XXIV. Jahrgang, Heft 139
Jan - Feb - Mär 2006/1

 
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18.01.2006
 
 

 

 

Medien - Kultur - Schau

Heinrich Jaenecke: Der blinde Adler. Reflexionen über Deutschland, Ellert und Richter Verlag, Hamburg 2005, 304 Seiten

   
 
 


Heinrich Jaenecke, Verfasser zahlreicher Bücher und führender Autor von „Stern“, „Geo-Epoche“ und anderer Publikationen, gilt seit Jahrzehnten zurecht als einer der schärfsten, hellsichtigsten, brillantesten und unabhängigsten Kritiker der historischen und gesellschaftspolitischen Verhältnisse seines Landes. Auch in seinem jüngsten Buch bleibt er seiner bisherigen humanistisch-aufklärerischen Produktion treu. Diesmal setzt er sich mit all dem, was in Deutschland seit der Zeiten Friedrich II. schief gelaufen ist, auseinander- und dies ist ziemlich alles. „Der stolze Adler, Wappentier der Deutschen durch alle Metamorphosen ihrer Geschichte“, fasst er in seinem Vorwort zusammen, „glich eher einem blinden Vogel, ziellos und richtungslos, einzig getrieben von der Jagd nach imaginärer Macht und Größe“.

Das jüngste Buch des 1928 in Berlin geborenen Publizisten - ein Enkel Friedrich Eberts - räumt mit allen selbstgefälligen und erbaulichen Mythen und Legenden auf, die auch heute über die Vergangenheit und die Gegenwart dieses Landes von der Politik, den Medien und der Kulturindustrie verbreitet bzw. aufrechterhalten werden. Er hat den Mut, alle unbequemen Wahrheiten zur Sprache zu bringen, die viele seiner Landsleute weiterhin gar nicht oder nur widerwillig akzeptieren wollen. Er geht sehr hart mit seinen Landsleuten um. Die Rekonstruktion des Gestrigen fängt mit Preußen und einem meisterhaften Porträt Friedrich II. an, setzt sich mit einer nicht weniger gelungenen Darlegung Bismarcks und seiner aufschlußreichen und folgenschweren Zeit fort. Der Verfasser erklärt, warum die Demokratie im 19. Jahrhundert scheiterte, warum sich Autoritarismus und Unfreiheit durchsetzten. Das Bild, das er vom Eisernen Kanzler zeichnet, ist weitgehend kritisch, schon aufgrund seines abgrundtiefen Hasses auf die Sozialdemokratie und die Verfolgung und Unterdrückung des katholischen Deutschlands. Dennoch versäumt er nicht, seine weitsichtige und verantwortungsvolle Außenpolitik zu würdigen, unter anderem seinen Verzicht auf Kolonien und seinen Widerwillen gegen Militäreinsätze im Ausland. Nach der Entlassung des Gründers und Baumeisters des Deutschen Reiches kommt die Stunde von Wilhelm II., den der Verfasser schlicht ein „deutsches Unglück“ nennt. Der unheilvolle, obsessive Drang des Kaisers, seine irrationalen Phobien und Minderwertigkeitskomplexe durch Prahlerei, Geltungssucht und Machtexhibitionismus auszugleichen, endete mit dem Ausbruch des Ersten Weltkrieges und der Niederlage Deutschlands. Die Abschaffung der Monarchie, die Novemberrevolution und die Machtübernahme durch die Sozialdemokratie bringen nicht den ersehnten Neuanfang. Nach dem Tod von Friedrich Ebert im Februar 1925, wird Generalfeldmarschall Hindenburg als Reichspräsident gewählt, sechs Jahre danach ist Hitler Reichkanzler der Republik. Auf das Trauerspiel der Weimarer Republik folgt nun die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus. Hierzu schreibt der Autor: „Nicht dieser Mann (Hitler) ist das Rätsel, sondern das deutsche Volk, das sich ihm preisgab, das ihm in den Abgrund folgte wie die Lemminge und die grauenhaftesten Verbrechen verübte und auf sich nahm. Das Dämonische, Entsetzliche, Selbstmörderische ist nicht in Hitler zu suchen, sondern in uns selbst. Und dies ist der Grund, weshalb die Bewältigung der Vergangenheit im Äußerlichen stecken blieb und eine wirkliche Selbstreinigung nicht stattfand“. Aber gerade, weil der Verfasser die deutsche Schuld ohne wenn und aber anerkennt, besitzt er die moralische Autorität, um die These Daniel Goldhagens, die Deutschen wären alle „willige Vollstrecker“ Hitlers gewesen, als einseitig abzulehnen, wie er mit unwiderlegbaren Fakten und Argumenten auch beweist

