XXVII. Jahrgang, Heft 149
Sep - Dez 2008/3
 
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Letzte Änderung:
10.10.2008

 
 

 

 
 

 

 

DIE BRÜCKE AN DER SPREE

Der rosarote Panther


   
 
 


Einer der „Rosarote Panther“-Filme von Blake Edwards beginnt damit, dass der ehemalige Polizeichef Charles in der Irrenanstalt sitzt. Inspektor Clouseau, der völlig dämliche und trottelige, jedoch gleichzeitig absolut eingebildete, arrogante Polizeinspektor, gespielt von Peter Seilers, hat seine Nachfolge angetreten, ist also der neue Polizeichef. Dies brachte Charles, den alten Polizeichef so auf die Palme, dass er restlos die Nerven verlor und tobsüchtig, abgedreht in die Irrenanstalt eingeliefert wurde. Dort fristet er nun seine Tage. Doch es gibt Hoffnung: sein Psychiater meint, bald könne er als geheilt entlassen werden. - „und, bringt Sie der Name ‘Clouseau’ noch auf die Palme?“, testet der Psychiater ihn. „Nein“, sagt Charles, darüber sei er nun hinweg.

„Das ist gut“, sagt der Psychiater: „Denn heute Nachmittag wird die Ärztekomission darüber entscheiden, ob sie entlassen werden können.“

Doch während Charles auf die Entscheidung der Ärzte über seine baldige Entlassung wartet und durch den Garten der Irrenanstalt spaziert und dort an einem See stehen bleibt, taucht Inspektor Clouseau auf und stößt ihn durch eine Ungeschicklichkeit ins Wasser. Und beim Versuch, ihn aus dem Wasser herauszuziehen, fällt Charles - wie es sich bei einem ordentlichen Splapstick gehört - erneut ein paar mal ins Wasser. Später, als sie beide wieder beruhigt auf einer Bank sitzen, erklärt ihm Clouseau, er sei hier, um bei der Ärztekommission ein gutes Wort für seine Entlassung zu sprechen; er spricht ungeheuer selbstverliebt und borniert und schwätzt großspurigen Unsinn von Gewinner- und Verlierertypen, von Menschen, die von Geburt an für Größeres bestimmt sind, und anderen, die zum Verlieren geboren seien, und nimmt selbstverständlich und blind für sich in Anspruch, zu ersterem zu zählen etc. Clouseau ist kein sympathischer Trottel, sondern ein abstoßender Affe, der nicht merkt, wie er von einer Idiotie in die nächste taumelt - und solch ein Mann hat also Charles seinen Chefposten gekostet und ihn in die Irrenanstalt gebracht! Man sieht ganz genau, wie er innerlich kocht, sich aber zusammenreißt, Clouseau nicht an die Gurgel zu gehen! Doch die Ereignisse nehmen ihren Lauf: Clouseau schwätzt und suhlt sich in seiner Eitelkeit, und steht von der Bank auf, so dass sein Ende wie bei einer Wippe in die Höhe schnellt und Charles schon wieder in den See stürzt. Da platzt ihm der Kragen: wild brüllend, um sich schlagend jagt er Clouseau durch den Park der Irrenanstalt, brüllt dazu: „Ich erwürge Sie! ich erwürge Sie!“, während der Oberpsychiater die Brauen hebt. Kopfschüttelnd von seinem Fenster aus die Szenerie beobachtet. Hallo Wärter! Her mit Zwangjacke, ergreift ihn - und ab mit dem Mann in die Gummizelle. Hahaha. Und Essig mit der vorzeitigen Entlassung.

Warum habe ich diese kleine Szene geschildert? - ich meine, dass sie in mehrerlei Hinsicht verbildlicht ist. Zum einen stellt sie ein Kabinettstückchen exzellenten, klassischen Slapstickkinos dar, denn natürlich ahnt, bzw. weiß der Zuschauer immer schon kurz vorher, was also nächstes geschieht: natürlich wird Charles wieder wahnsinnig werden; natürlich wird er wieder ins Wasser stürzen etc. Zuviele Vorzeichen weisen deutlich daraufhin. Schon so wie er mit dem Psychiater spricht, wirkt er nicht überzeugend. Dann die niedlich provokante Art und Weise, wie ihn der Psychiater provoziert, indem er ihn den Namen: „Clouseau!“ wie ein Buu zu kleinen Kindern, die man erschrecken möchte, entgegenruft - „Hahaha, nein, darauf falle ich nicht herein!“ - dann die Utensilien in der Nähe des Ufers, ein Golfschläger, eine Harke, geradezu geeignet; in Gesichter zu schnellen, ins Wasser zu stoßen ... Doch anders als heim Krimi, stört im Slapstickkino die Vorhersagbarkeit der Gags nicht. Ganz im Gegenteil: gerade weil der Zuschauer weiß, was gleich geschieht, kann er sich darauf freuen und den absurden Katastrophen umso genauer folgen, beobachten und sie genießen...

