Jeden Morgen, wenn ich mir etwas zum Anziehen aus dem Kleiderschrank
nehmen will, begegne ich seinem kritischen Blick.
Mein Schrank hat eine Spiegeltür.
Nun will ich nicht jenen uralten Witz, ich kenn‘ dich nicht,
aber ich wasch‘ dich trotzdem, um die Variante erweitern,
ich zieh‘ dich trotzdem an.
Nein, an manchen Tagen hasse ich mein Spiegelbild wirklich und
bin vollkommen humorlos, wenn ich morgens nackt, unrasiert, mit
Rändern unter den Augen, Pickeln auf dem erneut umfangreicheren
Bauchansatz und ohne wahrnehmbare Frisur lieber nicht erkennen will,
dass mein Gegenüber sich allenfalls durch eine Dimension weniger
– die räumliche - von mir unterscheidet.
Was dort im Schrank dennoch räumlich erscheint, ist genau
genommen ein ausgesprochen flaches Bild, das meinen Bauch allerdings
nicht flach erscheinen lässt. Ja, und manchmal hasse ich mich
dann dafür, beim Essen zu gewissem Suchtverhalten zu neigen.
Nun würde es meine eigene Psyche schonen, nicht mich sondern
nur mein Spiegelbild zu verabscheuen. Aber ich habe für mich,
wie viele andere vor mir bereits für sich, zusätzlich
einen Weg gefunden, der mein persönliches Innenleben so gut
wie gar nicht belastet:
In letzter Zeit entdeckte ich, wenn mir Dicke, - natürlich
- wesentlich Dickere als ich, auf der Straße begegneten, die
Neigung zu gehässigsten Gedanken. Und werde ich gar von jemandem
begleitet, lästere ich schamlos über alle Wohlbeleibten,
die uns entgegen kommen, unterstelle ihnen Fresssucht, Bewegungsfaulheit
und Mangel an ästhetischem Bewusstsein. Ja, gelegentlich entschlüpfen
meinen Lippen – wenn auch für die Betroffenen möglichst
nicht hörbar – Lästereien allerübelster Art.
Im Folgenden ist mir hier keineswegs daran gelegen, projizierte
oder gar Kriege auslösende Feindbilder und den Umgang mit meinem
beleibten Spiegelbild unmittelbar zu vergleichen. Dennoch scheint
mir die Entstehung auch wesentlich folgenschwerer Übertragungen
ähnlich abzulaufen.
Oder wie ist es zu verstehen, wenn einer eigentlich den ohnmächtig
wütenden oder gar feigen Untertan in sich hassen könnte,
dafür aber in einem rebellisch oder fremdländisch aussehenden
Gegenüber den gefährlichen (islamischen) Revolutionär
als Bedrohung entdeckt und deswegen verstärkte Sicherheitsmaßnahmen
und schnellere Abschiebung fordert.
Und wenn der Präsident einer Weltmacht den Diktator eines
eher unbedeutenden Staates zum gefährlichen, die ganze Welt
bedrohenden Verbrecher aufwertet, lässt das dann direkte Rückschlüsse
auf den eingeschränkten Weitblick des Präsidenten zu,
der möglicher Weise im Spiegel seines Ankleidezimmers zweidimensionale
Gut-Böse-Abbilder sah (oder sehen wollte).
Ich will wirklich nicht vereinfachen oder gar den Präsidenten
eines demokratischen Staatswesens mit einem verbrecherischen Diktator
vergleichen.
Aber Hitler wird in seinem realen Spiegel auf dem Obersalzberg
wohl kaum den germanisch blonden groß gewachsenen Idealtyp
erkannt haben. Hätte er ihn doch entdeckt! Dann wäre das
aus deutschnational-germanisch-rassistischer Sicht bestimmt eine
ausgesprochen positive Projektion gewesen, die keiner Überkompensation
bedurfte. Doch jenen Adolf, den er in seinem Spiegel sah, war der
dunkelhaarige, kleine, eher slawisch oder gar jüdisch anmutende.
Und genau den muss er endlos gehasst haben. Hätte er sonst,
konsequent wie er dann war, viele dieser Abbilder im KZ und schließlich
das eine unverkennbare im Führerbunker in Berlin ermorden müssen?
Warum erkennt der zukunftsängstliche Schwache in seinem inneren
Spiegel nicht einfach seine Ängste, Schwächen und Unarten
als die seinen, sondern sieht sie lieber in einem Schwächling
auf der Straße, den er dafür zu Tode tritt. Wie sonst
wäre das brutale Vorgehen selbstunsicherer Heranwachsender
zu erklären, deren Selbsthass manchem hilflosen, so genannten
Penner den Tod brachte?
Und blickt mir aus den Augen meines inneren Spiegelbilds Fremdes
und Angst Einflößendes entgegen, bin ich dann deswegen
gelegentlich sogar entgegen besseren Wissens versucht, mich dadurch
beruhigen zu lassen, in einer besonders groß bebilderten Zeitung
zu sehen und zu lesen, dass wieder mehrere (fremdländisch aussehende)
Asylbewerber umgehend abgeschoben wurden?
Natürlich ist der innerpsychische Vorgang der Übertragung
nicht einer, den es erst seit Erfindung des Spiegelglases gibt.
Aber er ist, kann man den Erklärungen von Psychologen glauben,
immerhin der Versuch, sich ungewollter, ungeliebter Eigenschaften
zu entledigen und sich durch Übertragung auf andere davon möglichst
endgültig zu distanzieren.
Wer jene Anderen ausweist, abschiebt oder gar umbringt und schließlich
glaubt, sich von unliebsamen Eigenanteilen befreit zu haben, verharrt
jedoch letztlich im Zustand eines äußerst naiven Umgangs
mit eigenen Verantwortlichkeiten, auch wenn er sich damit herauszureden
glaubt, das sei vor allem ein unbewusster Vorgang. Seitdem wir wissen,
dass es solche unbewussten Vorgänge gibt, sind wir Wissende
und eigentlich verpflichtet, mit unserem Wissen selbstverantwortlich
umzugehen.
Religionen, die ihren Mitgliedern vermitteln, erlöste oder
wegen ihres ausschließlich allein selig machenden Glaubens
die besseren Menschen zu sein, tun das Ihre dazu, das so genannte
Böse zum Beispiel dem Satan zuzuschieben. Der war angeblich
einst in der Lage, Seelen (ganz im Sinne kapitalistischer Ideologen
- käuflich) zu erwerben. Und das nicht nur zu Zeiten, als vom
Satan und damit vom Bösen besessene Hexen unter kirchlicher
Aufsicht verbrannt werden konnten.
Jeder verspürt vermutlich in sich die Lebensaufgabe, das Beste
aus sich und seinem Dasein zu machen. Von mir aus auch mit unterschiedlichster
Götter Hilfe.
Doch wer böswillig, in sich die Neigung zum Bösen nicht
erkennen will und sie deshalb Anderen zuschiebt, sollte sich nicht
wundern, wenn er boshaften Anderen begegnet, die ihn im Gegenzug
bösartig behandeln oder gar vernichten wollen.
Trifft uns somit nicht alle daher auch eine indirekte Mitschuld
am Terrorismus?!
Karl Feldkamp
Bergisch Gladbach
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