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Heinrich Jaenecke, Verfasser zahlreicher Bücher und führender
Autor von „Stern“, „Geo-Epoche“ und anderer
Publikationen, gilt seit Jahrzehnten zurecht als einer der schärfsten,
hellsichtigsten, brillantesten und unabhängigsten Kritiker
der historischen und gesellschaftspolitischen Verhältnisse
seines Landes. Auch in seinem jüngsten Buch bleibt er seiner
bisherigen humanistisch-aufklärerischen Produktion treu. Diesmal
setzt er sich mit all dem, was in Deutschland seit der Zeiten Friedrich
II. schief gelaufen ist, auseinander- und dies ist ziemlich alles.
„Der stolze Adler, Wappentier der Deutschen durch alle Metamorphosen
ihrer Geschichte“, fasst er in seinem Vorwort zusammen, „glich
eher einem blinden Vogel, ziellos und richtungslos, einzig getrieben
von der Jagd nach imaginärer Macht und Größe“.
Das jüngste Buch des 1928 in Berlin geborenen
Publizisten - ein Enkel Friedrich Eberts - räumt mit allen
selbstgefälligen und erbaulichen Mythen und Legenden auf, die
auch heute über die Vergangenheit und die Gegenwart dieses
Landes von der Politik, den Medien und der Kulturindustrie verbreitet
bzw. aufrechterhalten werden. Er hat den Mut, alle unbequemen Wahrheiten
zur Sprache zu bringen, die viele seiner Landsleute weiterhin gar
nicht oder nur widerwillig akzeptieren wollen. Er geht sehr hart
mit seinen Landsleuten um. Die Rekonstruktion des Gestrigen fängt
mit Preußen und einem meisterhaften Porträt Friedrich
II. an, setzt sich mit einer nicht weniger gelungenen Darlegung
Bismarcks und seiner aufschlußreichen und folgenschweren Zeit
fort. Der Verfasser erklärt, warum die Demokratie im 19. Jahrhundert
scheiterte, warum sich Autoritarismus und Unfreiheit durchsetzten.
Das Bild, das er vom Eisernen Kanzler zeichnet, ist weitgehend kritisch,
schon aufgrund seines abgrundtiefen Hasses auf die Sozialdemokratie
und die Verfolgung und Unterdrückung des katholischen Deutschlands.
Dennoch versäumt er nicht, seine weitsichtige und verantwortungsvolle
Außenpolitik zu würdigen, unter anderem seinen Verzicht
auf Kolonien und seinen Widerwillen gegen Militäreinsätze
im Ausland. Nach der Entlassung des Gründers und Baumeisters
des Deutschen Reiches kommt die Stunde von Wilhelm II., den der
Verfasser schlicht ein „deutsches Unglück“ nennt.
Der unheilvolle, obsessive Drang des Kaisers, seine irrationalen
Phobien und Minderwertigkeitskomplexe durch Prahlerei, Geltungssucht
und Machtexhibitionismus auszugleichen, endete mit dem Ausbruch
des Ersten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands. Die Abschaffung
der Monarchie, die Novemberrevolution und die Machtübernahme
durch die Sozialdemokratie bringen nicht den ersehnten Neuanfang.
Nach dem Tod von Friedrich Ebert im Februar 1925, wird Generalfeldmarschall
Hindenburg als Reichspräsident gewählt, sechs Jahre danach
ist Hitler Reichkanzler der Republik. Auf das Trauerspiel der Weimarer
Republik folgt nun die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus.
Hierzu schreibt der Autor: „Nicht dieser Mann (Hitler) ist
das Rätsel, sondern das deutsche Volk, das sich ihm preisgab,
das ihm in den Abgrund folgte wie die Lemminge und die grauenhaftesten
Verbrechen verübte und auf sich nahm. Das Dämonische,
Entsetzliche, Selbstmörderische ist nicht in Hitler zu suchen,
sondern in uns selbst. Und dies ist der Grund, weshalb die Bewältigung
der Vergangenheit im Äußerlichen stecken blieb und eine
wirkliche Selbstreinigung nicht stattfand“. Aber gerade, weil
der Verfasser die deutsche Schuld ohne wenn und aber anerkennt,
besitzt er die moralische Autorität, um die These Daniel Goldhagens,
die Deutschen wären alle „willige Vollstrecker“
Hitlers gewesen, als einseitig abzulehnen, wie er mit unwiderlegbaren
Fakten und Argumenten auch beweist
Auch seine Bilanz über die Entwicklung der 1949
entstandenen Bundesrepublik ist vorwiegend negativ bis vernichtend.