Das ist noch nichts besonderes. Zweitens handelt es sich bei dieser kleinen Episode außerdem um eine sehr feine, zwar durchaus satirisch gemeinte, aber dennoch zutreffende Definition des umgangssprachlichen Begriffs von „Wahnsinn“. Wie in dem verzweifelten Ausruf: „Ich werde Wahnsinnig! Ich werde Wahnsinnig!“, wird Charles nämlich in genau der Situation wahnsinnig, in der er die Ungerechtigkeit, Ignoranz und Fatalität der vorliegenden Situation nicht mehr verkraften kann. Nicht nur, dass Clouseau ein Volltrottel ist, er ist außerdem ein Arschloch, das sich selbst jedoch für auserwählt hält, und er hat ihm, dem weitaus fähigeren Mann den Job gekostet und das Leben ruiniert. Kann man da nicht, ja muss man da nicht buchstäblich wahnsinnig werden? Auf die Formel gebracht: wahnsinnig wird man, wenn die Verhältnisse so sind, dass man sie mit nüchternem Blick nicht mehr erträgt.

Der dritte Punkt ist am wichtigsten. Ich meine, dass die beiden genannten Aspekte ein ziemlich zugespitztes Beispiel des Spruchs: „Humor ist, wenn man trotzdem lacht.“ Wie genau verhält es damit? - tatsächlich gehören die Slapstick-Elemente dieser Szene, wie oben bereits angedeutet, zweifellos zur alten Schule; doch sind sie längst nicht so akrobatisch und spektakulär wie bei Buster Keaton oder Laurel und Hardy. Genau genommen sind sie bloß formal, vielleicht um als Stilelemente auf das Genre zu verweisen, das zelebriert werden soll. Als einzige oder aueh nur wichtigste Zutat des ganzen Films wären sie indes schlapp. Sie funktionieren freilich bloß im Kontrast zur Tragik des Themas, das veralbert werden soll: der unerträglichen Schmerz, der zur Verzweifelung treibt. Schließlich handelt es sich um alles andere als eine unwichtige Angelegenheit. Das Faszinierende an dieser kurzen Szene ist, dass Schmerz und Wahnsinn auf ein kompaktes Maß heruntergebrochen werden:

An manchen Orten kann man fast täglich beobachten, wie Menschen aus Unverständnis über die bornierteste Ungerechtigkeit den Verstand verlieren. Als Sozialarbeiter bin ich zum Beispiel häufiger im Jobcenter unterwegs und erlebe es fast jedesmal, dass jemand in den Warteräumen oder Fluren rumbrüllt: früher mussten die Menschen in den Ämtern wenigstens noch Lesen und Schreiben können, das war eine Bedingung bei der Einstellung, wenn man in einem Amt arbeiten wollte!“ Man spürt förmlich, wie die Person kocht und um möglichst harte Worte ringt, ihrem Zorn Luft zu machen. Manche singen fast: „Juchuuu! Jetzt ist meine Akte auf dem Weg in Abteilung zwei. Juchuuu! Drei Wochen weiter auf dem Dienstweg, bis die wieder zurück ist, ist Weihnachten, Juchuuu! Noch ein Vierteljahr ohne Geld“ Oder es werden finstere Rachepläne geschmiedet, die natürlich unrealistisch sind: „Ich schalte einen Anwalt ein, und dann wird der ganze Laden dichtgemacht! Oohhh, da werden so einigen Persön’chen ihren Hut nehmen müssen, gnade euch Gott!“ Aber wie auch immer, der springende Punkt ist einfach, dass die Jobcenter tatsächlich ein Ort sind, an dem regelmäßig einige Besucher buchstäblich durchdrehen, weil sie das, was passiert, nicht mehr fassen können; dazu kommt natürlich die Schwierigkeit, überhaupt mit 350 Büro im Monat über die Runden zu kommen, sowie der Verlust an Wert und Würde; den jeder Mensch in einer solchen Situation erfährt. Natürlich wissen wir nicht, was tatsächlich dahinter steckt, warum genau z. B. die Akte auf dem Weg in Abteilung zwei ist und was das exakt für den armen Mann bedeutet. Aber eins steht fest: seine Verzweifelung, sein Irre-werden ist nicht gespielt! Für ihn ist das, was geschieht, buchstäblich zum Verrückt-werden. Der reine Wahnsinn.

