XXIV. Jahrgang, Heft 139
Jan - Feb - Mär 2006/1

 
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18.01.2006
 
 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Editorial

Neues Jahr altes Jammertal


         
 
 


Zutage tritt offen ein gigantisches Lehrgebäude der Ständegesellschaft à la Germania, nimmt konkrete Konturen an, reflektiert rasante Rivalitäten, fruchtet die Furcht vor Zyklopen und Zombies. Privilegiertes Oben steht auf Wache vor der humanen Dynamik. Darunter raffen die Bravo-Barden des Besitzgötzen zusammen, zitieren die koalitionären Event-Eliten zu Zenturionen des Zivilisierten-Zentrums, zementieren das Postament der Volksgemeinschaft mit Kulturknall. Ganz unten vegetieren die eingewanderten Proleten, jene ethnisch-kulturell entfremdeten Randständigen, die dazu bestimmt sind, als platzraubender Ballast vom Erdreich getilgt zu werden oder als nützliche Fron-Söldner ihr Leben zu fristen.

Ein Jahr ging zu Ende. Merkwürdige Blütenträume blieben. Zwischen Übermorgen und Vorgestern. Merklich in der Ansprache der Kanzlerin Angela Merkel zum Jahreswechsel: »Die Frauenfußball-Nationalmannschaft ist ja schon Fußballweltmeister, und ich sehe keinen Grund, warum Männer nicht das Gleiche leisten können wie Frauen.« Die Siegerin der letzten Koalitionskonstellation erwies sich als erfinderisch, denkt »an die Tragödien in manchen Regionen unserer Welt,« die u.a. durch »Migrationsströme ... verursacht werden.«

Der Souverän läßt sich als Krösus-Kartell im Klassenkastell sanktionieren. Die Banderole der Demos-Crazia mit exklusiver Wir-Variante aufpoliert, spielen sich seine Sicherheitsstäbe als neolibertäre Revoluzzer auf, hinken der Geschichtsseite hinterher, entsprechen dem Experiment, das Pleitier-Geschick so schick wie möglich als Privatier-Parade aufzumöbeln.

Mit einem Zehn-Punkte-Plan leitete der Lenker der Bavaria-Barke Edmund Stoiber den Kulturclash über die Integration aufs Neue in die Wege. Als Reaktion auf die Pariser Feuernächte will er laut »Spiegel Online« vom 18. Dezember 2005 den potentiellen Nachzug der Spätankömmlinge erschweren und ihnen »öffentliche Einbürgerungsfeiern in einem würdigen Rahmen« bescheren. Außerdem: »Wer die Pflicht zur Integration nicht erfüllt, muss auch mit Sanktionen rechnen. ... Wenn wir in Deutschland keine französischen Verhältnisse mit rebellierenden Vorstädten und brennenden Autos wollen.« Und als »besonders wichtig« sieht der Schwarzen-Sheriff Wolfgang Schäuble, der sich kettenschwer an die Fersen seines rostroten Vorgängers heftet, »das Erlernen der deutschen Sprache« an, »die auch daheim gesprochen werden« solle.

Seit Anfang 2006 sollen muslimische Kandidaten eines bundesdeutschen Identitätspapiers in Baden-Württemberg mit einem speziellen Katalog befragt werden, der Fragen enthält wie: »Ihre volljährige Tochter möchte sich gerne so kleiden wie andere deutsche Mädchen auch. Würden Sie versuchen, das zu verhindern?« Oder »Ihr volljähriger Sohn kommt zu Ihnen und erklärt, er sei homosexuell und möchte gerne mit einem anderen Mann zusammenleben. Wie verhalten Sie sich?« Gefragt wird auch nach Zwangsehen oder nach einem politischen Urteil über die Attentate vom 11. September.