Als erstes verurteilt er die nur vordergründig erfolgte Auseinandersetzung
mit der braunen Vergangenheit: „So blind, wie sich die Deutschen
zuvor einem „Führer“ ergeben hatten, koppelten
sie sich nun von ihrer Vergangenheit ab und ließen sie wie
einen ausrangierten Zug auf dem Abstellgleis stehen - man stieg
in einen neuen Hochgeschwindigkeitszug um, der ohne lästigen
Ballast in die Zukunft dampfte: Gomorrha war untergegangen, und
wer zurückblickte, erstarrte zur Salzsäule wie Lots Weib
- Deutschlandblickt nicht zurück“. Der von Ludwig Erhard
verkündete materielle „Wohlstand füralle“
wurde zur neuen Weltanschauung der Deutschen und führte zu
einer Entpolitisierung des öffentlichen Lebens. Dieser weitverbreitete
staatsbürgerliche Konformismus wurde wiederum von der politischen
Kaste benutzt, um von oben herab selbstherrlich zu regieren: „Alle
wesentlichen Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik
wurden ohne Konsultation, geschweige denn Mitwirkung der Bevölkerung
getroffen: von der Staatsgründung und Verabschiedung der Verfassung,
über Nato-Beitritt, Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung
bis zur Einführung des Euro und der Europa-Verfassung“.
Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung - die er als „Gleichschaltung“
und „Annexion“ bezeichnet - prangert Jaenecke den neu
entstandenen Militarismus an, den er als“brennenden Wunsch
nach deutscher Weltgeltung“ entlarvt. Fest steht für
ihn, daß die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik
der „Weg zurück zu 1914“ bedeutet. Wer hat heute
noch die Zivilcourage, den Machthabern solche Wahrheiten ins Gesicht
zu schleudern?
Das, was nach der Ära Kohl kam, war nicht besser,
eher das Gegenteil trifft zu. Und der beste Beweis ist Gerhard Schröder
und sein erbärmlicher Versuch, nach der Wahlniederlage in Nordrheinwestfalen
durch ein verlogenes Mißtrauensvotum seine Haut zu retten
und an der Macht zu bleiben. „Es war ein Coup im Caudillo-Stil
einer Bananenrepublik“, schreibt Jaenecke. Der Ex- Kanzler
verkörpert einen neuen Typus von Politiker, der sich keiner
Ideologie verpflichtet fühlt und einzig und allein von Machtstreben
und Opportunismus geleitet wird. Der Verfasser sieht Deutschland
in Gefahr, „weil die Politik vergessen hat, für wen sie
da ist. Weil Millionen Menschen sich von keiner Partei mehr vertreten
fühlen. Weil sich das Bewußtsein verbreitet, daß
etwas grundfalsch läuft. Weil die Mehrheit es satt hat, von
der Regierung als Unmündige behandelt zu werden. Weil die Armut
wächst und das Vertrauen abnimmt. Weil allzu viele Fragen keine
Antworten finden“.
Mit seinem packenden und bewundernswerten Buch hat
Heinrich Jaenecke einen wichtigen, wertvollen Beitrag zur politischen
und ethischen Kultur dieses Landes geleistet. Schon aus diesem Grund
verdient er uneingeschränkte Achtung. Aber er ist nicht nur
ein mutiger Autor, der mit allen faulen Regeln und Tabus der waltenden
„political correctness“ bricht, sondern auch ein begnadeter
Schriftsteller, der eine glänzende Prosa schreibt und einen
angeborenen Sinn für das Wesentliche besitzt. Auch in dieser
Hinsicht muß man ihm dankbar sein. In einem seiner Briefe
schrieb einmal Dostojewski: „Die Tätigkeit des Schriftstellers
habe ich stets für die edelste und nützlichste gehalten“.
Diese idealisierte Einschätzung trifft für die meisten
auf Anpassung und Kommerz bedachten Autoren der Gegenwart nicht
zu. Heinrich Jaenecke ist einer der wenigen Ausnahmen, die der Vorstellung
Dostojewskis alle Ehre macht.