Nun kann ich aus meiner eigenen Anschauung sagen, dass einige der Vorgänge in den Jobcentern auch objektiv die Leute zum Wahnsinn treiben können. Da werden tatsächlich Akten verlegt, Anträge verschleppt, verschwinden Briefe auf unerklärliche Weise, und wenn man fragt, geben die Sachbearbeiter sogar offen zu, überfordert zu sein: ich habe Büros gesehen, da stapelten sich die Akten zu einem Berg wie in einem Altpapiercontainer, d.h. sie waren überhaupt nicht sortiert, und in einem solchen Haufen sollte man dann den Vorgang von Herrn oder Frau so-und-so finden? Aber selbst wenn alles .ordnungsgemäß’ läuft, ist es häutig zum Haare raufen: da wird mit einer an Spitzfindigkeit grenzenden Akribie die Antragsunterlagen durchkämmt, um den Ansprüche auf das absolute Minimum herunterzurechnen; z.B. werden aus den Nebenkostenabrechnungen zu den Mieten sämtliche Posten abgezogen, die nicht zu den unmittelbaren Grundbedürfhissen zählen, da wird jede Verwaltungsvorschrift so eng wie möglich ausgelegt und kontrolliert.

Damit man mich nicht falsch versteht: natürlich meine ich damit nicht, man solle das Amt beschummeln, bzw. der Staat solle die Steuergelder für die Sozialen Hilfen unkritisch verschleudern; Sparsamkeit muss schon sein. Aber man sollte auch nicht vergessen, dass man es hier mit Hilfeempfängern zu tun bat, die wirklich jeden Cent umdrehen müssen, und das schon seit Jahren, und denen gegenüber es schlichtweg unverschämt ist, die Bezüge noch haarspalterisch auf das absolute Minimum zu kalkulieren. Hinzu kommen, wie gesagt, die Intransparenz der Vorgänge in den Ämtern, die sogar beabsichtigt erscheint, wenn sich die Ämter systematisch abschotten wie eine Burg; sowie der dringliche Eindruck; dass die Sachbearbeiter häufig ihre eigenen Gesetze nicht kennen, ja oft noch nichtmal durchblicken, wer überhaupt zuständig ist und wo sich ein Vorgang gerade befindet. Auch hier also wieder die drei Faktoren; Fatalität, Ignoranz und Brutalität, die drei wesentliche Auslöser für: „Ich werde waaaahnsinnig!“ Kein Wunder, wenn die Besucher schreiend die Gänge hinauf und hinab rennen und mit Papieren um sich werfen.

Ich meine, es müssen tatsächlich diese drei Faktoren gemeinsam auftreten, damit Menschen so reagieren. Brutalität allein macht zwar wütend, aber nicht verrückt. Man weiß ja, wem genau man sein Elend zu verdanken hat, und man weiß auch, dass die betreffende Person sich ihrer eigenen Schuld bewußt ist, entweder Gewissensbisse erlebt oder sogar die Rache ihres Opfers fürchtet; es sind zumindest Ansätze für Genugtuung vorhanden, die dem Betroffenen eine Perspektive für Wiedergutmachung lassen, und sei diese Chance noch so gering. Aber auch Fatalität allein macht nicht verrückt, sondern bestenfalls traurig, depressiv. Man kann großes Pech erleiden, durch eine Naturkatastrophe die Familie verlieren oder durch einen Unfall verstümmelt werden und dadurch den Lebensmut verlieren. Das Unglück kann einen total fertig machen - selbstverständlich! -, es muss aber letztlich doch unter Schicksal oder Pech verbucht werden; wenn man keinen Ansprechpartner findet; den man zur Rechenschaft ziehen möchte. Man muss ein Gegenüber identifizieren, dem man die eigene Wut zeigen und den verursachten Schmerz heimzahlen möchte. Der Wahnsinn ist dann sozusagen der gescheiterte Versuch, diese Wut auszudrücken, den Schmerz zu vermitteln. Darum hat Medea ihre beiden Kinder getötet: weil in dieser Wahnsinnstat die einzige Möglichkeit lag, Wut und unbändigen Schmerz adäquat rüberzubringen. Rache als Kommunikationsproblem.

Wir kommen damit zum dritten Faktor: der Ignoranz. - die Ignoranz auf Seiten des Empfängers, der - wie indirekt auch immer - einerseits zwar das Leid verursacht hat, dies aber andrerseits gar nicht registriert. Selbst wenn er der leidenden Person von Angesicht zu Angesicht gegenüber steht und ihr Elend mit eigenen Augen fixiert, hält er sich selbst doch für unschuldig und unbeteiligt, wie Papst Ratzinger, der die Morde und Folterungen an den lateinamerikanischen Priester der Befreiungstheologie zwar bedauert, sich selbst aber für unverantwortlich hält, obwohl er ihnen bewußt den Schutz der Kirche entzogen hat, weil er es auf Gottes Willen und Gottes Wahrheit schiebt.

