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Zutage tritt offen ein gigantisches Lehrgebäude der Ständegesellschaft
à la Germania, nimmt konkrete Konturen an, reflektiert rasante
Rivalitäten, fruchtet die Furcht vor Zyklopen und Zombies.
Privilegiertes Oben steht auf Wache vor der humanen Dynamik. Darunter
raffen die Bravo-Barden des Besitzgötzen zusammen, zitieren
die koalitionären Event-Eliten zu Zenturionen des Zivilisierten-Zentrums,
zementieren das Postament der Volksgemeinschaft mit Kulturknall.
Ganz unten vegetieren die eingewanderten Proleten, jene ethnisch-kulturell
entfremdeten Randständigen, die dazu bestimmt sind, als platzraubender
Ballast vom Erdreich getilgt zu werden oder als nützliche Fron-Söldner
ihr Leben zu fristen.
Ein Jahr ging zu Ende. Merkwürdige Blütenträume
blieben. Zwischen Übermorgen und Vorgestern. Merklich in der
Ansprache der Kanzlerin Angela Merkel zum Jahreswechsel: »Die
Frauenfußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußballweltmeister,
und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten
können wie Frauen.« Die Siegerin der letzten Koalitionskonstellation
erwies sich als erfinderisch, denkt »an die Tragödien
in manchen Regionen unserer Welt,« die u.a. durch »Migrationsströme
... verursacht werden.«
Der Souverän läßt sich als Krösus-Kartell
im Klassenkastell sanktionieren. Die Banderole der Demos-Crazia
mit exklusiver Wir-Variante aufpoliert, spielen sich seine Sicherheitsstäbe
als neolibertäre Revoluzzer auf, hinken der Geschichtsseite
hinterher, entsprechen dem Experiment, das Pleitier-Geschick so
schick wie möglich als Privatier-Parade aufzumöbeln.
Mit einem Zehn-Punkte-Plan leitete der Lenker der
Bavaria-Barke Edmund Stoiber den Kulturclash über die Integration
aufs Neue in die Wege. Als Reaktion auf die Pariser Feuernächte
will er laut »Spiegel Online« vom 18. Dezember 2005
den potentiellen Nachzug der Spätankömmlinge erschweren
und ihnen »öffentliche Einbürgerungsfeiern in einem
würdigen Rahmen« bescheren. Außerdem: »Wer
die Pflicht zur Integration nicht erfüllt, muss auch mit Sanktionen
rechnen. ... Wenn wir in Deutschland keine französischen Verhältnisse
mit rebellierenden Vorstädten und brennenden Autos wollen.«
Und als »besonders wichtig« sieht der Schwarzen-Sheriff
Wolfgang Schäuble, der sich kettenschwer an die Fersen seines
rostroten Vorgängers heftet, »das Erlernen der deutschen
Sprache« an, »die auch daheim gesprochen werden«
solle.
Seit Anfang 2006 sollen muslimische Kandidaten eines
bundesdeutschen Identitätspapiers in Baden-Württemberg
mit einem speziellen Katalog befragt werden, der Fragen enthält
wie: »Ihre volljährige Tochter möchte sich gerne
so kleiden wie andere deutsche Mädchen auch. Würden Sie
versuchen, das zu verhindern?« Oder »Ihr volljähriger
Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte
gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie verhalten Sie sich?«
Gefragt wird auch nach Zwangsehen oder nach einem politischen Urteil
über die Attentate vom 11. September.
Wiehert der Amtsschimmel, schweigt das
Argument
Offiziellen Angaben zufolge, die aufgrund einer Anfrage
der Linken-Fraktion im Reichstag gemacht wurden, haben 21 500 türkeistämmige
Einwohner Deutschlands ihre hiesige Staatsbürgerschaft verloren.