Wiehert der Amtsschimmel, schweigt das Argument

Offiziellen Angaben zufolge, die aufgrund einer Anfrage der Linken-Fraktion im Reichstag gemacht wurden, haben 21 500 türkeistämmige Einwohner Deutschlands ihre hiesige Staatsbürgerschaft verloren. Das birgt einen erschreckenden Effekt, und die Tendenz, keinen »einmaligen« Paß mit Adler-Zeichen zu beantragen, wird in die Höhe schnellen, damit der unter dem Tarnmantel »Integration« praktizierte Druck der selektiven Assimilation steigen sowie republikanische Lebensregeln verdrängen. Längst ist das kulturalistische Weltbild als zeitnahe Version des kolonialen Rassismus so kompetent, daß es jegliche gesellschaftliche Dynamik negiert. Zum Beispiel wird das Aneignen der Sprache nicht als ein notwendiges Anliegen der allotochthonen Population, sich selbst zu verwirklichen, aufgefaßt, sondern als eine repressive Prämisse serviert. Oder die ehrlosen »Ehrenmorde« werden nicht mit archaischen, gentilgesellschaftlichen Überresten in Zusammenhang gebracht, sondern mit Grundfesten eines unveränderlich anderen Kulturkreises. Im Hinblick auf die Religion dreht es sich allemal um die repressive Toleranz gegenüber dem Islam, und massiv wird in Marginalien der machthabenden Majorität die Frage nach jenen laizitischen Maximen relativiert, welche ursprünglich voraussetzen, daß die Glaubensbekenntnisse samt ihrer Symbole den öffentlichen Raum verlassen.

Beim Aufbau der künftigen neoständisch kreierten Sozialpyramide gewinnt die kulturalistische Komponente immer gewichtiger die Oberhand. Das Kontingent der allochthonen Heloten im Unterstock wird weiter expandieren, damit die spartanischen Strukturen einer neuartigen Kastengesellschaft. Die parlamentarisch partizipierten Protagonisten dieser cäsarisch zensierten Geschichte des Novum Romanum fühlen sich neben dem Besitzgötzen nur noch dem gewiegten Broker-Gewirr Rechenschaft schuldig, legen sich dementsprechend Scheuklappen an. Ihnen stärkt die Gelehrtengilde mit gewitzten akademisch artikulierten Tönen den Rücken, bieten dem Gewerbe der Apparatschiks Gewähr, das theatralisch inszenierte Zitadellen-Gezänk zielgerichtet zu dirigieren und das neoliberal nivellierte Management des ethnisch parzellierten breiten Publikums zu orchestrieren. Davor haben die selbsterklärten Alternativ-Zirkel der Linkshegelianer längst die Segel gestrichen, sich als subalterne Eventualitäten der endkapitalistischen Event-Allüren eintragen lassen, die kollektive Eintracht der freien Individuen verschwitzt, sich weitläufig dem Zwiespalt der kulturellen Identitäten verschrieben.

Abhanden kamen am Ende die Sprachröhren der enteigneten Schichten, und die Antipoden der Privatier-Parties sind kaum noch in Sicht. Soziale Utopien werden aus dem Gedankengebäude der Allgemeinheit entfernt, Menschenlandschaften voneinander entfremdet und in ethno-kulturelle Enklaven (repressive »Parallelgesellschaften«) verwandelt. Jegliches Abweichen vom konformistischen Kompaß im Sinne des Don Quijote wird in die Müllhalde der Gegenwartsgeschichte verwiesen, stattdessen die medialen Mühlen der Münchhauseniaden mächtig bewässert.

Solange es dem Groß-D-Land gelingt, jeglichen Alternativ-Ansatz zu seinen völkisch-hegemonischen Wesenszügen auszumerzen, bleibt jede Sehnsucht nach dem sanften Zusammensein eine Fata Morgana.

Dagegen will DIE BRÜCKE auch im bereits begonnenen Jahr ihre Position als Sprachrohr der realen wie potentiellen Proleten im Atelier des ästhetischen und freien Wortes weiter pflegen. Dieses Forum, gewiß kein Lifestile-Magazin, wird das Gegen-Feuer der monetär motivierten, marktmental motorisierten Kreuzzüge immer wieder anfachen.

Nach dem Versand jedes Heftes erfährt die Redaktion eine Menge Reaktion. Eine ganze Reihe von Zuschriften spricht den Brücken-Brigadiers Mut zu. Immer mehr Menschen, die irgendwie motiviert werden, zur Feder zu greifen, schicken Texte. Andere wiederum machen auf (Satz-) Fehler aufmerksam.

Jeder nimmt eine eigene Brücke wahr und versucht sein Terrain zur Allmende wider das aufklärerisch alimentierte Allerlei ein Stück mehr auszudehnen. Insgesamt steckt hinter den abgedruckten Arbeiten eine Menge Engagement. Darauf fußt die redaktionelle Werkbank weiter.

Die Redaktion dankt allen für ihr solidarisches Entgegenkommen durch ein (Geschenk-)Abonnement, eine Mitgliedschaft im herausgebenden Verein oder einen Spendenbeitrag und wünscht einen urbaren Anbruch des Jahres 2006.

Necati Mert

   

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