Heleno Saña
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Heribert Prantl: Kein schöner
Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit, Droemer Verlag,
München 2005, 208 Seiten, 12,90 Euro
Über Deutschland und die Deutschen sind in den
letzten Jahren eine Menge nichtssagender Bücher erschienen,
die in Gestalt der vorliegenden Publikation des Droemer Verlags
einen Höhepunkt erreicht haben. Mit Platitüden wie „Eigentum
verpflichtet“, „mehr Demokratie wagen“, „jeder
ist seines Glückes Schmied“ und anverwandtem Zinnober
fabuliert der vormalige Münchener Kadi und langjährige
Gazettenskribent Heribert Prantl auf mehr als zweihundert Seiten
wie ein besoffener „Salvator Germaniae“ und stilisiert
sich unerbeten zum Advokaten der Mühseligen und Beladenen.
Wie ein Proselyt dröhnt der Schleimröhrling und Humansülzer:
„In Deutschland zerbröselt die soziale Marktwirtschaft...
Arbeitskraft ist heute nicht mehr nur lokal... Ausbeutung war gestern;
Entlassung ist heute... Arbeitslosigkeit ist mehr als nur Einkommenslosigkeit.“
So tönt es ohne Ende in dieser Bildzeitungsschwarte: eine schauderhafte
Radotage aus Floskeln und Gemeinplätzen. Der Neoliberalismus
wird zum „Midas-Kult der Moderne“, Demokratie zu einer
„Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet“:
Demokratie „braucht den aufrechten Bürger“. Im
Springer-Niveau „rückt wieder zusammen, was zusammengehört“,
denn „die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl
der Schwachen“. Sülzer Prantl setzt sich daher mit großer
Verantwortung und Berufungskomplex nicht nur für Kaniden und
Trabanten ein, sondern auch für die Krüppel der Republik
und die „mit Krücken, die Alten und Schwachen“.
Als echter Mahner und Warner, komptabler Hypokrit und Pharisäer,
wie sie die römisch-katholische Klapsmühle ohne Unterlaß
hervorbringt, sorgt sich Prantl um „Mutter- und Vatertag“,
„Buß- und Bettag“, „Fest- und Feiertage“,
die dem „Weiterfließen der Zeit Rhythmus und Orientierung“
geben. Vorbei ist es mit der kulturellen Identität, „aus
dem einstmals großen deutschen Festtagskalender ist in den
vergangenen dreihundert Jahren unendlich viel herausgerissen worden.
Mit den vielen Apostel-, Marien- und Heiligenfesten sind die Traditionen
dieser Tage verschwunden.“ Mit verblüffendem Scharfblick
halluziniert der bräsige Räsoneur aus Bavariens Dittologen-Metropole:
„Integration ist nicht die Addition aller Dönerbuden
in den Fußgängerzonen.“ Aber nicht nur als Sozialwissenschaftler
weiß die Münchener Knalltüte zu überzeugen,
auch als Philosoph ist Prantl ein veritabler Dilettant: „Das
Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen
ist es nicht viel besser.“ Dieser Hofbräu-Ontologie korrespondiert
schönstens das ingeniöse Resümee des Profi-Lalopathen
mit Gamsbart und Vollmeise: „Dieser Sozialstaat hat eine Erfolgsgeschichte
hinter sich.“
Der Fanfaron Prantl hoffentlich auch bald.
Michael Loeckle
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Erich Rückleben: Heimatland
Sprache. Leben und Zeugnisse bukowinischer Dichter. Mit einem Vorwort
von Raimund Lang. Czernowitzer Kleine Schriften, Sonderdruck, Innsbruck
2005, 176 Seiten
Keinem Sturm gefällig, steht
die Mauer
hoheitsvoll in heimatloser Trauer.
Herrisch trennt sich das einmal Gewesene
von dem Seienden, bis die erlesene
Wahl es zu den Ändern ruft, den Grüften.
Vögel ziehen in verwaisten
Lüften,
die überall zu Hause sind wie Tote.
Grabsteine wachsen weiß und ohne Note
mit starren Namen in die Einsamkeit. –
Und rastlos fällt der/eine Staub der Zeit...
Rose Ausländer
Erich Rückleben gehört mit seinem fundierten
Wissen und seinen intellektuell ausgereiften wie sensiblen Einlassungen
für mich zu den zuverlässigsten und kompetentesten Essayisten,
Porträtisten sowie Publizisten.
