Geiz der Besitzkaste, wiegeln den Bombersturm auf, setzen jeglichen Widerspruch außer Kurs, konstruieren ein ölfleckartiges Gesinde mit Gespenstern in der Gestalt von Staatsschurken, Machtmullahs, Stammeshäuptlingen, hofieren den lamentablen Feuilleton-Gelehrten, nehmen die Abweichler in Geiselhaft.

Galeerensklaven in den nordischen Zitadellen

Visuell im Usuell öffnet sich das Tor der ethnozentrischen Bastei nach außen als Menschenrechtsmentor, nach innen als Protektor der Menschenverwaltung.

Mit dem fashionablen Terminus "clandestino" pusseln die professionellen Hütejungs der migrantischen Menschenherde einen recycelten Reklame-Reiz für eine gewissenhafte Gesinnungsgemeinde der hoch begüterten Staatsbürger im imperialen Zentrum. Zwischen dem Sog der Minderbemittelten bewegt sich der Aufklärungskuppler und sorgt dafür, daß die Fremdensektion des überflüssigen Menschenmaterials konstant die ideologische Bauhütte der Gespenster bevölkert, gegen die der parlamentarische wie private Stammtisch und die verkopfte High-Society Giftpfeile abschießen können.

Die Klüfte zwischen Menschenlandschaften werden tiefer, die Lüfte aggressiver, die Gräben intensiver. Gleichzeitig verschwinden die Konturen zwischen sozial Errungenem und schäbig Hinterwäldlerischem. Auf dem Arbeitsmarkt türmte sich das Formelle im Informellen auf.

Die National-Holding der Profiteur-Partie setzt ins Werk, was als Vermächtnis aus dem Zeitalter der Galeerensklaven gilt: Ein neoliberal ökonomisches Verfahren nach dem Pyramiden-Paradigma. An der Spitze sitzt der Generalunternehmer, der als Vertragspartner der Aufträge zum Vorschein kommt. Direktes Verhältnis zum Handwerk hat er nicht, beschäftigt hauptsächlich kompetentes Personal, um die Untervergabekette des Geschäfts in Gang zu halten.

Ähnlich verfahren auch die zwischengeschalteten Unternehmen. Nach Abzug des jeweiligen Gewinnanteils reichen sie die Aufträge weiter nach unten. Ganz unten verweilen die Flurhüter der Werkverträge und Schwarzarbeit. Gesetzt den Fall, daß hier eine Kontrolle abläuft, kommt der Schwarzhändler der Arbeit generell mit einem Bußgeld davon, das in keinem Verhältnis zu der zuvor erzielten Ausbeute steht. Es wird verschiedentlich berichtet, daß diese Brotherren kurz vor einem anstehenden Zahlungstag mit einer anonymen Anzeige eine Razzia provozieren und so die Lohnbegleichung umgehen, weil die "Illegalen" sogleich abgeführt und der Deportationsgendarmerie übergeben werden, für die die erbrachten Ansprüche nicht ins Gewicht fallen. Dank der mediaten Beihilfe durch den reibungslosen Abtransport der klandestinen Malocher fahren die Tâcherons (Handlanger der Baufirmen) ihren Beutezug fort, weil die Ausgewiesenen ihre Ansprüche auf außenstehendes Entgelt nicht mehr geltend machen können. So entlastet können die Schwarzhändler der Arbeit fette Anteile einheimsen.

Hervorgebracht hat das Gewerbe in der Schattenwelt zum Beispiel in der Alpenrepublik Ö-Reich ein Betrag von 12 Milliarden Euro.

Diese Art Ausplünderung migrantischer Proleten hat sich längst als gängige Methode der Menschenverwertung im Herzen der Menschenrechtsmonarchien etabliert - wovon in den EU-Standorten einige Hunderttausende betroffen sind. Ein Wassertropfen im Verhältnis zum globalen Mißstand, der als eine Springflut oder als fauliger Strom dargestellt wird, um den Fruchtacker der apartheids-appetitlichen Tretmühle auszudehnen.

Die Raffinesse des Rationell-Rassismus

Rassistisch-kulturalistische Konstruktion des Fremden, das Fehlen von minoritären Repräsentationsorganen begünstigt den kräftigen Reibach. Sie bringt das Weltbild in Umlauf, wonach der Fremde selbst an seiner Herabsetzung Schuld hat, weil er nicht die Fähigkeit auf Lager hat, die Maßstäbe zu erfüllen, welche die Majorität der Moneymagnaten festsetzt.

Das Böse gibt es im Foliant des Christentums als göttlicher Urheber des zivilisatorischen Urbilds. Überträgt man den Topos Böse auf einen Menschenschlag, ist das Trivial-Gewicht der Gewalt begehrt - damit der Übergang vom merkantilen zum martialischen Terror durch die nach außen gewölbt urbanen Zentren der privaten Reichtümer.

Das Böse ist dem Getue seiner Illustratoren nach mysterienreich, plutonisch, aber auch wandlungsfähig wie Proteus. Einziger Charakterzug, mit dem sie ihn ins Auge fassen, besteht aus dem Zugehörigkeitspathos zu Pluto, dem Gott des Hades, vergegenwärtigt im Wesensgehalt des migrantischen Fremden.

Auf das Lehrgebäude des bösen Fremden - böse ist allemal alles, was als fremd erscheint - stützt sich der Werkzeugkasten des Abendländertums mit dem Rassismus. Gestern richtete er sich an den Segmenten der Schädel-Silhouette und Hautfarbe aus. Diese abwertende Markierung rechtfertigte die Enteignung durch Versklavung und Eliminierung der muffigen und parasitären Geschöpfe des für den Besitzstand warmherzigen Allvaters. Der Hitlerismus fügte zu den biologischen Merkmalen der abwertenden Differenz auch die kulturalistischen Fragmente hinzu und erhob die faktische Judeophobie zum ideologischen Rüstzeug seiner Zivilisationspyramide. Während er im Sinn hatte, die Weißen-Zivilisation zu erretten, verniedlichte er den Blickwinkel der Ständegesellschaft.