Auch seine Bilanz über die Entwicklung der 1949 entstandenen Bundesrepublik ist vorwiegend negativ bis vernichtend. Als erstes verurteilt er die nur vordergründig erfolgte Auseinandersetzung mit der braunen Vergangenheit: „So blind, wie sich die Deutschen zuvor einem „Führer“ ergeben hatten, koppelten sie sich nun von ihrer Vergangenheit ab und ließen sie wie einen ausrangierten Zug auf dem Abstellgleis stehen - man stieg in einen neuen Hochgeschwindigkeitszug um, der ohne lästigen Ballast in die Zukunft dampfte: Gomorrha war untergegangen, und wer zurückblickte, erstarrte zur Salzsäule wie Lots Weib - Deutschlandblickt nicht zurück“. Der von Ludwig Erhard verkündete materielle „Wohlstand füralle“ wurde zur neuen Weltanschauung der Deutschen und führte zu einer Entpolitisierung des öffentlichen Lebens. Dieser weitverbreitete staatsbürgerliche Konformismus wurde wiederum von der politischen Kaste benutzt, um von oben herab selbstherrlich zu regieren: „Alle wesentlichen Entscheidungen in der Geschichte der Bundesrepublik wurden ohne Konsultation, geschweige denn Mitwirkung der Bevölkerung getroffen: von der Staatsgründung und Verabschiedung der Verfassung, über Nato-Beitritt, Wiederbewaffnung und Wiedervereinigung bis zur Einführung des Euro und der Europa-Verfassung“. Im Zusammenhang mit der Wiedervereinigung - die er als „Gleichschaltung“ und „Annexion“ bezeichnet - prangert Jaenecke den neu entstandenen Militarismus an, den er als“brennenden Wunsch nach deutscher Weltgeltung“ entlarvt. Fest steht für ihn, daß die Remilitarisierung der deutschen Außenpolitik der „Weg zurück zu 1914“ bedeutet. Wer hat heute noch die Zivilcourage, den Machthabern solche Wahrheiten ins Gesicht zu schleudern?

Das, was nach der Ära Kohl kam, war nicht besser, eher das Gegenteil trifft zu. Und der beste Beweis ist Gerhard Schröder und sein erbärmlicher Versuch, nach der Wahlniederlage in Nordrheinwestfalen durch ein verlogenes Mißtrauensvotum seine Haut zu retten und an der Macht zu bleiben. „Es war ein Coup im Caudillo-Stil einer Bananenrepublik“, schreibt Jaenecke. Der Ex- Kanzler verkörpert einen neuen Typus von Politiker, der sich keiner Ideologie verpflichtet fühlt und einzig und allein von Machtstreben und Opportunismus geleitet wird. Der Verfasser sieht Deutschland in Gefahr, „weil die Politik vergessen hat, für wen sie da ist. Weil Millionen Menschen sich von keiner Partei mehr vertreten fühlen. Weil sich das Bewußtsein verbreitet, daß etwas grundfalsch läuft. Weil die Mehrheit es satt hat, von der Regierung als Unmündige behandelt zu werden. Weil die Armut wächst und das Vertrauen abnimmt. Weil allzu viele Fragen keine Antworten finden“.

Mit seinem packenden und bewundernswerten Buch hat Heinrich Jaenecke einen wichtigen, wertvollen Beitrag zur politischen und ethischen Kultur dieses Landes geleistet. Schon aus diesem Grund verdient er uneingeschränkte Achtung. Aber er ist nicht nur ein mutiger Autor, der mit allen faulen Regeln und Tabus der waltenden „political correctness“ bricht, sondern auch ein begnadeter Schriftsteller, der eine glänzende Prosa schreibt und einen angeborenen Sinn für das Wesentliche besitzt. Auch in dieser Hinsicht muß man ihm dankbar sein. In einem seiner Briefe schrieb einmal Dostojewski: „Die Tätigkeit des Schriftstellers habe ich stets für die edelste und nützlichste gehalten“. Diese idealisierte Einschätzung trifft für die meisten auf Anpassung und Kommerz bedachten Autoren der Gegenwart nicht zu. Heinrich Jaenecke ist einer der wenigen Ausnahmen, die der Vorstellung Dostojewskis alle Ehre macht.