Das birgt einen erschreckenden Effekt, und die Tendenz, keinen »einmaligen«
Paß mit Adler-Zeichen zu beantragen, wird in die Höhe
schnellen, damit der unter dem Tarnmantel »Integration«
praktizierte Druck der selektiven Assimilation steigen sowie republikanische
Lebensregeln verdrängen. Längst ist das kulturalistische
Weltbild als zeitnahe Version des kolonialen Rassismus so kompetent,
daß es jegliche gesellschaftliche Dynamik negiert. Zum Beispiel
wird das Aneignen der Sprache nicht als ein notwendiges Anliegen
der allotochthonen Population, sich selbst zu verwirklichen, aufgefaßt,
sondern als eine repressive Prämisse serviert. Oder die ehrlosen
»Ehrenmorde« werden nicht mit archaischen, gentilgesellschaftlichen
Überresten in Zusammenhang gebracht, sondern mit Grundfesten
eines unveränderlich anderen Kulturkreises. Im Hinblick auf
die Religion dreht es sich allemal um die repressive Toleranz gegenüber
dem Islam, und massiv wird in Marginalien der machthabenden Majorität
die Frage nach jenen laizitischen Maximen relativiert, welche ursprünglich
voraussetzen, daß die Glaubensbekenntnisse samt ihrer Symbole
den öffentlichen Raum verlassen.
Beim Aufbau der künftigen neoständisch kreierten
Sozialpyramide gewinnt die kulturalistische Komponente immer gewichtiger
die Oberhand. Das Kontingent der allochthonen Heloten im Unterstock
wird weiter expandieren, damit die spartanischen Strukturen einer
neuartigen Kastengesellschaft. Die parlamentarisch partizipierten
Protagonisten dieser cäsarisch zensierten Geschichte des Novum
Romanum fühlen sich neben dem Besitzgötzen nur noch dem
gewiegten Broker-Gewirr Rechenschaft schuldig, legen sich dementsprechend
Scheuklappen an. Ihnen stärkt die Gelehrtengilde mit gewitzten
akademisch artikulierten Tönen den Rücken, bieten dem
Gewerbe der Apparatschiks Gewähr, das theatralisch inszenierte
Zitadellen-Gezänk zielgerichtet zu dirigieren und das neoliberal
nivellierte Management des ethnisch parzellierten breiten Publikums
zu orchestrieren. Davor haben die selbsterklärten Alternativ-Zirkel
der Linkshegelianer längst die Segel gestrichen, sich als subalterne
Eventualitäten der endkapitalistischen Event-Allüren eintragen
lassen, die kollektive Eintracht der freien Individuen verschwitzt,
sich weitläufig dem Zwiespalt der kulturellen Identitäten
verschrieben.
Abhanden kamen am Ende die Sprachröhren der enteigneten
Schichten, und die Antipoden der Privatier-Parties sind kaum noch
in Sicht. Soziale Utopien werden aus dem Gedankengebäude der
Allgemeinheit entfernt, Menschenlandschaften voneinander entfremdet
und in ethno-kulturelle Enklaven (repressive »Parallelgesellschaften«)
verwandelt. Jegliches Abweichen vom konformistischen Kompaß
im Sinne des Don Quijote wird in die Müllhalde der Gegenwartsgeschichte
verwiesen, stattdessen die medialen Mühlen der Münchhauseniaden
mächtig bewässert.
Solange es dem Groß-D-Land gelingt, jeglichen
Alternativ-Ansatz zu seinen völkisch-hegemonischen Wesenszügen
auszumerzen, bleibt jede Sehnsucht nach dem sanften Zusammensein
eine Fata Morgana.
Dagegen will DIE BRÜCKE auch im bereits begonnenen
Jahr ihre Position als Sprachrohr der realen wie potentiellen Proleten
im Atelier des ästhetischen und freien Wortes weiter pflegen.
Dieses Forum, gewiß kein Lifestile-Magazin, wird das Gegen-Feuer
der monetär motivierten, marktmental motorisierten Kreuzzüge
immer wieder anfachen.
Nach dem Versand jedes Heftes erfährt die Redaktion
eine Menge Reaktion. Eine ganze Reihe von Zuschriften spricht den
Brücken-Brigadiers Mut zu. Immer mehr Menschen, die irgendwie
motiviert werden, zur Feder zu greifen, schicken Texte. Andere wiederum
machen auf (Satz-) Fehler aufmerksam.
Jeder nimmt eine eigene Brücke wahr und versucht
sein Terrain zur Allmende wider das aufklärerisch alimentierte
Allerlei ein Stück mehr auszudehnen. Insgesamt steckt hinter
den abgedruckten Arbeiten eine Menge Engagement. Darauf fußt
die redaktionelle Werkbank weiter.
Die Redaktion dankt allen für ihr solidarisches
Entgegenkommen durch ein (Geschenk-)Abonnement, eine Mitgliedschaft
im herausgebenden Verein oder einen Spendenbeitrag und wünscht
einen urbaren Anbruch des Jahres 2006.
Necati Mert
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