XXIV. Jahrgang, Heft 139
Jan - Feb - Mär 2006/1

 
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  Letzte Änderung:
18.01.2006
 
 

 

 
Meinungen - Karawanserei

Spiegel(-) verkehrt


         
 
 


Jeden Morgen, wenn ich mir etwas zum Anziehen aus dem Kleiderschrank nehmen will, begegne ich seinem kritischen Blick.

Mein Schrank hat eine Spiegeltür.

Nun will ich nicht jenen uralten Witz, ich kenn‘ dich nicht, aber ich wasch‘ dich trotzdem, um die Variante erweitern, ich zieh‘ dich trotzdem an.

Nein, an manchen Tagen hasse ich mein Spiegelbild wirklich und bin vollkommen humorlos, wenn ich morgens nackt, unrasiert, mit Rändern unter den Augen, Pickeln auf dem erneut umfangreicheren Bauchansatz und ohne wahrnehmbare Frisur lieber nicht erkennen will, dass mein Gegenüber sich allenfalls durch eine Dimension weniger – die räumliche - von mir unterscheidet.

Was dort im Schrank dennoch räumlich erscheint, ist genau genommen ein ausgesprochen flaches Bild, das meinen Bauch allerdings nicht flach erscheinen lässt. Ja, und manchmal hasse ich mich dann dafür, beim Essen zu gewissem Suchtverhalten zu neigen.

Nun würde es meine eigene Psyche schonen, nicht mich sondern nur mein Spiegelbild zu verabscheuen. Aber ich habe für mich, wie viele andere vor mir bereits für sich, zusätzlich einen Weg gefunden, der mein persönliches Innenleben so gut wie gar nicht belastet:

In letzter Zeit entdeckte ich, wenn mir Dicke, - natürlich - wesentlich Dickere als ich, auf der Straße begegneten, die Neigung zu gehässigsten Gedanken. Und werde ich gar von jemandem begleitet, lästere ich schamlos über alle Wohlbeleibten, die uns entgegen kommen, unterstelle ihnen Fresssucht, Bewegungsfaulheit und Mangel an ästhetischem Bewusstsein. Ja, gelegentlich entschlüpfen meinen Lippen – wenn auch für die Betroffenen möglichst nicht hörbar – Lästereien allerübelster Art.

Im Folgenden ist mir hier keineswegs daran gelegen, projizierte oder gar Kriege auslösende Feindbilder und den Umgang mit meinem beleibten Spiegelbild unmittelbar zu vergleichen. Dennoch scheint mir die Entstehung auch wesentlich folgenschwerer Übertragungen ähnlich abzulaufen.

Oder wie ist es zu verstehen, wenn einer eigentlich den ohnmächtig wütenden oder gar feigen Untertan in sich hassen könnte, dafür aber in einem rebellisch oder fremdländisch aussehenden Gegenüber den gefährlichen (islamischen) Revolutionär als Bedrohung entdeckt und deswegen verstärkte Sicherheitsmaßnahmen und schnellere Abschiebung fordert.

Und wenn der Präsident einer Weltmacht den Diktator eines eher unbedeutenden Staates zum gefährlichen, die ganze Welt bedrohenden Verbrecher aufwertet, lässt das dann direkte Rückschlüsse auf den eingeschränkten Weitblick des Präsidenten zu, der möglicher Weise im Spiegel seines Ankleidezimmers zweidimensionale Gut-Böse-Abbilder sah (oder sehen wollte).

Ich will wirklich nicht vereinfachen oder gar den Präsidenten eines demokratischen Staatswesens mit einem verbrecherischen Diktator vergleichen.

Aber Hitler wird in seinem realen Spiegel auf dem Obersalzberg wohl kaum den germanisch blonden groß gewachsenen Idealtyp erkannt haben. Hätte er ihn doch entdeckt! Dann wäre das aus deutschnational-germanisch-rassistischer Sicht bestimmt eine ausgesprochen positive Projektion gewesen, die keiner Überkompensation bedurfte. Doch jenen Adolf, den er in seinem Spiegel sah, war der dunkelhaarige, kleine, eher slawisch oder gar jüdisch anmutende. Und genau den muss er endlos gehasst haben. Hätte er sonst, konsequent wie er dann war, viele dieser Abbilder im KZ und schließlich das eine unverkennbare im Führerbunker in Berlin ermorden müssen?

Warum erkennt der zukunftsängstliche Schwache in seinem inneren Spiegel nicht einfach seine Ängste, Schwächen und Unarten als die seinen, sondern sieht sie lieber in einem Schwächling auf der Straße, den er dafür zu Tode tritt. Wie sonst wäre das brutale Vorgehen selbstunsicherer Heranwachsender zu erklären, deren Selbsthass manchem hilflosen, so genannten Penner den Tod brachte?

Und blickt mir aus den Augen meines inneren Spiegelbilds Fremdes und Angst Einflößendes entgegen, bin ich dann deswegen gelegentlich sogar entgegen besseren Wissens versucht, mich dadurch beruhigen zu lassen, in einer besonders groß bebilderten Zeitung zu sehen und zu lesen, dass wieder mehrere (fremdländisch aussehende) Asylbewerber umgehend abgeschoben wurden?

Natürlich ist der innerpsychische Vorgang der Übertragung nicht einer, den es erst seit Erfindung des Spiegelglases gibt. Aber er ist, kann man den Erklärungen von Psychologen glauben, immerhin der Versuch, sich ungewollter, ungeliebter Eigenschaften zu entledigen und sich durch Übertragung auf andere davon möglichst endgültig zu distanzieren.

Wer jene Anderen ausweist, abschiebt oder gar umbringt und schließlich glaubt, sich von unliebsamen Eigenanteilen befreit zu haben, verharrt jedoch letztlich im Zustand eines äußerst naiven Umgangs mit eigenen Verantwortlichkeiten, auch wenn er sich damit herauszureden glaubt, das sei vor allem ein unbewusster Vorgang. Seitdem wir wissen, dass es solche unbewussten Vorgänge gibt, sind wir Wissende und eigentlich verpflichtet, mit unserem Wissen selbstverantwortlich umzugehen.

Religionen, die ihren Mitgliedern vermitteln, erlöste oder wegen ihres ausschließlich allein selig machenden Glaubens die besseren Menschen zu sein, tun das Ihre dazu, das so genannte Böse zum Beispiel dem Satan zuzuschieben. Der war angeblich einst in der Lage, Seelen (ganz im Sinne kapitalistischer Ideologen - käuflich) zu erwerben. Und das nicht nur zu Zeiten, als vom Satan und damit vom Bösen besessene Hexen unter kirchlicher Aufsicht verbrannt werden konnten.

Jeder verspürt vermutlich in sich die Lebensaufgabe, das Beste aus sich und seinem Dasein zu machen. Von mir aus auch mit unterschiedlichster Götter Hilfe.

Doch wer böswillig, in sich die Neigung zum Bösen nicht erkennen will und sie deshalb Anderen zuschiebt, sollte sich nicht wundern, wenn er boshaften Anderen begegnet, die ihn im Gegenzug bösartig behandeln oder gar vernichten wollen.

Trifft uns somit nicht alle daher auch eine indirekte Mitschuld am Terrorismus?!


Karl Feldkamp

Bergisch Gladbach

   

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