Gegenüber solchen vordergründigen Unschuldslämmern, aber praktisch doch verantwortlichen Personen wie Ratzinger kann man buchstäblich wahnsinnig werden, wie auch gegenüber einigen Politikern, z.B. der SPD. die ja ohne Not und äußeren Druck den größten Sozialabbau der Nachkriegszeit eingeläutet hat und offenkundig gar nicht verstehen will, dass ihre Stammwähler sie darum für Verräter halten. So gesehen, wenn man Politik ernst nimmt, ist es erstaunlich, dass diese Partei überhaupt noch Mitglieder hat, und der einzige wirkliche Grund dürfte wohl darin liegen, dass manche Menschen selbst dann die Hoffnung nicht aufgeben, wenn sie schon hundertmal enttäuscht wurden. Die SPD ist nur ein Beispiel, wir könnten genausogut über .die CDU, die Grünen oder die Linke sprechen: ja, die politischen Verhältnisse allgemein können einen buchstäblich wahnsinnig machen.

Natürlich sind die Faktoren Brutalität, Fatalität und Ignoranz vielschichtig und dicht miteinander verwoben. Das Beispiel Politik machts deutlich: natürlich wissen die meisten Politiker, dass ihre praktische Möglichkeiten, gesellschaftspolitischen Einfluss auszuüben, von lauter Sach- und Systemzwängen begrenzt sind, und natürlich hüten sich die meisten, den Wählern das Blaue vom Himmel zu versprechen. Darüber hinaus hat man allerdings das Gefühl, dass sie noch nicht einmal ihre geringen Spielräume zu nutzen verstehen und sich gegenüber den Lobbyisten im vorauseilenden Gehorsam üben.

Gesellschaftspolitischer Gestaltungswille? - von wegen! Der Politiker, der sagt: „Ich würde ja gerne die Atomkraft verbieten, aber ich kann das nicht!“ wirkt im Grunde genauso unglaubwürdig und heuchlerisch wie derjenige, der sagt: „Ich will die Atomkraft gar nicht verbieten, denn sie ist eine umweltfreundliche Energiequelle!“ Denn bekanntlich existiert etwas Zerstörerischeres als die Atomkraft ja gar nicht. Wie dem auch sei: jedenfalls kann sich kein Politiker ernstlich auf die Fatalität seines Amtes herausreden - wie er allerdings auch umgekehrt kaum behaupten kann, all seine Handlungen entspringen seinem eigenen Gewissen und seinen ureigenen tiefen gesellschaftspolitischen Überzeugungen, während Einflüsse von dritten, wirtschaftliche Interessen und Lobbyismus keine maßgeblichen Einflüsse auf ihn hätten. So tief und komplex sind Fatalität Brutalität und Ignoranz miteinander vermittelt. Als Soziologe bin ich versucht, das Phänomen zu verallgemeinern und als ein Grundprinzip, besser gesagt: als eine grundlegende Pathologie moderner Gesellschaft zu beschreiben. Nicht nur in einer Risikogesellschaft, Wissensgesellschaft oder Spaßgesellschaft leben wir, sondern vor allem auch in einer Wahnsinnsgesellsehaft. Ich meine das so, dass es zu den alltäglichen Grunderfahrungen der Menschen gehört, immer wieder Ungerechtigkeiten und Nackenschläge einzustecken, für die man zwar einzelne Personen als Verursacher ausfindig machen kann, die sich selbst aber für unverantwortlich erklären, indem sie auf Sach- und Systemzwänge verweisen, die ihnen angeblich die Hände binden - und stattdessen den Lauf der Dinge zur schicksalhaften Notwendigkeit erklären; oder umgekehrt: sich als Helden aufspielen, während ihnen doch nur das Schicksal gut gesonnen war, indem sie etwa gerade zufällig im Amt waren, als dieses oder jenes erfreuliche Ereignis eintrat. Das alles ließe sich auch schön über Adorno, Habermas und Luhmann herleiten. In jedem Fall ist es zum Wahnsinnig-Werden, und man möchte am liebsten Amok laufen oder sich öffentlich selbst verbrennen, nur um endlich ein Zeichen zu setzen, das niemand überhören oder übersehen und das niemand missverstehen, keine Partei instrumentalisieren kann.

Thomas Nöske

   

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