Selbst als Autor, neben all den Veröffentlichungen
in Zeitschriften und Periodika, mit zwei Gedichtbänden („Windlichter“
und „Winterherz“) und einem Roman („Märzfrost“)
hervorgetreten, versammelt er nun unter- der Herausgabe des Traditionsverbandes
„Katholische Czemowitzer Pennäler“ in den „Czemowitzer
Kleine Schriften“ als Sonderdruck „Leben und Zeugnisse
bukowinischer Dichter“, unter dem Titel: „Heimatland
Sprache“.
Natürlich verhehle ich mein Faible für diese
Gattung Publikation nicht, birgt sie doch (wie im vorliegend Fall
hervorragend editiert) zumeist eine Fülle von neuen Erkenntnissen,
hinzukommend eine aus anderer Perspektive angeregte Neubefassung,
und zudem eine wundervolle Lektüre für die berühmte
„stille Stunde“. Bukowinische Dichter?
Rose Ausländer, Paul Celan, zwei jener achtzehn
mir ansonsten nicht geläufigen Dichter ... Selbstverständlich,
man hat sie gelesen, studiert, versucht, das jüdisch mystische
Erbe in Gefühlston und Sprachlage aufzunehmen, hat in diesem
Zusammenhang u.a. Nelly Sachs, Eise Laske-Schüler, Georg Trakl
und Marie Luise Kaschnitz im lyrischen Gepäck - aber bukowinische
Dichter?
Zugegeben: meine Kenntnisse über dieses Heimatland
waren bislang mehr als unzureichend. Und auch das eigene „Nachschlagewerk“
vermochte nur den ersten Hunger zu stillen: Bukowina, das Buchenland,
bis 1918 Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie,
jetzt Teil der Ukraine bzw. Rumäniens. Die Hauptstadt Czernowitz
galt als Außenposten der Monarchie, hatte eine deutschsprachige
Universität und ein deutschsprachiges Theater... Was Erich
Rückleben nunmehr also zusammengetragen hat, füllt nicht
nur eine Lücke, sondern erhebt Anspruch, zwingt zur vertieften
Betrachtung und reflektierenden Sicht: „Die kleine Welt Bukowina
wurde von der großen Welt schmerzhaft heimgesucht. Und doch
entstand - vielleicht gerade wegen dieses Spannungsfeldes - etwas
Großartiges. Etwas, das die Überschneidung kultureller
Identitäten wie nichts zuvor sichtbar gemacht hat: die deutsch-Jüdische
Dichtung“.
Raimund Lang, der für die Redaktion des Buches
Verantwortung zeichnet, hat mit diesen Zeilen in seinem Ad hoc-Vorwort
jenen Kem zum Ausdruck gebracht, den zu erfühlen und aufzunehmen
der Leser bereit und geneigt sein sollte.
Neben Ausländer und Celan beleuchtet Erich Rückleben
in behutsamer und eingehender Manier die Lebenswege/werke folgender
Autoren: Isaac Schreyer, Ninon Hesse, Victor Wittner, Alfred Margul-Sperber,
Adradne Löwendal, Itzig Manger, Johann Pitsch, Klara Blum (Zhu
Bailan), Moses Rosenkranz, Erwin Chargaff, Alfred Kittner, Kubi
Wohl, Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Manfred Winkler und Selma
Meerbaum-Eisinger.
Alle Autorinnen und Autoren in ihrer jeweiligen persönlichen
und literarischen Bedeutsamkeit zu würdigen würde hier
den Rahmen sprengen.
Würdigen aber möchte ich die übersichtliche
Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge der Bukowina und
jene sensible Hinführung auf die alle Autorinnen und Autoren
verbindende vielfältige muttikulturelle Landschaft und Heimat.
Es sind die biographischen Einzelbetrachtungen und die starken poetischen
Texte, die an das „Verlorene“ erinnern und welche die
„Urne Erinnerung“ zum Sprechen bringen.
Erich Rückleben gelingt mit seiner Bildsprache
und unaufdringlichen Intensität ein Spannungsbogen, der den
geneigten Leser mitnimmt in dem Bestreben nach dem Entwerfen von
Ganzheit des Lebens. Ein wertvolles Buch, das sich jedem Liebhaber
als Fundus zuneigt...
Bruno Runzheimer
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