Heleno Saña


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Heribert Prantl: Kein schöner Land. Die Zerstörung der sozialen Gerechtigkeit, Droemer Verlag, München 2005, 208 Seiten, 12,90 Euro

Über Deutschland und die Deutschen sind in den letzten Jahren eine Menge nichtssagender Bücher erschienen, die in Gestalt der vorliegenden Publikation des Droemer Verlags einen Höhepunkt erreicht haben. Mit Platitüden wie „Eigentum verpflichtet“, „mehr Demokratie wagen“, „jeder ist seines Glückes Schmied“ und anverwandtem Zinnober fabuliert der vormalige Münchener Kadi und langjährige Gazettenskribent Heribert Prantl auf mehr als zweihundert Seiten wie ein besoffener „Salvator Germaniae“ und stilisiert sich unerbeten zum Advokaten der Mühseligen und Beladenen. Wie ein Proselyt dröhnt der Schleimröhrling und Humansülzer: „In Deutschland zerbröselt die soziale Marktwirtschaft... Arbeitskraft ist heute nicht mehr nur lokal... Ausbeutung war gestern; Entlassung ist heute... Arbeitslosigkeit ist mehr als nur Einkommenslosigkeit.“ So tönt es ohne Ende in dieser Bildzeitungsschwarte: eine schauderhafte Radotage aus Floskeln und Gemeinplätzen. Der Neoliberalismus wird zum „Midas-Kult der Moderne“, Demokratie zu einer „Gemeinschaft, die ihre Zukunft miteinander gestaltet“: Demokratie „braucht den aufrechten Bürger“. Im Springer-Niveau „rückt wieder zusammen, was zusammengehört“, denn „die Stärke eines Volkes mißt sich am Wohl der Schwachen“. Sülzer Prantl setzt sich daher mit großer Verantwortung und Berufungskomplex nicht nur für Kaniden und Trabanten ein, sondern auch für die Krüppel der Republik und die „mit Krücken, die Alten und Schwachen“. Als echter Mahner und Warner, komptabler Hypokrit und Pharisäer, wie sie die römisch-katholische Klapsmühle ohne Unterlaß hervorbringt, sorgt sich Prantl um „Mutter- und Vatertag“, „Buß- und Bettag“, „Fest- und Feiertage“, die dem „Weiterfließen der Zeit Rhythmus und Orientierung“ geben. Vorbei ist es mit der kulturellen Identität, „aus dem einstmals großen deutschen Festtagskalender ist in den vergangenen dreihundert Jahren unendlich viel herausgerissen worden. Mit den vielen Apostel-, Marien- und Heiligenfesten sind die Traditionen dieser Tage verschwunden.“ Mit verblüffendem Scharfblick halluziniert der bräsige Räsoneur aus Bavariens Dittologen-Metropole: „Integration ist nicht die Addition aller Dönerbuden in den Fußgängerzonen.“ Aber nicht nur als Sozialwissenschaftler weiß die Münchener Knalltüte zu überzeugen, auch als Philosoph ist Prantl ein veritabler Dilettant: „Das Leben beginnt ungerecht, und es endet ungerecht, und dazwischen ist es nicht viel besser.“ Dieser Hofbräu-Ontologie korrespondiert schönstens das ingeniöse Resümee des Profi-Lalopathen mit Gamsbart und Vollmeise: „Dieser Sozialstaat hat eine Erfolgsgeschichte hinter sich.“

Der Fanfaron Prantl hoffentlich auch bald.

Michael Loeckle


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Erich Rückleben: Heimatland Sprache. Leben und Zeugnisse bukowinischer Dichter. Mit einem Vorwort von Raimund Lang. Czernowitzer Kleine Schriften, Sonderdruck, Innsbruck 2005, 176 Seiten

Keinem Sturm gefällig, steht die Mauer
hoheitsvoll in heimatloser Trauer.
Herrisch trennt sich das einmal Gewesene
von dem Seienden, bis die erlesene
Wahl es zu den Ändern ruft, den Grüften.

Vögel ziehen in verwaisten Lüften,
die überall zu Hause sind wie Tote.
Grabsteine wachsen weiß und ohne Note
mit starren Namen in die Einsamkeit. –
Und rastlos fällt der/eine Staub der Zeit...