Der gegenwärtige Rassismus läßt sich als eine fortgeschrittene Version des Hitlerismus auffassen, welche die Kultur als Maßstab aller Verhältnisse generalisiert. Seine Endstation birgt den Gipfel der Zivilisation in sich und den Freibrief, den restlichen Globus zu knebeln, den universalen Menschenschlag in Unterkulturen zu parzellieren, sie zu enteignen und schließlich zu eliminieren, wenn er sich gegen sein Schicksal aufbäumt.

Das Kabale-Kabarett mit dem EU-Papierwerk »Minderheitenschutz«

Die Kontroversen zum Tandwerk, ob die Republik Türkei für die Reife einen Beweis erbringen kann, den Türgriff des Euro-Clubs zu befingern, erreichten während der Wahlkämpfe zum Europäischen Parlament bis auf weiteres die Talsohle bzw. den Gipfel, ohne die Konturen zu veranschaulichen, welche Fragmente dieses Konglomerat kreiert. Die frommen Frondeure eines E-Konstrukts mit den Kompagnons nicht-christlicher Glaubenslehre bauen das Evangelium (“gute Botschaft”) auf als Grundsäule für ein zielstrebig haltbares Viadukt auf lange Sicht. Die Befürworter der Beitrittsgespräche untermauerten hingegen ihr Lehrgebäude variabel mit den Idealen der Aufklärung und stellen den Scherenschnitt des Realen auf den Kopf. Daß sie die idealisierte Despotie der Bourgeoisie zum Inhalt hatte, verflüchtigte sich in der Silhouette der parlamentarischen Postenjäger. Ob der Protestantismus die bürgerliche Klasse auf die Geschichtsbühne begleitete oder umgekehrt, ob sie ihn aus der Taufe hob, bleibt eine rätselvolle Volte, ein obskures Gedankengut in der Vitrine des abendländischen Ideologieladens.

Die gottlob belobte Aufklärung ging selbst gegen den Katholizismus nicht mit der Fiktion vor, dem Klerus das Heft aus der Hand zu nehmen, sondern ihm gemäß dem Zweckverband des zielstrebigen Besitzbürgertums Gestalt zu verleihen. Demnach entpuppt sich die gegenwärtige E-Euphorie als eine abermalige Renaissance des christlichen Abendlandes auf der Stufe des Hightech-Kapitalismus, dessen Pathos der Informationsgesellschaft das kollektive Bewußtsein manipuliert und das soziale Geschick des Menschengeschlechts vernebelt.

Mit dem überlauten Aufwand der Reklametrommel des ökumenischen Stelldicheins, des Dialog-Gefasels gemäß der Agenda der monotheitischen Glaubensbekenntnisse, steuern die Strategiestäbe der Eurokratie eine Evangelisation der Province Anatolia an, attackieren daher unablässig die dortige Maxime des Laizismus. Von dem manifesten Manierismus der Pax Americana weiß man, daß die militanten Mentoren der imperialen Gelüste einen Hintergrund evangelischer Allianzen aufweisen. Während hier die Wortklauber der “Privilegierten Partnerschaft” ihren Blütentraum auf die Regimenter des gemäßigten Islamismus im kleinasiatischen Tafelland hegen, experimentieren die eurozentrischen Advokaten des eventuellen Beitrittsgeplauders, mit dem Menschenrechtsmetier – auf den Terminus “Minderheitenschutz” gekürzt und die sozialen Komponente kategorisch negiert – dem endkapitalistischen Expansionsprozeß Druck zu verleihen. Dieses kulturalistische Kalkül, den Geknebelten zu Hilfe zu eilen, ruft das Intrigenspiel des Auswärtigen Amtes, in Balkanien, primär im Bundesstaat Jugoslawien, das ethnische Auseinanderdriften anzuspornen, ins Gedächtnis.

Daß das Feigenblatt “Minderheitenschutz” in Kleinasien gerade von den beiden EU-Obermächten D-Land und F-Reich ausgespannt wird, ist eine Extra-Attraktion des Kabale-Kabaretts. Ihnen gelang es nämlich vor über einem Dutzend Jahren, der “Europäischen Charta für regionale und Minderheitensprachen” nach eigenem Gutdünken Schranken zu setzen. Die eingewanderten Minoritäten wurden unter dem Diktat der alliierten Nachfahren von Jakobinern und Junkern aus dem kulturalistisch kokettierten Gemeinplatz der Determination ausgemustert. Abgesehen davon, daß ca. acht Millionen Einwohner der bundesdeutschen Republik unter dem Titel “Ausländer” mit Fronarbeit versehen und abqualifiziert werden, können z.B. hunderttausende eingewanderte Deutschländer mit “Nationalität: deutsch” in ihrem Identitätspapier das EU-Papierwerk “Minderheitenschutz” nicht in Anspruch nehmen.

Zum Exempel gibt es einen Riesenwuchs von Raffinessen, wie die potente Pappschachtel “Menschenrechte” in den talentierten Händen ihrer abendländischen Protektoren plattgedrückt wird. Trotzdem drängelt sich die Europäische Union talmihaft als historische Gouvernante der Zivilisation vor, verflüchtigt sich de facto in den Schützengräben des “Clash of civilization”, für den sie das Feuer angezündet hat.

   

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