Rose Ausländer

Erich Rückleben gehört mit seinem fundierten Wissen und seinen intellektuell ausgereiften wie sensiblen Einlassungen für mich zu den zuverlässigsten und kompetentesten Essayisten, Porträtisten sowie Publizisten.

Selbst als Autor, neben all den Veröffentlichungen in Zeitschriften und Periodika, mit zwei Gedichtbänden („Windlichter“ und „Winterherz“) und einem Roman („Märzfrost“) hervorgetreten, versammelt er nun unter- der Herausgabe des Traditionsverbandes „Katholische Czemowitzer Pennäler“ in den „Czemowitzer Kleine Schriften“ als Sonderdruck „Leben und Zeugnisse bukowinischer Dichter“, unter dem Titel: „Heimatland Sprache“.

Natürlich verhehle ich mein Faible für diese Gattung Publikation nicht, birgt sie doch (wie im vorliegend Fall hervorragend editiert) zumeist eine Fülle von neuen Erkenntnissen, hinzukommend eine aus anderer Perspektive angeregte Neubefassung, und zudem eine wundervolle Lektüre für die berühmte „stille Stunde“. Bukowinische Dichter?

Rose Ausländer, Paul Celan, zwei jener achtzehn mir ansonsten nicht geläufigen Dichter ... Selbstverständlich, man hat sie gelesen, studiert, versucht, das jüdisch mystische Erbe in Gefühlston und Sprachlage aufzunehmen, hat in diesem Zusammenhang u.a. Nelly Sachs, Eise Laske-Schüler, Georg Trakl und Marie Luise Kaschnitz im lyrischen Gepäck - aber bukowinische Dichter?

Zugegeben: meine Kenntnisse über dieses Heimatland waren bislang mehr als unzureichend. Und auch das eigene „Nachschlagewerk“ vermochte nur den ersten Hunger zu stillen: Bukowina, das Buchenland, bis 1918 Kronland der österreichisch-ungarischen Monarchie, jetzt Teil der Ukraine bzw. Rumäniens. Die Hauptstadt Czernowitz galt als Außenposten der Monarchie, hatte eine deutschsprachige Universität und ein deutschsprachiges Theater... Was Erich Rückleben nunmehr also zusammengetragen hat, füllt nicht nur eine Lücke, sondern erhebt Anspruch, zwingt zur vertieften Betrachtung und reflektierenden Sicht: „Die kleine Welt Bukowina wurde von der großen Welt schmerzhaft heimgesucht. Und doch entstand - vielleicht gerade wegen dieses Spannungsfeldes - etwas Großartiges. Etwas, das die Überschneidung kultureller Identitäten wie nichts zuvor sichtbar gemacht hat: die deutsch-Jüdische Dichtung“.

Raimund Lang, der für die Redaktion des Buches Verantwortung zeichnet, hat mit diesen Zeilen in seinem Ad hoc-Vorwort jenen Kem zum Ausdruck gebracht, den zu erfühlen und aufzunehmen der Leser bereit und geneigt sein sollte.

Neben Ausländer und Celan beleuchtet Erich Rückleben in behutsamer und eingehender Manier die Lebenswege/werke folgender Autoren: Isaac Schreyer, Ninon Hesse, Victor Wittner, Alfred Margul-Sperber, Adradne Löwendal, Itzig Manger, Johann Pitsch, Klara Blum (Zhu Bailan), Moses Rosenkranz, Erwin Chargaff, Alfred Kittner, Kubi Wohl, Immanuel Weissglas, Alfred Gong, Manfred Winkler und Selma Meerbaum-Eisinger.

Alle Autorinnen und Autoren in ihrer jeweiligen persönlichen und literarischen Bedeutsamkeit zu würdigen würde hier den Rahmen sprengen.

Würdigen aber möchte ich die übersichtliche Darstellung geschichtlicher Zusammenhänge der Bukowina und jene sensible Hinführung auf die alle Autorinnen und Autoren verbindende vielfältige muttikulturelle Landschaft und Heimat. Es sind die biographischen Einzelbetrachtungen und die starken poetischen Texte, die an das „Verlorene“ erinnern und welche die „Urne Erinnerung“ zum Sprechen bringen.

Erich Rückleben gelingt mit seiner Bildsprache und unaufdringlichen Intensität ein Spannungsbogen, der den geneigten Leser mitnimmt in dem Bestreben nach dem Entwerfen von Ganzheit des Lebens. Ein wertvolles Buch, das sich jedem Liebhaber als Fundus zuneigt...

Bruno Runzheimer

   

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